Inge und Walter Jens

Frau Thomas Mann

Das Leben der Katharina Pringsheim

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Vorwort

KAPITEL 1 Im Hause Pringsheim

KAPITEL 2 Studium und Hochzeit

KAPITEL 3 Eine großbürgerliche Familie

KAPITEL 4 Frau Thomas Mann

KAPITEL 5 Exil in Europa

KAPITEL 6 Amerika

KAPITEL 7 Ohne den Zauberer

Übersetzungen der englischsprachigen Zitate

Zitatnachweise

Zeittafel

Benutzte Literatur

Konsultierte Archive

Danksagung

Namenregister

Nachtrag

 

Für Lotte Klemperer

Vorwort

Wer war Frau Thomas Mann? Wer war Katharina Pringsheim? Die Antwort auf die Fragen scheint einfach: Katia, wer denn sonst? Katia, die so bekannt ist wie Heinrich oder Golo, Erika oder Klaus. Eine Figur im Reich des Zauberers, seine engste Vertraute. «K.», die in Thomas Manns Tagebüchern als Mutter seiner Kinder, als seine Begleiterin und Ratgeberin, aber auch als Managerin eines ebenso erfolgreichen wie bedrohten Betriebs erscheint.

Katia, Ehefrau und Mutter – von Mann und Kindern aus gegebenem Anlass in Essays, Reden und brieflichen Huldigungen in ihrer Widersprüchlichkeit beschrieben. «Sie war eine «starke und naive Persönlichkeit», meinte Golo, ihrem Mann an «logisch-juristischer Intelligenz» überlegen und gelegentlich aufbrausend: «sie hatte den Jähzorn ihres Vaters geerbt».

Katia, die Spiegelfigur, eine von außen betrachtete Gestalt: Wer war sie wirklich? Das «Zubehör» des Zauberers, der ohne seine Frau nicht arbeiten konnte? Gewiss. Aber Katia Mann war mehr: Zentrum einer amazing family und Partner für Menschen, die Trost brauchten. Niemand kannte die Seelenlage ihres Mannes, Treue und Verlässlichkeit eines androgyn veranlagten Künstlers, so genau wie sie; niemand wusste so viel von den Geheimnissen der Kinder; niemand beherrschte das Reglement der Diplomatie, von dessen strikter Befolgung das Wohl des pater familias abhing, mit gleicher Perfektion wie Katharina, geb. Pringsheim, die schon als junges Mädchen von ihrer Mutter gelernt hatte, dass sich Strenge und Liberalität, Ordnung und Leidenschaft sehr wohl vereinen ließen … vorausgesetzt, man war intelligent. Und das traf für Katia Mann zu. (Der Zauberer wurde zornig, wenn er in Situationen geriet, in denen seine Frau ihm intellektuell überlegen war.)

Woher wir das wissen? Aus Katias Briefen, Hunderten von bisher unbekannten Schriftstücken, auf denen, als strukturierenden Elementen, unsere Biographie beruht. Verschlossen bisher in Archiven, treten in dieser Dokumentation Zeugnisse ans Licht, die Katias Leben aus ihrer eigenen Perspektive erhellen. Briefe zunächst an ihre beiden «Großen», Erika und Klaus, Briefe an ihre Princetoner Freundin, Molly Shenstone, Briefe an den Zwillingsbruder Klaus, «Kaleschlein» genannt, den Ehestifter und Vertrauten der späten Jahre, Briefe an Freunde in aller Welt, Briefe schließlich – leider nur wenige – auch an Thomas Mann. Dazu Briefe von ihrer Mutter, Hedwig Pringsheim, aus den Glanzzeiten des Salons in der Münchener Arcisstraße, aus den Jahren der Verfolgung und der im letzten Augenblick gelungenen Emigration in die Schweiz.

Die Mutter, der Bruder, die Freundin: Katia Mann hat in ihrem Leben immer Frauen in gleicher Weise wie Männer geschätzt – einfühlsame Männer natürlich, die nicht selbstherrlich «the way of men» gingen, sondern Grenzgänger wie Ehemann und Zwilling waren. Leidenschaftliche Zuneigung freilich spiegelt ihre Korrespondenz nur einmal – in den Briefen an die Intima (ein Ausdruck der Mutter) Molly Shenstone.

Emphatisch als Freundin, vernünftig als Tochter, einträchtig im Bund mit dem Zwilling und kritisch-hingebungsvoll gegenüber dem Ehemann, zeigt Katia Mann viele Gesichter. Die Briefe charakterisieren sie, nicht zuletzt dank der von ihr oft zitierten Trias Familienmutter, Wirtschaftshaupt und Epistolographin, als eine Frau, die ebenso spontan wie nüchtern war. In ihrer Welt galt Freundlichkeit viel, Gäste waren willkommen – ‹da ich doch so familiant bin› –, aber der Betrieb musste auch schwarze Zahlen schreiben.

Eine interessante Frau also – und ein interessantes Leben, mühevoll, den «Dingen allzusehr verhaftet», wie sie in ihren Briefen ständig klagt, aber auch privilegiert, materiell unabhängig, dazu ausgezeichnet durch den Umgang mit den Großen ihrer Zeit.

Die Briefe sind, auch das will gesagt sein, in gut lesbarer Schrift formuliert, manu propria, wie die Lateinerin Katharina Pringsheim sagte, im Alter gelegentlich getippt – eigenwillig bisweilen, nur in Kleinbuchstaben zum Beispiel, wenn eine Hand verstaucht war (Frau Thomas Mann, ungeduldig und stets in Eile, stürzte häufig). Es sind Briefe in vielerlei Stilen, immer adressatenbezogen, selbstironisch und voll Mutterwitz.

Und damit genug der Vorrede. Frau Thomas Mann alias Katharina Pringsheim, alias Frau Katia Thomas Mann, wie die Mutter gelegentlich auf den Briefumschlag schrieb, hat das Wort. Der Leser, hoffen wir, mag dank der Fülle des unbekannten, hier zum ersten Mal publizierten Materials jenes Vergnügen einer Neuentdeckung empfinden, das zumindest die Autoren nicht erwartet hatten, als sie das Unternehmen begannen.

Lotte Klemperer, der Katia in späten Tagen sehr nahe war, sei dieses Buch herzlich zugeeignet. «Mit Lotten», schrieb Frau Thomas Mann im März 1966 an ihren Zwillingsbruder, «bin ich auf sehr freundschaftlichem Fuße.»

 

Tübingen, 12. Oktober 2002

Inge und Walter Jens

KAPITEL 1

Im Hause Pringsheim

«Ich, Katia Pringsheim, richte auf Grund der folgenden Mitteilungen das Gesuch um Zulassung zu der im Sommer 1901 stattfindenden Absolutorialprüfung des humanistischen Gymnasiums. Mit diesem Gesuch verbinde ich die gehorsamste Bitte, zur Ablegung der Prüfung, wenn möglich, dem Wilhelmsgymnasium in München zugewiesen zu werden, da mein Zwillingsbruder Klaus gleichzeitig die Prüfung an dieser Anstalt machen wird.

