Cover

Thomas A. Harris

Ich bin o.k. – Du bist o.k.

Wie wir uns selbst besser verstehen und unsere Einstellung zu anderen verändern können. Eine Einführung in die Transaktionsanalyse

Deutsch von Irmela Brender

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

Über Thomas A. Harris

Thomas A. Harris (1910–1995) besuchte die High School in San Antonio, anschließend studierte er Medizin. 1942 begann seine Ausbildung zum Facharzt für Psychiatrie in Washington, D.C., danach diente er als Psychiater in der U. S. Navy. Er wurde Chefarzt des psychiatrischen Dienstes am Marine-Hospital in Philadelphia. 1947 übernahm er die Leitung der Psychiatrischen Abteilung des Amtes für Medizin und Chirurgie im Navy Department. Nach seinem Abschied erhielt er einen Lehrauftrag für Psychiatrie an der Universität von Arkansas. Im Anschluss daran wurde er Direktor der Behörde für das Anstaltswesen im Staate Washington an der Westküste.

 

Harris war Gründer und Präsident des Instituts für Transaktionsanalyse in Sacramento und Direktor der Internationalen Vereinigung für Transaktionsanalyse.

 

Über dieses Buch

Thomas A. Harris hat zusammen mit Eric Berne («Spiele der Erwachsenen») die Transaktionsanalyse wissenschaftlich begründet und praktisch erprobt. Das vorliegende Buch ist die Summe seiner zehnjährigen Arbeit mit Einzelnen und Gruppen. Harris erklärt an anschaulichen Beispielen aus dem Alltagsleben die vier Grundeinstellungen, die das Verhalten aller Menschen bestimmen. Er wendet sein System an auf Probleme in der Ehe und bei der Kindererziehung, auf psychische und geistige Störungen, auf Aggression und Gewalt, auf die Generationenkonflikte, auf Vorurteile gegenüber Minderheiten, auf Fragen der Kreativität, Schwierigkeiten in der Pubertätszeit, ethische und religiöse Überzeugungen und internationale Spannungen.

Impressum

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel I’M OK – YOU’RE OK: A PRACTICAL GUIDE TO TRANSACTIONAL ANALYSIS bei Harper & Row, New York.

 

Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juli 2011

Copyright © 1973 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

I’M OK – YOU’RE OK: A PRACTICAL GUIDE TO TRANSACTIONAL ANALYSIS © Thomas A. Harris, M. D., 1967, 1968, 1969

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung Beate Becker

Infografiken im Innenteil Christof Tisch, Wiesbaden

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved. Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Buchausgabe 978-3-499-16916-8 (45. Auflage 2011)

ISBN Digitalbuch 978-3-644-01221-9

www.rowohlt-digitalbuch.de

ISBN 978-3-644-01221-9

Fußnoten

1

W. Penfield: ‹Memory Mechanisms›, American Medical Association. Archives of Neurology and Psychiatry, 67 (1952): 178198, mit einer Besprechung von L. S. Kubie u.a. Weitere Zitate von Penfield und Kubie in diesem Kapitel stammen aus derselben Quelle.

2

H. Hydén: ‹The Biochemical Aspects of Brain Activity›. In: S. M. Farber und R. Wilson (Hg.): ‹Control of Mind› (New York: McGraw-Hill, 1961), S. 33.

3

E. Berne: ‹Spiele der Erwachsenen› (Reinbek: Rowohlt, 2002, rororo sachbuch 61350), S. 37.

4

T. Leary, Vortrag am Dewitt State Hospital, Auburn, Kalifornien, am 23. Februar 1960. Weitere Leary-Zitate in diesem Kapitel stammen aus derselben Rede.

5

E. Berne: ‹Transactional Analysis in Psychotherapy› (New York: Grove Press, 1961), S. 24.

6

Berne: ‹Transactional Analysis in Psychotherapy›, a.a.O.

7

Sigmund Freud: ‹Hysterie und Angst›. Studienausgabe. Bd. VI.

8

Jean Piaget: ‹Der Aufbau der Wirklichkeit beim Kinde› (Stuttgart: Klett-Cotta, 1974).

9

L. S. Kubie: ‹The Neurotic Process as the Focus of Physiological and Psychoanalytic Research›. In: The Journal of Mental Science. Bd. 104, Nr. 435 (1958).

10

Zitiert nach G. S. Blum: ‹Psychoanalytic Theories of Personality› (New York: McGraw-Hill, 1963), S. 73, 74.

11

Die Begriffe Lebens-Drehbuch (life script) und Gegendrehbuch (Counterscript) gebrauche ich hier ohne nähere Erläuterungen. Das Drehbuch, seine Entstehung und Analyse (Script Analysis), wird in den Arbeiten anderer Transaktions-Analytiker (Berne, Ernst, Groder, Karpman, Steiner) gründlich untersucht. Bei der Drehbuch-Analyse geht es darum, die frühen, unbewusst getroffenen Entscheidungen über Lebensziel und Lebenswege dahin freizulegen und damit einer Veränderung zugänglich zu machen.

12

E. Schopler: ‹Early Infantile Autism and Receptor Processes›. In: Archives of General Psychiatry, Bd. 13 (Oktober 1965).

13

Unbegreiflicherweise gibt es für die Bundesrepublik Deutschland keinerlei verlässliche Zahlen über das Ausmaß schwerer Kindesmisshandlungen, schon gar nicht über Gewaltverbrechen, die Eltern an ihren Kindern begehen. Einigkeit herrscht über die Schätzung, dass nur etwa jede zehnte dieser Gräueltaten bekannt und verfolgt wird. Man muss bis auf weiteres annehmen, dass bei uns jedes Jahr mindestens 5000 Kinder auf brutalste Weise misshandelt werden (Anm. d. Übers.).

14

Berne: ‹Spiele der Erwachsenen›, a.a.O., S. 67.

15

Lawrence S. Kubie: ‹Role of Polarity in Neurotic Process›. In: Frontiers of Clinical Psychiatry, Bd. 3, Nr. 7 (1. April 1966).

16

Elton Trueblood: ‹General Philosophy› (New York: Harper, 1963).

17

Will Durant: ‹The Story of Philosophy› (New York: Simon and Schuster, 1933), S. 337338.

18

Vgl. ‹Causal Necessities, an Alternative to Hume›. In: The Philosophical Review 63 (1954), S. 479499.

19

a.O.

20

Ortega y Gasset: ‹Was ist Philosophie?› (München: dtv 1968, Nr. 403).

21

a.O.

22

B. Russell: ‹Autobiographie› (Frankfurt a.M.: Insel-Verlag, 1970/71).

23

Sinclair Lewis: ‹Babbitt› (Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1953, rororo 10083), S. 18.

24

Lewis: ‹Babbitt›, a.a.O.

