Heinz Weiß

Das Labyrinth der
Borderline-Kommunikation

Klinische Zugänge zum Erleben von
Raum und Zeit

Mit einem Vorwort von John Steiner

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Klett-Cotta

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Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-94513-3

E-Book: ISBN 978-3-608-10556-8

Das E-Book basiert auf der 1. Auflage 2009 der Printausgabe.

Inhalt

Vorwort

1. Einleitung

2. Zuflucht oder Gefängnis? Pathologische Organisationen der Persönlichkeit und Orte des seelischen Rückzugs

3. Das Labyrinth der Borderline-Kommunikation

4. Inszenierte Träume: Traumerfahrung und Acting-in

5. Inseln von Zeitlosigkeit: romantische Sehnsucht und allwissende Verzweiflung

6. Zur Konstruktion des inneren Raumes: Zeiterfahrung und depressive Position

7. Trennung als Katastrophe: zur Missrepräsentation der Erfahrung von Getrenntheit und Verlust

8. Virtuelle Räume: Gefühle von Unwirklichkeit in Traum und Übertragung am Ende einer Analyse

9. Sackgassen und Verwicklungen: ein mehrphasiges Modell der projektiven Identifizierung

Danksagung

Anmerkungen

Quellenangaben

Literaturverzeichnis

Vorwort

Der Leser dieser außergewöhnlichen Arbeit mag über eine derart klare und anschauliche Darstellung von Borderline-Mechanismen und Borderline-Erfahrungen erstaunt sein. Heinz Weiß verfügt über eine breite klinische Erfahrung, die er sich zum Teil in seiner Funktion als Leiter einer psychoanalytisch orientierten psychosomatischen Abteilung an einem Allgemeinkrankenhaus erwarb und die er insbesondere durch seine genaue und intensive analytische Arbeit als praktizierender Psychoanalytiker vertiefte. Diese klinische Erfahrung wird durch ein präzises Verständnis seelischer Vorgänge sowie durch die Vertrautheit mit den Werken von Freud, Klein und einem breiten Spektrum zeitgenössischer Psychoanalytiker ergänzt.

1992 lernte ich Heinz Weiß während seines mehrmonatigen Forschungsaufenthalts an der Tavistock Clinic kennen und war sofort von seiner Auffassung, seiner Wissbegierde und seinem Enthusiasmus beeindruckt. Zu dieser Zeit beschäftigte er sich mit den Werken zeitgenössischer Londoner Psychoanalytiker und begann sich so für den klinischen Ansatz von Melanie Klein und ihren Nachfolgern zu interessieren. Ausgehend von einem umfangreichen Wissen über die Theorien Freuds machte er sich nun mit dem Werk Kleins und anschließend mit den Arbeiten von Bion, Rosenfeld, Joseph, Rivière, Money-Kyrle und Segal vertraut. Leser, die mehr über diese Autoren wissen möchten, finden in diesem Buch äußerst klare und genaue Darstellungen. Heinz Weiß hat seither die Entwicklungen hier in London und anderswo in der Welt nicht nur mit verfolgt, sondern in neuerer Zeit auch selbst zu ihnen beigetragen.

In der vorliegenden Arbeit werden Borderline-Phänomene, -Mechanismen und -Strukturen beschrieben. Die besondere Stärke des Buchs liegt darin, zu zeigen, wie Patient und Analytiker in etwas verstrickt werden, das treffenderweise als Labyrinth bezeichnet wird. Dieses Labyrinth von Verbindungen kann eine Art Gleichgewicht aufrechterhalten und dem Patienten dadurch ein Funktionieren ermöglichen, verhindert aber gleichzeitig jede Entwicklung. Nichtsdestoweniger gibt es immer ein Potential für Veränderung, und die Kunst des Analytikers besteht darin, die verdeckten Kommunikationsversuche zu entschlüsseln und dem Patienten die Erfahrung zu vermitteln, dass er verstanden wird.

Der Autor vertritt die These, dass psychische Veränderung bei manchen Patienten davon abhängt, dass der Wachstum und Entwicklung ermöglichende innere Raum wiederhergestellt und erneuert wird. Von dieser Annahme ausgehend stellt er dar, wie wichtig es für den Analytiker ist, seine Aufmerksamkeit auf das Feingewebe der analytischen Sitzung zu richten. Zudem zeigt er, wie diese Art detailgerichteter Aufmerksamkeit subtile Einflüsse (enactments) seitens des Analytikers zu enthüllen vermag, die, einmal entdeckt, dazu beitragen können, das Labyrinth zu entwirren.

Heinz Weiß hat ein besonderes Interesse an dem Umgang mit Ängsten, die sich auf das Zeiterleben beziehen. Er schildert, wie Patienten sich manchmal in eine zeitlose Welt zurückziehen und sich so verhalten, als könne das Leben ewig weitergehen. Besonders klar ist seine Beschreibung von Patienten, die Verlusterfahrungen aus dem Wege gehen, indem sie sich in Phantasien einer zeitlosen Welt flüchten, in der sie für immer mit ihren Objekten eingesperrt sind und diese niemals loslassen müssen. Auf diese Weise können sie zwar Trauer und Verlust umgehen, versäumen dadurch aber auch viele Vorteile, die Leben und Leiden in der wirklichen Welt bieten.

Bei all seinen klinischen Beispielen findet es der Autor hilfreich, das Material in Hinblick auf seelische Vorgänge und Strukturen darzustellen. Er verwendet Konzepte wie das der projektiven Identifizierung, des agoraklaustrophoben Dilemmas, der pathologischen Organisationen und der seelischen Rückzugsorte. Die präzisen Erklärungen des Buchs zeugen von einem tiefgehenden Verständnis dieser Modelle. Wenn der Autor Bions Überlegungen zum Containment erkundet, betritt er auch kontroverses Terrain. Dabei entwickelt er eine eigenständige Theorie und beschreibt verschiedene Phasen der projektiven Identifizierung.

Es ist die Verbindung von Klarheit, Präzision und Sensibilität, die dieses Werk so lesenswert macht. Meiner Meinung nach wird es zu einer unverzichtbaren Lektüre für jeden werden, der seine klinische Technik erweitern möchte, ob Psychoanalytiker, Psychotherapeut, Psychiater, Lehrer oder Forscher im Bereich der Medizin und Sozialwissenschaften.