Ich bin geboren am 24. Juli 1883 zu Feldafing als Tochter des kgl. Universitätsprofessors Dr. Alfred Pringsheim und seiner Frau Hedwig, geb. Dohm und gehöre der protestantischen Religion an.

Meinen ersten Unterricht in sämtlichen Gegenständen der Volksschule erhielt ich gemeinsam mit meinem Zwillingsbruder Klaus in den Jahren 1889  1892 durch die Lehrer Bengelmann und Schülein der dritten protestantischen Schule. Vom Herbst 1892, wo mein Bruder auf das Gymnasium kam, wurde ich, vollständig parallel mit ihm, in allen Lehrgegenständen des humanistischen Gymnasiums unterrichtet. […]

Einen gefälligen Bescheid auf dieses Gesuch bitte ich mir Arcisstr. 12 zustellen zu wollen.

Gehorsamst Katia Pringsheim

 

Mit dem vorstehenden Gesuche erkläre ich mich einverstanden.

Prof. Dr. Alfred Pringsheim

München, 26. 3. 1901»

 

Das Gesuch wurde genehmigt, die noch nicht achtzehnjährige Katharina Pringsheim erhielt «durch höchste Ministerial-Entschließung No 5652 vom 22. April 1901» die Examens-Erlaubnis – gemeinsam mit zwei Mitbewerbern, deren Namen bekannt sind: Siegwart Graf zu Eulenburg und Hertefeld sowie Babette Steininger aus Niederbayern, eine Gastwirtstochter. Katias Prüfung fand wunschgemäß im Wilhelmsgymnasium statt, das auch ihre Brüder besuchten. Ergebnis: «mit wohlbefriedigendem Erfolg […] befähigt zum Übertritt an eine Hochschule». Die Mitbewerber, der Herr von Adel und die Gastwirts-(nach anderen Quellen: Postboten-)Tochter, hatten, wie die Schulakten zeigen, nicht bestanden.

Katharina Pringsheim hingegen war für das Studium wohl vorbereitet. Ihre Eltern konnten es sich leisten, der Tochter in den erforderlichen acht Fächern Griechisch, Latein, Französisch, Deutsch, Geschichte, Mathematik, Physik und Religion jahrelang Privatunterricht bei angesehenen und qualifizierten Gymnasialprofessoren erteilen zu lassen. Ob sie sich dieses Privilegs bewusst war, muss dahingestellt bleiben, ebenso wie die Antwort auf die Frage, ob sich die erfolgreiche Abiturientin jemals Gedanken gemacht hat über das Scheitern ihres weiblichen Mitprüflings, der einem Milieu entstammte, in dem studierwillige Mädchen von jener Bildung ausgeschlossen waren, die im Hause Pringsheim die Erziehung bestimmte: gleiche Chancen für Töchter und Söhne, wie es die großmütterliche Frauenrechtlerin, Hedwig Dohm, gefordert hatte.

Das Abiturzeugnis der gescheiten jungen Dame aus gutem und vermögendem Hause konnte sich sehen lassen. «Nach ihren schriftlichen Prüfungsarbeiten ist der Stand ihrer Kenntnisse im allgemeinen ein recht erfreulicher», befanden die Lehrer und machten lediglich eine einzige Einschränkung: «Der deutsche Aufsatz hob die richtigen Gesichtspunkte hervor, ließ aber Sicherheit sowohl in der sachlichen Begründung wie auch in der sprachlichen Behandlung vermissen.» – Der deutsche Aufsatz: Leider ist nicht bekannt, welches der drei «für die kgl. Bayerischen humanistischen Gymnasien» vorgegebenen «Themata» die Abiturientin wählte. Zur Auswahl standen: «1. Welchen Antheil hat Bayern an den großen Errungenschaften des abgelaufenen Jahrhunderts. (Die Prüfungskommission kann für dieses Thema die Ausarbeitung in Form der Rede bestimmen.) 2. Die Wirkung des Kontrasts ist an einem in der Schule gelesenen Drama nachzuweisen. (Das Drama bestimmt die Prüfungskommission.) 3. ‹Es ist die Rede dreierlei, ein Licht, ein Schwert und Arzenei.›» Wenn die Redeform nicht zwingend war, könnte man sich aufgrund der Abschlussnoten und der allgemeinen Beurteilung eine Bearbeitung des historischen Themas leicht vorstellen.

Darüber hinaus ist es bemerkenswert, wie bereits im Abiturzeugnis eine Eigenart erkennbar wird, die der Leser in späteren Dokumenten, vor allem in den Briefen jener Frau gewahrt, die zeitlebens darauf beharrte, kein Mitglied der schreibenden Zunft zu sein, und dafür lieber auf jene Fähigkeiten und Vorlieben rekurrierte, die die Prüfungskommission bereits 1901 hervorhob: den Umgang mit fremden Sprachen. «Die Übersetzung aus dem Griechischen ins Deutsche [zeugte] von richtiger Auffassung und gutem Verständnisse. Auch in der mündlichen Prüfung wußte sie die ihr vorgelegten Autorenstellen sehr gewandt zu übersetzen und zu erklären.»

Kein Wunder, dass die Noten, namentlich in diesen Fächern, vorzüglich waren:

in der Religion

gut

in der deutschen Sprache

genügend

in der lateinischen Sprache

sehr gut

in der griechischen Sprache

sehr gut

in der französischen Sprache

sehr gut

in der Mathematik und Physik

gut

in der Geschichte

gut

Frau Thomas Mann wird viel Gelegenheit haben, auf dieses Wissen zurückzugreifen, das Katharina Pringsheim von ihren Eltern abverlangt wurde.