25

Russell: ‹Autobiographie›, a.a.O.

26

A. Rogers St. Johns: ‹Tell No Man› (New York: Doubleday, 1966).

27

E. Fromm: ‹Die Kunst des Liebens› (Berlin, Ullstein 1970, Ullstein-Bücher Nr. 258).

28

Berne: ‹Transactional Analysis in Psychotherapy›, a.a.O.

29

Berne: ‹Transactional Analysis in Psychotherapy›, a.a.O.

30

H. F. Harlow: ‹The Heterosexual Affectional System in Monkeys›. In: American Psychologist 17 (1962), S. 19.

31

G. Haiberg: ‹Transactional Analysis with State Hospital Psychotics›. In: Transactional Analysis Bulletin, Bd. 2, Nr. 8 (Oktober 1963).

32

Berne: ‹Transactional Analysis in Psychotherapy›, a.a.O., S. 85.

33

Berne: ‹Transactional Analysis in Psychotherapie›, a.a.O., S. 98.

34

Ebd., S. 99.

35

Berne: ‹Spiele der Erwachsenen›, a.a.O., S. 57.

36

R. Galdston, M.D.: ‹Observations of Children Who Have Been Physically Abused and Their Parents›. In: American Journal of Psychiatry, Bd. 122, Nr. 4 (Oktober 1965).

37

Berne: ‹Spiele der Erwachsenen›, a.a.O., S. 152 f.

38

George Alfred Leon Sarton, 18841956, amerikanischer Gelehrter belgischer Herkunft. Professor in Harvard für Wissenschaftsgeschichte.

39

M. Hunt: ‹The World of the Formerly Married› (New York: McGraw-Hill, 1966).

40

A. Miller: ‹With Respect for Her Agony – but with Love›. In: Life 55:66 (7. Februar 1964).

41

D. Bonhoeffer: ‹Nachfolge› (München: Chr. Kaiser Verlag, 1971).

42

Henry Louis Mencken, 18801956, ist ein in den USA viel gelesener Journalist und Schriftsteller aus einer ursprünglich deutschen Familie gewesen. Neben zahlreichen eigenen literarischen, satirisch-politischen und philologischen Werken erschienen Arbeiten von ihm, mit denen er als Wegbereiter für Nietzsche und G. B. Shaw in Amerika wirkte. Im Übrigen gehörte er zu den bedeutendsten Förderern von Theodore Dreiser und Eugene O’Neill (Anm. d. Übers.).

43

W. Durant: ‹The Story of Philosophy› (New York: Simon and Schuster, 1926).

44

A. Gesell und F. L. Ilg: ‹Säugling und Kleinkind in der Kultur und Gegenwart› (Bad Nauheim: Christian-Verlag, 1952).

45

Will Rogers, 18791935, war ein sehr populärer amerikanischer Schauspieler, Conférencier und Humorist, Star zahlreicher Filme und Autor vieler satirischer Artikel und Bücher.

46

G. Caplan: ‹An Approach to Community Mental Health› (New York: Grune and Stratton, 1961).

47

In der Bundesrepublik Deutschland setzen sich die neuen Erkenntnisse über ein auch psychisch gesundes Geburtserlebnis, an dem Mutter, Kind und Vater aktiv teilhaben, nur mühsam durch gegen traditionelle Vorurteile, Geschlechtsrollen-Mystifikationen und medizinbürokratische Widerstände. Wie rückständig, inhuman und folgenschwer das «Kinderkriegen» bei uns noch verwaltet wird und was Eltern praktisch tun können, um ihrem Kind einen möglichst günstigen Start ins Leben zu verschaffen, ist aus zwei jüngst erschienenen Büchern zu lernen: Ingrid Mitchell: ‹Wir bekommen ein Baby. Ein praktisches Übungsprogramm für Übungen während der Schwangerschaft. Die modernste Methode zur Vorbereitung beider Eltern auf ein harmonisches Geburtserlebnis› (Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1971, rororo sachbuch Nr. 16698), sowie Paul und Jean Ritter: ‹Freie Kindererziehung in der Familie› (Reinbek: Rowohlt Verlag, 1972) (Anm. d. Übers.).

48

Caplan, a.a.O.

49

A. Watts: ‹A Redbook Dialogue›. In: Redbook, Bd. 127, Nr. 1 (Mai 1966).

50

Elton Trueblood: ‹General Philosophy› (New York: Harper & Row, 1963).

51

B. Bettelheim: ‹Hypocrisy Breeds the Hippie›. In: Ladies Home Journal, März 1968.

52

Russell: ‹Autobiographie›, a.a.O.

53

Forrest A. Aldrich, Vortrag bei einer Konferenz über Familienfragen in Zephyr Point, Nevada, 30. August 1966.

54

Karl Augustus Menninger (18931990), bedeutender amerikanischer Psychiater, Begründer der renommierten Menninger Clinic in Topeka, Kansas (Anm. d. Übers.).

55

S. R. Slavson: ‹Einführung in die Gruppentherapie› (Göttingen: Verlag für medizinische Psychologie, 1956).

56

San Francisco Chronicle, 15. September 1967.

57

Nathaniel Branden: ‹Psychotherapy and the Objectivist Ethics›. Vortrag, gehalten vor der psychiatrischen Abteilung der San Mateo County Medical Society, 24. Januar 1966.

58

B. Russell: ‹Warum ich kein Christ bin› (Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag, rororo sachbuch 16685).

59

R. Linton: ‹The Study of Man› (New York: Appleton-Century-Crofts, 1936).

60

V. Frankl, Vortrag am Sacramento State College, 5. Mai 1966.

61

J. Collignon: ‹The Uses of Guilt›. In: Saturday Review of Literature, 31. Oktober 1964.

62

Pierre Teilhard de Chardin: ‹Der Mensch im Kosmos› (München: C. H. Beck, 1964).

63

Linton: ‹The Study of Man›, a.a.O.

64

Russell: ‹Autobiographie›, a.a.O.

65

T. B. Morgen: ‹With Oppenheimer›. In: Look, 27. Januar 1966.

66

P. Tillich: ‹Gesammelte Werke› (Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk).

67

P. Tillich: ‹Das neue Sein› (Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 1959).

68

Berne: ‹Spiele der Erwachsenen›, a.a.O.

69

P. Tournier: ‹The Seasons of Life› (Richmond, Virginia: John Knox Press, 1961).

70

Elmer Gantry ist die Hauptfigur des gleichnamigen Romans von Sinclair Lewis, in welchem die fragwürdige Karriere des heuchlerischen Sektenpredigers Gantry geschildert wird (Anm. d. Übers.).