London, im Februar 2009
John Steiner

1. Einleitung

Borderline-Patienten1 konfrontieren ihre Behandler mit einer Reihe von Problemen: Sie stellen eine intensive Nähe her und fühlen sich schon im nächsten Moment von ihrem Gegenüber eingeschlossen. Um Gefühlen des Gefangenseins zu entgehen, müssen sie aus der Nähe, die sie eben noch gesucht haben, schnell wieder fliehen, um kurz darauf von Verlassenheitsund Verfolgungsängsten eingeholt zu werden. Gerade dann, wenn sich in der Behandlung Fortschritte ankündigen, werden diese in einer negativen therapeutischen Reaktion wieder zurückgenommen, weil Abhängigkeit schwer erträglich ist und Neid, Scham- oder Schuldgefühle überhandnehmen. Oft laden Borderline-Patienten ihr Gegenüber mit intensiven Gefühlen auf, um sich dann, wie unbeteiligt, an einen seelischen Rückzugsort zu begeben, an dem sie vor Gesehenwerden und vor schmerzlichen Veränderungen geschützt sind. An diesen Orten scheint die Zeit stillzustehen, und das, was eben noch in Bewegung war, gerinnt zu einem endlosen Augenblick. Es ist dieses Herausgleiten aus der Zeit, das zu zeitlosen Zuständen und längeren Phasen von Stillstand in der Behandlung führt.

Die Mitteilungen dieser Patienten wirken zum Teil widersprüchlich und verwirrend. Dies hängt mit der Konkretheit ihrer Sprache zusammen, die zum Handeln drängt und in der Wörter wie Dinge behandelt werden. Nicht selten entsteht dabei der Eindruck, als benutzten sie die Kommunikation weniger dazu, um etwas über ihren inneren Zustand mitzuteilen, als zu dem Zweck, ihre Beziehungen zu manipulieren und zu kontrollieren. Wenn diese Kontrolle zusammenbricht, wird für kurze Momente etwas von den verzweifelten Ängsten sichtbar, die dieser Form der Beziehungsaufnahme zugrunde liegen. Häufiger muss der Analytiker jedoch die Not des Patienten indirekt erschließen, indem er den Gefühlen, die in ihm entstehen, eine symbolische Bedeutung gibt.

Oft hat es dabei den Anschein, als strebte der Patient in erster Linie danach, sein Gegenüber in seine pathologischen Objektbeziehungen zu verstricken, und als ginge es weniger darum, diese zu verstehen und aufzulösen. Die daraus entstehenden Sackgassen und Verwicklungen sind Gegenstand des vorliegenden Buchs. Es nimmt auf Erfahrungen aus hochfrequenten psychoanalytischen Behandlungen Bezug und greift neuere theoretische Entwicklungen auf, um jene Vorgänge zu erkunden, die in das Labyrinth der Borderline-Kommunikation hineinführen. Einmal in dieses Labyrinth hineingelangt, fühlen sich Analytiker und Patient nicht selten in endlose destruktive Prozesse verstrickt. Manchmal scheint es dann, als diene die Behandlung ihrerseits der Aufrechterhaltung eines pathologischen Gleichgewichts.

Wie unter diesen Umständen dennoch Veränderungen möglich sind, ist ein weiteres Thema dieses Buches. Es geht von der These aus, dass Borderline-Patienten Schwierigkeiten beim Aufbau ihres psychischen Raumes haben und die therapeutische Aufgabe deshalb vor allem darin besteht, diesen inneren Raum zu konstruieren. Eine solche Sichtweise hat behandlungstechnisch eine Reihe von Implikationen, die an klinischen Beispielen erläutert werden. An ihnen werden Deutungsoptionen aufgezeigt, die es dem Analytiker ermöglichen können, sich aus schwierigen, manchmal als ausweglos erscheinenden Verwicklungen allmählich wieder herauszulösen.

Diese Überlegungen nehmen auf die klinische Erfahrung bezug, dass die grundlegenden Probleme dieser Patienten nur durch ein genaues Erfassen der in der Behandlungsstunde ablaufenden Mikroprozesse zugänglich werden. Erst wenn es gelingt, die Atmosphäre der Sitzung aufzunehmen und die subtilen einladenden, ausweichenden und antwortenden Bewegungen zwischen Patient und Analytiker zu registrieren, kann ein umfassendes Verständnis der Gesamtsituation erreicht werden. Hierzu haben neuere theoretische Entwicklungen wie das Konzept der pathologischen Persönlichkeitsorganisationen, die Theorie der projektiven Identifizierung und die durch sie ermöglichten Fortschritte im Verständnis von Gegenübertragungsund Symbolisierungsprozessen wichtige Beiträge geliefert.

In Kapitel 2 wird zunächst das Konzept der pathologischen Persönlichkeitsorganisationen dargestellt. Es geht auf frühere psychoanalytische Vorstellungen zu ›Charakterwiderständen‹ und Abwehrvorgängen zurück, die nun in einer Theorie komplexer Organisationen zusammengefasst werden (Steiner 1993). Pathologische Organisationen können sowohl als Ineinandergreifen von Abwehrmechanismen als auch als Netzwerk von Objektbeziehungen verstanden werden. Sie stellen dem Individuum einen Ort relativer Ruhe und Sicherheit zur Verfügung, wenn Verfolgungsgefühle und Verlustängste überhandnehmen. Allerdings schränken sie auch die psychische Entwicklung ein, so dass das, was zunächst als Zuflucht erscheint, bald zu einer Sackgasse und einem Gefängnis wird. In den Träumen der Patienten spiegeln sich diese Rückzugszustände z. B. in Bildern von Höhlen und Räumlichkeiten, in denen der Patient Zuflucht findet, oder auch in Phantasien von einem idealisierten, einsamen Ort – wie etwa einem fernen Land oder einer Insel –, welcher vor dem Kontakt mit der Wirklichkeit Schutz gewährt. Diese imaginären Orte sind der Zeit entrückt. Sie lassen sich als Utopien begreifen, in denen »Inszenierungen des Unmöglichen« (Rohde-Dachser, Wellendorf 2004) gesucht werden. Durch die psychoanalytische Behandlung solcher Patienten konnte in den vergangenen Jahren eine Reihe neuer Einsichten in den Aufbau und die Funktion dieser Organisationen gewonnen werden. Einige der Weiterentwicklungen werden in diesem Abschnitt diskutiert. Sie gelten nicht nur für Patienten, welche im engeren Sinn die deskriptiven Kriterien einer »Borderline-Persönlichkeitsstörung« (APA 1994) erfüllen, sondern auch für zahlreiche »normale«, neurotische und psychotische Individuen, die zur Aufrechterhaltung ihres psychischen Gleichgewichts auf die Verwendung von Borderline-Elementen und Borderline-Mechanismen angewiesen sind.

