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Plötzlich Hexe!

Als Lexa am Morgen ihres 12. Geburtstags erwacht, ist ihre Großmutter spurlos verschwunden. Zurückgelassen hat sie nur einen Brief und ein sprechendes Gürteltier namens Floyd. Lexa findet heraus, dass sie einer langen Linie von Hexen entstammt und an Silvester ihre Hexenprüfung ablegen muss. Als einziges Hilfsmittel bleibt ihr das Hexenbuch. Floyd steht ihr zur Seite – doch das immer hungrige Gürteltier-Baby kann auch ganz schön anstrengend sein! Und jeder Zauber scheint schiefzugehen! Dann tauchen auch noch ein Mann vom Jugendamt und eine böse Hexe auf, die Lexas Prüfung mit allen Mitteln verhindern will …

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© Foto Herz

Barbara Friedl-Stocks lebt in Berlin und ist Kabarettistin und Autorin. Als »Lebensberaterin Helene Mierscheid« sorgt sie auf den Kabarettbühnen für Furore.

Sie hat bereits drei lustige Kinderbuchkrimis geschrieben und arbeitet als Gagschreiberin für andere Kabarettisten und Comedians.

Davor hat sie zehn Jahre als Assistentin für Bundestagsabgeordnete gearbeitet. Das hat sie in ihrer Arbeit als Kabarettistin geprägt.

Zum Kinderbuch kam sie, weil eine befreundete Kinderbuchhändlerin aufgrund einer Mieterhöhung finanzielle Probleme bekam. Als sie darüber nachdachte, wie der Freundin zu helfen sei, entstand die Idee zur Kinderbuchtrilogie »Der magische Buchladen«, die bei VAK erschienen ist. Der erste Band ist im September 2008 mit dem »LesePeter« der AJuM als Kinderbuch des Monats ausgezeichnet worden.

»Lexa – Verhext und weggezaubert« ist ihr viertes Buch.

Titel

Alexa Lankenau, die von allen nur Lexa genannt wurde, fuhr mit ihrer Großmutter in einem Pferdeschlitten durch das nächtliche Hamburg.

Die ganze Stadt war in tiefem Schnee versunken. So viel Schnee, dass weder Autos noch Busse fuhren und Pferdeschlitten die einzigen Transportmittel waren. Man konnte sie deshalb benutzen wie eine Straßenbahn.

Die Fahrkarten, die sie an einem provisorischen Kutschenfahrkartenschalter gekauft hatten, kosteten nur 2 Euro pro Person. Ob das reichte, um den Pferden davon Futter zu kaufen?

Lexa wandte sich zu ihrer Großmutter, die wie sie selbst in eine flauschige Decke gehüllt neben ihr saß, und tastete nach ihrer Hand. Die Hand war weg. Erschrocken sah sich Lexa um. Ihre Großmutter war weg. Lexa konnte es nicht glauben. Wohin konnte sie denn nur verschwunden sein?

Die Pferdekutsche schwankte bedenklich, als sie sich rüberbeugte und unter der kuscheligen Decke nach ihrer Großmutter suchte. Das war natürlich albern, weil Lexas Großmutter sehr groß und stattlich war. Sie konnte sich nicht unter Decken verstecken – das konnte ja nicht einmal Lexa, die für ihr Alter auch schon ziemlich groß war.

Lexa setzte sich wieder gerade hin. Sie strich sich verwirrt die rotblonden Strähnen aus dem Gesicht, die sich unter ihrer Wollmütze hervorgestohlen hatten. Es war sehr kalt – deshalb steckte sie ihre Hand gleich wieder in den warmen Muff aus Kunstfell, den ihr ihre Großmutter vor einem Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte. Lexa liebte das Märchen von der »Schneekönigin«. Darin gibt es auch einen Muff, den die kleine Gerda geschenkt bekommt. Seitdem hatte sich Lexa immer heimlich einen Muff gewünscht, kam sich aber dumm vor, weil so etwas ja altmodisch war und alle Kinder Handschuhe trugen. Irgendwie hatte ihre Oma es aber doch gewusst und ihr zum letzten Weihnachten einen geschenkt. Ihre Großmutter wusste immer, was Lexa sich wünschte. Nur wo war sie?

Immer wieder sah Lexa neben sich, in der verzweifelten Hoffnung, dass sie sich geirrt haben könnte.

Die Kutsche sauste vorwärts. Lexa beugte sich nach vorne, zog nun beide Hände aus ihrem warmen Muff und tippte dem Kutscher auf die Schulter.

Der Kutscher hatte seine Fellmütze tief in die Stirn gezogen. Dazu trug er einen dicken Pelzmantel, um sich gegen die klirrende Kälte zu schützen.

Er reagierte nicht auf ihre Berührung. Das lag bestimmt an dem dicken Mantel.

Lexa tippte ihn fester an. Als er sich immer noch nicht regte, sah sie sich um, ob nicht vielleicht noch jemand draußen unterwegs war, der ihr helfen konnte. Aber da war niemand. Die Straße war leer.

Als Lexa wieder nach vorne sah, fehlte auch der Kutscher. Lexa wurde starr vor Schreck. Eisige Kälte durchflutete sie – eine so eisige Kälte, wie sie kein Winter zustande bringt. Diese Kälte kennen nur Kinder, die verlassen wurden. Lexa aber wehrte sich dagegen. Sie wollte es nicht glauben. Energisch schüttelte sie den Kopf, sodass sich die rotblonden Strähnen wieder selbstständig machten und um ihren Kopf flogen.

