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Daniil Charms, 1934

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Inhalt

1. Abteilung
»Ich bin so wie ihr alle, nur besser.«
Texte mit autobiografischem Bezug

Bevor ich zu dir komme, klopfe ich an dein Fenster. Du siehst mich im Fenster. Dann gehe ich durch die Tür, und du siehst mich im Türrahmen. Dann betrete ich dein Haus, und du erkennst mich. Und ich betrete dich, und niemand außer dir wird mich sehen und mich erkennen.

 

Du siehst mich im Fenster.

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Du siehst mich im Türrahmen.

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<1931>

Ich bin allein. Jeden Abend geht Alexander Iwanowitsch irgend wohin, und ich bleibe allein. Die Vermieterin geht früh schlafen und sperrt ihr Zimmer ab. Die Nachbarn schlafen hinter ihren vier Türen, und nur ich hocke in meinem kleinen Zimmerchen und zünde die Petroleumlampe an.
Ich tue nichts: Eine Heidenangst überkommt mich. In diesen Tagen sitze ich zu Hause. Ich habe mich erkältet und mir eine Grippe eingefangen. Schon eine geschlagene Woche lang habe ich leichtes Fieber, und das Kreuz tut mir weh. Aber warum tut mir das Kreuz weh, warum hält sich schon eine Woche das Fieber, was hab ich für eine Krankheit und was soll ich tun? Ich denke darüber nach, horche in meinen Körper hinein und bekomme langsam Angst. Vor Angst flattert mir das Herz, die Füße werden kalt, und die Angst sitzt mir im Nacken. Erst jetzt habe ich begriffen, was das heißt. Es drückt einem von unten aufs Genick, und man meint, noch ein kleines bisschen und es quetscht einem auch noch von oben her den ganzen Kopf zusammen. Dann geht die Fähigkeit verloren, den eigenen Zustand zu realisieren, und man wird verrückt. Im ganzen Körper breitet sich Schwäche aus, sie beginnt bei den Füßen. Und plötzlich blitzt ein Gedanke auf: Was ist, wenn das nicht von der Angst kommt, sondern umgekehrt die Angst davon kommt? Dann kriegt man noch mehr Angst. Es gelingt mir nicht einmal, meine Gedanken davon abzulenken. Ich versuche zu lesen. Aber das, was ich lese, wird plötzlich durchsichtig, und wieder sehe ich meine Angst. Wenn doch nur Alexander Iwanowitsch bald zurückkäme! Aber vor zwei Stunden brauche ich nicht mit ihm zu rechnen. Jetzt geht er gerade mit Jelena Petrowna spazieren und setzt ihr seine Ansichten über die Liebe auseinander.

<1932>

Alexander Iwanowitsch : möglicherweise eine Anspielung auf Alexander Iwanowitsch Wwedenski (1904–1941), einen Freund und Dichterkollegen von Charms, mit dem zusammen er 1932 nach Kursk verbannt wurde.

Wir wohnten in zwei Zimmern. Mein Freund belegte ein kleineres Zimmer und ich ein ziemlich großes mit drei Fenstern. Ganze Tage war mein Freund nicht zu Hause, er kam nur zum Übernachten in sein Zimmer zurück. Ich dagegen hockte beinahe die ganze Zeit in meinem Zimmer, und wenn ich rausging, dann entweder auf die Post oder um mir etwas zum Mittagessen zu kaufen. Zu allem Überfluss zog ich mir eine trockene Rippenfellentzündung zu, und das hielt mich umso mehr zu Hause fest.
Ich bin gern allein. Aber nun war ein Monat vergangen, und ich hatte genug von dieser Einsamkeit. Das Buch machte mir kein Vergnügen. Wenn ich mich an den Tisch setzte, saß ich oft lange da, ohne eine Zeile zu schreiben. Ich nahm wieder das Buch zur Hand, und das Papier blieb weiß. Und dann auch noch dieser kränkelnde Zustand! Mit einem Wort, mir wurde langweilig.
Die Stadt, in der ich zu der Zeit lebte, gefiel mir absolut nicht. Sie befand sich auf einem Berg, und überall taten sich Ansichtskartenausblicke auf. Diese Ausblicke wurden mir so zuwider, dass ich sogar froh war, zu Hause hocken zu dürfen. Zudem musste ich ja, außer zur Post, zum Markt und ins nächste Lebensmittelgeschäft, nirgendwohin.
Und so saß ich zu Hause wie ein Eremit.
Es gab Tage, an denen ich nichts aß. Dann bemühte ich mich um gute Laune. Ich legte mich aufs Bett und fing an zu lächeln. Ich lächelte zwanzig Minuten am Stück, aber dann verwandelte sich das Lächeln in Gähnen. Das war sehr unangenehm. Ich öffnete den Mund nur gerade so viel, um zu lächeln, aber er ging weiter auf, und ich gähnte. Ich fing an zu träumen.