71

Der amerikanische Theologe Jonathan Edwards lebte von 1703 bis 1758. Der fulminante Prediger und zeitweilige Indianermissionar begründete die «New English Theology» und hatte starken Einfluss auf die Erweckungsbewegung («The Great Awakening») in Amerika. J. Edwards versuchte, das Denken Lockes und Newtons mit dem strengen Determinismus Calvins zu einer neuen Lehre sittlich verantworteter Freiheit des Menschen zu verbinden. Sein harter moralischer Rigorismus kommt auch in der berühmt gewordenen Predigt von 1741 zum Ausdruck, die den bezeichnenden Titel trägt: «Sünder in der Hand eines zornigen Gottes» (Anm. d. Übers.).

72

Vgl. E. Jones: ‹The Life and Work of Sigmund Freud›, Bd. 3 (New York: Basic Books, 1957), S. 349360.

73

Tillich: ‹Das neue Sein›, a.a.O.

74

«Worship: Clack or Celebration – An Interview with Harvey Cox», Colloquy, Bd. 1, Nr. 2 (Februar 1968).

75

Eine Zusammenfassung aus dem Vorwort von R. T. Francœur zu ‹The Appearance of Man› von P. Teilhard de Chardin (New York: Harper, 1956).

76

Michael D. Anderson, Predigt in der Fremont Presbyterian Church, Sacramento, 27. Dezember 1964.

77

W. Glasser: ‹Reality Therapy› (New York: Harper & Row, 1965).

78

Diese hymnische Beschwörung hat Max Rafferty, der einflussreiche California Superintendent of Schools, 1965 in California Education, Bd. II, Nr. 8, veröffentlicht.

79

W. Fulbright: ‹Foreign Policy – Old Myths and New Realities›. In: The Congressional Record, 25. März 1964.

80

R. Crawshaw: ‹But Everybody Cheats›. In: Medical Opinion and Review, Bd. 3, Nr. 1 (Januar 1967).

81

S. Milgram, Human Relations, Bd. 18 (1965), Nr. 1.

82

M. Ways: ‹On the Campus: A Troubled Reflection of the U.S.›. In: Fortune, September–Oktober 1965.

83

R. Hutchins, Artikel im San Francisco Chronicle, 31. Juli 1966.

84

T. Merton: ‹Conjectures of a Guilty Bystander› (New York: Doubleday, 1966).

85

A. Miller: ‹The Trouble with Our Country›, ursprünglich ein Artikel in der New York Times, nachgedruckt im San Francisco Chronicle, 16. Juni 1968.

86

Brief des Paulus an die Philipper, 4,8.

87

Pierre Teilhard de Chardin: ‹Der Mensch im Kosmos›, a.a.O.

Für Amy

meine Mitarbeiterin

meine Mitdenkerin

meine Friedenstifterin

meine Freude

meine Frau

An den Leser

Wie man dieses Buch nicht lesen soll

Diagonal; in Stichproben; mal hier, mal da; mit dem feuchten Finger blätternd; indem man sich interessante Stellen herauspickt; indem man sich irgendwo zufällig festliest.

 

Wie man dieses Buch lesen sollte

Am besten so, wie geschrieben wurde: Seite für Seite vom Anfang bis zum Ende.

 

Denn

wer spätere Kapitel vor den ersten liest, kann das in diesem Buch dargestellte wissenschaftlich-ärztliche Verfahren und das dazugehörige Vokabular nicht verstehen.

 

Wenn

der Drang einiger Leser jedoch unwiderstehlich bleibt, auch dieses Buch unsystematisch an verschiedenen Stellen anzulesen,

 

dann

möchte ich betonen, dass fünf Begriffe auf den folgenden Seiten eine besondere Bedeutung haben, die vom alltäglichen Wortgebrauch abweichen. Es handelt sich um «Eltern» – «Erwachsener» – «Kind» – «o.k. (okay)» – «Spiele».

 

Thomas A. Harris

Enttäuschung und Hoffnung

Ein Vorwort zur Einführung

In den letzten Jahren häufen sich die Beweise dafür, dass immer mehr Menschen von der bisherigen Psychiatrie immer weniger halten. Woran liegt das? Die vielgestaltigen seelischen Nöte und Leiden im Leben des einzelnen Menschen und im Zusammenleben großer Gruppen, Massen und Völker schreien förmlich nach Hilfe, nach Abhilfe. Die traditionelle Psychiatrie versprach diese Hilfe, wenn schon nicht dauerhafte Heilung, so doch wenigstens spürbare und anhaltende Linderung. Dieses Versprechen scheint die bislang gelehrte und praktizierte «Seelenheilkunde» nicht eingelöst zu haben nach dem Urteil einer rasch anwachsenden Zahl von Zeitgenossen. Die Enttäuschung über die Psychiatrie drückt sich aus in Kritik an der angeblichen Unfehlbarkeit dieser Wissenschaft, an ihrer vagen und esoterischen Terminologie, an den enormen Kosten und an der langen Dauer psychiatrischer Behandlung sowie an den zweifelhaften Behandlungs-«Erfolgen».

Viele Menschen machen sich insgeheim oder öffentlich lustig über den verschrobenen «Seelendoktor»: er sei wie der Blinde, der in einer Dunkelkammer nach einer schwarzen Katze sucht, die überhaupt nicht da ist.

Zwar setzen sich die Zeitschriften und Verbände der Mental-Health-Bewegung energisch für die Förderung psychischer Gesundheit beim Individuum und in der Gesellschaft ein und stützen sich dabei auf die Erfolge psychiatrischer Heilbehandlung. Aber was ist eigentlich unter psychiatrischer Behandlung zu verstehen? Welche Erfolge kann sie vorweisen?

Jahr für Jahr stürmt eine Flut von Veröffentlichungen über Wesen und Wert der Psychiatrie in die Öffentlichkeit hinaus. Und trotzdem: es finden sich darin verschwindend wenige wirklich stichhaltige Tatsachen. Selbst diejenigen Menschen, die dringend eine Behandlung brauchen, werden davon nicht zum Umdenken bewogen, sondern halten unverändert fest an der Witzblattvorstellung vom Irrenarzt in der Klapsmühle oder vom «Tiefenheini» mit Sigmund-Freud-Bärtchen und Hornbrille, der hinter der Couch sitzt und den sexuellen Geständnissen seiner zahlungskräftigen Klienten lauscht.

Enttäuschung über die Psychiatrie hört man neuerdings keineswegs nur von Patienten und im Laienpublikum, sondern genauso unmissverständlich auch von Psychiatern. Ich bin einer von diesen Psychiatern. Dieses Buch ist das Ergebnis meiner Suche nach konkreten Antworten auf konkrete Fragen: Wie funktioniert der Geist? Warum verhalten wir uns eigentlich so, wie wir uns verhalten? Und wie können wir lernen, über unseren Schatten zu springen? Die Lösung dieser Probleme ist in greifbare Nähe gerückt, seit die Psychiatrie einen entscheidenden Fortschritt erlebt hat, der zu großen Hoffnungen berechtigt. Es handelt sich um eine neue Methode, die als Transaktions-Analyse bezeichnet wird.