Die Pferde galoppierten los und nun ergriff Lexa doch blinde Panik. Die Kutsche raste direkt auf den Uferweg zu. Lexa konnte den Verlauf der Außenalster erkennen, die träge unter einer Schicht aus Eis und Schnee floss. Ob das Eis dick genug war, um die Pferde, die Kutsche und sie selbst zu tragen?

Lexa erhielt ihre Antwort schneller, als ihr lieb war.

Die Pferde schlitterten über das Eis, die Kutsche krachte mit ihren Kufen darauf und es knirschte fürchterlich. Dann gab es einen lauten Knall und Lexa versank mitsamt Kutsche und Pferden im eiskalten Wasser.

Die Pferde wieherten ein letztes Mal verzweifelt auf und ihre Hufe schlugen auf Eisbrocken, bevor sie im kalten Wasser wirbelten. Lexa war sofort ganz nass. Die dicken Decken zogen sie nach unten. Der kleine Muff schwebte nach oben. Tausend eiskalte Nadeln durchfuhren Lexas Körper. Sie hörte das gurgelnde letzte Wiehern der Pferde und das Wasser rauschte in ihren Ohren. An der Oberfläche konnte sie verschwommen ein paar Lichter entlang der Uferpromenade erkennen. Dann versank die Kutsche schneller und es wurde ganz dunkel.

Es war kalt und still und Lexa wusste, dass sie sterben musste.

»Neeeiiin! Bitte nicht! Neeeiiin!«

Ein Schrei ließ Lexa hochschrecken.

Es dauerte eine Weile, bis sich ihr heftiger Atem beruhigte. Der Schweiß lief ihr über das heiße Gesicht und ihr Herz klopfte laut. Wer hatte da geschrien? Lexa zitterte vor Furcht, bis ihr bewusst wurde, dass sie selbst es war.

Es war noch ganz dunkel. Lexa wühlte ihren Arm aus der warmen Bettdecke heraus, tastete nach dem Knopf ihrer Nachttischlampe und knipste sie an. Ihr Schein tauchte Lexas Zimmer in ein warmes gelbes Licht.

Es war der 15. Dezember, Lexas zwölfter Geburtstag. Ihre Schulsachen lagen wie immer durcheinandergewürfelt auf dem Boden. Darüber hatte sie die Kleider vom Vortag drapiert. Auf dem Schreibtisch lagen ihre Zeichenutensilien. Lexa sollte für den Kunstunterricht ein Blatt zeichnen. Auf dem bunt bemalten Kleiderschrank saßen ihre Lieblingspuppen und lächelten sie ausdruckslos an. Lexa spielte natürlich nicht mehr mit Puppen, aber wegwerfen wollte sie sie auch nicht.

Sie setzte sich in ihrem Bett auf und lauschte. Im Haus war es still.

Als kleines Kind hatte Lexa ihre Eltern bei einem Unfall verloren. Seither lebte sie bei ihrer Großmutter Magda Kuhlmann in Hamburg-Finkenwerder. Lexa liebte ihre Großmutter über alles. Was für ein Glück, dass es nur ein böser Traum gewesen war. Schon öfter hatte sie diesen Traum gehabt – aber noch nie war er so schlimm gewesen.

Es hatte wieder geschneit. Auch wenn es draußen noch dunkel war, konnte sie auf der Fensterbank ihres Zimmers eine dicke Schneeschicht erkennen. Das kleine Fenster war schon fast zugeweht. So viel Schnee hatte es in Hamburg schon lange nicht mehr gegeben.

Lexa hatte sich im Schlaf so fest in ihre warme Bettdecke gewickelt, dass sie große Schwierigkeiten hatte, sich wieder herauszuwinden. Ihre langen Arme und Beine schienen überall nur im Weg zu sein. Sie strich sich müde das verschwitzte Haar aus der Stirn. Lexa hatte rotblondes, lockiges Haar, das ihr bis zur Schulter reichte, blaue Augen und Sommersprossen, die im Winter etwas blasser wurden. Im Sommer waren es so viele, dass ihre Haut ganz dunkel wirkte. Sie war außerdem sehr dünn, weshalb manche Mitschüler sie Bohnenstange nannten. Das kränkte Lexa sehr. Sie hätte viel lieber so ausgesehen wie die anderen Mädchen in ihrer Klasse. Nicht so dünn und nicht so groß.

Das war auch bestimmt viel praktischer, denn die anderen hatten mit Sicherheit keine so großen Probleme, sich aus dem Bettdeckendickicht zu befreien.

Als sie es schließlich geschafft hatte, seufzte Lexa erleichtert auf. Sie schlüpfte in ihre warmen Hausschuhe und warf sich den Morgenmantel über, den sie von ihrer Großmutter geschenkt bekommen hatte. Der Morgenmantel war aus warmem Frottee, leuchtete in allen Farben des Regenbogens und war über und über mit fremdartigen Symbolen versehen. Diese sahen aus wie Schriftzeichen einer längst vergangenen Kultur. Lexa konnte sie keiner Sprache zuordnen. Als sie ihre Großmutter danach fragte, hatte die nur gesagt: »Das ist halt so.« Eine so einfache Erklärung war ungewöhnlich für Lexas Großmutter, aber Lexa hatte sie schließlich akzeptiert.