»Mein Freund«: offenbar eine Anspielung auf Alexander Wwedenski.
»Die Stadt« : Kursk, wo sich Charms und Wwedenski von Sommer bis Herbst 1932 in der Verbannung befanden. Möglicherweise erscheint der Ort im Text literarisch verfremdet.

Ich sehe vor mir einen Tonkrug mit Milch und frische Brotscheiben. Ich sitze am Tisch und schreibe schnell irgendetwas. Auf dem Tisch, auf den Stühlen und auf dem Bett liegen vollgeschriebene Blätter. Aber ich schreibe weiter, blinzle und lächle meinen Gedanken zu. Und es ist so schön, dass vor mir Brot, Milch und die kleine Tabaksdose aus Nussbaumholz stehen!
Ich öffnete das Fenster und schaute in den Garten. Direkt am Haus blühten gelbe und lila Blumen. Weiter weg wuchs Tabak, und eine große Kastanie stand stramm. Dort begann der Obstgarten.
Es war sehr still, nur am Fuße des Berges sangen die Züge. Heute konnte ich überhaupt nichts tun. Ich lief im Zimmer auf und ab, dann setzte ich mich an den Tisch, aber bald stand ich wieder auf und setzte mich in den Schaukelstuhl. Ich nahm das Buch, legte es aber sofort wieder beiseite und fing erneut an, im Zimmer auf und ab zu gehen.
Plötzlich schien mir, ich hätte etwas vergessen, irgendeinen Vorfall oder ein wichtiges Wort.
Angestrengt kramte ich in meinem Gedächtnis nach diesem Wort, und mir schien sogar schon, dass dieses Wort mit dem Buchstaben M anfing. Ach was! Von wegen mit M, mit R fing es an.
Ratio? Riesenspaß? Rahmen? Riemen? Oder: Meinung? Martyrium? Materie?
Nein, natürlich mit dem Buchstaben R, wenn es nur um ein Wort geht!
Ich kochte mir einen Kaffee und sang Wörter mit R vor mich hin. Oh, wie viele Wörter mit diesen Buchstaben mir einfielen! Vielleicht war darunter auch das richtige, und ich habe es nicht erkannt, ich habe es für eines wie alle andern gehalten.
Aber vielleicht war das Wort ja auch nicht darunter.

<1932–1933>

Jetzt erzähle ich, wie ich geboren wurde, wie ich aufwuchs und wie sich bei mir die ersten Anzeichen von Genialität bemerkbar machten. Ich wurde zwei Mal geboren. Das kam so: Mein Vater heiratete meine Mutter im Jahr 1902, aber erst Ende 1905 brachten mich meine Eltern zur Welt, weil Vater unbedingt wollte, dass sein Kind am Neujahrstag geboren würde. Vater rechnete aus, dass die Empfängnis am 1. April stattfinden müsste, und ausschließlich an diesem Tag machte er sich an Mutter ran und schlug ihr vor, schwanger zu werden.
Am 1. April 1903 machte sich Vater das erste Mal an meine Mutter ran. Mama hatte lange auf diesen Moment gewartet und freute sich wahnsinnig. Aber Vater war offenbar zu Scherzen aufgelegt, konnte nicht an sich halten und sagte zu Mama: »April, April!«
Mama war furchtbar beleidigt und ließ Papa an diesem Tag nicht ran. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als ein Jahr zu warten.
1904, am 1. April, machte sich Papa wieder an Mama heran, und zwar mit demselben Vorschlag. Aber Mama, die sich an den Vorfall des Jahres zuvor gut erinnerte, sagte, dass sie keine Lust mehr habe, sich immer wieder veräppeln zu lassen, und ließ Papa wieder nicht ran. Sosehr Papa auch tobte, nichts half.
Erst ein Jahr später gelang es meinem Vater, meine Mutter rumzukriegen und mich zu zeugen.
Und so fand meine Empfängnis am 1. April des Jahres 1905 statt.
Allerdings brachen Papas ganze Berechnungen in sich zusammen, da ich eine Frühgeburt war und vier Monate vor der Zeit geboren wurde.
Papa geriet dermaßen in Rage, dass die Hebamme, die mir auf die Welt geholfen hatte, vollkommen fertig mit den Nerven, begann, mich dahin zurückzustopfen, wo ich eben erst hergekommen war.
Ein bei diesem Vorgang anwesender Bekannter von uns, Student an der Militärmedizinischen Akademie, erklärte, es werde nicht gelingen, mich zurückzubefördern. Doch ungeachtet der Aussage des Studenten, versuchte man mich zurückzustopfen, was denn auch gelang, in der Eile allerdings, wie sich erst später herausstellte, ins falsche Loch. Da brach ein fürchterliches Tohuwabohu aus. Die Erzeugerin schrie: »Her mit meinem Kind!« Doch man antwortete ihr: »Das Kind ist doch in Ihnen drin.« »Wie denn!«, schrie die Erzeugerin. »Wie soll das Kind in mir drin sein, wo ich es doch gerade geboren habe!« »Vielleicht«, sagte man zur Erzeugerin, »irren Sie sich?« »Wie denn!«, schrie die Erzeugerin, »wie kann ich mich irren! Als ob ich mich irren könnte! Ich habe mit eigenen Augen gesehen, dass das Kind eben noch genau hier auf dem Laken gelegen hat!« »Das stimmt«, sagte man zur Erzeugerin, »aber vielleicht ist es irgendwohin gekrabbelt.« Kurzum, man wusste selbst nicht, was man der Erzeugerin sagen sollte.
Die aber machte Theater und verlangte nach ihrem Kind. Man musste einen erfahrenen Arzt holen. Der erfahrene Arzt untersuchte die Erzeugerin und breitete resigniert die Arme aus, hatte allerdings begriffen und gab der Erzeugerin eine ordentliche Dosis Bittersalz. Die Erzeugerin bekam Durchfall, und auf diese Weise erblickte ich zum zweiten Mal das Licht der Welt.
Da geriet Papa erneut in Rage, das könne man ja wohl nicht als Geburt bezeichnen, das sei ja wohl noch kein Mensch, sondern eher ein halber Embryo und den müsse man entweder retour befördern oder in den Brutkasten legen. Also legte man mich in den Brutkasten.