Transaktions-Analyse: was heißt das? Zur vorläufigen Verständigung über diesen Begriff mag folgende Erklärung genügen.

Eine «Transaktion» im speziellen psychologischen Sinne ist gewissermaßen ein seelischer Geschäftsabschluss zwischen zwei Menschen. Der eine bietet «etwas» (ein Verhalten) an, der andere steigt in das Geschäft ein und nimmt das Angebot an, indem er in entsprechender Währung zurückzahlt. Zwischen einem «Sender» und einem «Empfänger» spielt sich ein kompliziertes Geben und Nehmen ab. Die Rollen des Senders und des Empfängers können dabei blitzschnell und wiederholt ausgetauscht werden. Immer aber übt ein bestimmter Ich-Zustand des Senders einen Reiz aus auf den Empfänger, der mit verbalen oder nichtverbalen Verhaltenssignalen seines jeweils angesprochenen Ich-Zustandes darauf reagiert.

Was sich in dieser abstrakten Formulierung so unverständlich ausnimmt, erleben wir tagtäglich hundertmal bei jedem scheinbar noch so unbedeutenden zwischenmenschlichen Kontakt.

Wenn Hans zu Grete sagt: «Wo hast du denn schon wieder meinen Autoschlüssel versteckt?», und Grete antwortet: «Wenn du so weitermachst, hast du bald deinen Herzinfarkt. Autofahren ist Gift für dich», dann ist dieser Allerweltsdialog eine «Transaktion». Die Transaktions-Analyse arbeitet nun heraus, warum Hans und Grete miteinander so umgehen, wie sie es tun, und warum Hans nicht einfach fragt: «Weißt du, wo der Autoschlüssel ist?», und warum Grete darauf nicht ebenso einfach antwortet: «Leider nicht. Aber hast du schon im Regenmantel nachgesehen?» Das mag vorerst genügen, um eine ungefähre Vorstellung davon zu bekommen, was sich hinter dem abschreckend wirkenden Fremdwort «Transaktions-Analyse» verbirgt.

Die Transaktions-Analyse ist eine neue und wirksame Methode der Psychiatrie. Sie hilft allen, die sich verändern wollen, statt sich anzupassen. Sie ist wirklichkeitsnah, denn sie eröffnet dem Patienten die Chance, ungeachtet seiner Vergangenheit seine Zukunft selbst gestalten zu können. Darüber hinaus befähigt uns die Transaktions-Analyse dazu, uns zu verändern, andere Menschen zu werden, unser Verhalten zu kontrollieren und selbst zu lenken – und zu entdecken, dass wir unser Schicksal frei wählen können.

Es ist leider eine unbestreitbare Tatsache, dass der Bedarf an psychiatrischer Hilfe täglich zunimmt und dass die tatsächlich geleistete psychiatrische Versorgung der Bevölkerung damit nicht nur nicht Schritt halten kann, sondern auch noch immer weiter zurückfällt. Diese schreiende Not kann offenkundig mit den bisher angewandten Verfahren der Psychiatrie nicht gelindert, geschweige denn behoben werden.

Vor allem zwei Eigenschaften der Transaktions-Analyse berechtigen zu der Hoffnung, die Kluft zwischen Behandlungsnotwendigkeit und Behandlungsmöglichkeiten lasse sich doch überbrücken.

Erstens: Die Transaktions-Analyse als Behandlungsmethode operiert mit einem Vokabular, das jedermann versteht. Die Sprache der Transaktions-Analyse ist nicht ein geheimnisumwittertes Machtsymbol, mit dem der Therapeut seinen Patienten verzaubert und manipuliert. Der Transaktions-Analytiker kann gerade wegen der Allgemeinverständlichkeit der Begriffe mit dem Patienten zusammenarbeiten. Die Begriffe der Transaktions-Analyse decken sich mit seelischen Zuständen und Vorgängen, die real existieren, mit Erfahrungstatsachen, wie sie im konkreten Erleben konkreter Menschen vorkommen.

Zweitens: Die Transaktions-Analyse bewährt sich am wirkungsvollsten bei der Arbeit in Gruppen. Weil sie sich in einer verständlichen Sprache vollzieht, kann man sie gleichzeitig mit mehreren Menschen praktizieren, die nach Alter, Geschlecht, Rasse, Religion, Intelligenz, Ausbildung und sozialer Herkunft ganz verschieden sein können.

Die Erfahrungen mit der Transaktions-Analyse in der Einzel- und Gruppentherapie sind so ermutigend, dass heute nicht nur ausgebildete Psychiater damit arbeiten, sondern auch Ärzte anderer Fachrichtungen, Psychologen, Sozialarbeiter, Bewährungshelfer, Krankenschwestern, Lehrer, Kindergärtnerinnen, Personalchefs, Juristen, Pfarrer, Eheberater, Sporttrainer, Reiseleiter …

Alle, die sich mit Menschen in kleinen und großen Gruppen beschäftigen und die wissen, wie störungsanfällig das menschliche Zusammenleben grundsätzlich ist, machen mit Hilfe der Transaktions-Analyse die beglückende Erfahrung, wie schon nach der ersten Behandlungsstunde die Menschen sich zu verändern beginnen, wie ungeahnte Kräfte sich entfalten, wie schlummernde Fähigkeiten erwachen und wie die Schatten der Vergangenheit weichen.

Der entscheidende Vorzug der Transaktions-Analyse ist, dass sie nicht auf einen Patienten angewendet wird, sondern dass sie dem Menschen in seelischer Not ein brauchbares Werkzeug an die Hand gibt, mit dem er an sich selbst arbeiten kann. Dieses Buch dient dazu, den Leser mit diesem neuen Werkzeug vertraut zu machen. Benutzen kann es jeder. Man muss nicht «krank» sein, um davon einen Nutzen zu haben.

1. Freud, Penfield und Berne

Zu allen Zeiten der Geschichte ist das Wesen des Menschen in einer Hinsicht immer gleich gesehen worden: dass nämlich der Mensch ein uneinheitliches, ein aus Gegensätzen gemischtes Wesen ist. Am häufigsten hat sich diese mythische, philosophische oder religiöse Vorstellung ausgedrückt in der Idee von der Doppelnatur des Menschen: … «Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust.» Immer wurde dieses Denkmodell vom Menschen als einem Zwitterwesen so ausgelegt, dass die zwei Seelen in der einen Brust miteinander im Streit liegen: das Gute widerstreitet dem Bösen, das Gemeine dem Erhabenen, das Innere dem Äußeren.