Die Schriftzeichen waren aus einem glänzenden Stoff. Das sah auf dem leuchtenden Frottee sehr schick aus. Lexa liebte den Morgenmantel sehr und hoffte, dass sie nicht mehr so schrecklich schnell wachsen würde und ihn noch ganz lange tragen konnte. Am liebsten für immer.

Rasch lief Lexa die schmalen Treppen hinunter.

Ihre Großmutter war mit Sicherheit längst auf den Beinen. Sie hatte sich schon oft gefragt, ob und wann Magda Kuhlmann eigentlich schlief. Ihre Großmutter hatte ihr nur erklärt, dass sie sehr wenig Schlaf brauchte. Sie war stets noch wach, wenn Lexa ins Bett ging, und immer schon auf, wenn sie aufstand und in die Küche gelaufen kam.

Die Küche hatte einen alten Herd, einen Küchenschrank aus dunkler Eiche, eine Anrichte und ein Spülbecken aus Emaille. Das war zwar altmodisch, aber auch sehr schön. Das einzig Moderne war der Heißwasserboiler über dem Waschbecken. Mitten in der Küche stand ein großer, blank gescheuerter Küchentisch aus Eiche, auf dem eine bestickte weiße Adventsdecke lag. In der Mitte des Tisches thronte ein Gesteck aus Tannenzweigen.

Davor stand schon das Frühstück für Lexa bereit. Ihre Lieblingsschale war mit Müsli gefüllt, die Milchflasche stand daneben. In einer großen Tasse dampfte heißer Tee. Wie Lexa am Geruch erkannte, war es eine der Kräutermischungen ihrer Großmutter. Magda Kuhlmann hielt nämlich nichts von Teebeuteln aus dem Supermarkt. Sie sammelte ihre Kräuter selber im Wald und auf Streuwiesen. Deshalb waren an der Küchendecke überall Schnüre gespannt, an denen die Großmutter ihre Kräuter in kleinen Bündeln zum Trocknen aufhing.

Lexa hatte sich an diese Marotten längst gewöhnt. Der Tee duftete wie immer herrlich. Sie nahm die heiße Tasse in beide Hände, trank einen großen Schluck und machte sich auf die Suche nach ihrer Großmutter.

Lexa Lankenau und Magda Kuhlmann bewohnten ein kleines, gemütliches Backsteinhaus im Focksweg auf der Halbinsel Finkenwerder.

Finkenwerder konnte man von Hamburg aus mit dem Bus erreichen, aber es war viel schöner, mit der Fähre zu fahren. Die fuhr als Linie 62 genauso wie ein Bus, nur viel interessanter, weil es ja über das Wasser ging.

Lexa nutzte jede Gelegenheit, nach Hamburg überzusetzen. Vielleicht wurde sie später Kapitänin. Dann konnte sie das den ganzen Tag lang machen.

Das kleine Haus im Focksweg hatte nur vier Zimmer. Unten befanden sich das Wohnzimmer und die gemütliche Küche, im ersten Stock die beiden Schlafzimmer und das Bad. Das Haus besaß einen kleinen Keller und einen geräumigen Speicher, auf dem die Großmutter unglaublich viel Krimskrams aufbewahrte. Magda Kuhlmann konnte nämlich nichts wegwerfen.

Vom Wohnzimmer führte eine Hintertür in den kleinen Garten hinter dem Haus, der durch Mauern von den Gärten der Nachbarn abgegrenzt wurde. Neben der Haustür gab es noch eine kleine Gästetoilette. Die hatte Lexas Vater damals angebaut, weil er es lästig fand, warten zu müssen, wenn das Bad besetzt war.

Als Lexa mit ihrer halb vollen Teetasse davor stand, betrachtete sie die Toilettentür einen Moment lang versonnen. Weil sie bei dem Unfall noch so klein gewesen war, konnte sie sich kaum an ihre Eltern erinnern. Da sie aber wusste, dass ihr Vater die Toilette eingebaut hatte, fühlte sie sich ihm nahe, wenn sie diesen Raum betrat. Deshalb benutzte sie immer die Gästetoilette, was ihre Großmutter gut verstehen konnte. Das war das Beste an ihr. Lexa musste Magda Kuhlmann nur wenig erklären. Sie schien fast immer zu wissen, was im Kopf ihrer Enkelin vor sich ging. Lexa lebte nun schon seit neun Jahren bei ihrer Großmutter und es waren die schönsten Jahre ihres Lebens gewesen, wie sie ihrer Großmutter immer wieder versicherte.

Dann lachten sie gemeinsam darüber, weil es schon sehr komisch war, wenn ein so junges Mädchen von den schönsten Jahren ihres Lebens sprach.

Aber jetzt war Lexa gespannt, welche Geburtstagsüberraschung sie erwartete. Magda Kuhlmann hatte sich bisher in jedem Jahr etwas Besonderes für Lexa ausgedacht.

Vielleicht hatte ihre Großmutter sich in der Gästetoilette versteckt, um Lexa zu überraschen? Lexa klopfte an die geschlossene Toilettentür. Keine Reaktion.