Kippt das hochorganisierte Gleichgewicht, so wird dies als psychischer »Zusammenbruch« erlebt. Diese Krisenzustände sind es, welche die Patienten oft verzweifelt um Hilfe nachsuchen lassen. Sobald sie jedoch eine Behandlung aufgenommen haben, gewinnt man oft den Eindruck, als seien nicht wenige von ihnen bestrebt, den früheren Gleichgewichtszustand – nun mit Hilfe der Therapie – wieder herzustellen. Dieses Phänomen hat mit der Tendenz pathologischer Persönlichkeitsorganisationen zu tun, Bezugspersonen, wie z. B. die behandelnden Therapeuten, in ihre Funktionsweise einzubeziehen. Daraus resultieren jene typischen Verstrickungen, agora-claustrophoben Ängste und Missverständnisse, die in Kapitel 3 als »Labyrinth der Borderline-Kommunikation« beschrieben werden. In diesem Abschnitt werden nicht nur einige charakteristische Schwierigkeiten dieser Patienten skizziert, sondern auch Wege aufgezeigt, die unter Umständen geeignet sind, aus den Sackgassen wieder herauszuführen.

Eine der Schwierigkeiten besteht darin, dass die Patienten in kritischen Situationen oft dazu tendieren, zu sehr konkreten, präsymbolischen Kommunikationsformen überzugehen, welche der Übermittlung primitiver emotionaler Zustände und der mit ihnen verbundenen unbewussten Phantasien dienen. Um diese Ebene des Austauschs »jenseits der Worte« zu erfassen, muss der Analytiker zum geeigneten Zeitpunkt in der Lage sein, von der Betrachtung der Inhalte auf die Untersuchung der Gefühle, die in ihm evoziert werden, überzugehen. Kapitel 4 illustriert dies anhand eines ausführlichen klinischen Beispiels, in dem die Mitteilung von Träumen dazu verwendet wurde, die Übertragungssituation zu beeinflussen und Teile des Traumes unmittelbar innerhalb der Behandlungsstunde zu inszenieren. Anhand eines zweidimensionalen Schemas wird zwischen der Struktur des Traummaterials und seiner Verwendung zu kommunikativen bzw. Abwehrzwecken unterschieden. Hierzu wird die These formuliert, dass die Träume von Borderline-Patienten sowohl von psychotischen Träumen als auch von den Träumen neurotischer Patienten zu unterscheiden sind. Während psychotische Träume der Evakuation der Psyche von unverdaulichen Inhalten dienen und halluzinativen Zuständen ähneln, enthalten Letztere symbolische Elemente, welche Mitteilungen über die innere Welt des Träumers ermöglichen. Demgegenüber sind Borderline-Träume an der Grenzfläche zwischen innerer Welt und äußerer Realität angesiedelt. Sie entsprechen Videos, die den Analytiker dazu einladen sollen, in eine virtuelle Welt einzutauchen und mit dem Patienten bestimmte innere Szenarien durchzuspielen.

Diese virtuelle Welt ist weder wahnhaft noch real. Sie bildet eine eigene Wirklichkeit und einen eigenen Raum, der von Zeitlosigkeit geprägt ist. In ihm können innere und äußere Realität fließend ineinander übergehen. Zeitlosigkeit kann als ein allgemeines Merkmal psychischer Rückzugszustände aufgefasst werden. Im Verlauf einer Analyse führt sie mitunter zu erheblichen behandlungstechnischen Problemen. Manche der Patienten neigen dazu, ›endlose‹ Patienten zu werden, und fühlen sich nur so lange sicher, als die Therapie andauert. Trennungen, Unterbrechungen der Behandlung oder deren bevorstehendes Ende werden als psychische Katastrophe erlebt, der sie um jeden Preis entgehen müssen. Um dieser Gefahr zu begegnen, versuchen sie das Fortschreiten der Zeit aufzuhalten und stellen auf die eine oder andere Weise zeitlose Zustände her. Einige dieser Zustände werden in Kapitel 5 als »Inseln von Zeitlosigkeit« beschrieben. In diesen Enklaven kommt jede Entwicklung zum Erliegen, was im Analytiker Gefühle von Ärger, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung auslösen kann. Anhand zweier Behandlungsverläufe werden ›romantische Idealisierung‹ und ›allwissende Verzweiflung‹ als zwei Erscheinungsformen von Zeitlosigkeit vorgestellt. Dabei werden Trauer und Hoffnung als grundlegende Merkmale des therapeutischen Prozesses in ihr Gegenteil verkehrt, so dass ein statischer Zustand entsteht, durch den Veränderung vermieden wird.

Missrepräsentationen des Zeiterlebens, wie sie bei Borderline-Patienten häufig anzutreffen sind, werfen ebenso theoretische wie behandlungstechnische Fragen auf. Sie werden in Kapitel 6 unter dem Gesichtspunkt der von Melanie Klein (1946) eingeführten »paranoid-schizoiden« und »depressiven Position« diskutiert. Während in der paranoid-schizoiden Welt die Vergangenheit allgegenwärtig ist und die Zukunft als namenlose Bedrohung erscheint, tauchen erst mit dem Übergang zur depressiven Position genuin zeitliche Erfahrungen auf. Sie setzen die Rücknahme von Projektionen und damit das Erreichen von psychischer Getrenntheit voraus, durch die innere und äußere Realität voneinander unterscheidbar werden. Nach der hier entwickelten Vorstellung geht die Entfaltung des dreidimensionalen psychischen Raumes der Entwicklung des Zeiterlebens voraus. Daraus wird ein räumliches Modell der Übertragungssituation abgeleitet, welches zu der Überlegung führt, dass es nicht die Erinnerung ist, die Trauer ermöglicht, sondern dass umgekehrt erst die Fähigkeit zu trauern zu einem Erinnern mit Emotion und Bedeutung führt. Übertragungsdeutungen haben deshalb zunächst den Sinn, den inneren psychischen Raum zu erschließen, bevor zeitliche Rekonstruktionen sinnvoll werden. In diesem Modell wird die Aufgabe des Verstehens als diejenige einer Wiedergutmachung an den beschädigten inneren Objekten des Patienten, die Arbeit des Erinnerns als diejenige eines Anerkennens und Verzeihens gesehen.