«Es gibt Zeiten», schreibt Somerset Maugham, «in denen ich die verschiedenen Teile meines Charakters mit Bestürzung betrachte. Ich erkenne, dass ich aus verschiedenen Personen bestehe und dass die Person, die im Moment die Oberhand hat, unvermeidlich einer anderen weichen wird. Aber welche ist die wirkliche? Alle oder keine?»

Dass der Mensch nach dem Guten streben und es erreichen kann, wurde immer wieder im Laufe der Geschichte bewiesen, wie immer dieses Gute auch definiert wurde. Moses sah das Gute vor allem als Gerechtigkeit, Plato im Wesentlichen als Weisheit und Jesus im Kern als Liebe; doch sie alle stimmten darin überein, dass die Tugend, wie immer sie verstanden werden mochte, ständig von etwas in der menschlichen Natur unterminiert wurde, was mit etwas anderem im Streit lag. Aber um was handelte es sich auf der einen wie auf der anderen Seite?

Als Sigmund Freud um die Jahrhundertwende mit seinen bahnbrechenden Arbeiten hervortrat, wurde diese Frage neu aufgerollt. Der Wiener Nervenarzt ging das Problem mit naturwissenschaftlichen Methoden an. Sein grundlegend neues Konzept war die Theorie: der Kampf der gegnerischen Kräfte wird im Unbewussten ausgetragen. Die gegnerischen Kräfte erhielten probeweise Namen. Das Über-Ich bekam die Rolle des Zensors, der das Es (das Reservoir der triebhaften psychischen Energie) seiner Kontrolle unterwerfen will, während das Ich als Mittler zwischen beiden im «aufgeklärten Selbst-Interesse» der ganzen Person auftritt.

Freud hat eine großartige Pioniertat vollbracht, indem er die theoretischen Grundlagen schuf, auf denen wir heute aufbauen. Für dieses bleibende Verdienst sind wir ihm zu tiefem Dank verpflichtet. Im Laufe der Jahre haben Theoretiker und Kliniker seine Theorien weiterentwickelt, systematisiert und ergänzt. Doch die «Kräfte im Inneren» entschlüpfen nach wie vor dem sicheren Begreifen. Die Literatur über Psychoanalyse schwillt mehr und mehr an, auf die Bücher legt sich der Staub, schon entsteht eine unübersehbare Sekundärliteratur, und trotzdem: all diese Anstrengungen haben anscheinend das wesentliche Ziel nicht erreicht, nämlich den Menschen bei der Lösung ihrer Probleme zu helfen, um die es der ganzen Psychoanalyse eigentlich geht.

Als ich mir vor Jahren den Film ‹Wer hat Angst vor Virginia Woolf?› ansah, hörte ich am Schluss der Vorstellung beim Hinausgehen, wie einige Zuschauer ihren Gefühlen Luft machten mit Kommentaren wie: «Jetzt hab ich aber wirklich die Nase voll!», «Da geht man nun ins Kino, um sich ein paar schöne Stunden zu machen, und dann zeigen die einem das Mieseste vom Miesen», «Ich möchte wissen, warum man solche Sachen überhaupt in der Öffentlichkeit breittreten will», «Also ich hab von alldem gar nichts verstanden, wahrscheinlich kommt man hinter das Ganze nur, wenn man Psychologie studiert hat». Ich hatte den Eindruck, dass viele Zuschauer sich fragten, wovon der Film eigentlich handelte. Sie fühlten wohl irgendwie, dass die Geschichte einen tieferen Sinn haben müsse, aber sie konnten ihn nicht entziffern. Sie wussten nicht, was sie daraus ableiten sollten für ihr eigenes Leben, etwas, das ihnen selber Aufschluss gäbe über die geheime Regie ihrer privaten Dramen.

Wir lassen uns gehörig imponieren von solchen Formulierungen wie Freuds Definition der Psychoanalyse als einer dynamischen Konzeption, die das psychische Geschehen reduziere auf das Wechselspiel zwischen triebhaft drängenden und verdrängend kontrollierenden Kräften. Eine solche Definition und ihre unzähligen Verfeinerungen und Variationen mögen ihren Sinn haben – für die Eingeweihten. Aber welchen Sinn haben sie für die, um die es bei der Psychoanalyse in erster Linie geht, für die Menschen, die leiden?

George und Martha in Edward Albees Stück ‹Wer hat Angst vor Virginia Woolf?› werfen sich knallharte, blutwarme und zotenstrotzende Sätze an den Kopf, die mitten ins Schwarze treffen und einfach sitzen. Es fragt sich nun, ob wir Therapeuten mit George und Martha genauso treffsicher und «hautnah» sprechen können über die Gründe, warum sie so handeln, wie sie es tun, und warum sie so leiden, wie sie tatsächlich leiden. Wie kommen wir dahin, dass unsere Worte nicht nur wahr sind, sondern auch wirklich helfen, weil man sie nämlich verstehen kann? «Was der da sagt, sind böhmische Dörfer für mich. Ich weiß überhaupt nicht, wovon die Rede ist», diese Einstellung haben viele Menschen gegenüber dem Fachmann für Psychologie. Wenn man esoterische psychoanalytische Theorien in einer noch esoterischeren Terminologie ausdrückt, dann kann man nicht erwarten, damit das Leben der Menschen auch nur im Geringsten durchschaubarer zu machen für sie. Dieses Dilemma hat zur Folge, dass der Laie (die Milliardenmehrheit der Nichtfachleute!) seine Lebensweisheiten meist nur in läppischem Geschwafel zum Ausdruck bringt und bei seinen Gesprächen kaum je unter die platteste Oberfläche vorstößt mit solchen abgedroschenen Phrasen wie: «Was soll’s? Da kann man eben nichts machen.» Und was das Schlimmste ist: er ahnt nicht einmal von ferne, was man sehr wohl anders machen könnte, besser machen könnte.

Die immer schmerzhafter empfundene Entfremdung als Merkmal unserer Zeit entspringt sicher ganz wesentlich der Kluft zwischen Spezialisierung auf der einen und dem Streben nach Integration auf der anderen Seite, wodurch der Graben zwischen dem Fachmann und dem Nichtfachmann immer unüberbrückbarer wird. Alles wird aufgeteilt in immer kleinere Spezialgebiete, zwischen denen fast keine Kommunikation mehr möglich ist, die sie wieder in ein Ganzes integrieren könnte. So herrschen im Bereich der Technik unumschränkt nur die Ingenieure, vom menschlichen Verhalten verstehen nur die Psychologen und Psychiater etwas, um die Gesetzgebung kümmern sich nur die Politiker und selbst die Entscheidung, ob und wann wir Kinder kriegen sollen, beansprucht die Kirche für sich allein. Man versteht schon, wie es zu diesem allgemeinen Trend kommen konnte. Aber längst sind die Gefahren, die aus dem Mangel an gegenseitigem Verständnis und aus dem Fehlen fast jeder Kommunikationsmöglichkeit erwachsen, so bedrohlich geworden, dass Mittel und Wege gefunden werden müssen, die es der Sprache ermöglichen, mit dem Gang der Forschung Schritt zu halten.

Auf dem Gebiet der Mathematik beschreitet man neue Wege in dieser Richtung. Die Mengenlehre wird schon von der ersten Klasse an unterrichtet. Die sogenannte Neue Mathematik ist weniger ein neues Rechenverfahren als vielmehr ein neues Denkverfahren, mit dessen Hilfe sich mathematische Vorstellungen besser vermitteln lassen. Die Neue Mathematik erleichtert die Kommunikation über mathematische Denkinhalte. Sie erklärt nicht nur das Was, sondern auch das Warum. Damit wird es möglich, dass Anreiz und Spannung der Weltraumfahrt oder der elektronischen Datenverarbeitung nicht mehr ausschließlich den elitären Zirkel der Spezialisten inspirieren, sondern nachvollziehbar werden auch für den Schüler. Und neu ist die mathematische Wissenschaft nun keineswegs, aber die Sprache, mit der wir uns heute mathematisch ausdrücken, die ist neu. Wir würden uns ja selber Fesseln anlegen, wenn wir uns immer noch mit den Zahlensystemen der Babylonier, Maya, Ägypter oder Römer abquälen wollten. Die Menschen haben nie aufgehört, nach neuen schöpferischen Anwendungsmöglichkeiten der Mathematik Ausschau zu halten, und sie sind dabei auf immer neue Verfahren gekommen, wie sie die Zahlenarten in ein System bringen konnten, mit dem sich immer kompliziertere Rechenoperationen möglichst rationell durchführen ließen. Die Neue Mathematik von heute ist nur der jüngste Fortschritt bei der unablässigen Entwicklung dieses schöpferischen Ansatzes. Voller Bewunderung erkennen wir, wie viel kreatives Denken die früheren Systeme hervorgebracht haben. Aber deswegen lassen wir uns heute beim Rechnen doch nicht mehr von solchen überholten Methoden knebeln.

Und genauso sehe ich die Transaktions-Analyse. Ich achte sehr wohl die genialen Leistungen der psychoanalytischen Theoretiker vergangener Jahrzehnte. Was ich in diesem Buch zeigen möchte, ist ein neuer Weg, alte Vorstellungen auszudrücken, und ein direkter Zugang zu neuen Konzeptionen. Es geht mir ausdrücklich nicht um eine zersetzende Kritik an den Errungenschaften der Vergangenheit. Mir liegt viel mehr daran, wie man mit der unbestreitbaren Tatsache fertig wird, dass wir mit den alten Methoden einfach nicht weiterkommen.

Dieses Buch soll aber nicht nur neue Erkenntnisse vermitteln, sondern auch Antwort geben auf die Frage, wieso eigentlich die Menschen ihre Möglichkeiten so wenig ausschöpfen, obwohl sie ziemlich genau wissen, was sie besser zu machen hätten. Sie wissen vielleicht, dass die moderne Psychologie eine Menge zu sagen hat über Wesen und Verhalten des Menschen. Aber dieses Wissen scheint nicht den geringsten Nutzeffekt zu haben: Sie leiden genauso weiter unter ihrem miesen Alltag, unter ihrer angeknacksten Ehe und unter den Eskapaden ihrer Kinder.

Unsere Suche nach neuen Lösungen für die alten Probleme wurde bis vor wenigen Jahren durch den Umstand erschwert, dass wir viel zu wenig darüber wussten, wie das menschliche Gehirn Erinnerungen speichert und wie diese Erinnerungen wieder hervorgerufen werden, die dann unser gegenwärtiges Leben entweder überschatten oder erhellen.

Der Gehirnchirurg mit der Sonde

Wer die Richtigkeit einer Hypothese nachweisen will, muss empirisch abgesicherte Beweise dafür vorlegen. Bis vor kurzem gab es kaum genug bewiesene Auskünfte darüber, wie sich der Erkenntnisprozess im Gehirn abspielt, wie im Einzelnen die zwölf Milliarden Zellen des Gehirns arbeiten, wenn sie Erinnerungen speichern, und welche Zellen an diesem Vorgang beteiligt sind. Wie viel Erinnerung bleibt erhalten? Kann sie verschwinden? Arbeitet das Gedächtnis generalisierend oder spezialisierend? Warum lassen sich einige Gedächtnisinhalte leichter abrufen als andere?

Zur Beantwortung dieser Fragen werden, zunächst theoretisch, Hypothesen aufgestellt, die es nun zu verifizieren gilt. Ein anerkannter Forscher auf diesem Gebiet ist Wilder Penfield, Neurochirurg an der Universität Montreal. Seit 1951 hat er aufschlussreiche Versuche ausgewertet, mit denen er die Hypothesen empirisch bestätigen oder korrigieren konnte.[1]

Penfield hatte Patienten mit Jackson-Epilepsie zu behandeln. Dabei handelt es sich um eine Sonderform der Epilepsie mit motorischen und sensiblen Anfällen, die von einem umschriebenen Krankheitsherd im Gehirn verursacht werden. Im Verlauf der operativen Eingriffe unternahm Penfield eine Reihe von Versuchen, bei denen er die Großhirnrinde des Schläfenlappens durch eine galvanische Sonde mit schwachen elektrischen Strömen reizte. Die Reaktionen auf diese Reizung hat Penfield untersucht und die Versuchsergebnisse mehrerer Jahre gesammelt. Der Patient war bei diesen Eingriffen an seiner Großhirnrinde nur örtlich betäubt, im Übrigen aber bei vollem Bewusstsein und konnte mit Penfield sprechen. Die Aussagen der Versuchspersonen lösten Überraschung aus.

Dieses Buch ist ein praktischer Leitfaden der Transaktions-Analyse und keine fachwissenschaftliche Abhandlung. Ich möchte betonen, dass Penfields Arbeiten hier nur deswegen dargestellt werden, weil sie die wissenschaftliche Grundlage bilden, auf der alles Folgende aufgebaut ist. Im Übrigen bleibt der Ausflug in die Fachwissenschaft auf dieses erste Kapitel beschränkt. Penfields Experimente lassen den gesicherten Rückschluss zu, dass unser Gehirn alles, was unser Bewusstsein jemals registriert, genau aufzeichnet und so speichert, dass es jederzeit abgerufen werden kann. Es empfiehlt sich vielleicht, die nächsten Seiten gründlich und mehr als einmal zu lesen, damit die Bedeutung der Befunde von Penfield ganz klar wird.