»Oma?«

Vorsichtig öffnete sie die Tür. Der Raum war leer. Bis auf einen runden, braunen Ball in der Ecke. Den hatte bestimmt eines der Kinder aus der Nachbarschaft verloren, die nachmittags oft zum Spielen vorbeikamen.

Lexas Großmutter war sehr lieb – sie hatte für jedes Kind ein gutes Wort und selbst gebackene Kekse. Das half Lexa, Anschluss zu finden, auch wenn sie in der Schule immer wieder gehänselt wurde.

Lexa war nämlich nicht nur ungewöhnlich groß für ihr Alter, sondern auch noch eine ausgezeichnete Schülerin. Nur in Sport war sie schlecht. Das war im Alter von zwölf Jahren keine gute Kombination und machte sie bei den anderen Kindern in ihrer Klasse nicht beliebter.

Was sie in der Schule lernen sollte, interessierte sie dabei nicht einmal besonders. Lexa konnte sich einfach alles sehr gut merken. Was sie einmal gelesen oder erklärt bekommen hatte, vergaß sie nicht mehr.

Lexa ging zurück in die Küche und sah auf die Uhr, die über dem Herd hing. Es war schon Viertel vor acht. Sie musste sich beeilen, wenn sie bei dem Schnee rechtzeitig zur Schule kommen wollte.

Wo ihre Großmutter nur war?

Lexa stieg die Treppen hinauf und sah im Schlafzimmer nach. Das Zimmer war wie immer ordentlich aufgeräumt. Die alten Holzmöbel rochen nach Politur. Die bunt gemusterte Tagesdecke war über das Bett gebreitet. Der Sekretär mit den vielen kleinen Schubladen stand offen. Sie sah an den Papieren und dem Füllfederhalter, dass ihre Großmutter noch vor Kurzem einen Brief geschrieben haben musste. Magda Kuhlmann schrieb regelmäßig Briefe und erhielt auch sehr viele, wie das kleine Körbchen voller Umschläge mit fremdartigen Briefmarken bewies.

In der Ecke war ein kleiner Sessel, auf dem ihr Strickzeug lag. Magda Kuhlmann strickte für ihr Leben gerne. Die meisten Kleidungsstücke bekam Lexa, die sich darüber sehr freute. Die selbst gemachten Pullover und Mützen passten ihr viel besser als die gekauften Sachen.

Plötzlich musste Lexa wieder an ihren schlimmen Traum denken. Den musste sie unbedingt ihrer Großmutter erzählen, wenn sie sie gefunden hatte.

Magda Kuhlmann hielt viel von Träumen. Sie sagte Lexa oft, dass die Träume der Kompass der Seele wären.

Immer wenn Lexa nicht weiterwusste, wurde sie von ihrer Großmutter früh ins Bett geschickt. »Schlaf eine Nacht darüber – dann wirst du wissen, was der richtige Weg ist«, pflegte sie zu sagen.

Lexa lächelte bei dem Gedanken und nippte weiter an ihrem Tee.

Schließlich lief Lexa die Treppen wieder hinunter, schaltete das Licht über der Hintertür an und spähte hinaus. Der Garten lag ganz still und verschneit da. Das Vogelhäuschen mit dem grünen Dach war gut mit Sonnenblumenkernen und Meisenknödeln gefüllt, sodass sich seit dem ersten Schnee viele Vögel im Garten tummelten und sich für Magda Kuhlmanns Fürsorge mit lautem Gezwitscher bedankten. Ihre Großmutter war vielleicht schon einkaufen gegangen. Seit einigen Wochen gab es am Hafen einen Supermarkt, der von 7 bis 22 Uhr geöffnet hatte.

Lexa setzte sich an den Tisch und goss Milch über ihr Müsli. Da entdeckte sie unter der Müslischale einen weißen Umschlag. Der war ihr vorher gar nicht aufgefallen, weil auf dem Küchentisch eine weiße Tischdecke lag.

Sie vergaß das Müsli und zog den Umschlag vorsichtig unter der Schale hervor. Darauf stand in der schön geschwungenen Schrift ihrer Großmutter ihr Name – sonst nichts.

Lexa öffnete den Umschlag. Darin fand sie einen Brief und einen sehr alten Bartschlüssel, der vom Alter ganz schwarz angelaufen war und feine Verzierungen hatte.

Lexa faltete den Brief auseinander und las:

Meine liebe Lexa,
seit heute bist Du zwölf Jahre alt. Alles Liebe zum Geburtstag! Es ist nun an der Zeit, dass Du Deinen eigenen Weg findest. Dabei darf ich Dir leider nicht helfen.

Das Schloss zu dem Schlüssel wirst Du finden, wenn Du genau hinsiehst. Hinter dem Schloss befindet sich alles, was Du für die nächste Zeit brauchst.

Denke auch immer daran, dass Deine Träume Dir weiterhelfen. Außerdem habe ich dafür gesorgt, dass Du Deinen Weg nicht ganz alleine gehen musst.

Wir sehen uns wieder.

Tausend Küsse

Deine Großmutter

Trotz der Wärme in der Küche wurde es Lexa auf einmal eiskalt. So kalt wie in ihrem schrecklichen Traum. Sie ließ den Brief sinken. Träumte sie etwa noch? Lexa hatte schon als kleines Kind eine todsichere Methode entwickelt, um zu testen, ob sie träumte oder wach war. Sie kniff sich einfach selbst in den Arm. Wenn es nicht wehtat, träumte sie, und wenn es wehtat, war sie wach.