Der Vater, Alfred Pringsheim, 1850 in Ohlau/​Schlesien geboren, hatte sich nach seinem Mathematikstudium in Berlin und Heidelberg 1877 in München habilitiert und unterrichtete seit 1886 als außerordentlicher, seit 1901 als ordentlicher Professor an der dortigen Universität «verschiedene Zweige der Analysis, Functionen-Theorie, Algebra und Zahlentheorie». (So steht es in seinem Lebenslauf.) «Er war ein innerhalb der Gelehrtenhierarchie angesehener Mann», urteilte ein Kollege anlässlich des 80. Geburtstags, 1930, «viele der bedeutendsten Mathematiker Deutschlands sind seine Schüler.» Mit der Mathematik indes, so der Laudator, sei die Lebenssphäre Pringsheims nicht erschöpfend umrissen, ja mancher unter den Bekannten des Professors wisse vielleicht nicht einmal, dass er Mathematiker sei: «Er ist nämlich derselbe Mann, der, Wagnerianer der ersten Stunde, sich ganz jung mit Richard Wagner befreundete, die ersten Klavierauszüge des Ringes für seinen persönlichen Gebrauch eigenhändig herstellte und mit ebenso großer Freude diesen Sommer nach Bayreuth gegangen ist, wie damals vor 54 Jahren. Er ist derselbe Mann, der sein Haus mit Kunstschätzen füllte und die Fayencen seiner weltberühmten Sammlung mit der Akribie aussuchte, die er von seinen mathematischen Problemen her gewohnt war: Wenn, auch nach Monaten, der leiseste Zweifel an der Echtheit eines Stückes auftauchte, wurde es unerbittlich abgestoßen. – Sein Haus ist lange Zeit ein Mittelpunkt des Münchner Gesellschaftslebens gewesen, in dem sich alles, was irgend einen Namen hatte, traf; hierzu hat auch die Liebenswürdigkeit, Klugheit und Schönheit seiner Frau beigetragen, die eine ebenso interessante Persönlichkeit ist, wie er selbst.»

Die vielfach mit den Attributen ‹schön›, ‹klug› und – im Allgemeinen jedenfalls – ‹liebenswürdig› charakterisierte Frau Hedwig war die 1855 geborene Tochter des Schriftstellers und Kladderadatsch-Redakteurs Ernst Dohm und der Frauenrechtlerin Hedwig Dohm, geb. Schleh. Alfred Pringsheim hatte seine spätere Frau als Mitglied des berühmten Meininger Hoftheater-Ensembles, Mitte der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts, kennen gelernt. Aber auch frühere Begegnungen wären – im Zeichen einer dem Dohm’schen Hause und dem jungen Mathematiker gemeinsamen Liebe zur Musik Richard Wagners – durchaus denkbar gewesen. Sowohl Hedwig Dohms Vater wie auch Alfred Pringsheim gehörten zu den frühesten Förderern von Bayreuth und halfen bereits im Jahr 1872 bei der Grundsteinlegung des Festspielhauses. Ernst Dohm war Präsident des Berliner Wagner-Vereins und galt, wie Alfred Pringsheim, als leidenschaftlicher Vorkämpfer des damals so heftig umstrittenen Musikers Richard Wagner. Dieser Umstand verschaffte auch der in Meiningen debütierenden Tochter – wie sie 1930 in einem ihrer für die Vossische Zeitung geschriebenen Feuilletons erzählt – im Sommer 1876 Einladungen ins Haus Wahnfried: «Der Familienkreis machte einen […] gemütlichen, behaglichen Eindruck. Richard Wagner sprach ein unverfälschtes Sächsisch und erzählte manch lustige Anekdote; Frau Cosima, durchaus grande dame, präsidierte mit Anmut und Sicherheit. […] Die Abendempfänge in Wahnfried aber waren überaus interessant und glänzend; alles, was gut und schön und teuer war, fand sich da zusammen. […] Ich entsinne mich einer Soirée, in der Franz Liszt, Vater und Schwiegervater des Hauses, wunderbar spielte.»

An solchen Abenden durfte jahrelang auch «der kleine Dr. Alfred Pringsheim» teilnehmen, denn «der Meister hatte sich mit dem jungen Anbeter, dem er auch zu sämtlichen Proben Zutritt gegeben, […] förmlich angefreundet, soweit es der Unterschied des Alters und der Lebensleistung eben zuließ». Doch diese intime Verbindung hatte sich, kurz ehe Hedwig Dohm-Pringsheim Bayreuther Boden betrat, unter dramatischen Umständen aufgelöst: Als ein Berliner Kritiker zu vorgerückter Stunde in einer recht illustren Bierkneipen-Runde behauptete, das ganze Bayreuth sei «purer Schwindel» und er mache sich anheischig, «mit einigen Strauß’schen Walzern die ganze Sippe vom Festspielhügel herunterzulocken», hatte sich der junge und gelegentlich recht jähzornige Wagner-Adept herausgefordert gefühlt, die Ehre seines berühmten Freundes mittels eines Bierseidels zu verteidigen. Die Darstellung dieses Vorfalls durch die internationale Presse, die, wenn man der Erzählung der späteren Ehefrau des allzu leidenschaftlichen Verehrers glauben darf, dem Tenor «Auf den Straßen von Bayreuth ist bereits Blut geflossen» folgte, bewog dann das stets um seinen Ruf besorgte Haus Wahnfried, «die Beziehungen zu dem […] Treuesten der Treuen ein- für allemal» schroff abzubrechen.

So kam es, dass Alfred Pringsheim seine zukünftige Frau erst wenig später auf der Bühne, als Mitglied jener Meininger Theatertruppe, kennen lernte, die in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts vor allem dank ihrer Klassiker-Aufführungen berühmt war und unter der persönlichen Leitung des Herzogs Georg II. Gastspielreisen durch ganz Europa unternahm. Es wird berichtet, dass der gerade habilitierte Dozent die junge Schauspielerin als Julia neben dem Romeo von Josef Kainz auf der Bühne gesehen habe. Das allerdings ist – nach der Darstellung, die Hedwig Pringsheim-Dohm 1930 unter der Überschrift Wie ich nach Meiningen kam in einem ihrer Feuilletons gegeben hat – nur ein freundliches Gerücht. Die Wirklichkeit sah prosaischer aus. Zwar hat Hedwig Dohm die Julia gespielt – in ihrem zweiten Meininger Winter, also in der Spielzeit 1876/​77 –, aber nicht mit Kainz, sondern mit dem «damals vergötterten Emmerich Robert» – und offenbar auch nicht ganz so erfolgreich, wie es die Fama will: In der Balkonszene blieb sie stecken. «Ich hörte keinen Souffleur mehr und hatte nur den einen Wunsch, tot umzusinken.» Der Regisseur Chronegk «stand in der Kulisse und schrie mir ‹dumme Gans› zu, was meine Todessehnsucht nicht verminderte; als er aber meine Not sah, wagte er sich so weit vor, wie es nur irgend ging und soufflierte die mir fehlenden Worte so laut, daß ich sie auffaßte und – gerettet war».

Auch der Abschied von den Meiningern war offenbar nicht ganz so romantisch, wie einige Chronisten vermuten. Ein Streit mit der unentbehrlichen und «wirklich begabten […] ersten Heldin und Liebhaberin» zwang die Debütantin nach einundeinemhalben Jahr hoffnungsvoller Theaterkarriere zu der Einsicht, dass sie nicht länger an dieser Bühne arbeiten könne: «So reichte ich mit schwerem Herzen und der Zustimmung meiner Eltern mein Entlassungsgesuch ein, dem auch huldvoll nachgegeben wurde. Doch lag es eigentlich durchaus nicht in meiner Absicht, dem Theater endgültig zu entsagen: wenn ich nicht unversehens die weltbedeutenden Bretter mit dem heiligen Ehestand vertauscht hätte. Ich verheiratete mich.»