Penfield entdeckte, dass der Reiz, den er mit der Sonde auf eine bestimmte Geweberegion der Großhirnrinde ausübte, Informationen hervorrief, die nachweislich der Erinnerung des Patienten entstammten. Penfield fährt fort: «Der auf diese Weise in Gang gesetzte psychische Prozess bricht ab, sobald die Elektrode entfernt wird, kann sich aber wiederholen, wenn die Elektrode wieder angesetzt wird.» Er bringt dafür einige Beispiele.

Der erste Fall war S. B. Die Stimulation bei Punkt 19 in der ersten Windung des rechten Schläfenlappens veranlasste ihn zu der Äußerung: «Da war ein Klavier, und jemand spielte. Ich konnte das Lied hören.» Als der Punkt ohne Vorankündigung wieder stimuliert wurde, sagte er: «Jemand spricht mit einem anderen», und er nannte einen Namen, doch ich konnte ihn nicht verstehen … es war genau wie ein Traum. Der Punkt wurde zum dritten Mal stimuliert, wieder ohne Ankündigung. Da bemerkte er spontan: «Ja, ‹O Marie, o Marie!› – jemand singt es.» Als der Punkt ein viertes Mal stimuliert wurde, hörte er dasselbe Lied und erklärte, das sei die Erkennungsmelodie einer bestimmten Radiosendung.

Als Punkt 16 stimuliert wurde, sagte er, während die Elektrode angesetzt war: «Etwas bringt eine Erinnerung zurück. Ich kann Seven-Up Bottling Company sehen … Harrison Bakery.» Er wurde dann gewarnt, dass er stimuliert werde, doch die Elektrode war nicht angesetzt. Er antwortete: «Nichts.»

Als in einem anderen Fall, dem von D. F., ein Punkt an der Oberfläche des rechten Schläfenlappens […] stimuliert wurde, hörte die Patientin einen bestimmten Schlager, als würde er von einem Orchester gespielt. Wiederholte Stimulationen ließen dieselbe Musik anklingen. Während die Elektrode angesetzt blieb, summte die Patientin die Melodie, Strophe und Refrain, und begleitete so die Musik, die sie hörte.

Der Patient L. G. wurde veranlasst, «etwas», wie er sagte, zu erleben, was ihm früher geschehen war. Die Stimulation eines anderen Punktes brachte ihn dazu, einen Mann und einen Hund zu sehen, die bei ihm zu Hause auf dem Lande eine Straße entlanggingen. Eine Patientin hörte eine Stimme, die sie nicht recht verstehen konnte, als die erste Schläfenwindung anfangs stimuliert wurde. Als die Elektrode an etwa dem gleichen Punkt wieder angesetzt wurde, hörte sie deutlich eine Stimme, die «Jimmie, Jimmie» rief – Jimmie war der Name ihres Mannes, mit dem sie erst seit kurzem verheiratet war.

Eine von Penfields bedeutsamen Folgerungen war, dass die Elektrode eine einzelne Erinnerung hervorrief und nicht eine Mischung von Erinnerungen oder eine Verallgemeinerung.

Eine weitere Schlussfolgerung Penfields war, dass die Reaktion auf die elektrische Reizung unwillkürlich erfolgte:

«Unter dem zwingenden Einfluss der Sonde erschien im Bewusstsein des Patienten ein bekanntes Erlebnis, ob er nun seine Aufmerksamkeit darauf konzentrieren wollte oder nicht. Ein Lied ging ihm durch den Kopf, wahrscheinlich so, wie er es bei einer bestimmten Gelegenheit gehört hatte: Er fand sich als Teil einer bestimmten Situation, die sich entwickelte, genau wie die ursprüngliche Situation es getan hatte. Für ihn war es die Szene aus einem bekannten Stück, und er selbst war Schauspieler und das Publikum zugleich.»

Die vielleicht wichtigste Entdeckung war, dass nicht nur vergangene Ereignisse detailliert aufgezeichnet werden, sondern auch die Gefühle, die mit diesen Ereignissen verbunden waren. Ein Ereignis und das Gefühl, das von diesem Ereignis ausgelöst wurde, sind im Gehirn unauflösbar miteinander verwoben, sodass eines nicht ohne das andere hervorgerufen werden kann.

«Der Patient», schreibt Penfield, «empfindet wieder die Emotion, die ursprünglich die Situation in ihm bewirkt hatte, und er ist sich der gleichen Interpretationen bewusst, ob sie nun falsch oder richtig waren, die er zuerst auf das Erlebnis anwandte. Darum ist eine hervorgerufene Erinnerung nicht die genaue fotografische oder phonographische Reproduktion vergangener Ereignisse. Sie reproduziert das Ganze: was der Patient sah, hörte, fühlte und verstand.»

Erinnerungen werden durch die Sinnesreize aus unserer Alltagsumwelt fast ebenso hervorgerufen wie durch die elektrische Reizung mit Penfields Sonde. In beiden Fällen muss die auftauchende Erinnerung genauer als ein Wiedererleben statt als ein Wiederbeleben gesehen werden. Als Reaktion auf einen Reiz wird ein Mensch momentan in die Vergangenheit versetzt. Ich bin dort! Diese Realität kann den Bruchteil einer Sekunde oder aber viele Tage lang dauern. Nach diesem Erlebnis kann ein Mensch sich dann bewusst daran erinnern, dass er dort war. Die Reihenfolge bei der Gedächtnisarbeit ist: 1Wiedererleben (spontanes, unwillkürliches Empfinden), 2Wiedererinnern (bewusstes, gewolltes Nachdenken über das vergangene Ereignis, das gerade wiedererlebt wurde). An vieles, was wir wiedererleben, können wir uns nicht erinnern!

Die folgenden Berichte zweier Patienten illustrieren, wie gegenwärtig empfangene Reize vergangene Gefühle wecken.

Eine vierzigjährige Patientin berichtete, dass sie eines Morgens eine Straße entlangging und aus einem Geschäft ein paar Takte Musik hörte, die in ihr eine überwältigende Melancholie auslösten. Sie fühlte, wie sie von einer Traurigkeit übermannt wurde, die sie nicht verstehen konnte und deren Intensität «fast unerträglich» war. Mit ihren bewussten Gedanken konnte sie sich das nicht erklären. Nachdem sie mir das Gefühl beschrieben hatte, fragte ich sie, ob es etwas in ihrem früheren Leben gegeben habe, woran das Lied sie erinnerte. Sie sagte, sie könne keinen Zusammenhang zwischen dem Lied und ihrer Traurigkeit sehen. Ein paar Tage später rief sie mich an und erzählte mir, dass sie das Lied immer wieder vor sich hin gesummt hatte und dabei plötzlich von einer Erinnerung überfallen worden war, in der sie ihre Mutter am Klavier sitzen sah und hörte, wie sie dieses Lied spielte. Die Mutter war gestorben, als die Patientin fünf Jahre alt gewesen war. Damals hatte der Tod der Mutter eine tiefe Depression ausgelöst, die über einen längeren Zeitraum anhielt, obwohl ihre Angehörigen sie immer wieder dazu bringen wollten, ihre Zuneigung auf eine Tante zu übertragen, welche die Mutterrolle übernommen hatte. Die Patientin hatte sich bis zu dem Tag, an dem sie an dem Laden vorbeigegangen war, nie an das Lied erinnert oder daran, dass ihre Mutter es gespielt hatte. Ich fragte sie, ob die Erinnerung an dieses frühe Erlebnis sie von ihrer Depression befreit habe. Sie sagte, ihre Gefühle hätten dadurch eine andere Färbung bekommen. Wenn sie sich an den Tod ihrer Mutter erinnerte, hatte sie immer noch ein melancholisches Gefühl, doch sie empfand nicht mehr wie zuerst die ursprüngliche überwältigende Verzweiflung. Es sah aus, als erinnere sie sich jetzt bewusst an ein Gefühl, das anfänglich das Wiedererleben eines Gefühls war. In der zweiten Phase erinnerte sie sich, wie es gewesen war, als sie die ursprünglichen Empfindungen gehabt hatte. In der ersten Phase dagegen brach in ihr dasselbe Gefühl mit unverminderter Wucht hervor, das sie beim Tod ihrer Mutter überschwemmt hatte und nun seit ihrem fünften Lebensjahr unverarbeitet in ihrem Innern eingekapselt lagerte.

Angenehme Empfindungen werden ganz auf die gleiche Weise hervorgerufen. Wir wissen alle, wie ein Duft, ein Klang, ein flüchtiger Anblick eine unbeschreibliche Freude bewirken können, die manchmal so kurzlebig ist, dass sie fast unbemerkt bleibt. Wenn wir uns nicht darauf konzentrieren, können wir uns nicht daran erinnern, wo wir dem Geruch, dem Klang oder dem Anblick früher schon einmal begegnet sind. Doch das Gefühl ist wirklich.

Ein anderer Patient berichtete Folgendes: Er ging irgendwo durch die Stadt, als ihn plötzlich der Geruch von Kalk und Schwefel anflog. So riecht die Lösung, mit der man Bäume spritzt, und allgemein fühlen sich die Leute von dem Gestank belästigt. Er aber fühlte bewusst, wie ihn eine strahlende, unbekümmerte Freude durchströmte. Da dieses Gefühl positiv war, fiel es ihm leichter, die ursprüngliche Situation aufzuspüren. Mit dieser Lösung waren in den ersten Frühlingstagen immer die Apfelbäume zu Hause im Garten gespritzt worden, und als der Patient noch ein kleiner Junge war, hielt er diesen Geruch für gleichbedeutend mit dem Nahen des Frühlings, dem Grünen der Bäume und all den Herrlichkeiten, die ein kleiner Junge nach dem langen Winter auskostet, wenn er wieder ins Freie darf. Wie im Falle der ersten Patientin unterschied sich in zarten Nuancen die bewusste Erinnerung an das Gefühl von dem Ausbruch des ursprünglichen Gefühls, den er erfahren hatte. Er konnte das berauschende Eintauchen in die Vergangenheit, das sich ohne sein Zutun eingestellt hatte, wieder ganz so empfinden, wie er es in diesem flüchtigen Moment getan hatte. Es war, als hätte er jetzt ein Gefühl für sein Gefühl statt das Gefühl selbst.

Das illustriert eine andere Schlussfolgerung von Penfield: Die Aufzeichnung der Erinnerung bleibt auch dann intakt, wenn der Betreffende selbst nicht mehr fähig ist, sie hervorzurufen:

«Erinnerung, die im Schläfenlappen wachgerufen wird, behält den detaillierten Charakter des ursprünglichen Erlebnisses. Wenn sie auf diese Weise dem Patienten ins Bewusstsein gebracht wird, scheint das Erlebnis in der Gegenwart stattzufinden, vielleicht weil es sich so unwiderstehlich seiner Aufmerksamkeit bemächtigt. Erst wenn es vorbei ist, kann der Patient es als eine lebhafte Erinnerung aus der Vergangenheit erkennen.»

Aus diesen Feststellungen ergibt sich, dass das Gehirn wie ein Hi-Fi-Gerät originalgetreu jedes Erlebnis von der Geburt an aufnimmt, vielleicht sogar noch aus der Zeit davor. Die Informationsspeicherung im Gehirn ist zweifellos ein chemischer Datenverarbeitungsprozess, der noch nicht völlig erklärt werden kann. Obwohl er zu stark vereinfacht sein mag, hat sich doch der Vergleich mit dem Tonbandgerät bei der Erklärung des Erinnerungsvorgangs bewährt. Wichtig ist dabei, dass ungeachtet der Aufnahmemethode die Wiedergabe Hi-Fi-Qualität hat.

«Immer wenn ein normaler Mensch bewusst auf etwas achtet», sagt Penfield, «zeichnet er es gleichzeitig in den Schläfenlappen beider Hemisphären auf.»

Diese Aufzeichnungen finden fortlaufend und ununterbrochen statt.

«Wenn der Teil der Hirnrinde, wo das Gedächtnis lokalisiert ist, mittels der Elektrode erregt wird, kann ein Bild entstehen, doch das Bild ist im Allgemeinen nicht statisch. Es verändert sich wie damals, als es ursprünglich wahrgenommen wurde und der Beobachter vielleicht seine Blickrichtung gewechselt hat. Es folgt den ursprünglich empfangenen Eindrücken der folgenden Sekunden oder Minuten. Das Lied, das durch künstliche Reizung hervorgerufen wird, spielt sich langsam ab von einem Takt zum nächsten und von der Strophe zum Refrain.»

Penfield kommt weiter zu dem Schluss, dass der durchlaufende Faden bei hervorgerufenen Erinnerungen die Zeit zu sein scheint. Das ursprüngliche Muster wurde in seinem zeitlichen Ablauf aufgezeichnet.

«Der Faden zeitlicher Abfolge scheint die Elemente der hervorgerufenen Erinnerung miteinander zu verbinden. Außerdem werden offenbar nur die Sinneseindrücke aufgezeichnet, die vom Individuum bewusst registriert wurden, und nicht alle Sinnesreize, die ständig das zentrale Nervensystem unter Trommelfeuer nehmen.»

Die Möglichkeit, auch komplizierte Erinnerungsketten abzuspulen, scheint darauf hinzuweisen, dass jede Erinnerung, die wir zurückrufen können, ihre eigene Nervenbahn hat.