Sie kniff fest zu. »Au!«

Lexa starrte auf die Müslischale mit dem bunten Muster.

Sie konnte es einfach nicht glauben.

Sie war wirklich verlassen worden. Tränen liefen ihr übers Gesicht.

Sie war nun alleine auf der Welt. Ganz alleine.

Lexa schob die Schüssel zur Seite, legte den Kopf auf ihre Arme und begann verzweifelt zu schluchzen. Sie wusste nicht mehr weiter. Ihre Großmutter hatte zwar geschrieben, dass sie sich wiedersehen würden, aber das hatte Lexa auch geglaubt, als ihre Eltern sich damals von ihr verabschiedet hatten. Sie sah die Szene plötzlich ganz klar vor sich. Sie stand in der Tür des Hauses ihrer Großmutter und ihre Eltern umarmten sie abwechselnd. Dann flüsterte ihre Mutter ihr ins Ohr: »Montag sind wir wieder da, kleine Lexa.« Aber sie waren nie wiedergekommen. Und ihre Großmutter? Sie hatte sie zum ersten Mal verlassen. Würde sie jemals zurückkehren? Lexa glaubte nicht daran. Niemand kam zu ihr zurück – das wusste sie ja aus Erfahrung. Was sollte sie nur tun? Lexa schluchzte immer heftiger.

Da hörte sie ein Scharren. Es kam aus dem Flur. Lexa hob den Kopf und starrte auf die offene Küchentür. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Wer oder was scharrte da an der Toilettentür? War es am Ende doch ihre Großmutter, die sie versehentlich eingeschlossen hatte? So ein Blödsinn, schalt Lexa sich selbst. Ihre Großmutter war nicht da. Sie hatte es doch schwarz auf weiß.

»Kapier es endlich, Lexa«, sagte sie laut. »Oma hat dich im Stich gelassen.«

Was sollte nun werden? Dicke Tränen liefen über Lexas Gesicht.

Da war es wieder – dieses Scharren aus dem Flur. Sie umklammerte ängstlich ihre Teetasse. Sollte sie nachsehen? Normalerweise war Lexa nicht feige, aber im Moment war ihr nicht nach Abenteuern zumute. Sie wollte nur, dass ihre Großmutter wieder hereinkam, mit ihr einen Kräutertee trank, ihr zum Geburtstag gratulierte, sie dann wie jeden Morgen zum Schulbus brachte und sich dort von ihr mit einem Kuss auf die Stirn verabschiedete.

Das konnte sie tun, weil sie ihre große Enkelin noch um Haupteslänge überragte. Magda Kuhlmann war die größte Frau in Finkenwerder.

Der Schulbus, schoss es Lexa durch den Kopf. Sie musste ja den Schulbus kriegen!

Da hörte sie ihn schon auf der Straße. Lexa sah an sich herab. Sie war noch in Schlafanzug und Morgenmantel. Das schaffte sie nie.

Der Bus bremste seufzend an der nächsten Hauptstraße. Nur wenige Meter vor Lexas Tür. Deutlich konnte sie das Lachen der Kinder hören, die in den Bus stiegen. Dann schlossen sich die Türen mit einem lauten Quietschen und der Bus fuhr davon.

Sie würde zu spät zur Schule kommen.

Egal.

Heute war alles anders.

Das Kratzen aus dem Flur wurde immer heftiger.

Lexa stand wie in Trance auf und ging durch die Küche in den Flur. Das Scharren kam wirklich aus der Gästetoilette. Lexa schluckte. Dann fasste sie sich ein Herz und öffnete die Tür.

»Arriba! Na endlich!«, rief ein braunes Etwas, schoss an ihr vorbei in die Küche, sprang mit einem Satz auf ihren Stuhl, versenkte seine braune Schnauze in der Müslischale und begann gierig und sehr geräuschvoll zu fressen. Dann verzog es seine Schnauze. »Milch ist gut, aber warum bekomme ich kein Fleisch?«

Vor Überraschung stand Lexa wie angewurzelt da. Das braune Ding, das sie für einen Ball gehalten hatte, war ein Gürteltier. Lexa war sich sicher, weil sie im Biologieunterricht gerade exotische Tiere durchnahmen. Da kamen Gürteltiere auch vor. Allerdings keine, die sprechen konnten.

Lexa zweifelte an ihrem Verstand. Zuerst der schlimme Traum, dann die verschwundene Großmutter und jetzt auch noch ein sprechendes Gürteltier, das ihr Müsli fraß und Fleisch verlangte. Nun musste sie sich erst einmal wieder an den Küchentisch setzen. »Wer bist du denn?«

»Floyd«, kam die kurze Antwort, dann versenkte das Gürteltier seine Schnauze wieder in ihrer Schale und schmatzte zufrieden. Müsliflocken flogen auf die weiße Tischdecke, den Stuhl und den sauberen Küchenboden. Milch spritzte quer über den Tisch.