Neben dem Rückzug in Zeitlosigkeit stellt der Aufbau komplexer Missrepräsentationen eine weitere Möglichkeit dar, der schmerzlichen Auseinandersetzung mit Erfahrungen von Trennung und Verlust aus dem Weg zu gehen. Missrepräsentationen beziehen sich auf »elementare Lebenstatsachen« (Money-Kyrle 1971), unter denen die Abhängigkeit von einer äußeren Quelle des Guten, die Anerkennung der ödipalen Situation sowie die Anerkennung der Unvermeidlichkeit von Vergänglichkeit und Verlust eine besonders wichtige Rolle spielen. Durch Missrepräsentationen werden diese Lebenstatsachen zugleich scheinbar anerkannt und heimlich negiert. Sie führen zu Verdrehungen und Verzerrungen der psychischen Realität, die auf unterschiedliche Weise organisiert werden können. Anhand von klinischem Material wird in Kapitel 7 zunächst die Entwicklung einer psychotischen Missrepräsentation im ersten Behandlungsjahr beschrieben, die auf wahnhaften und omnipotenten Mechanismen beruhte. Im weiteren Verlauf der Analyse wurden von der Patientin vor allem narzisstische und perverse Elemente eingesetzt, um katastrophale Verlustängste abzuwehren. Sie spiegeln die Tätigkeit einer Borderline-Organisation wieder, die jedoch nicht mehr zu einer völligen Verleugnung der psychischen Realität führte. Schließlich wird anhand zweier Sitzungen aus dem fünften Behandlungsjahr dargestellt, wie die Patientin unter dem Eindruck des bevorstehenden Behandlungsendes zwar vorübergehend wieder auf solche Mechanismen zurückgriff, nun aber besser in der Lage zu sein schien, mit ihrer Trauer und ihren Verlustängsten umzugehen. Um zu diesen emotionalen Erfahrungen einen Zugang zu finden, kann es hilfreich sein, die Entwicklung von Missrepräsentationen sorgfältig zu beobachten und ihre Funktion innerhalb der Übertragungsbeziehung zu untersuchen.

Kapitel 8 beschreibt anhand von weiterem klinischen Material, wie sehr Borderline-Patienten unter dem Eindruck von Trennungserfahrungen auf verzweifelte Abwehrmaßnahmen zurückgreifen können, um Ängsten vor Fragmentierung und Identitätsverlust zu entgehen. Im vorliegenden Fall hatte der Tod des Vaters bei der Patientin zu einem psychischen Zusammenbruch geführt, der bei ihr frühe psychotische Ängste wieder aufleben ließ. In der Behandlung tauchten psychotische Elemente schon frühzeitig innerhalb der Übertragung auf, so dass sich die Patientin bedroht und verfolgt fühlte. Es wird dargestellt, auf welche Weise sie diese Ängste zu kontrollieren versuchte und wie sie jedes Mal, wenn die Kontrolle zusammenzubrechen drohte, erneut mit psychotischen Erfahrungen in Kontakt kam. Besonders ausgeprägt zeigte sich dies in ihrem Bemühen, die Behandlung vorzeitig zu beenden, um sich nicht in ihr gefangen zu fühlen. Unter Bezugnahme auf das in Kapitel 3 entwickelte Schema werden Übergänge zwischen Borderline-Träumen und psychotischen Träumen beschrieben. Als sich die Patientin schließlich in der Lage fühlte, ein Ende der Behandlung ins Auge zu fassen, geriet sie mit Trauergefühlen in Berührung, die sie manchmal als so bestürzend erlebte, dass sie sich in eine schlaftrunkene Phantasiewelt zurückzog. Dadurch breitete sich ein Gefühl von Unwirklichkeit aus, welches sie für den Analytiker schwer erreichbar machte. Gelang es, sie aus diesem zeitlosen Schlaf zu wecken, wurde sie erneut von Angst und heftiger Trauer ergriffen. Diese Bewegungen werden anhand der letzten vier Behandlungsstunden im Einzelnen dargestellt. Es wird aufgezeigt, wie die Situation des Abschiednehmens mit der Angst vor dem Wiederauftauchen verstörender innerer Objekt verbunden ist und wie oft gerade in solchen Augenblicken pathologische Organisationen erneut ins Spiel gebracht werden können, um mit diesen Ängsten fertigzuwerden.

Das Erfassen solcher Bewegungen ist an die Fähigkeit des Analytikers gebunden, die in ihm entstehenden Gefühle wahrzunehmen und über sie nachzudenken. Für das Verständnis der in ihm ablaufenden Gegenübertragungsprozesse hat das Konzept der projektiven Identifizierung eine wichtige Grundlage geliefert. Es beschreibt, wie das Individuum unter bestimmten Umständen dazu neigt, Teile seines Erlebens in sein Gegenüber hineinzulegen – manchmal in der Hoffnung, auf diese Weise etwas von seinem inneren Zustand mitzuteilen und verstanden zu werden, manchmal in der Absicht, etwas auf gewaltsame Weise loszuwerden, in den anderen einzudringen und diesen von innen her zu kontrollieren. Für das Verständnis der Borderline-Kommunikation hat sich vor allem die Untersuchung der pathologischen projektiven Identifizierung als bedeutsam erwiesen. Ausgehend von den Erweiterungen, die R. Money-Kyrle (1956; 1960) und W. R. Bion (1962; 1963; 1965) an dem von M. Klein formulierten Konzept vorgenommen haben, wird in Kapitel 9 ein mehrphasiges Modell der projektiven Identifizierung entworfen. Es beschreibt zunächst, wie sich die vom Patienten ausgestoßenen Selbst- und Objektanteile an die psychische Oberfläche des Analytikers anheften, um dann in einem zweiten Schritt in sein Inneres aufgenommen zu werden. Dort angelangt, streben sie danach, sich mit seinen eigenen inneren Objekten zu verbinden. Diese innere Verbindung zu erfassen, über sie nachzudenken und sie schließlich wieder auflösen zu können, stellt wichtige Schritte im Durcharbeiten der Gegenübertragung dar. Es wird aufgezeigt, wie es im günstigen Fall zu einer Transformation der projizierten Elemente kommt, so dass sie der Analytiker in Gestalt seiner Deutungen in einer weniger ›unverdaulichen‹, symbolisierten Form an den Patienten zurückgeben kann. Die Unterscheidung verschiedener Teilphasen der projektiven Identifizierung trägt dazu bei, Schwierigkeiten und Blockaden im Durcharbeiten der Gegenübertragung genauer zu lokalisieren. Kurze klinische Sequenzen illustrieren die dabei auftretenden behandlungstechnischen Probleme. Abschließend werden noch einmal typische Sackgassen-Situationen und Deutungsoptionen bei der Behandlung von Borderline-Patienten beschrieben.

Auch wenn in diesem Buch häufig von »Borderline-Patienten« oder »Borderline-Problemen« die Rede ist, so wird damit doch kein einheitliches klinisches Bild beschrieben. Gemeint sind vielmehr Phänomene und Vorgänge, die auch bei neurotischen, psychotischen und ›normalen‹ Individuen vorkommen, welche für Borderline-Patienten aber besonders charakteristisch sind. Sie werden deshalb im folgenden als »Borderline-Elemente« bzw. »Borderline-Mechanismen« beschrieben. Ebenso wenig war es beabsichtigt, den vorliegenden Untersuchungen zur Klinik und Diagnose der Borderline-Pathologie eine weitere hinzuzufügen oder verschiedene Subtypen von Borderline-Störungen zu differenzieren. Hierzu wurden in den vergangenen Jahrzehnten eine Reihe von Ansätzen vorgelegt (Fairbairn 1952; Knight 1953; 1972; Rosenfeld 1965; 1971a,b; Guntrip 1968; Kernberg 1968; 1984; 2004; Rohde-Dachser 1979; Green 1990; Giovacchini 1993; Steiner 1993; Rey 1994; Britton 2003), von denen einige in dem von Kernberg, Dulz und Sachsse (2000) herausgegebenen Handbuch der Borderline-Störungen zusammengefasst sind.

Das Anliegen dieses Buches ist vielmehr ein klinisches. Es geht von der Schwierigkeit des Borderline-Patienten aus, einen Raum für seine emotionalen Erfahrungen zu konstruieren, und untersucht die Folgen, die sich daraus für den Beziehungsaufbau und die therapeutische Arbeit ergeben. Einige der Probleme haben mit dem Zeiterleben und der Symbolverwendung des Borderline-Patienten zu tun, welche ihrerseits mit seiner »geographischen Verwirrung« (Meltzer 1992) in Beziehung stehen.

Die Schwierigkeiten, einen dreidimensionalen psychischen Raum zu entfalten und diesen vom äußeren Raum und vom inneren Raum anderer Menschen zu differenzieren, wurden innerhalb der Psychoanalyse von verschiedener Seite thematisiert. In diesem Zusammenhang sind W. R. Bions (1962; 1963) Untersuchungen zum Containment, D. W. Winnicotts (1953; 1971) Überlegungen zum »intermediären Raum«, D. Meltzers (1966; 1992) und H. Reys (1979; 1994) Arbeiten zum »agora-klaustrophoben Dilemma« sowie H. Segals (1957; 1991) klinische Erforschung von Symbolisierungsstörungen zu nennen, die sich teilweise mit strukturalistischen (Lacan 1953; 1966) und neueren ichpsychologischen Ansätzen (Jacobson 1964; Mahler 1975; Mahler et al. 1975; Loewald 1986; R. Blanck, G. Blanck 1986; Meissner 1984) berühren. Aktuelle Forschungen zum Bindungsverhalten und zur frühen Entwicklungspathologie (Stern 1985) haben diese Phänomene als mangelnde Affektspiegelung bzw. als defizitäre »Mentalisierung« konzeptualisiert (Gergely, Watson 1996; Fonagy, Target 1997; Fonagy 2001; Fonagy et al. 2002). Obwohl diese empirischen Befunde für das Thema der vorliegenden Untersuchung von Bedeutung sind, wird auf sie nur insoweit eingegangen, als sie behandlungstechnische Fragen berühren.

Für das Verständnis des therapeutischen Prozesses sind dagegen vor allem solche Ansätze relevant, die unmittelbar aus der klinischen Erfahrung entwickelt wurden. Dies trifft z. B. für die Theorie der projektiven Identifizierung zu (vgl. Frank, Weiß 2007) oder für das Konzept der pathologischen Persönlichkeitsorganisationen, welches ab Mitte der 60er Jahre von Rosenfeld (1965; 1971a,b; 1987), Meltzer (1966; 1968; 1973) und anderen Autoren ausgearbeitet wurde (vgl. Weiß, Frank 2002). Die verschiedenen Ansätze wurden von J. Steiner (1993) in seiner Theorie der seelischen Rückzugsorte zusammengeführt, welche unter dem Titel der »Borderline-Position« die grundlegenden Gemeinsamkeiten klinisch sehr heterogener und komplexer Zustandsbilder betont. Steiners Theorie der psychic retreats ist für die in diesem Band entwickelten Vorstellungen von besonderer Bedeutung; denn sie integriert nicht nur vielfältige klinische Beobachtungen und vorhandene Theorien, sondern sie erlaubt es auch, die Wirkung von Interventionen unmittelbar im Zusammenhang mit dem psychischen Gleichgewicht des Patienten zu verstehen. Ein Überblick zur Entwicklung des Konzepts der pathologischen Persönlichkeitsorganisationen soll deshalb am Anfang der nachfolgenden Überlegungen stehen.

2. Zuflucht oder Gefängnis?
Pathologische Organisationen der Persönlichkeit und Orte des seelischen Rückzugs

Borderline-Störungen umfassen bekanntlich ein weites klinisches Spektrum: Dieses reicht von psychotischen Zuständen mit langen Phasen von Fragmentierung und Desintegration bis hin zum scheinbar normalen, oft sogar besonders erfolgreichen und differenzierten Individuum, welches nur in Zeiten besonderer Belastung einen »Zusammenbruch« erlebt. Obwohl die klinischen Unterschiede des Borderline-Spektrums beträchtlich sind, gibt es dennoch gemeinsame Merkmale in der Qualität der vorherrschenden Ängste sowie in den Abwehrmaßnahmen, die zum Schutz vor diesen Ängsten errichtet werden. Um diese Gemeinsamkeiten zu charakterisieren, spricht man von einer Borderline-Persönlichkeitsorganisation (Kernberg 1967; 1975) oder auch von Borderline-Mechanismen und -Elementen, wie sie allerdings nicht nur bei Borderline-Patienten, sondern in bestimmten Situationen auch bei psychotischen, neurotischen und normalen Individuen anzutreffen sind. Gleichwohl erweist sich die Kenntnis dieser Elemente als hilfreich, um die Dynamik dieser Störungen in der konkreten klinischen Situation zu verstehen. Wenn sie zu einer zeitlich überdauernden Struktur zusammengefasst sind, sprechen wir von einer pathologischen Persönlichkeitsorganisation.

Das Konzept der pathologischen Persönlichkeitsorganisationen führt verschiedene theoretische Ansätze und klinische Beobachtungen in einem komplexen Funktionsmodell zusammen. Es beschreibt, wie unter dem Eindruck früher Angstsituationen hochorganisierte Strukturen – gleich einem Versteck oder einer schützenden Höhle – aufgebaut werden, um mit diesen Ängsten fertigzuwerden. Im Verlauf der weiteren Entwicklung zeigt sich jedoch, dass jene Zufluchtsorte, die ursprünglich Schutz vor unerträglichen Ängsten gewähren sollten, nun ihrerseits zu einer Sackgasse und zu einem Gefängnis werden.

Pathologische Organisationen können sowohl in gesellschaftlichen Phänomenen, in Gruppenprozessen wie auch in der Persönlichkeitsentwicklung wirksam werden. Man spricht z. B. von einer zwanghaften, paranoiden, narzisstischen oder Borderline-Organisation und meint damit die vorherrschenden Strukturmerkmale und Mechanismen, welche die Tätigkeit der Organisation prägen. Von besonderem Interesse sind dabei die spezifischen Prozesse und Verbindungen, die zum Aufbau und zum Zusammenhalt solcher Organisationen beitragen. In der psychoanalytischen Behandlung erweisen sie sich z. T. als überaus veränderungsresistent; denn sie zielen darauf ab, den Analytiker in ihre Tätigkeit einzubeziehen. Dies führt zu einer Reihe von behandlungstechnischen Problemen, welche in den folgenden Kapiteln erörtert werden. Zunächst soll aber ein Überblick über das Konzept der pathologischen Persönlichkeitsorganisationen gegeben werden, wie es vor allem innerhalb der kleinianischen Tradition entwickelt wurde.

Zur Entstehung des Konzepts der pathologischen Persönlichkeitsorganisationen

Bereits Freud verwendete den Begriff »Organisation« und bezeichnete damit bestimmte Stadien der kindlichen Sexualentwicklung – die »infantilen Sexualorganisationen« –, die durch ihre jeweils vorherrschenden libidinösen Ziele und Objekte gekennzeichnet sind (Freud 1905d). Mit der Einführung der Narzissmustheorie (Freud 1914c) richtete sich sein Interesse auf pathologische Ich-Zustände, wie er sie bereits in seiner Analyse des Schreber-Falles (Freud 1911c) beschrieben hatte und später in Trauer und Melancholie (Freud 1916–17g) sowie in seinen Untersuchungen zum Fetischismus (1927e) und zur »Ich-Spaltung im Abwehrvorgang« (1940e) weiterführte. Freud war dabei mit komplexen Abwehrvorgängen beschäftigt, die seiner Meinung nach pathologische Identifikations- und Spaltungsprozesse beinhalten und die Beziehungen des Ich zur inneren und äußeren Realität nachhaltig prägen. Bereits 1913 hatte er den Ausdruck »narzißtische Organisation« geprägt (Freud 1912–13a), und nach Einführung des Todestrieb-Konzeptes (Freud 1920g) beschäftigte er sich in seinem Spätwerk (Freud 1937c) mit grundlegenden Widerständen, die als Ausdruck destruktiver Kräfte gegen die Kreativität und Liebesfähigkeit des Individuums gerichtet sind.

An Freuds Überlegungen konnten seine Nachfolger wie z. B. Karl Abraham (1919; 1924; 1925) mit der Erforschung überaus schwieriger Charakterwiderstände anknüpfen. Abraham hatte bereits 1919 eine besondere Form von narzisstischem Widerstand beschrieben, die durch scheinbare Gefügigkeit, die Vermeidung alles Kränkenden sowie die Tendenz des Patienten charakterisiert ist, alles alleine zu machen und sich selbst an die Stelle des Analytikers zu setzen. Wilhelm Reich (1933) prägte den Begriff des »Charakterpanzers«, und Helene Deutsch (1942) beschrieb einen Typus von Patient, den sie »Als-ob«-Persönlichkeit nannte. In ähnliche Richtung weisen die Überlegungen Michael Balints (1968) zu regressiven Zuständen, Donald W. Winnicotts (1960) Theorie der Organisation eines »falschen Selbst« sowie W. R. D. Fairbairns (1944) Beschreibung der Figur eines »inneren Saboteurs«. Darüber hinaus haben viele Autoren unterschiedlicher psychoanalytischer Schulen wichtige Ansätze zum Verständnis von Persönlichkeitsstörungen und Charakterwiderständen entwickelt (Nunberg 1956; Gitelson 1963; Kernberg 1967; 1975; 1983; Loewald 1978; Giovacchini 1975; Rohde-Dachser 1979; Green 1990; vgl. auch Lax 1989). Ihre Beiträge können hier nicht alle referiert werden. Stattdessen soll ausführlicher auf die von der Theorie Melanie Kleins ausgehenden Entwicklungen eingegangen werden.

Innerhalb der kleinianischen Tradition, welche besonders auf die zuletzt genannten Überlegungen Freuds sowie auf die Arbeiten Abrahams Bezug nahm, hatte Joan Rivière bereits 1936 in ihrem Aufsatz über die negative therapeutische Reaktion komplexe narzisstische Widerstände als »Teil eines hochorganisierten Abwehrsystems« gegen einen mehr oder weniger unbewusst-depressiven Zustand im Patienten (Rivière 1936, S. 138) beschrieben. Ihre Beobachtungen, wie auch die Formulierungen anderer Autoren, konnten sinnvoll integriert werden, nachdem M. Klein in ihrer Arbeit »Bemerkungen über einige schizoide Mechanismen« (1946) ein neues Modell des psychischen Funktionierens entwickelt hatte.

Nach diesem Modell bildet das frühe Ich keine einheitliche Struktur, sondern kann in Teile gespalten und in Objekte projiziert werden, um von hier aus zu einem späteren Zeitpunkt reintrojiziert und wieder zusammengefügt zu werden. Diese Sichtweise eröffnete den Blick auf primitive Abwehrmechanismen, mit deren Hilfe sich das frühe Ich unerträglicher innerer Spannungen zu erwehren sucht. Sie bildete zugleich die Voraussetzung dafür, um in der Folgezeit erstmals erwachsene psychotische und Borderline-Patienten in psychoanalytische Behandlung zu nehmen. Diese von Rosenfeld (1949; 1950; 1952a,b, 1954; 1965), Segal (1949; 1956; 1957), Bion (1950; 1954; 1955; 1956; 1957; 1958; 1959) und anderen durchgeführten Analysen (vgl. Weiß, Horn 2007) fanden im Rahmen des klassischen psychoanalytischen Settings statt. Sie konfrontierten die Analytiker mit bis dahin unbekannten, z. T. heftigen und verwirrenden Übertragungsreaktionen. Zugleich bereiteten sie ein umfassenderes Verständnis der Gegenübertragung vor (Heimann 1950; Racker 1953; Money-Kyrle 1956) und gewährten dadurch Einblick in den Aufbau und die Funktion pathologischer Persönlichkeitsorganisationen.

Das von Klein entworfene Modell beschreibt die Persönlichkeitsentwicklung als ein beständiges Oszillieren zwischen projektiven und introjektiven Bewegungen, zwischen Phasen von Integration und Desintegration, wobei konstitutionelle Faktoren und Umwelteinflüsse zusammenwirken. Seelische Gesundheit wird hier als eine Balance zwischen projektiven und introjektiven Prozessen aufgefasst, welche im günstigen Fall Entwicklung und Differenzierung ermöglichen, während sie im ungünstigen Fall zum Aufbau pathologischer Strukturen führen. Mit der »paranoid-schizoiden« und der »depressiven Position« beschrieb Klein dabei zwei psychische Organisationsformen, die sich hinsichtlich ihrer Funktionsweise, der verwendeten Mechanismen sowie der Selbst- und Objektorganisation grundlegend voneinander unterschieden. Klein konnte dabei auf die Erfahrungen aus ihren frühen Kinderanalysen (Klein 1932; vgl. Frank 1999) sowie auf ihre Untersuchungen zu normalen und pathologischen Trauerprozessen zurückgreifen (Klein 1935; 1940). Da diese Unterscheidung von grundsätzlicher Bedeutung ist, sollen die wichtigsten Erlebensmodi der paranoid-schizoiden und der depressiven Position hier kurz vorgestellt werden.

Paranoid-schizoide und depressive Position

Die Einführung der beiden »Positionen« erlaubte Klein die Untersuchung komplexer psychischer Organisationsformen, die sie sowohl als Entwicklungsstadien wie auch als Abwehrformationen bzw. zeitlich überdauernde psychische Strukturen begriff, welche es im Laufe des Lebens immer wieder durchzuarbeiten gilt. Letzteren Gesichtspunkt hob insbesondere Bion (1962; 1963) hervor, der das Oszillieren zwischen paranoid-schizoider (PS) und depressiver Position (D) als Teil eines Entwicklungsprozesses begriff (vgl. Britton 1998).

PS ↔ D

Sieht sich das Individuum in der paranoid-schizoiden Position in erster Linie mit Verfolgungs- und Fragmentierungsängsten konfrontiert, so werden die Beziehungen in der depressiven Position als Beziehungen zu ganzen Objekten konzipiert. Teilobjektbeziehungen kennzeichnen dagegen die paranoid-schizoide Position. Da diese Objekte aufgrund des Vorherrschens projektiver Prozesse in starkem Ausmaß Selbstanteile enthalten, sind in ihnen Selbst und anderer, Innen und Außen nur mangelhaft voneinander differenziert. Das Denken in der paranoid-schizoiden Position ist konkretistisch und relativ zeitlos. Da Erfahrungen von Mangel und Verlust nur unzureichend symbolisiert werden können, wird die Abwesenheit guter (befriedigender) Erfahrungen oft wie die Anwesenheit schlechter Objekte erlebt, und wenn dies unerträglich ist, werden diese sofort wieder projiziert. Dabei dient die projektive Identifizierung in erster Linie dazu, die Psyche von quälender Angst und Spannung zu entlasten. Da Integrationsprozesse noch nicht dauerhaft sind und rasch wieder zerfallen, überwiegt die Tendenz, belastende Gefühle so schnell wie möglich loszuwerden. Sie können deshalb nur kurzfristig und auf relativ primitive Weise symbolisiert werden (Segal 1957). Zustände von Idealisierung und Verfolgung wechseln einander in der paranoid-schizoiden Position in rascher Reihenfolge ab. Um Verwirrung und Fragmentierung zu entgehen, müssen idealisierte Selbst- und Objektanteile von schlechten, verfolgenden Anteilen getrennt gehalten werden. Spaltung, primitive projektive Identifizierung und omnipotente Kontrolle charakterisieren deshalb die Objektbeziehungen innerhalb der paranoid-schizoiden Position. Ängste und Schuldgefühle haben hier oft eine verfolgende Qualität, so dass das Hauptinteresse auf die Abwendung von Bedrohung und das Überleben des Selbst gerichtet ist.

In der depressiven Position kommt es dagegen zu einer schrittweisen Integration: Das Individuum entdeckt, dass es das gleiche Objekt ist, welches es befriedigt und frustriert und dem es sowohl liebende wie auch hasserfüllte Regungen entgegenbringt. Der Abzug von Projektionen lässt ein stärkeres Gefühl von Getrenntheit entstehen, was mit Verlusterleben und intensiver Trauerarbeit verbunden ist. Diese Veränderungen gehen aus einer wachsenden Fähigkeit zur Integration von Erfahrungen hervor und führen dazu, dass sich das Hauptinteresse vom Überleben des Selbst auf die Sorge um das Objekt verschiebt, von dem sich das Individuum abhängig fühlt. Mit der Anerkennung räumlicher Getrenntheit kommt es auch zu einer zeitlichen Integration. Symbole können nun zur Bezeichnung von Abwesendem verwendet werden, so dass ein Raum für die Generierung von Bedeutung, Erinnerung und zeichenvermittelter Kommunikation entsteht (Weiß 1998a). Mit der Integration ambivalenter Regungen kommen zugleich Verlustängste und Schuldgefühle ins Spiel. Sie leiten Wiedergutmachungsbestrebungen ein, die allmählich weniger omnipotent ausfallen und mit der Anerkennung des dem Objekt in der Phantasie zugefügten Schadens einhergehen. Diese Bewegung ist mit intensivem Konflikterleben verbunden und begleitet die einzelnen Stadien des Trauervorgangs (vgl. Steiner 1993, S. 60ff.). Sie fördert die Bereitschaft zu vergeben und ermöglicht es umgekehrt, sich vorzustellen, dass einem auch selbst vergeben werden kann (Rey 1986), woraus ein Gefühl von Dankbarkeit entsteht. Dadurch wird nicht nur die Beziehung zum Primärobjekt, sondern auch das Erleben der Ödipussituation modifiziert: Auch hier treten Spaltungsprozesse zurück, und das Kind gewinnt eine realistischere Sicht der elterlichen Paarbeziehung, von der es sich aufgrund seiner Kleinheit und Unreife ausgeschlossen fühlt.

Kleins Konzept der projektiven Identifizierung und Bions Erweiterung zum Modell Container/contained

In ihrer Arbeit »Bemerkungen über einige schizoide Mechanismen« (1946) hatte Klein nicht nur die beiden »Positionen« eingeführt, sondern auch das Konzept der »projektiven Identifizierung« formuliert. Die projektive Identifizierung umfasst eine Reihe von Vorgängen, die je nach Ausgangssituation und zugrunde liegendem Motiv sowohl der Übermittlung emotionaler Zustände als auch der Verfolgung von Abwehrzwecken dienen. In ihrer allgemeinsten Form lässt sie sich als Phantasie beschreiben, Teile des eigenen Selbst (Gefühle, ›Gedanken‹, psychische Funktionen) in ein aufnehmendes Objekt zu verlagern, wodurch dieses in unterschiedlicher Weise beeinflusst, zu Reaktionen veranlasst und in Besitz genommen wird. Es handelt sich demnach um einen Vorgang, der nicht nur die Oberfläche des Objekts berührt, sondern in es hinein gelangt und dessen inneren Zustand modifiziert. In Erweiterung der Auffassung Freuds (vgl. Weiß, Frank 2007) wurde die Projektion nun als ein Prozess betrachtet, der den inneren Raum und die emotionale Erfahrung eines anderen Menschen berührt – und nicht länger als etwas, das lediglich zu einer Verzerrung seines Bildes führt. Gleichzeitig wurde damit anerkannt, dass die projektive Identifizierung mit einem vorübergehenden oder dauerhaften Verlust von Teilen des Selbst einhergehen kann.

Obwohl Melanie Klein in ihren späteren Veröffentlichungen nur noch gelegentlich auf den Begriff »projektive Identifizierung« zu sprechen kommt (vgl. Spillius 2007), bildete ihre Entdeckung die Grundlage für zahlreiche nachfolgende Entwicklungen. Bereits in der ursprünglichen Beschreibung hatte sie eine Vorstellung davon vermittelt, wie die projektive Identifizierung verwendet werden kann, um schlechte Gefühle loszuwerden und in einer aggressiven Weise in das Objekt einzudringen, Teile davon in Besitz zu nehmen und es von innen her zu kontrollieren. Sie beschrieb die projektive Identifizierung zunächst als »omnipotente Phantasie«, fügte aber hinzu, dass die Projektion von Teilen des Selbst mit schwerwiegenden Folgen sowohl für das Selbst als auch für das Objekt einhergeht. Unter diesen Folgen erwähnte sie die Schwächung des Ich, die Entstehung von Verwirrtheitszuständen, von klaustrophoben und Verfolgungsängsten. Sie betonte die enge Verbindung mit Spaltungsprozessen und wies darauf hin, dass pathologische Projektionen häufig mit pathologischen Introjektionen einhergehen, was die Angst vor Vergeltung, vor Bedrohung und Schuld noch verstärken kann (vgl. Sodré 2004).

Nach Klein können nicht nur schlechte Teile des Selbst in Verbindung mit schlechten inneren Objekten auf diese Weise projiziert werden. Das Gleiche trifft für gute Teile des Selbst zu, mit denen eine gute Beziehung zu einem guten Objekt hergestellt werden soll. Erfolgt diese Projektion zu exzessiv, so kann daraus eine übermäßige Abhängigkeit von einem idealisierten Objekt hervorgehen. Unter den Motiven, die der projektiven Identifizierung zugrunde liegen, scheinen Neid, Kontrolle und die Aufhebung von Getrenntheit eine wichtige Rolle zu spielen. Dabei wird die projektive Identifizierung vor allem verwandt, um mit überwältigenden Ängsten, die von primitiven destruktiven Regungen ausgehen, fertigzuwerden. Gelingt es im Verlauf der Entwicklung, diese Ängste durch die Introjektion guter Erfahrungen zu modifizieren, so können sie in einer anderen Weise kommuniziert und bewältigt werden. Klein betonte deshalb die wichtige Rolle, die dem liebevollen mütterlichen Verstehen bei der Überwindung primitiver psychotischer Ängste zukommt (Klein 1946, S. 20). Und sie benutzte bereits den Begriff to contain, wenn es in ihrer Arbeit heißt: »Insofar as the mother comes to contain the bad parts of the self she is not felt to be a seperate person, but to be the bad self.« (1946, S. 8, Hervorhebung, H.W.)

Es war vor allem Bion (1957; 1959; 1962; 1963; 1965), der in der Folgezeit Kleins Ideen aufnahm und in seinem Modell von der Beziehung zwischen Container und contained weiterführte. Die Aufmerksamkeit verlagerte sich nun von den primitiven innerpsychischen Zuständen auf die Veränderungen, die sich im aufnehmenden Objekt (Container) abspielen. Im günstigen Fall kann das projizierte Rohmaterial (bei Bion β-Elemente) durch die rezeptive, ahnende (»rêverie«) und verstehende Funktion des Containers (z. B. der Mutter) in ersten Bedeutungselementen (α-Elemente) organisiert werden. Als solche können sie vom Säugling reintrojiziert und als Bausteine zum Nachdenken über emotionale Erfahrungen verwendet werden. Bion bezeichnete die mütterliche Funktion, die zur Umwandlung der anfänglich von Sinnesdaten noch kaum unterscheidbaren »Proto-Gedanken« (β-Elemente) dient, als α-Funktion. Gelingt diese Transformation, so lässt der Druck zum Ausscheiden ›unverdaulicher‹ Gefühle nach und es können – statt konkretistischer Handlungen – nun ›Gedanken‹ von zunehmend höherer Komplexität gebildet werden. Zusammen mit den α-Elementen wird auch der Umwandlungsprozess, der in der Mutter stattfindet, introjiziert. Er führt zur Etablierung der α-Funktion, welche das Kind schließlich in die Lage versetzt, seine eigenen Gedanken zu »denken«, d. h. seinen emotionalen Erfahrungen Bedeutung zu geben.

Abb. S. 028

Abb. 1: Containment und Transformation von β-Elementen nach W. R. Bion, »Lernen durch Erfahrung« (1962)

Bion beschreibt ein komplexes Zusammenspiel, an dessen Zustandekommen neben Container/contained (/, Ausstoßung Aufbewahrung) der Übergang von der paranoid-schizoiden zur depressiven Position (PS D), die Einwirkung von L (love), H (hate) und K (knowledge) als emotionalen Elementarverbindungen sowie das Auftauchen einer »besonderen Tatsache« (selected fact, nach H. Poincaré) als Kristallisationskern für entstehende Bedeutungen beteiligt sind (vgl. Weiß 2001). Darauf wird im Zusammenhang mit der Untersuchung von Gegenübertragungsprozessen noch näher eingegangen.

Die Theorie der pathologischen Persönlichkeitsorganisationen in der kleinianischen Tradition