Aber ehe sie dies tat, hatte die junge Schauspielerin neben etlichen Pannen, von denen sie in ihrem Feuilleton nicht ohne Witz und Selbstironie berichtete, durchaus «ganz hübsche Erfolge» vorzuweisen. Jedenfalls bot man ihr einen Drei-Jahres-Vertrag an mit steigendem Verdienst, «1.500, 2.500 und 3.500 Mark jährlich, bei Gastspielen doppelte Gage», obwohl sie, nach eigenem Bekenntnis, auf der Bühne immer noch als «hilfloses Kind» agierte, «das […] nicht wußte, was es mit seinen Gliedern anfangen sollte»: einzig darum bemüht, sich als Luise in der ersten Liebesszene den stürmischen Bewerber Ferdinand «mit weit ausgestreckten Armen» so «angstvoll vom Leibe» zu halten, dass der herzogliche Regisseur «vom Parkett aus mit der Aufforderung: ‹Näher ran, Fräulein Dohm, er ist doch Ihr Liebhaber›» für den Fortgang der Handlung sorgen musste.

Ein junges Mädchen aus so genanntem ‹gutem Hause› am Theater – wie ging das zu? Hedwig Pringsheim selbst bekennt freimütig, nie an eine Bühnenkarriere gedacht zu haben, obwohl sie von Kindesbeinen an «eine wahre Passion für das Aufsagen der längsten Gedichte gehabt und kein Alter und kein Geschlecht mit [ihren] Deklamationen verschont» hätte. Der Beruf einer Schauspielerin aber war für die Tochter einer gesellschaftlich angesehenen Familie selbst in einem Lebenskreis undenkbar, in dem sich – wie im Hause Dohm – bürgerliche, bohemehafte und leicht sozialistisch getönte Elemente zu einer recht unkonventionellen Mixtur vereinigt hatten. Erst der Besuch einer durch den Meininger Musikdirektor Hans von Bülow eingeführten Aktrice brachte die Entscheidung, die durch Intervention des Ernst Dohm bekannten Herzogs Georg und seiner «rechtmäßigen, wennschon linkshändigen Gemahlin», der einstigen Schauspielerin Ellen Franz, in die Tat umgesetzt wurde: «Mein Vater kannte aus höchst persönlichen Erfahrungen das lockere Theatervölkchen, und die Vorstellung, seinen Liebling in diesen Sündenpfuhl zu schicken, erfüllte ihn mit Grausen. Doch war er andererseits der Mann, der niemals ‹nein› sagen konnte, und als kurz darauf der Herzog […] noch seinen Regisseur Ludwig Chronegk persönlich zu uns schickte, um zu verhandeln, war mein Schicksal besiegelt. Man übersandte mir die Rolle der Luise in ‹Kabale und Liebe›, mit dem ausdrücklichen Befehl, sie auswendig zu lernen, aber unter keinen Umständen mit irgend jemanden zu studieren: und so geschah’s.» – Nachdem sie einen Schminkkasten erstanden und ihre Garderobe – die private sowie die damals von der Schauspielerin selbst aufzubringende Grundausstattung an Bühnenkostümen – bescheiden aufgebessert hatte, fuhr Hedwig Dohm am 1. Januar 1875, «vom Vater, den ängstlichen Wünschen der Mutter und dem stillen Neid der drei jüngeren Schwestern begleitet, ins Abenteuer nach Meiningen».

Sie war knapp neunzehn Jahre alt und ein «wohl behütetes und ganz unerfahrenes Haustöchterchen», das vom Vater, ehe er «tränenden Auges» wieder abreiste, bei der Familie eines Gymnasialdirektors in Pension gegeben wurde und sich von nun an dem Ernst des Lebens stellen musste. «Ich war in meinem Leben nur sehr selten im Theater gewesen, hatte nicht die geringste Erfahrung, nur meine Jugend, meine hübsche Erscheinung, ein schönes tiefes Organ, viel Intelligenz und meine unverdorbene Natürlichkeit.»

Vermutlich war es gerade die Kombination dieser Eigenschaften, mit der die Debütantin nicht nur das Wohlwollen des Herzogs, sondern auch die Aufmerksamkeit des jungen Mathematikers Alfred Pringsheim auf sich zog, der ihrer Theaterkarriere ein jähes Ende bereitete: «Da saß ich denn ‹mit das Talent› und konnte es nicht mehr verwerten. Nicht einmal meine Deklamationswut durfte ich mehr austoben. Mein Gatte war in dieser Hinsicht amusisch genug, sie einfach scheußlich zu finden, und meine Söhne, als sie größer wurden, pufften mich in die Seiten, wenn der Geist über mich kam und irgendeine Reminiszenz aus den Kranichen des Ibykus, der Bürgschaft oder der Kassandra mir entfuhr. In-die-Seite-gepufft-Werden konnte ich aber nie vertragen, und so verstummte denn mit der Zeit mein liederreicher Mund. Aber die kurze Episode meiner Meiningerei möchte ich in dem unausschöpfbaren Schatz meiner Erinnerungen um keinen Preis vermissen.»

So weit die Aufzeichnungen derjenigen, die es am besten wissen musste; es besteht kein Grund, an der selbstkritisch-witzigen Aufrichtigkeit der Autorin zu zweifeln. Auf jeden Fall steht fest, dass die Verlobung von Alfred Pringsheim mit Hedwig Dohm am letzten Tag des Jahres 1877, die Hochzeit im Oktober 1878 stattfand.

In München, am Anfang der Arcisstraße, bezog das Ehepaar eine repräsentative Wohnung, die es erst aufgab, als 1889, nur wenige Schritte vom bisherigen Domizil entfernt, jenes berühmte Renaissance-Palais fertig gestellt war, das seither in Memoiren, Briefen, Zeugnissen der Literatur und wissenschaftlichen Abhandlungen häufig beschrieben worden ist. Der Prachtbau wurde am 15. August 1933 bei einer Entschädigung von 700 000 RM enteignet und dann abgerissen, um Platz für einen neuen Partei-Palast zu schaffen. Aber da waren die Kinder, die – neben dem Wunsch, den ständig wachsenden Kunstsammlungen eine adäquate Aufstellung zu ermöglichen – die Errichtung eines eigenen Domizils erforderlich gemacht hatten, längst erwachsen und das einstige Kinderhaus zum Enkelhaus geworden.