»Floyd? Was ist das denn für ein Name? Wo kommst du überhaupt her?«

Das Gürteltier kaute heftig und schluckte geräuschvoll, bevor es sprach. »Deine Großmutter hat mich auf einem Markt in Mexiko gekauft und hergebracht.«

Lexa strahlte. »Du hast meine Großmutter gesehen? Wo ist sie?«

Floyd sah sie erstaunt an. »Woher soll ich das wissen? Sie ist doch deine Großmutter, nicht meine! Aber sag mal, ist es bei euch immer so dunkel und kalt? Dann möchte ich morgen zurück. Arriba! Meine Familie wartet auf mich.«

Lexa wurde schwer ums Herz. Auf sie wartete niemand. »Hast du Eltern?«

»Natürlich, wer hat die nicht?«

»Ich«, sagte Lexa leise.

Floyd hörte auf zu fressen und sah sie neugierig an. »Oh, das tut mir leid – vielleicht können dich ja meine Eltern adoptieren.«

Bei dem Gedanken, von Gürteltieren adoptiert zu werden, musste Lexa dann doch lächeln.

Es half ja alles nichts. Sie holte eine weitere Schale aus dem Schrank, füllte sie mit Müsli und Milch und setzte sich neben Floyd.

Nach dem Frühstück zog Lexa sich an und machte sich mit Floyd auf die Suche nach dem Schloss, zu dem der alte, verzierte Schlüssel passen sollte.

Sie probierten alle Schlösser aus, die sie im Haus finden konnten, hatten aber kein Glück.

»Das ist ja auch kein Wunder. Der Schlüssel ist doch bestimmt noch älter als deine Großmutter, oder?« Floyd sah Lexa fragend an.

Lexa zuckte nur mit den Achseln, während sie alle Schlösser noch mal durchprobierte. »Wieso fragst du?«

»Deine Oma ist alt, der Schlüssel ist älter – vielleicht ist das Schloss ja schon tot?«

Lexa musste grinsen. »Schlösser sterben nicht.«

»Quatsch«, entgegnete Floyd entschieden. »Mein Papa hatte ein Schloss, das ist gestorben. Das wurde abgebrannt – dann war es tot!«

»Dein Vater hatte ein Schloss? War er adelig?«

»Nein«, entgegnete Floyd. »Er hat im Zoo gewohnt, aber der Zoo gehörte zum Schloss!«

Lexa machte sich lieber gar nicht erst die Mühe, Floyd den Unterschied zwischen einem Türschloss und einem Schloss, in dem man leben konnte, zu erklären.

Nachdenklich betrachtete sie den alten Schlüssel. »Weißt du was, Floyd? Möglicherweise ist es ein Schlüssel für ein Geheimfach.«

»Wozu brauchst du denn ein Geheimfach?«, fragte Floyd erstaunt.

Seine Gürteltierfamilie hatte keine Geheimfächer. Die brauchten sie auch nicht, weil sie sich bei Gefahr im Verzug einfach fest einrollten und ihre wertvollen Sachen dabei an sich pressten. Sie waren sozusagen ihre eigenen Geheimfächer. Aber Floyd las gerne Abenteuergeschichten. Vor allem über Menschen. Wie die klarkamen, mit nur zwei Beinen, ohne Krallen zum Graben an den Händen und ohne einen Rückenpanzer – das war ihm allerdings komplett schleierhaft.

»Ich habe schon viel über euch Menschen gelesen«, erzählte er Lexa fröhlich.

»Du kannst lesen?«, fragte Lexa erstaunt.

»Wieso nicht?«, antwortete Floyd. »Ich kann schließlich auch sprechen. Es war nur schwer, in Mexiko Bücher zu bekommen. Meine Eltern wollten nicht, dass ich zur Bibliothek gehe. ›Das ist kein Ort für Gürteltiere‹, hat meine Mutter immer gesagt. Und sie hatte recht. Ich wurde von den Kindern dort oft fürs Fußballspielen gebraucht – da kommt man kaum zum Lesen. Also habe ich nachts bei Leuten Bücher geliehen – aber ich habe sie auch wieder zurückgebracht.«

Das leuchtete Lexa ein.

Am Ende ihrer Suche durchstöberten sie den staubigen Speicher.

Das dauerte ewig, weil Lexas Oma dort oben schon seit Jahrzehnten alles Mögliche aufbewahrte. Vom Dachgiebel hing nur eine schwache Glühbirne, sodass es gar nicht so leicht war, sich zurechtzufinden. Es gab so viele Bücher, dass man mit ihnen leicht eine kleine Bibliothek hätte bestücken können.

Floyd überschlug sich fast vor Begeisterung, beim Anblick all der Bücher, die er nicht einmal »ausleihen« musste.

In den Ecken standen alte Schränke, die mit Porzellan, Töpfen und Pfannen gefüllt waren. Lexa fand eine riesige Pfanne, bei der sie sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, auf welchen Herd sie passen sollte.

Daneben stand ein Handarbeitskorb, in dem lauter streng riechende Pulver und Gewürze aufbewahrt wurden. In einem Handarbeitskorb? Lexa schüttelte verständnislos den Kopf.

Sie stellte den Korb zur Seite, als eine nackte Frau auf sie fiel.

Lexa schrie wie am Spieß und Floyd, der gerade in einem großen Berg Wäsche gewühlt hatte, machte einen Satz und rollte sich ein.

Reflexartig hielt Lexa die Frau fest, die erstaunlich leicht war. Haare fielen ihr ins Gesicht. Vor Schreck konnte sie sich nicht rühren. »Wer, wer bist du?«

Keine Antwort.

»Geh bitte von mir runter.«

Immer noch keine Antwort.

Die Frau schien es nicht eilig zu haben. Lexa versuchte, sie an den Armen zu packen und fasste ins Leere. Die Frau hatte keine Arme.

Lexa schrie wieder.

Da entrollte sich Floyd und baute sich zähnefletschend neben Lexa auf.

Lexa schob die Frau von sich und lachte erleichtert, auch wenn ihr immer noch vor Schreck die Haare zu Berge standen. Es war keine Frau, sondern eine Schneiderpuppe. Sie hatte einen Kopf mit Perücke, was für eine Schneiderpuppe sehr ungewöhnlich war.

Wenn Lexas Großmutter nicht strickte, nähte sie die meisten Kleidungsstücke selbst, weil sie genau wie Lexa Probleme hatte, passende Kleidung zu finden. Schließlich war sie ja die größte Frau von Finkenwerder.

»Warum hast du dich eben sofort eingerollt?«, wollte Lexa von Floyd wissen, der die Puppe wie hypnotisiert anstarrte.

Floyd hob seine Klauen und zuckte mit seinen gepanzerten Schultern. »Ich bin ein Gürteltier. Wir rollen uns bei Gefahr immer ein – das ist ein Reflex.«

Da wurde Lexa bewusst, wie mutig Floyd gewesen war, als er sich entgegen seinem Instinkt ausrollte, um Lexa im Kampf gegen die nackte Unbekannte beizustehen. Sie streichelte anerkennend seinen Kopf. Er fühlte sich an wie warmes Leder. Die Schnauze hatte wie die eines Hundes eine kalte Spitze.

Floyd knurrte.

Lexa zog erschrocken die Hand zurück.

Er stupste sie mit der Schnauze an. »Mach ruhig weiter, Lexa, das fühlt sich schön an.«

»Warum knurrst du dann?«

»Weil ich keine Katze bin, die schnurrt, sondern ein Gürteltier.« Floyd zog seine Lefzen hoch. Das sah aus, als ob er lachte. Seine braunen Augen funkelten vergnügt.

Nun gingen sie arbeitsteilig vor: Floyd durchsuchte alles, was nahe am Boden war, und Lexa streckte sich nach den hochgestapelten Sachen. Die Mitte durchsuchten sie gemeinsam.

Die Suche beschäftigte sie bis mittags. Floyds Magen fing verdächtig an zu knurren und auch Lexa bekam Hunger, als sie das Rumpeln in Floyds Magen hörte.

Sie verzweifelte aber auch allmählich. Was, wenn sie das Schloss, zu dem der Schlüssel passte, gar nicht fanden? Sie setzte sich auf eine alte Kiste und dachte nach.

Ihre Haare waren inzwischen voller Spinnweben, ihre Kleider staubbedeckt.

Floyd sah man nichts an. Seine dicke Gürteltierhaut war staubabweisend. Außerdem war er unermüdlich.

»Wie alt bist du, Floyd?«, fragte Lexa ihn neugierig, während er so tief in einem Stapel alter Kleider verschwand, dass man nur noch seine Schwanzspitze sehen konnte.

»Humpfumfjohre.«

»Wie bitte?«

Floyd kam unter dem Stapel hervor und sah Lexa genervt an. Seine Stirn legte sich dabei so in Falten, dass es aussah, als würde sie sich diesmal von alleine einrollen. Die braunen Augen blitzten. »Musst du mich unterbrechen, während ich gerade was ganz Tolles finde?«, fragte er vorwurfsvoll.

Lexa sprang auf. »Zeig es her – bitte, hol es schnell!«

Floyd schlüpfte wieder unter den Stapel mit Kleidern und zerrte etwas hervor. Es war ein Unterrock aus pinkfarbenem Tüll.

Lexa seufzte. »Ich glaube kaum, dass wir an dem Teil ein geheimnisvolles Schloss finden werden.« Sie setzte sich wieder hin.

»Das macht nichts – es erinnert mich an meine Großmutter«, erklärte Floyd verträumt und schmiegte sich an den Unterrock.

»An deine Großmutter?«, fragte Lexa verblüfft. »Was hat denn ein mexikanisches Gürteltier mit altmodischen Unterröcken zu tun?«

»Nichts«, entgegnete Floyd. »Aber sie war ein Gürteltieralbino. Vom Kopf bis zu den Krallen pink. Wir nannten sie Pink Floyd.«

Lexa musste so sehr lachen, dass sie von der Kiste rutschte und unsanft auf dem staubigen Boden landete. So schmutzig, wie sie schon war, machte ihr das aber nichts aus.

»Pink Floyd« war der Name einer Rockband. Lexa kannte sie, weil Magda Kuhlmann eine tolle Musiksammlung hatte. Als ihre Großmutter ihr erzählte, dass Pink Floyd die Lieblingsband ihrer Mutter gewesen war, war das ein Grund mehr für Lexa, die Songs so oft wie möglich zu hören.

»Was ist daran so komisch?«, fragte Floyd verärgert.

Lexa riss sich zusammen. »Nichts. Wirklich nichts.«

Gemeinsam suchten sie weiter.

In der hintersten Ecke fand Lexa ein großes Bild, das umgedreht an der Wand des Speichers lehnte. Sie drehte es mühsam um, wobei sie immer wieder Sachen zur Seite schieben musste. Durch die Suchaktion war es auf dem Dachboden noch enger geworden. Schließlich schaffte sie es und staunte.

Es war ein Ölgemälde und zeigte eine Frau, die ein wunderschönes rotes langes Seidenkleid trug. Auf dem Kopf hatte sie eine Perücke mit großen Locken, die weiß gepudert waren. Die Frau besaß eine hohe Stirn und klare blaue Augen. Ihre gerade Nase und das gepuderte Gesicht ließen sie sehr edel, aber auch sehr unnahbar aussehen. Nur der kirschrote Mund war zu einem kleinen Lächeln verzogen. Sie sah Lexas Großmutter sehr ähnlich. In den Händen hielt sie eine große Schmuckschatulle. Diese war aus Holz und mit schlichten Metallbeschlägen versehen. Sie wirkte so real, als ob die Frau wirklich eine Schatulle in der Hand hätte.

Lexa betrachtete das Bild ganz aus der Nähe. Die Frau wirkte sehr lebendig. Sie sah direkt in Lexas Augen. Ihr lief ein kalter Schauer den Rücken hinunter.

Die Frau zwinkerte ihr zu.

Lexa erstarrte. Die Frau hatte ihr zugezwinkert? Das konnte ja nicht sein. Sie sah noch mal genau hin. Jetzt schaute die Frau mit der Puderperücke wieder komplett ausdruckslos. Also musste sie sich getäuscht haben. Sie strich mit den Händen über das Gemälde, spürte die bemalte Leinwand und die Farbschichten unter ihren Fingerspitzen.

Als sie die kleine Schatulle berührte, stießen ihre Finger auf kühles Metall. Wie eigenartig.

Lexa fuhr über das Schlüsselloch – da war ein echtes Loch. Und drumherum echtes Metall. Vor Aufregung hielt sie den Atem an.

Schnell zog sie den alten Schlüssel aus der Tasche ihrer Jeans und steckte ihn mit zitternden Händen ins Schloss. Er passte. Langsam drehte Lexa ihn um.

Eine kleine Tür ging auf. In dem Gemälde befand sich hinten eine Ausbuchtung, die Lexa beim Umdrehen gar nicht aufgefallen war. Darin lag ein Buch. Ein sehr dickes und sehr altes Buch. Es war in schweres Leder gebunden, das vom Alter ganz dunkel geworden war. An den Ecken war der Einband in Gold gefasst. Ob es echtes Gold war? Lexa berührte es vorsichtig. Sie wagte kaum, es herauszunehmen.

Lexa kniete sich vor das Bild, um besser sehen zu können.

Jemand räusperte sich hinter ihr.

Erschrocken fuhr sie herum.

Floyd betrachtete angelegentlich seine Krallen. »Wann wolltest du mir sagen, dass du es gefunden hast?«

Lexa hätte nie gedacht, dass ein Gürteltier so beleidigt schauen könnte. Floyd konnte es.

»Ich habe es doch selber gerade erst entdeckt, Floyd. Ich weiß ja gar nicht, ob es das ist, was wir suchen …« Aber eigentlich war sich Lexa da schon sicher.

Sie zog das Buch vorsichtig aus der Öffnung heraus. Es staubte ziemlich.

Floyd nieste.

Lexa strahlte ihn an. »Wir haben es wahrscheinlich gefunden!«

Zu Lexas Erstaunen wirkte Floyd enttäuscht und unruhig. »Aha. Darf ich trotzdem weitersuchen?«

Lexa seufzte ungeduldig. »Suchen macht nur Sinn, wenn man etwas suchen muss, oder? Kannst du nicht mal ein paar Minuten still sitzen bleiben?«

Floyd huschte gekränkt zu seinem Unterrock und schleppte ihn herbei. Dann machte er daraus ein kleines Nest, setzte sich hinein und sah Lexa genau zu.

Lexa nahm das Buch, verschloss das Kästchen wieder und setzte sich auf eine kleine Kiste.

Als sie das Buch aufschlug, fiel ihr ein Brief entgegen. Lexa erkannte die Schrift ihrer Großmutter. Behutsam öffnete sie den Brief und begann zu lesen.

Liebe Lexa,
Du hast die erste Prüfung bestanden. Gratuliere! Du hast ja immer gewusst, dass Du anders bist als andere Kinder. Du hattest die ganze Zeit recht, denn Du bist eine Hexe. Genau wie Deine Mutter, wie ich, wie meine Mutter und so weiter. Wir sind ein altes Geschlecht, das bis ins Mittelalter zurückreicht.

In Deinen Händen hältst Du nun das Lehrbuch, das Dich Dein Leben lang begleiten wird. Es ist ab heute Deine Hexen-Fibel. Früher hat sie Deiner Mutter gehört. Normalerweise bekommt jede Hexe ihr eigenes Buch. Ich dachte aber, dass es Dir Freude bereiten würde, mit dem Buch Deiner Mutter zu lernen.

Deine Ausbildung zur Hexe musst Du jedoch ganz ohne Unterstützung machen. Ich darf Dir nicht helfen, weil jede Hexe ihren Weg alleine finden muss.

Später arbeiten wir auch vorzugsweise allein und treffen uns nur selten mit unseren Kolleginnen. Du wirst in den nächsten Wochen viel lernen müssen. Ich habe für Deinen Unterhalt vorgesorgt. