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Inhalt

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» Die Autoren

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Marina Durnowo, geb. Malitsch

Vorwort

Noch Anfang der achtziger Jahre trafen in Leningrad, Uliza Majakowskogo, frühere Nadeshdinskaja, in der Nachbarschaft jenes Hauses, in dem Daniil Charms bis zu seiner Verhaftung 1941 gewohnt hatte, zuweilen Briefe aus Südamerika ein. Charms' Frau Marina Malitsch schrieb aus Venezuela, wohin das Schicksal sie verschlagen hatte, an ihre alte Freundin Marina Rshewuskaja, die möglicherweise auch ihre Cousine, auf jeden Fall aber mit dem Kunstwissenschaftler Wsewolod Petrow verheiratet war, der Charms gleichfalls gekannt hatte. Doch mit Marina Rshewuskajas Tod im Jahr 1983 fand diese Korrespondenz ein jähes Ende. Die Tochter der beiden, welche gleichfalls Marina hieß, wie auch Charms' Schwester Jelisaweta Tobilewitsch, die ich manchmal besuchte, wenn ich in Leningrad war, gaben sich überzeugt, daß Marina Malitsch höchstwahrschein-lich auch nicht mehr lebte. »Sonst würde sie ganz bestimmt schreiben.«

Eigenhändig Briefe nach Venezuela zu schicken, geschweige in dieses ferne, unbekannte Land zu reisen, kam mir zu jener Zeit aus vielerlei Gründen so abwegig vor, daß ich keinen Gedanken daran verschwendete.

Aber irgend etwas ließ mich dennoch spekulieren: Was, wenn Marina noch lebte?

Wie das Schicksal ihr mitgespielt hatte, wußte ich von Charms' Schwester. Eine phantastische Geschichte. Was auf dieser Welt nicht alles geschieht!

Wie aber hätte man sie auftreiben sollen, wenn sie doch auf Briefe nicht mehr reagierte? Ich ging zunächst den üblichen Weg, wandte mich an die venezolanische Botschaft

in Moskau und ihren Botschafter Jesús Fernández mit der Bitte um Unterstützung bei der Suche nach Marina Vises oder Wises (dieser Name stand in der Adresse, die ich von Rshewuskajas und Petrows Tochter hatte), wohnhaft in Valencia. Botschaftsangehörige wie auch deren Freunde und Verwandte bemühten sich redlich, doch ohne Erfolg: Der Buchladen, den Marina einst geführt hatte, existierte schon lange nicht mehr, und keiner dort hatte eine Ahnung, ob die Inhaberin noch lebte oder nicht. Und Adreßbüros, wie es sie in Rußland gibt, waren in Venezuela leider nicht vorhanden.

Ich hatte meinen Plan, Charms' Frau zu finden, schon so gut wie aufgegeben; nur der Wunsch, das Todesdatum festzustellen, ein für Literaturhistoriker nicht unbedeutendes Faktum, bewegte mich dazu, immer einmal wieder bei der Botschaft nachzufragen. Bis dahin waren die Lebensdaten der Malitsch in allen einschlägigen Charms-Artikeln, darunter den meinen, immer noch mit einem Fragezeichen versehen.

Eines Tages aber verkündete mir der Künstler Leonid Tischkow (mit dem ich mehrere Bücher gemacht hatte, darunter zwei Charms-Ausgaben: »Die Alte« und »Vorfälle«), er werde in Venezuelas Hauptstadt Caracas eine Einzelausstellung haben. Natürlich bat ich ihn, vor Ort Nachforschungen anzustellen, ob Marina Malitsch nicht doch noch am Leben war.

Und das Unglaubliche geschah. Als Tischkow bereits wieder in Moskau war, machte seine venezolanische Bekannte María Delgado, die er um Mithilfe gebeten hatte, Marina Malitsch in Valencia ausfindig und teilte uns ihre Adresse mit.

Marina lebte!

Also ließ ich María Delgado über Tischkow ausrichten, sie solle sich doch bitte recht bald mit ihr treffen und alles aufschreiben, was der alten Dame zu Daniil Charms einfiel,

dessen Leben und Werk ich seit über vierzig Jahren studiere.

Aber wie Marina mir hinterher selbst sagte, dachte sie gar nicht daran, einem wildfremden Menschen so mir nichts, dir nichts von Danja zu erzählen. María Delgados Notizbuch blieb leer. Die Botschaft, die mich erreichte, war: »Es sei so viele Jahre her, sie erinnere sich an gar nichts mehr, außer daß er die Frauen sehr geliebt habe.«

Immerhin wußte ich nun, unter welcher Adresse Marina Durnowo (so ihr neuer Name) zu erreichen war, und schrieb ihr nach Venezuela einen Brief - beziehungsweise sandte den, der annähernd zehn Jahre zuvor im Geiste entworfen worden war.

Und o Wunder! Aus Venezuela kam Antwort. »Lieber Vladimir Iossifowitsch«, schrieb mir Marina Wladimirow na. »Erstens muß ich Ihnen sagen, daß es mir sehr schwerfällt, russisch zu schreiben. Nach allem, was ich erlebt habe, bin ich den Russen lieber aus dem Weg gegangen. Der Tod meines Mannes Daniil Charms ist mir für immer im Gedächtnis geblieben. Es war gestern. Es war so furchtbar, daß es nicht zu vergessen geht …« Und am Ende ihres langen Briefes schrieb sie: »Vladimir Iossifowitsch - kommen Sie doch her, da können wir ausführlich reden? […] Mit Ihnen könnte ich ein Buch schreiben und mehreres.«

Anfang November 1996 flog ich von Moskau nach Venezuela und klingelte nach zwanzigstündiger Reise spätabends an Marina Durnowos Wohnungstür.

Vor mir stand eine feine kleine Frau mit hellblauen Augen, sehr lebendig und beweglich, die wie ein kleines Mädchen durch ihre geräumige Wohnung lief, ja geradezu hüpfte. Edle Gesichtszüge und erlesene Manieren verrieten die aristokratische Abstammung.

Obgleich wir uns zum ersten Mal im Leben sahen, schlossen wir sehr schnell Freundschaft, und nach einer Woche kam es uns beiden so vor, als wären wir schon viele

Jahre miteinander bekannt. Ohne diesen »Draht«, so denke ich mir jetzt, wären unsere Gespräche, die für Marina den Charakter einer Beichte annahmen, gewiß undenkbar gewesen.

Während der zwei Wochen, die ich im gastlichen Haus der Marina Durnowo zubrachte, nutzte ich jede Gelegenheit, sie zum Reden zu bringen, Erinnerungen hervorzukitzeln, die ich - der Technik mißtrauend - sicherheitshalber auf zwei Tonbandgeräten mitschnitt.

Diese Aufzeichnungen verliefen zugegebenermaßen zäh. All das, woran Marina sich erinnern sollte, lag so lange zurück! Achtzig Jahre oder siebzig, sechzig, fünfzig … Meiner Detailversessenheit begegnete Marina mit den Worten: »Den Menschen möchte ich sehen, der sich nach fünfzig Jahren noch an alle Einzelheiten erinnert!« Manchmal unterbrach sie sich auch und hielt inne: »Ich weiß nicht, vielleicht ist es gar nicht gut, darüber zu sprechen, es gruselt mich irgendwie …« Aber zumeist verstummte sie einfach für lange Zeit, außerstande, ihre Erregung zu unterdrücken, während die Tonbandspulen sich weiterdrehten und den Lärm der Straße aufzeichneten, der durch die immer offenstehende Balkontür hereindrang.

War sie des Russischen müde, wechselte sie oft jäh ins geläufigere Spanisch, Englisch oder auch mitunter ins geliebte Französisch. Angesichts dieser Sprachverwirrung, da oft die einfachsten russischen Worte fehlten, blieb mir nichts weiter übrig, als sofort nachzufragen, wollte ich den Sachverhalt klären - Marina später noch einmal in dieselbe Gefühlslage bringen zu wollen wäre hoffnungslos gewesen.

Marina Malitschs Erinnerungen gingen über mein ursprüngliches Anliegen sehr schnell hinaus. Was sich da vor mir ausbreitete, war, wenngleich fragmentarisch, ihr ganzes Leben - und gewiß ebenso spannend wie die mit Charms verbrachten Jahre. Darum schien es mir nicht geraten, die Notate mit dessen Tod abbrechen zu lassen, womit auch

Marina sich einverstanden zeigte. Entstanden ist ein autobiographisches Zeugnis, das den Horizont des Dichters erfaßt und zugleich überschreitet.

Stunde um Stunde hing ich an Marina Durnowos Lippen - in dem Wissen, daß die letzte lebende Zeugin aus Daniil Charms' Leben zu mir sprach.

Vladimir Glozer

Meinem Sohn gewidmet

Marina Durnowo

Als ich aus dem Schoß meiner Mutter kam, sagte der Doktor, der bei der Geburt zugegen war (man entband damals zu Hause), nur: »Mein Gott, wie furchtbar!« Ich war kunterbunt: blau und gelb und rot … Meine Großmutter hat mir des öfteren davon erzählt.

Ich wurde im Hause der Golizyns1 an der Fontanka2 geboren. Meine Großmutter Jelisaweta Grigorjewna – die eigentlich die Tante meiner Mutter war, ich nenne sie immer meine Großmutter – war die Hebamme.

Meine Mutter wollte damals, koste es, was es wolle, den großen Ball besuchen, der einmal im Jahr im Winterpalais veranstaltet wurde und zu dem sie – als die Nichte meiner Großmutter – geladen war. Darum hatte sie nur eines im Sinn: mich so schnell wie möglich zu gebären. Loszuwerden! Man hatte ihr geraten, irgendeine Pille zu schlucken. Ob sie dann tatsächlich noch auf dem Ball war und ob Großmutter ihr dieser Ungehörigkeit wegen eine Szene machte – das zu behaupten, müßte ich lügen.

 

Mein Mädchenname Malitsch stammt aus dem Serbischen. Es ist der Name meiner Großmutter. Sie ist eine Fürstin Golizyna, geborene Malitsch.

Die Geschichte meiner Familie verdient es, erzählt zu werden, und beginnen muß ich beim Urgroßvater.

Im neunzehnten Jahrhundert lebte in jenem Land, das heute von Bürgerkriegen erschüttert wird, ein junger Serbe. Er war Arzt. Eines Tages beschloß er, den vorhersehbaren Lauf der Dinge zu fliehen und nach Rußland zu gehen, nach Sankt Petersburg. Dort hielt er um die Hand eines Mädchens aus vermögendem Hause an, sie heirateten, und er war plötzlich reich. Die Arztpraxis, die ihm nun entbehrlich schien, gab er auf.

Sie bekamen fünf Kinder: zwei Mädchen und drei Jungen. Den Namen von einem – ich glaube, Grigori – sehe ich noch mit goldenen Buchstaben an der Tafel irgendeiner Elitelehranstalt in Zarskoje Selo3 stehen, wo die Eltern ihre Kinder am liebsten schon ein Jahrzehnt im voraus anmelden.

Übrigens sollen die Jungen, Grigori und seine beiden Brüder, auffällig klein von Wuchs gewesen sein.

Grigori war ein Pferdenarr, genau wie die Brüder. Einmal zechte er mit Freunden in irgendeinem Restaurant, wo zu der Zeit gerade eine rassige Zigeunerin sang. Sie trat an den Abenden wechselweise in großen Restaurants auf. Grigori verliebte sich in sie, und zwar so sehr, daß er überall hinging, wo sie gerade sang. Am Ende heiratete er sie. Und so blieb es ihm trotz seines Adels und glänzender Abschlüsse versagt, Karriere zu machen, denn mit einer Zigeunerin verheiratet zu sein war eine Mesalliance sondergleichen.4

Alle drei Brüder meiner Großmutter wohnten in Moskau.

Ihre Schwester wiederum heiratete einen Deutschen, der irgendeine Stellung im Winterpalais bekleidete. Sie hatten lange keine Kinder. Bis endlich doch ein Mädchen zur Welt kam, das auf den Namen Liliana getauft wurde. Liliana war ein unerhört schönes Kind. Die Mutter himmelte es an, fuhr mit ihm überallhin: nach Paris, Nizza … Als Liliana schon ein junges Fräulein war, zog sie sich eine Krankheit zu, Tuberkulose, nehme ich an. Die Mutter fuhr mit ihr noch einmal nach Nizza. »Die Freude wollen wir ihr machen – diese vielen Blumen um sich zu haben«, sagte sie. Dann kamen sie zurück, und das Mädchen starb bald darauf. Der Sarg war noch nicht aus dem Haus, da fuhr die Schwester meiner Großmutter nach Zarskoje Selo, wo gerade ein großer Turm errichtet worden war. Sie stieg bis ganz nach oben und stürzte sich hinab. Auf einem Zettel hatte sie den Wunsch hinterlassen, gemeinsam mit Liliana beerdigt zu werden, und zwar an einem bestimmten Ort in Paris, mit ganz bestimmten Blumen … Dem Wunsch wurde entsprochen, die beiden Särge wurden nach Paris überführt.

Großmutter selbst hatte zwei Kinder: eine Tochter, die wie sie Jelisaweta hieß – Lilí (das war die, zu der ich Mama sagte) –, und einen Sohn mit Namen Alexander – Asja. Er diente bei der Flotte und war Großmutters Liebling. Ich sehe mich noch durch das Wohnzimmer gehen, und da hängt ein Bild von ihm, lebensgroß. Er trägt darauf seine Seemannsuniform und sieht sehr gut aus, mit edlen Zügen.

Einmal ging Asja wie gewöhnlich in seinen Klub Karten spielen. Er saß da und spielte, als die Tür aufging und irgendein sturzbetrunkener Offizier hereinwankte, der Asja im Vorbeigehen den Handschuh ins Gesicht klatschte. Das war eine furchtbare Beleidigung. Und o weh! Es war das Ende. Alexander erhob sich und forderte ihn zum Duell. Ihm blieb nach den damals herrschenden Gepflogenheiten nichts anderes übrig. Doch zu dem Duell kam es gar nicht erst. Asja ging nach Hause – er wohnte damals schon für sich, bei seiner Einheit – und erschoß sich. Mit einundzwanzig Jahren.

Die Großmutter wurde fast wahnsinnig vor Gram. Einen fescheren jungen Mann als Asja hat die Welt nicht gekannt. Und so hängte die Großmutter sich an mich. Lilí, ihre Tochter, hatte selbst schon ein Kind, Olga – meiner Mutter zu Ehren so getauft. Sie war anderthalb Jahre älter als ich.

Meine Mutter hatte nach meiner Geburt geheiratet und war nach Paris gezogen. Ich konnte mich überhaupt nicht an sie erinnern und habe sie nie als meine Mutter angesehen.

An ihre Stelle trat Großmutters Tochter Jelisaweta, genannt Lilí. Sie war eigentlich meine Tante, und trotzdem war sie meine Mutter. Olga folglich meine Schwester.

Über meinen Vater weiß ich erst recht nichts.

Eines Tages sagte Lilí zu mir: »Wage ja nicht, mich anders als Mama zu nennen. Ich bin deine Mama, ich hab dich lieb, ganz gleich was du anstellst, und Großmutter soll mal schön still sein …« Und gab mir einen Schmatz und noch einen und noch einen …

Ich bitte um Nachsicht dafür, daß meine Erinnerungen nicht sehr fortlaufend sind. Man erinnert sich in Bruchstücken, es kommt sporadisch über einen. Beinahe achtzig Jahre sind vergangen seither, vieles weiß ich einfach nicht mehr.

Mein Großvater war ein Fürst Golizyn. Für mich war er ein Gott. Ein unbeschreiblich schöner Mann. Ich sehe ihn bis heute vor mir in seiner Uniform, herausgeputzt, die Brust voller Orden. Bald nach 1917 wurde er verhaftet, vom Petersburger Gefängnis nach Moskau verbracht, zur Tscheka.

Wir wohnten an der Fontanka. Die Golizyns waren nicht sehr reich, ein eigenes Haus besaßen sie nicht, dieses war gemietet.

Ich weiß noch, daß anfangs in einem der Zimmer ein riesiges Eisbärenfell auf dem Fußboden lag, auf dem Olga und ich mit Vorliebe spielten. Dieses Fell wurde dann beinahe sofort verkauft. Außerdem kann ich mich an die breite Liege erinnern und auf ihr eine Decke mit Seidenquasten, fünfzehn oder zwanzig davon, die luftig herunterhingen. Dann gab es da eine Kommode mit Intarsien, die nannte sich Boulle, nach den berühmten Stilmöbeln damals. Sie hatte eine Unmenge Schubfächer, große und kleine, darin war alles mögliche, die interessantesten Dinge, Seidentüchlein zum Beispiel: grüne, rote, blaue … Olga und ich, wir stocherten mit Haarnadeln, um die Fächer aufzukriegen, zerrten alles hervor, wühlten es um und um.

Bei der Haussuchung dann haben sie das alles mitgenommen, wir standen da ohne irgendwas, faktisch auf der Straße.

Als sie Großvater, den Fürsten Golizyn, abgeholt hatten und er wohl schon ein halbes Jahr einsaß, fuhr Großmutter nach Moskau, um seine Freilassung zu erwirken.

Sie stand Schlange bei Gorkis Frau5, die Vorsitzende vom Roten Kreuz war. Dort stand sie eine Nacht und einen Tag, und am Ende stand sie bei ihr im Arbeitszimmer.

Großmutter fiel auf die Knie und bat für ihren Mann.

Gorkis Frau sagte zu ihr: »Stehen Sie auf. Ich werde tun, was in meiner Macht steht, damit Ihr Mann freikommt.«

Und Großmutter kehrte zurück mit Großvater an ihrer Seite. Da war ich noch klein.

Großvater aber begriff überhaupt nicht, wie ihm geschah. Wie konnte man ihn, den Fürsten Golizyn, so mir nichts, dir nichts beim Kragen packen und ins Gefängnis stecken! Nur weil er Fürst Golizyn war? Er hatte ja nichts Böses getan, absolut nichts, weswegen man ihn hätte einsperren können! Hätte er jemanden verprügelt oder sonst irgendwas Schreckliches verbockt – aber nein, nichts dergleichen …

Er war ein wunderbarer, friedfertiger, unglaublich schöner alter Mann. Seine einzige Schwäche war, daß er den Mädchen nachstellte, die zum Arbeiten ins Haus kamen.

Nach seiner Freilassung lebte er nur noch kurze Zeit. Er war nun ein gebrochener Mann. Die Verhaftung und das Gefängnis hatten ihn zu Tode erschüttert.

Als Kinder hatten wir eine Gouvernante, eine junge Französin, die hieß Mathou. Wir mochten sie sehr. »Mathou! Mathou!« riefen wir immerzu.

Und sie immer, mit lauter Stimme: »Enfants! Enfants! Schlafengehen! Höchste Zeit!«

Es muß das Jahr dreiundzwanzig gewesen sein oder fünfundzwanzig, da ist sie nach Frankreich zurückgegangen.

Dann sind wir von der Fontanka näher zum Litejny Prospekt6 gezogen. Da wohnten wir parterre. Dort hab ich meine Kindheit zugebracht.

An die Schule kann ich mich überhaupt nicht entsinnen. Als wäre sie an mir vorbeigegangen. Aber damals stand einem der Sinn ohnehin nicht nach Schule, alles ging drunter und drüber.

Einmal, der Bürgerkrieg war schon in vollem Gange, und Großvater, den Fürsten Golizyn, hatten sie schon abgeholt, da weckte mich Großmutter mitten in der Nacht und sagte: »Marischa, ich packe dir jetzt ein Paket – und ich möchte nicht, daß du nachschaust, was darin ist –, das nimmst du und kommst mit.« Und dann gab sie mir ein in Zeitungen gewickeltes Etwas. Da waren die Waffen drin, die Asja hinterlassen hatte, ganz prächtige Offizierswaffen: ein Revolver, ein Säbel und ein Dolch. Davon mußten wir uns schleunigst trennen, weil es ständig und überall Haussuchungen gab, und das erste, wonach sie fragten, wenn sie vor der Tür standen, war: Wo habt ihr eure Waffen versteckt? »Halt das gut fest!« sagte Großmutter, als sie mir das Paket gab. »Wir laufen gemütlich vor uns hin, und wenn du an einer Mülltonne vorbeikommst, schmeißt du es rein!« So kam es dann auch, ich habe das Bündel in den Müll geschmissen.

Großmutter hatte einzigartige Dinge in ihrem Besitz, Erbstücke und so weiter. Silber, auch ein paar Goldsachen, Familienschmuck: Armreife, Kolliers. Tischsilber und Tischkristall, italienisches, wer weiß aus welchem Jahrhundert. Ganz dünnwandig. Es flog davon, wenn man dagegenblies, und wenn man es anrührte, sang es. Das wurde weitervererbt von Generation zu Generation. Aufbewahrt in großen langen Schachteln, die inwendig mit Samt ausgeschlagen waren. Bevor sie die Schachteln öffnete, zog die Großmutter die Vorhänge zu, damit keiner von draußen irgendwas sehen konnte. Und dann fing da ein Funkeln an! … (Wahrscheinlich ist es Sünde, das alles hier vor Ihnen auszukippen.)

Solange immer noch ein schönes oder kostbares Stück übrig war, ging Großmutter los, zu den ausländischen Vertretungen, den Botschaften Amerikas, Schwedens, Norwegens … Außer Russisch konnte Großmutter noch drei Sprachen: Französisch, Englisch und Deutsch. Sie war eine noch kleinere Person als ich. Drückte sich dort vor den Türen herum, denn hineinzugehen war verboten, stand schweigend da. Das Frage-Antwort-Spiel erfolgte ausschließlich mit Blicken: »Was ist, haben Sie was?« – »Was ist es? Für wieviel? In toto? Alles zusammen?« – »Wo gefertigt? …« Und so verscherbelte Großmutter Stück für Stück den Familienschatz. Wunderschöne Dinge. Und für das herausgeschlagene Geld brachte sie zu essen mit, Nahrungsmittel, wir hatten sonst nichts zum Leben.

Mamas Mann Nikolai, zu dem ich Papa sagte, mochte mich so wenig wie ich ihn. Das kam, weil Olga mich nicht mochte und ich sie auch nicht. Ich lernte sie erst viele Jahre später lieben, aber darauf komme ich noch.

Papa war ganz verrückt nach ihr, und mich konnte er nicht ausstehen. Auf Schritt und Tritt mäkelte er an mir herum. Dafür war Mama sehr liebevoll zu mir – manchmal schien es mir, als liebte sie mich mehr als Olga. Später hörte ihre Liebe zu Olga ganz auf – ich könnte heute nicht mehr erklären, wie es dazu kam.

Ich weiß noch, wie wir alle miteinander in einem Zimmer lebten: Papa, Mama, Olga und ich. Da war ich so um die fünfzehn. Das pralle Leben, alles in mir jubelte und frohlockte. Jeden Morgen stand ich auf und tanzte pfeifend durch das Zimmer. Ich hatte so viel Energie, daß ich aufstehen und loszirpen konnte wie ein Vögelchen.

Papa sagte jedesmal: »Mein Gott, hör auf mit diesem schrecklichen Krach!«

Und Olga hatte gleichfalls einen Rochus auf mich.

Das war, als sie Papa ins Gefängnis gesteckt hatten, beim zweiten Mal.

Großmutter war lebenstüchtiger als Mama. Die hatte überhaupt keinen praktischen Sinn. Nebenan wohnte eine Familie, da hatten die Bolschewiki den Vater abgeholt. Für nichts und wieder nichts. Kann sein, er hatte den falschen Namen oder die falsche Abstammung … Und Mama sagte zu ihnen: »Ihr habt ja nichts zu essen, hier habt ihr Geld. Das könnt ihr uns später zurückgeben, wenn ihr könnt.« Und gab ihnen alles Geld, das wir hatten, obwohl wir selber halbnackt herumliefen. Und natürlich bekamen wir es nie zurück.

Ob Olga die Schule zu Ende gemacht hat oder ob nicht, weiß ich nicht mehr. Es herrschte Hunger, alles andere spielte keine Rolle.

Ich hatte, nachdem ich von der Schule abging, irgendwo eine Anstellung. Wo, ist mir komplett entfallen.

Es war zu Ostern, was für uns immer das größte Fest war. Mama besuchte Papa im Gefängnis, hatte ein Mitbringsel dabei: Osterkuchen, Osterbrot – von allem ein bißchen. Und kam tränenüberströmt zurück.

Ich lief auf sie zu: »Mama, was hast du, warum weinst du? Wie geht es Papa?«

»Er hat mich nicht erkannt! Er wollte mir den Ring zurückgeben …«

Und sie berichtete, er habe sich höflich bedankt, als sie ihm das Päckchen durch die Luke schob, und gesagt: »Hier bitte nehmen Sie diesen Trauring und geben Sie ihn meiner Frau – ich werde sie ja wohl nie wiedersehen …« – »Kolja, was ist mit dir! Ich bin doch deine Frau!!« hat Mama gerufen, »was fällt dir ein?« Doch er habe sie nicht erkannt, so erzählte sie mir schluchzend.

Er ist dann zwar aus dem Gefängnis freigekommen, war jedoch am Boden zerstört. Konnte gar nichts mehr tun. Hockte nur noch zu Hause herum.

Und als sie ihn – schon kurz vor dem Krieg7 – abermals holten und in die Verbannung schicken wollten, da ist er ihnen buchstäblich auf dem Bahnhof weggestorben. Man verlud die Leute wie Vieh in Güterwaggons – da fiel er um und war tot.