Alfred und Hedwig Pringsheim wurden zwischen 1879 und 1883 fünf Kinder geboren, vier Buben: Erik, Peter, Heinz, und – als letztes, am 24. Juli 1883 – ein Zwillingspärchen: Klaus und Katharina Hedwig. In den Aufzeichnungen, die Hedwig Pringsheim seit der Geburt des Ältesten bis 1898 über die Entwicklung ihrer Kinder führte, wurde das Mädchen zunächst Käte oder Kati, später, als Zehnjährige, Katja genannt. Der Bruder Heinz führt diese Namensgebung auf die damalige französische Gouvernante der Kinder, Mme. Griselle, zurück, die lange in Russland gelebt und die dort gebräuchliche Abkürzung «Katju» in die Familie eingeführt habe. «Katia» dagegen ist die Schreibweise, in der die Heranwachsende seit Anfang der neunziger Jahre ihre Briefe, später auch fast alle offiziellen Schreiben, zum Beispiel das Gesuch um Abiturszulassung, unterschrieb.

Auch die aus Interviews zusammengestellte Autobiographie Meine ungeschriebenen Memoiren nennt als Autorin den Namen Katia Mann. Diesen Erinnerungen ist zu entnehmen, dass die Geburt des vierten (und unerwarteten fünften) Kindes Hedwig Pringsheim in ihrem Feriendomizil in Feldafing überraschte: «Niemand war da außer der Bauersfrau, und es gab ja kein Telefon. [Als das erste Kind, ein Junge, auf der Welt war] sagte sie ‹Jessas! Es kommt noch eins!› Das war dann ich.»

Nach vier Buben also ein Mädchen. Es scheint allerdings, dass die kleine Kati ihre Geschlechtszugehörigkeit im ersten Jahrzehnt ihres Lebens recht konsequent als Irrtum der Natur aufgefasst hat: «Kati sagt […], als wir auf die Welt kamen, da hat man sich geirrt und gemeint, ich bin’s Mädel, aber ich bin der Bub», notierte die Mutter im November 1888 in ihren Aufzeichnungen, in denen sie bereits ein Jahr zuvor, im Rückblick auf den Heiligen Abend, resigniert vermerkt hatte, dass «das dumme, allem Mädeltum abgeneigte Mädel» sofort «ihr nettes Puppenservice gegen Peters Pistole» eingetauscht habe. Und das, obwohl Hedwig Dohms Tochter bereits in der Vorweihnachtszeit viel Kraft darauf verwendet hatte, den Kindern «die Narretei» mit den Soldaten auszutreiben – erfolglos, wie sie etwas ratlos vermerkte: «Es hilft alles nichts, von allen Kostbarkeiten lieben sie einzig die 3 Bogen Soldaten à 75 Pfennig, die sie mit Leidenschaft ausschneiden und mit denen sie einzig wirklich spielen.»

Das Kinderbüchlein der Hedwig Pringsheim ist leider die einzige Quelle, die es erlaubt, zuverlässige Aussagen nicht nur über die Entwicklung der Kinder, sondern auch die Welt zu machen, in der sie heranwuchsen. Es ist darüber hinaus eines der frühesten erhaltenen Zeugnisse für die originellen schriftstellerischen Fähigkeiten der Chronistin, die sie, wie vorausgreifend bemerkt sei, ihrerseits vom Elternhaus übernommen und ihrer Tochter Katia weitervererbt hat. Die Beobachtungen, die das kleine Buch festhält, sind verlässlich; das Resümee über die Entwicklung der Zwillinge nach einem halben Jahr besticht durch Präzision und Kürze: «Käte ist feist und ruhiger, Klaus sieht intelligenter und minder fleischlich aus.» Vier Monate später hat sich dieser Eindruck relativiert: «Käte ist entwickelter als Klaus, […] Klaus ist freundlicher.» Und abermals ein halbes Jahr später können die Kleinen schon keine Sonderstellung mehr im Geschwisterkreis beanspruchen. Die kam – urteilt man nach der Häufigkeit und Ausführlichkeit der Eintragungen – allein dem Ältesten, Erik, zu, an dem gemessen, wie die Mutter schrieb, die anderen Kinder «minder bedeutend» erscheinen, «obgleich Heinz und Käte für ihr Alter merkwürdig entwickelt sind. […] Käte spricht alles nach, was man ihr vorsagt und äußert sich auch schon selbständig. Dabei ist sie das lustigste, zappeligste kleine Geschöpf und sehr niedlich. Sie hat 8 Zäne, Klaus 6, sonst aber ist Klaus sehr zurück und findet noch wenig Ausdrücke für seine Gemütsbewegungen.»

Die Ansprüche an die mentale Beweglichkeit der Kinder, ihre Aufnahmefähigkeit und, das vor allem, die Möglichkeiten, ihren Gefühlen verbal Ausdruck zu verleihen, waren hoch. «Buchenswert» – um einen Ausdruck Thomas Manns zu verwenden – erschienen in erster Linie die geistigen Fortschritte, die ihrerseits mit viel Esprit (Klaus sieht aus, «als sei er von Busch gezeichnet»), einer bemerkenswerten Fähigkeit zu prägnant-raffender Charakterisierung («Kati ist putzsüchtig, ordentlich, sauber und kokett: ein kleines Weib») und ohne jede Prüderie notiert wurden («Fay, du siehst von hinten genau so aus wie ein Orangutan von vorn, auch so etwas behaart», lässt die immerhin vierzehnjährige Katia ihren Vater wissen).

Trotz der höchst eigenwilligen Orthographie – die Hedwig Pringsheim übrigens bis ins späte Alter hinein konsequent und offenbar von keinem Gegenüber korrigiert beibehielt – vermittelt das Kinderbüchlein ein anschauliches Bild der zugleich großbürgerlichen und künstlerisch geprägten Umgebung, in der die Sprösslinge dieser vielfach besonderen Familie heranwuchsen: «Im Kinderzimmer» – Eintrag vom März 1882, die Zwillinge sind noch nicht geboren, Erik, der Älteste, ist drei Jahre alt, Peter zwei, Heinz kann vermutlich kaum laufen – «hängt eine Photographie von sämtlichen bedeutenden Musikern. Erik […] kennt sämtliche Werke Wagners und sagt sie her one eines auszulassen.» Im Dezember 1885 – die Zwillinge sind inzwischen gut zwei Jahre alt – spielen alle Kinder gemeinsam ihr «Lieblingsspiel», «den Chorgesang aus dem ‹Barbier von Bagdad›». Bevorzugte Nummern sind Das Gesamtgenie und Bakbab, der Einäugige. Eine Woche später notierte die Mutter, dass Erik, der einige Tage zuvor seine erste Unterrichtsstunde beim Lehrer Bengelmann erhalten hatte, im Textbuch nachlas, was ihm die Eltern anlässlich einer Aufführung des Wagner’schen Rings erzählten: dass nämlich «Brünhild dadurch, daß Siegfried ihren Panzer zerschneidet, ihre Gottheit verliert und eine gewönlich Frau wird». Eriks Reaktion: «Weißt, Muttchen, das haben sie dumm gemacht. […] Sie hätten an dem Baum von der Brünhild ein Schild machen sollen: es wird gebeten, nichts aufzuschneiden.»

Es scheint für Alfred und Hedwig Pringsheim selbstverständlich gewesen zu sein, die Kinder so weit wie irgend möglich an dem teilhaben zu lassen, was ihnen selbst wichtiger Bestandteil ihres Lebens war. Forcierter Bildungs-Ehrgeiz aber ist nirgendwo zu erkennen, nicht einmal dort, wo es sich um ein immerhin nicht ganz alltägliches Unterfangen handelt: «Bei Kaulbach», so der Bericht vom 8. Juli 1888, «bei Kaulbach, der sie als Pierrots malt, benahmen sich die Kinder ganz ungeniert. Kati sagte: ‹Gelt, er macht uns in die Kostüme, weil du’s so willst, denn du bestellst doch die Photographien, dann muß er’s doch so machen wie du magst.›»

Ob der Mutter bewusst war, wie viel diese kommentarlos protokollierten Äußerungen über den Stil des Hauses und das Sozialverhalten der Kinder aussagen? – Im gleichen Jahr, da Kaulbach (der Neffe Friedrich August, nicht Wilhelm, der war bereits tot) das berühmt gewordene Bild der fünf im gleichen Pierrotkostüm posierenden Pringsheim-Sprösslinge malte, schrieb sie, dass die noch nicht fünfjährige Tochter unter ihrem Toilettentisch ein Stück Bindfaden hervorgezogen und ihr Tun mit den Worten kommentiert habe: «Ich wollt’ sehen, ob die Emil da unten auskehrt; hab’ schon einmal nachgesehen, aber er lag immer noch da, gelt, da macht die Emil nie rein.» Halb erstaunt, halb anerkennend setzte die Mutter hinzu: «Der alte Kniff erfarner Hausfraun.» Wo mag ihn Katia erlernt haben?

Doch interessanter als die direkten Spiegelungen eines milieuspezifischen Verhaltens sind jene Berichte, die zeigen, in welchem Maße die Kinder gleichzeitig lernen, ihre Privilegierung zu reflektieren und angemessene Konsequenzen zu ziehen: «Man muß […] einem Bauern danken, wenn er ‹Grüß Gott› sagt», belehrt die siebenjährige Katia ihre Brüder, «denn man kann doch nicht weniger poli sein als ein Bauer, der noch nicht einmal erzogen ist, denn sein Vater muß früh aufs Feld, und wir sind doch erzogen.»

«Erzogen» wurden sie in der Tat; aber eben nicht abgerichtet oder mit Lernstoff voll gestopft. Sie erhielten Angebote und durften wählen. Noch ehe die Kinder zur Schule gingen, begann die Mutter, ihnen französischen Unterricht zu geben, sodass der offenbar auch dynastisch durchaus bewanderte Älteste bei der Beobachtung des Leichenzuges König Ludwigs seiner Skepsis in Bezug auf den Nachfolger gegenüber der im Hause tätigen Bonne in verfremdendem Französisch Ausdruck geben konnte: «Madame nous avons de nouveau un fou.» Wen wundert es, dass die jüngeren Geschwister sich bemühten, es ihm gleichzutun, und die fünfjährige Kati, während eines Urlaubs in Kreuth, «das französische ‹garcon› treu übersetzend», alle Kellner als «Buben» titulierte?

Sprachliche Transpositionskünste blieben, über die Jahre und Jahrzehnte hinweg, die besondere Force von Katharina Pringsheim, deren Stil sich stets durch das schlaglichtartig erhellend Direkte und Genaue auszeichnet: «Die Kinder unterhalten sich darüber, warum der Mensch etwas anständiges, das Mensch ein gemeines Schimpfwort sei. Katja: ‹ich weiß schon, mit das Mensch wird man doch so verdingt und versacht›.» Kein Zweifel, die Definition ist für ein elfjähriges Mädchen ebenso intelligent wie originell. Sprach die Mutter anders?

Vermutlich nicht. Die Freude, mit der Hedwig Pringsheim, penibel und stolz zugleich, die Bonmots ihrer gescheiten Tochter notierte, macht deutlich, dass die Damen des Hauses Pringsheim aus gleichem Holz geschnitzt waren. Ein Eintrag vom Januar 1898 zum Beispiel zeigt, welchen Spaß die Mutter an Katias eigenwilligen Übersetzungsbemühungen hatte: «Die Kinder finden mein Kleid sehr ausgeschnitten», heißt es da. «Katja: ‹Na, Gottseidank doch noch nicht bis auf die Schamteile.› Allgemeines Entsetzen. Ich frage, was sie meint. ‹Ja, im Homer kam vor, [der Held] ginge nur so weit, daß er sich kaum die Schamteile netzte, ins Wasser. Im Diktionär fand ich ‹Schamteile›, aber der Röckl [ihr Griechischlehrer] übersetzte in der Stunde: ‹daß er sich die Brust kaum netzte› – und da dachte ich eben, ‹Schamteile› hieße ‹Brust›. Und tags darauf erzälte sie, es sei schon wieder etwas von Brustwarzen, Schenkeln und Bauchknopf vorgekommen, aber sie übersetze jetzt einfach alles mit ‹Brust›.»

Kein Wunder, dass sich neben der Mutter auch die Brüder über Katias sprachliche Kapriolen «diebisch freuten» und sie schon als Kleinkind an ihren französischen und lateinischen Sprachübungen teilnehmen ließen. Überhaupt scheint das Verhältnis der Jungen zur einzigen Schwester ungeachtet von Katias Bestrebungen, nicht als Mädchen zu gelten, im Zeichen größter Bewunderung gestanden zu haben. «Die Buben beten Kati an», notierte die Mutter im Mai 1885. «Sie küssen ihr die Füße und stritten um die Ehre, wer sie morgens im Bett empfangen darf.» Nirgendwo ist vermerkt, dass Kati diese oder spätere Bekundungen von Huldigung und Aufmerksamkeit als unangenehm empfand. Sie kamen ihr, wie sie meinte, selbstverständlich zu.

Liest man die mütterlichen Notate, so fällt – wenn man die Zeit bedenkt, in der sie niedergeschrieben sind – nicht zuletzt die große Liberalität und Natürlichkeit auf, die das Verhältnis sowohl zwischen Eltern und Kindern als auch zwischen den Geschlechtern betrifft. Es scheint eine Selbstverständlichkeit gewesen zu sein, dass die Kinder zu den Eltern ins Bett stiegen und ihrer Neugier freimütig Ausdruck gaben: «Erik [sechsjährig] sagte, bei mir im Bett liegend, ‹Muttchen, ich kenne von deiner Nacktheit nur das Gesicht, ich möchte wol mal deine ganze Nacktheit kennen lernen.›» Und als der Vater die Tür seines Zimmers, in dem er sich mit seiner Tochter unterhielt, schließen wollte, da die Buben nebenan ihre Nachttoilette machten, protestierte die Neunjährige heftig: etwas «Bekanntschaft mit dem Leben» müsste sie schließlich behalten. Auch an den Unterhaltungen über die Frage «Wo kommen die kleinen Kinder her?» wurden die Eltern beteiligt: «An den Storch glaubt keines», Eintrag der Mutter an Peters Geburtstag 1889, «Kati meint, sie fallen aus einem Loch im Himmel», während Peter es «ganz genau» weiß: «du legst uns, wie die Kühe die Kälber legen!» Doch auch er hatte noch Fragen, die die Mutter gewissenhaft aufschrieb: «Wenn ich nur wüßte, wo man herauskommt.»

Dass «auch unverheiratete Leute Kinder bekommen», schien Allgemeinwissen zu sein. Der Älteste hatte den Kalender seines Vaters offenbar gründlich studiert und machte während der Unterhaltung geltend, dort stünde, «daß in München järlich einige 1000 Kinder außer der Ehe geboren werden» und man schließlich wisse, dass Emilie auch ein Kind habe. Ein paar Jahre später verfügte die neunjährige Kati über so viel Bildungswissen, dass sie fähig war, diese Tatsache in einen dubiosen, aber immerhin originellen Erklärungszusammenhang einzuordnen: «Im Altertum hatte man die Kinder nicht gern, und jetzt weiß ich auch, warum im Altertum die Frauen eine so niederträchtige Stellung hatten: weil sie die Kinder machen.»

Auch prekäre Situationen galten nicht als tabu. Es war von den Kindern offenbar nicht unbemerkt geblieben, was in München jedermann wusste: Alfred Pringsheim war – was sein Verhältnis zu Frauen anging – «höchst flatterhaft» (so jedenfalls drückte es der zwölfjährige Erik gegenüber der Mutter aus). Auf die Frage, was er damit meine, antwortete der Sohn: «Nun ja, er läuft jeden Tag einer anderen nach, heut Hannchen, morgen Milka […], ist das recht?» Als die Mutter meinte, jeder dürfe doch tun, «was ihm Vergnügen» bringe, flüsterte der achtjährige Klaus entsetzt und «mit Tränen im Auge»: «der Fey ist ein zweiter Frankfurter!» «Wir haben geschrien [vor Lachen]», setzte Hedwig Pringsheim erklärend in Klammern hinzu. «Ich hatte tags zuvor von einem gräßlich zudringlichen, ekligen kleinen Kerl namens Frankfurter erzält, der die Damen im Theater sehr belästigt.»

Was als Bloßstellung des Vaters gegenüber den Kindern erscheinen könnte, erweist sich durch die folgenden Eintragungen als alltägliche Diskussion, denn es zeigt sich, dass dem Familienoberhaupt die Äußerungen der Kinder – selbst wenn sie in seiner Abwesenheit getan waren – selbstverständlich berichtet wurden und er sich nicht selten selbst an dergleichen Gesprächen beteiligte: «Wir sitzen am Theetisch», Eintrag der Mutter im Dezember 1891; «ich meine, Alfred, der noch fehlt, trinke gewiß bei Milka Thee. Kati: ‹Der Fay spielt Milkatz überhaupt sehr den Hof; er wird sie wol heiraten wollen, auf ein Jar, bis sie ein Kind hat; dann wird er wiederkommen und sich mit dem Kind protzen, als wenn es gescheidter wäre, als wir fünf, aber dann jagen wir Milka mit’n Kind fort.› – Das erzäle ich Alfred, der Kati fragt, wie er denn den Hof spiele. ‹Ja›, sagt Kati, ‹du gehst halt immer Theetrinken zu ihr, und gibst ihr den Arm und applaudirst im Theater und machst ‹den Frankfurter› und schenkst ihr Konzertbillets, die sie nicht einmal annimmt. Du bist wie ein Witwer, der eine andere will.»

Milka, das war die Sängerin Milka Ternina, die langjährige Geliebte von Alfred Pringsheim; gleichzeitig war sie eine Freundin des Hauses; die Kinder überlegten, ob es nicht angebracht wäre, ihr, bei ihrem ersten Auftreten nach langer Krankheit, Blumen zu schenken, und plädierten für einen Lorbeerkranz. Allein Katia, bereits als Kind mit einem sicheren Instinkt für das möglicherweise Unangemessene ausgestattet, hatte Bedenken: Was, «wenn sie sich’n nun aber nicht erwirbt?» – Aber nicht die Frage, ob Frau Ternina das Bouquet erhielt, macht diese Episode spannend, sondern das Problem des Umgangs der rechtmäßigen Ehefrau und ihrer Kinder mit der Freundin des Vaters. Aus den erhaltenen Zeugnissen geht hervor, dass Milka Ternina regelmäßiger und selbstverständlicher Gast am berühmten sonntäglichen Teetisch der Hausherrin war, die ihr auch dann noch freundlich verbunden blieb, als der Hausherr längst sein Interesse verloren hatte. «Ich stand bis zuletzt immer in freundschaftlichem Briefwechsel mit ihr; wärend Fay, nach Männerart, nach Verblassen der erotischen Beziehungen doch von ihr abgerückt war», steht in einem traurigen Brief, in dem Hedwig Pringsheim 1940 aus Zürich der Tochter vom Tod der Sängerin erzählte.

Kein Zweifel, dass Katia durch die souveräne und humane Haltung, die ihre Mutter im Umgang mit prekären Konstellationen – auch im Familienkreis – bewies, schon als Kind gelernt hat, wie skandalträchtige Situationen ohne Gesichtsverlust zu bewältigen waren: eine Fähigkeit, die ihr später häufig, nicht zuletzt im Umgang mit den Kapricen des androgynen Ehemanns und der gelegentlich recht ungewöhnlichen Lebensweise ihrer Kinder, hilfreich gewesen sein mag.

In der Tat, es ging liberal zu im Palais der Pringsheims, Großzügigkeit und Klugheit dominierten nicht nur am Teetisch. Die Kinder waren selbstverständlich einbezogen in die Welt der Soireen und des Theaters; Reste, die von den großen Festivitäten übrig geblieben waren, wurden im Freundeskreis der Junioren mit Vergnügen verzehrt und nicht etwa nur den Dienstboten überlassen – in einem Haus, wo das Bajuwarische, von Katia, zumal im Mündlichen, vortrefflich beherrscht, in gleicher Weise zur Geltung kam wie das Griechische und Lateinische, von den hauseigenen Wortschöpfungen zu schweigen.

Wurden die Kinder durch die Begegnung mit einer neuen sozialen Umwelt zur Korrektur des Familienjargons genötigt, so erregte die offizielle Bezeichnung daheim stets größte Heiterkeit: «Stell dir vor, die Pipskrippe nennen die Steh-Abort»: so das erwähnenswerteste Vorkommnis im Bericht der zwei mittleren Buben über ihren ersten Tag in einer öffentlichen Schule.

Also alles offen auf den Tisch gelegt? Nun, zumindest in einem Punkt sehr zurückhaltend: Die Diskrepanz zwischen jüdischer Herkunft und protestantischer Religiosität blieb lange Zeit ein Tabu. «Die Kinder», schrieb Hedwig Pringsheim 1888 in ihr Journal, «sind noch immer völlig ahnungslos über ihre Abstammung.»

Ja, die Kinder wussten lange Zeit nicht, dass sie Juden waren – und zwar ‹reinrassige›, nicht etwa (im Sinne nationalsozialistischer Definition) ‹Mischlinge›. Hohe Zeit also, sie aufzuklären – aber wie? Die ersten Versuche ließen die Zöglinge «kalt»: «ein Jud ist grad dasselbe wie ein Christ, nur die Religion ist ein bißchen anders», hielt Erik der Mutter entgegen. Trotzdem scheint er seiner Schwester berichtet zu haben, dass «der Väte ein Jud ist». Und in der Tat gab es auf der einen Seite einen Vater, der in die Sparte «Religion» der Universitäts-Personalakte «israelitisch» eintragen ließ (sodass die Bezeichnung «religionslos», die Julia Mann mit Blick auf die bevorstehende Hochzeit von Sohn Thomas gegenüber Bruder Heinrich benutzte, wohl eher ein Euphemismus ist), und auf der anderen Seite die getauften Christen, die sich gelegentlich mit Herablassung über jene Mitschüler ereiferten, die einen eigenen Religionsunterricht hatten («wegen der drei Kerls eine extra Prüfung!»). Folgt man den Aufzeichnungen

und : Bekehrte und Unbekehrte – die Kluft blieb, auch für die Kinder aus jüdischem Hause, mit schöner Selbstverständlichkeit bestehen. «Ich sehe Heinz und Klaus» – ein Eintrag Hedwig Pringsheims, Berchtesgaden 1892 – «mit unserem zwölfjährigen Hausbewoner raufen, höre mit Entsetzen, wie sie den blonden Urgermanen ‹Jud› und ‹Judenkaffer› schimpfen. Ich zanke sie furchtbar aus. Heinz weinend: ‹ich habe ihn aber vorher angefragt, ob er’s für eine Beleidigung hält.›»

Jud und Christ: ein nie endendes Gespräch, das zwischen den Fronten geführt wurde – eher spielerisch und akademisch, ehe es ein halbes Jahrhundert später, im Zeichen der nationalsozialistischen Rassen-Ideologie, zur brutalen Alternative ‹Leben oder Tod› wurde. Noch aber blieb in der Diskussion der Kinder die Frage offen, ob alle auf -heimer endenden Namen eine fremde Abkunft annoncierten oder ob, um als Jude kenntlich zu sein, der schlichte Tatbestand «lange krumme Nase und ein spitzes Kinn» genügte.

Joseph-

Indes wurde das Leben im Hause Pringsheim nicht nur durch den geistreichen Charme der Hausfrau, sondern in mindestens dem gleichen Maße auch durch den (um noch einmal Hermann Ebers zu zitieren) «scharfen Geist» des Hausherrn geprägt, der, hinter seiner Frau an Wuchs zurückbleibend, von ihr in vertraulichen Briefen gern als «furchtbar süßer kleiner Mann» bezeichnet wurde. Alfred Pringsheim liebte es, Konversationen durch «witzige, teils auch witzelnde Bemerkungen» zu würzen, wobei er sich «stets ein wenig nervös eine Zigarette an der anderen» ansteckte. Seine Freizeit habe er meistens am Flügel verbracht und sich darüber hinaus «als Kunstsammler größten Stils» betätigt, «wozu ihn nicht nur […] sein hervorragendes Qualitätsgefühl, sondern auch die großen Mittel befähigten, die ihm als dem Sohn eines der erfolgreichsten Berliner Unternehmer der Gründerzeit zur Verfügung standen». Das Palais, das sich seine Eltern, Rudolf und Paula Pringsheim, gegen Ende des Jahrhunderts in der Wilhelmstraße erbaut hatten, gab das Vorbild für die Arcisstraßenvilla, die es allerdings – wenn man zeitgenössischen Berichten glauben darf – mit dem Berliner Prachtbau nicht aufnehmen konnte.

Als Hans Thoma den Fries am 3. Juni 1891 anbrachte, saß die kleine Kati, wie die Mutter berichtet, bewundernd zuschauend auf einer Stufe: «Kann Herr Thoma nicht eigentlich besser malen als Herr Lenbach?», fragte sie ihre Mutter. «Was ist schwerer, nach ’m Kopf malen oder anders malen?» Und dann die kleine Münchenerin: «Ist Herr Thoma eigentlich ein Bayer?» Nein? «Schade, das tät die Bayern so ehren!»

Wozu auch? Geborgen im Kreis der Eltern und Geschwister, den Brüdern in allem gleichgestellt, ja sie beim Messen von Kraft und Geschicklichkeit oft noch überbietend, als «Lauser» unter «Lausern» (wie es der Bruder ausdrückte), gab es für Katia Pringsheim nicht den geringsten Anlass, sich in ein anderes Leben hineinzuträumen. Außerdem sagte ihr eine schon früh entwickelte, reale Sachverhalte unverstellt aufnehmende Beobachtungsgabe, dass auch eine Ehe offenbar mit Problemen verbunden sein konnte. Schon die Fünfjährige hatte ihrer Mutter mit Bestimmtheit erklärt: «Ich heirate nicht, denn man kann ja glauben, ein Mann ist sehr brav, und wenn man geheiratet ist, dann merkt mer, er ist sehr bös, da ist’s doch besser, mer heiratet sich erst garnicht, und ich bleib bei meinem Mutterl.»

Dass es allerdings in praxi eine Gleichbehandlung der Geschlechter gab, darf im Hinblick auf die Presseberichterstattung über die Abschlussfeier der Wilhelmsgymnasium-Absolventen bezweifelt werden. So hob ein Artikel der Allgemeinen Zeitung, München, stolz hervor, dass, dank der Sorgfalt, mit der sich Rektor und Kollegium dem Unterricht widmeten, «sämmtliche diesjährigen Abiturienten, 51 an der Zahl, die strengen Prüfungen bestanden» hätten. Darüber hinaus sei durch «die Produktionen der Zöglinge auf musikalischem und vokalem Gebiete» Schülern und Lehrern «das vollgültige Zeugnis» ausgestellt worden, dass man an Münchens Eliteschulen «der Kunst nicht minder zugethan» sei als «den Studien, die den Weg zu den Ehrenstellen im Staats- und sozialen Leben» bahnten. Der Tatsache freilich, dass jene strengsten Anforderungen auch von einem Mädchen erfüllt worden waren, gedachte der Artikel mit keinem Wort.

Allgemeine Zeitung