<25. September 1935>

Die Brutkastenperiode

Im Brutkasten verbrachte ich vier Monate. Ich erinnere mich nur noch, dass der Brutkasten aus Glas und durchsichtig war und dass er ein Thermometer hatte. Ich hockte mitten in dem Brutkasten auf Watte. Mehr weiß ich nicht.
Nach vier Monaten nahm man mich aus dem Brutkasten heraus. Das tat man just am 1. Januar 1906. So wurde ich gewissermaßen zum dritten Mal geboren. Mein Geburtstag war von da an genau der 1. Januar.

<September 1935>

Ich weiß nicht, warum alle meinen, ich sei ein Genie; meiner Meinung nach bin ich kein Genie. Gestern sage ich denen: Jetzt hört mal! Was bin ich schon für ein Genie? Aber die sagen mir: Na, so eins! Darauf ich: Was denn für so eins? Aber die sagen nicht, was für eins, sondern reden und reden nur, ich sei ein Genie. Meiner Meinung nach bin ich trotz allem kein Genie.
Wo auch immer ich auftauche, sofort fangen alle an zu tuscheln und mit Fingern auf mich zu zeigen. »Also wirklich, was soll denn das!«, sage ich. Aber sie lassen mich wieder nicht ausreden, und ehe ich mich’s versehe, schnappen sie mich und tragen mich auf Händen.

<1934–1936>

Über unsere Gäste

Unsere Gäste sind alle unterschiedlich: Einer zum Beispiel hat so ’ne Backe, das gibt’s gar nicht. Und dann kommt da immer eine Dame zu uns, und die, es ist geradezu lächerlich zu sagen, wie die aussieht. Und ein Dichter kommt auch zu uns: Haare überall und immer aufgeregt wegen irgendwas. Zum Totlachen! Außerdem kommt noch ein Ingenieur zu uns, also der hat mal bei uns irgendeinen Mist aus dem Tee gefischt. Und wenn die Gäste allzu lange bei uns bleiben, dann schmeiße ich sie einfach achtkantig raus. Und aus …

<Mitte der 1930er Jahre>

Einmal sagte Marina mir, dass einer mehrmals zu ihr ins Bett gestiegen sei – ein gewisser Scharik. Wer dieser Scharik ist, oder was das sollte, war nicht herauszubekommen.

 

Ein paar Tage später ist dieser Scharik wieder aufgekreuzt. Dann kreuzte er ziemlich oft auf, ungefähr alle drei Tage.

 

Ich war nicht zu Hause. Als ich dann nach Hause kam, sagte mir Marina, Sinderjuschkin habe angerufen und nach mir gefragt. Guck an, ein gewisser Sinderjuschkin wollte auf einmal was von mir!

 

Marina hatte Äpfel gekauft. Nach dem Mittagessen aßen wir ein paar davon und ließen zwei übrig, vielleicht für abends. Aber als ich abends meinen Apfel haben wollte, war keiner mehr da. Marina sagte, der Kellner Mischa sei vorbeigekommen und habe die Äpfel für einen Salat mitgenommen. Die Kerngehäuse hatte er nicht gebraucht, die Äpfel in unserem Zimmer entkernt und die Kerngehäuse in den Korb mit Altpapier geschmissen.

 

Ich fand heraus, dass Scharik, Sinderjuschkin und Mischa gewöhnlich bei uns im Ofen wohnten. Ich kann mir kaum vorstellen, wie sie sich da eingerichtet haben.

 

Ich fragte Marina nach Scharik, Sinderjuschkin und Mischa aus. Marina druckste herum und gab keine klaren Antworten. Als ich meine Bedenken äußerte, diese Kameraden seien möglicherweise nicht gerade wohlanständig, versicherte Marina mir, es seien jedenfalls »Goldene Herzen«. Mehr konnte ich nicht aus Marina herauskriegen.

Marina: Marina Durnowo, geb. Malitsch (1909–2002), ist die zweite Ehefrau von Charms.
Scharik: russ. für »Bällchen« oder »Kügelchen«. Ein beliebter Hundename.

Mit der Zeit erfuhr ich, dass die »Goldenen Herzen« nicht die gleiche Bildung genossen hatten. Genauer gesagt, Scharik hatte Abitur, Sinderjuschkin und Mischa hingegen hatten keinerlei Schulabschluss. Scharik hat sogar wissenschaftliche Arbeiten vorzuweisen. Darum benimmt er sich gegenüber den beiden anderen »Goldenen Herzen« ein bisschen von oben herab.
Mich interessierte es sehr, was für wissenschaftliche Arbeiten Scharik verfasst hatte. Doch das blieb im Dunkeln. Marina sagt, er sei mit einer Feder in der Hand zur Welt gekommen, Näheres über seine wissenschaftliche Laufbahn behalte sie aber für sich. Ich begann sie auszuquetschen und erfuhr schließlich, dass er eher was mit Schuhmacherei zu tun hatte. Ob das aber einen Bezug zu wissenschaftlicher Tätigkeit hat, konnte ich nicht herausbringen.

 

Einmal erfuhr ich, dass die »Goldenen Herzen« eine kleine Feier hatten. Sie schmissen zusammen und kauften einen marinierten Aal. Mischa hatte sogar ein Marmeladenglas mit Wodka dabei. Überhaupt hob Mischa gerne mal einen.

 

Die Stiefel von Scharik sind aus Kork.

 

Eines Abends sagte Marina zu mir, Sinderjuschkin habe mich einen Rüpel geschimpft, weil ich ihm auf den Fuß getreten sei. Ich wurde auch böse und bat Marina, Sinderjuschkin auszurichten, er solle mir gefälligst nicht ständig vor der Nase rumturnen.

<1935–1936>

I
Einmal kam ich in den Staatsverlag, und im Staatsverlag begegnete ich Jewgeni Lwowitsch Schwarz, der wie immer schlecht angezogen war, aber mit dem Anspruch auf was Besonderes.
Als Schwarz mich sah, begann er zu flachsen, was ihm ebenfalls wie immer misslang.
Ich witzelte um Häuser geistreicher, und ich legte Schwarz in geistiger Beziehung schon bald aufs Kreuz.
Alle um mich herum beneideten mich um meinen Witz, unternahmen aber nichts, da sie sich buchstäblich totlachten. Besonders Nina Wladimirowna Gernet und David Jefimowitsch Rachmilowitsch, der sich – weil es besser klingt – Juschin nennt, lachten sich tot.
Als Schwarz sah, dass mit mir nicht zu spaßen ist, dämpfte er zunächst seinen Ton, beschimpfte mich schließlich aber unflätig und erklärte, in Tiflis kenne jeder den Sabolotzki, mich dagegen kaum einer.
Da wurde ich richtig sauer und sagte, ich sei historischer als Schwarz und Sabolotzki, von mir werde ein heller Fleck in der Geschichte bleiben und sie würden schlicht vergessen werden.
Schwarz spürte meine Größe und Weltbedeutung, begann allmählich zu zittern und lud mich zu sich zum Essen ein.

Jewgeni Lwowitsch Schwarz (1896–1958): Freund und Dichterkollege von Charms, arbeitete insbesondere als Dramatiker und Kinderbuchautor.
Nina Wladimirowna Gernet (1904–1982): eine mit Charms befreundete Kinderbuchautorin und Redakteurin der Kinderzeitschrift »Der Zeisig« (»Cˇiž«).
David Jefimowitsch Rachmilowitsch (Lebensdaten unbekannt): der verantwortliche Redakteur der Zeitschrift »Der Zeisig« zwischen 1933 und 1935.
Juschin: Verballhornung des Pseudonyms von Rachmilowitsch »Juschny«.
Sabolotzki: Nikolai Sabolotzki (1903–1958), Freund und Dichterkollege von Charms.

II
Ich habe beschlossen, eine Clique auseinanderzunehmen, was ich hiermit tue.
Ich beginne mit Walentina Jefimowna.
Diese Person, in Sachen Haushalt eine Null, lädt uns zu sich ein und serviert statt eines Essens irgend so ein saures Zeug. Ich esse gern und weiß Bescheid. Mich verschaukelt man nicht mit saurem Zeug! Ich gehe sogar ab und zu in Restaurants und schau mir an, was es da zu essen gibt. Und ich kann es nicht ausstehen, wenn man diese Besonderheit meines Charakters nicht berücksichtigt.
Nun zu Leonid Saweljewitsch Lipawski. Er hat sich nicht entblödet, mir ins Gesicht zu sagen, er schreibe jeden Monat zehn Gedanken nieder.
Erstens lügt er. Nicht zehn Gedanken schreibt er nieder, sondern weniger. Zweitens schreibe ich im Monat mehr. Ich habe nicht gezählt, wie viele, aber sicher mehr als er.
Jetzt noch zu einer anderen Person, nämlich Tamara Alexandrowna. Diese Person schüttet ununterbrochen Tee in sich hinein und spielt das Sensibelchen. Sie behauptet, dies und jenes zu wissen und klüger zu sein als dieser und jener und sogar interessanter als Tusja.
Das ist alles Unsinn! Ich kenne die Frauen besser als jeder andere und kann über eine angezogene Frau sagen, wie sie nackt aussieht.
Tamara Alexandrowna meint, Wunder wer sie sei. Selbstgefälligkeit ist nicht nur eine Sünde, sondern auch ein Laster. Ständiges Teegeschlürfe bringt nichts. Schau dich lieber mal um. Vielleicht gibt es ja Leute, die klüger sind als du.

Walentina Jefimowna : Walentina Jefimowna Goldina (1902–1968), eine Freundin von Tamara Lipawskaja, verheiratet mit dem Pianisten A. Kamenski.
Leonid Saweljewitsch Lipawski (1904–1941): Freund von Charms, Philosoph, Mitglied der Gruppe »Tschinari«.
Tamara Alexandrowna: Tamara Alexandrowna Lipawskaja (1903–1982), geb. Meier, Ehefrau von Leonid Lipawski, Exfrau von Alexander Wwedenski.

Ich zum Beispiel binde nicht allen auf die Nase, dass ich über einen kolossalen Verstand verfüge. Dabei hätte ich doch alle Voraussetzungen, mich für einen großen Mann zu halten. Und, ehrlich gesagt, halte ich mich auch für einen solchen.
Genau deshalb finde ich es ärgerlich und gemein, mich unter Leuten zu bewegen, die in Bezug auf Verstand, Scharfsinn und Talent unter mir stehen, und dabei nicht den angemessenen Respekt mir gegenüber zu spüren.
Warum, warum nur bin ich besser als alle anderen?

 

III
Jetzt ist bei mir der Groschen gefallen: Leonid Saweljewitsch ist ein Deutscher. Er hat sogar deutsche Angewohnheiten. Schauen Sie bloß, wie er isst. Also wirklich, der reinste Deutsche, absolut! Man sieht es sogar an seinen Füßen, dass er Deutscher ist.
Ohne anzugeben, kann ich sagen, dass ich ein ganz guter und gewitzter Beobachter bin.
Nähme man beispielsweise Leonid Saweljewitsch, Juli Bersin und Wolf Erlich und stellte die drei nebeneinander aufs Trottoir, dann könnte man sagen: »Wie die Orgelpfeifen.« Ich finde das gewitzt, da mäßig komisch. Und Leonid Saweljewitsch ist eben doch ein Deutscher! Wenn er mir mal wieder über den Weg läuft, muss ich ihm das unbedingt sagen. Ich halte mich nicht für einen besonders klugen Menschen und muss doch sagen, dass ich klüger bin als alle anderen. Vielleicht gibt es auf dem Mars einen noch Klügeren als mich, aber auf der Erde wohl kaum.

Juli Bersin (1904–1938): ein Schriftsteller.
Wolf Erlich (1902–1944): ein Dichter.

Man sagt zum Beispiel, Olejnikow sei sehr klug. Aber ich halte ihn für nicht besonders klug. Er hat zum Beispiel herausgefunden, dass eine 6, wenn man sie schreibt und dann umdreht, zu einer 9 wird. Ich halte das nicht für klug. Leonid Saweljewitsch hat vollkommen recht, wenn er sagt, der Verstand des Menschen sei seine Würde. Und wenn einer keinen Verstand habe, besitze er auch keine Würde. Jakow Semjonowitsch widerspricht Leonid Saweljewitsch und sagt, der Verstand des Menschen sei seine Schwäche. Ich finde, das ist ja paradox. Wieso sollte Verstand denn seine Schwäche sein? Ganz und gar nicht! Eher seine Stärke. Das ist meine Meinung.
Wir treffen uns oft bei Leonid Saweljewitsch und sprechen darüber.
Wenn ein Streit entbrennt, gehe immer ich als Sieger hervor. Ich weiß auch nicht, woran das liegt.
Aus irgendeinem Grunde sehen mich alle immer erstaunt an. Was immer ich tue, alle finden, es sei erstaunlich. Dabei strenge ich mich nicht einmal an. Alles ergibt sich ganz von selbst.
Sabolotzki hat mal gesagt, ich sei zum Sphärenlenker wie geschaffen. Er hat wohl einen Scherz gemacht. An so etwas habe ich nicht im Traum gedacht.
Im Schriftstellerverband halten mich alle aus irgendeinem Grund für einen Engel.
Hört mal, Freunde! Es ist wirklich nicht gut, mich so zu verehren. Ich bin so wie ihr alle, nur besser.

Olejnikow: Nikolai Olejnikow (1898–1936), Dichter und Kinderbuchautor, Freund von Charms.
Jakow Semjonowitsch : Jakow Semjonowitsch Druskin (1902–1980), Freund von Charms, Musikwissenschaftler und Philosoph, der nach Charms’ Tod dessen Archiv rettete.

IV

Ich habe mal so einen Spruch gehört: »Ergreife den Moment!«
Leichter gesagt als getan. Meiner Meinung nach ist das ein sinnloser Spruch. Wirklich, das geht nicht, man kann nicht zum Unmöglichen auffordern.
Ich sage das mit vollster Überzeugung, denn ich habe es am eigenen Leib erfahren. Ich habe nach dem Moment geschnappt, ihn aber nicht erwischt und nur meine Uhr kaputt gemacht. Jetzt weiß ich, es ist unmöglich.
Genauso unmöglich ist es, »eine Epoche zu ergreifen«, denn das ist auch so ein Moment, nur größer.
Etwas anderes ist es, wenn man sagt: »Merken Sie sich, was in diesem Moment passiert!« Das ist etwas ganz anderes. Zum Beispiel: eins, zwei, drei! Nichts ist passiert! So habe ich mir einen Moment gemerkt, in dem nichts passiert ist. Ich habe Sabolotzki davon erzählt. Dem hat das sehr gefallen, und er hat den ganzen Tag dagesessen und gezählt: eins, zwei, drei! Und hat festgestellt, dass nichts passiert ist. Bei dieser Beschäftigung wurde Sabolotzki von Schwarz überrascht. Und Schwarz interessierte sich ebenfalls für diese originelle Methode, sich das zu merken, was in unserer Epoche passiert, denn aus Momenten setzt sich ja jede Epoche zusammen.
Aber ich bitte zu beachten, dass der Urheber dieser Methode wieder einmal ich bin. Wieder ich! Wohin man schaut, ich! Einfach erstaunlich!
Was anderen nur mit Mühe gelingt, schaffe ich mit links. Ich kann sogar fliegen. Aber davon werde ich nicht erzählen, da mir sowieso niemand glaubt.

 

V
Wenn zwei Personen Schach spielen, scheint mir immer, dass der eine den anderen übers Ohr haut. Besonders wenn um Geld gespielt wird.
Überhaupt ist mir jedes Spiel um Geld zuwider. Ich verbitte es mir, in meiner Gegenwart zu spielen.
Kartenspieler würde ich hinrichten. Das ist die einzig wahre Methode, um Glücksspiele zu bekämpfen.
Statt Karten zu spielen, sollte man sich lieber treffen und sich gegenseitig Moralpredigten halten.
Ach was, Moralpredigten sind öde. Interessanter ist es, Frauen den Hof zu machen.
Frauen haben mich immer interessiert. Immer schon habe ich Frauenbeine aufregend gefunden, besonders ab dem Knie aufwärts.
Viele meinen, Frauen seien lasterhafte Wesen. Ich überhaupt nicht! Im Gegenteil, ich meine, sie sind irgendwie sehr angenehm.
Eine etwas rundliche, appetitliche junge Frau! Was soll daran lasterhaft sein? Überhaupt nichts!
Etwas anderes sind Kinder. Es heißt immer, sie seien unschuldig. Mag ja sein, dass sie unschuldig sind, aber ich finde sie ausgesprochen grässlich, besonders, wenn sie tanzen. Ich gehe immer weg, wenn Kinder da sind.
Leonid Saweljewitsch mag auch keine Kinder. Das hat er von mir.
Überhaupt habe ich alles, was Leonid Saweljewitsch sagt, schon mal irgendwann vorher gesagt.
Und nicht nur Leonid Saweljewitsch, jeder andere ist froh und dankbar, auch nur Bruchstücke meiner Gedanken aufgreifen zu können. Ich finde das geradezu komisch. Gestern zum Beispiel kam Olejnikow angerannt und sagte, er habe sich in den Fragen des Lebens vollkommen verheddert. Ich gab ihm ein paar Ratschläge und entließ ihn. Er ging, von mir beglückt und allerbester Laune.
Die Menschen fühlen sich von mir unterstützt, wiederholen meine Worte, staunen über meine Taten, aber Geld geben sie mir nicht dafür.
Dumme Menschen! Bringt mir ordentlich Geld, und ihr werdet sehen, wie zufrieden ich damit bin.
Jetzt ein paar Worte über Alexander Iwanowitsch. Er ist ein Schwätzer und Glücksspieler. Wofür ich ihn aber schätze, das ist seine Ergebenheit mir gegenüber.
Tag und Nacht gibt er auf mich Acht und wartet nur darauf, dass ich ihm irgendeinen Auftrag andeute.
Kaum, dass ich eine Andeutung gemacht habe, saust Alexander Iwanowitsch los wie der Wind, um meinen Wunsch zu erfüllen.
Dafür habe ich ihm ein Paar Schuhe gekauft und gesagt: »Da, für dich. Zum Drin-Rumlaufen!« Und er läuft darin rum. Wenn Alexander Iwanowitsch in den Staatsverlag kommt, lachen alle und tuscheln untereinander, Alexander Iwanowitsch sei gekommen, um Geld abzuholen.
Konstantin Ignatjewitsch Drewatzki versteckt sich unterm Tisch. Ich meine das allegorisch.
Makkaroni mag Alexander Iwanowitsch am liebsten. Er isst sie immer mit zerbröseltem Zwieback und kann ein ganzes Kilo davon wegputzen, vielleicht auch noch viel mehr. Wenn Alexander Iwanowitsch Makkaroni gegessen hat, sagt er, ihm sei übel, und legt sich aufs Sofa. Manchmal kommen die Makkaroni auch retour.
Fleisch isst Alexander Iwanowitsch nicht, und Frauen mag er nicht. Obwohl, ab und zu mag er sie doch. Anscheinend sogar sehr oft.
Aber die Frauen, die Alexander Iwanowitsch mag, sind für meinen Geschmack alle nicht schön, und darum wollen wir annehmen, das sind gar keine Frauen.
Wenn ich etwas sage, heißt das, es ist richtig.

Alexander Iwanowitsch: Alexander Iwanowitsch Wwedenski (1904–1941), Freund und Dichterkollege von Charms, Mitglied der Vereinigung OBERIU.
Konstantin Ignatjewitsch Drewatzki (Lebensdaten unbekannt): Buchhalter im Leningrader Staatsverlag.

Ich kann nur jedem davon abraten, mit mir zu streiten, er würde sowieso den Kürzeren ziehen, denn ich habe immer das letzte Wort.
Auch Ihnen rate ich nicht, sich mit mir zu messen. Das haben schon andere versucht. Ich habe alle zur Strecke gebracht! Wenn ich auch nicht so aussehe, als könnte ich reden, wenn ich erst einmal loslege, bin ich nicht mehr zu bremsen. Einmal habe ich bei Lipawskis losgelegt, und ab ging die Post! Alle hab ich zugequatscht!
Dann bin ich zu den Sabolotzkis gegangen und hab auch da alle zugequatscht. Dann bin ich zu den Schwarzens und hab da ebenfalls alle zugequatscht. Dann bin ich nach Hause gegan gen und hab zu Hause noch die halbe Nacht weitergequatscht!

<1935–1936>

Lipawski wurde in letzter Zeit von saurem Aufstoßen geplagt. Der arme Lipawski plagte sich entsetzlich. Dieser ewige tödliche Geschmack im Mund und das ständige Brennen in der Speiseröhre können einen Menschen rasend machen. Lipawskis Frau Tamara erklärte, wenn das so weitergehe, dann werde sie sich einen neuen Mann suchen. Lipawski nahm die Worte seiner Frau ziemlich ungläubig auf und versuchte sogar, einen Witz zu machen. Aber in dem Moment, als er den Witz machte, musste er aufstoßen. Da Lipawski diese unangenehme Erscheinung verbergen wollte, schüttelte er den Kopf und zuckte mit den Schultern, wobei er die Backen aufblies. Das Aufstoßen war jedoch stärker, als man erwarten konnte, und flog mit einem lauten Geräusch aus seinem Mund.
Tamara sprang auf und verließ türenschlagend das Zimmer. Lipawski wollte ihr schon hinterherstürzen, aber unterwegs stieß er wieder laut auf, winkte ab und kehrte um. Tamara lief auf die Straße hinaus und rannte den Bolschoi Prospekt hinunter.
2. Tamara kam zu Sabolotzki und sagte: »Wollen Sie mein Mann werden?« Sabolotzki verneinte und begründete seine Ablehnung damit, dass er bereits verheiratet sei, und zwar mit Jekaterina Wassiljewna. Da ging Tamara schwer beleidigt von den Sabolotzkis weg und klingelte bei den Olejnikows. Larissa öffnete die Tür. Tamara warf sich Larissa an den Hals und brach in Tränen aus. Als Larissa erfuhr, worum es ging, gab sie Tamara den Rat, sich an einen Junggesellen zu wenden.

<Mitte der 30er Jahre>

2. Abteilung
St. Petersburg, Nadeschdinskaja 11, Whg. 9
Notizbücher, Tagebuch

1924

Daniel Charms
1924 E-z

 

Lies stets am Tisch sitzend und halte Bleistift und Papier bereit. Notiere dir Gedanken aus dem Buch sowie auch deine eigenen, die dir aufgrund der Lektüre oder aus einem anderen Grund in den Kopf kommen. (Papa)

 

Oft verweigern Frauen das, was sie sich selbst leidenschaftlich wünschen. (Kuprin)

<Herbst 1924>

Kuprin: Alexander Iwanowitsch Kuprin (1870–1938), russischer Schriftsteller.

1925

Sacher Mädchen, doch liebe ich dich noch, wen du wilst mit mir wieder sein so komm zu mir und wert dein Breutigam Siest <1 unleserl.> doch wer war recht, du oder ich? Ich sagte dir, dass du wirst früher mich werfen, als ich dich. So ist es auch gescheen. Weren wier noch zusammen, so hätten wir so rein gewesen, noch so immer jung. Aber jetzt, weil du so sarkastisch bist mit mir, sprech ich mit dir nich, du bist jetzt grob geworden. Doch versuch (wenn du mich noch liebst) wieder mit mir zahrt sein und vieleich werden wir, wieder Freunde. Ich kan dier sagen wie es machen, komm zu mir <1 unleserl.> Sah, mit Sinaida Nikolavna und frage etwas von Relativitastheorie. Es wird alles schön gehen.
Dieser Tag wird uns alles zeigen.
1. April 1925

 

Den Dummen brauchst du nicht zu suchen, der findet sich von selbst, such den Klugen, den findest du nirgends. (Papa)

 

Der Dumme sucht den Klugen unter den Dummen, und der Kluge findet ihn. (ich)

 

M. G. Es ist doch logisch mich einladen gedichte zu lesen. Mach es M. G. da sind Menschen die Lieteratur lieben, es wird ihnen intressand sein doss zu hören. Lass Natasche hofliches sein zu meine gedichte. G. mache doch das un ich bitte dich. Mach es mein liebe G.

 

»Sacher Mädchen …«: Original auf Deutsch.
»M. G. Es ist doch logisch …«: Original auf Deutsch. »M. G.«: »Mein Gott«.
Natasche: Natalia Koljubakina (1868–1945), Tante und Patentante von Daniil Charms.

G. Ich habe mich erdreistet und dich darum gebeten, dass BI_MOTE_978-3-86971-031-0_002a und ich es franz. machen. Und ich wurde dafür gestraft. Nein, Herr, bring uns normal und leicht zusammen.
Amen.
30. Sept. 1925

 

Auf den 30. September 1925
Ich habe mir Folgendes ausgedacht – wenn Esther


franz



franzEsther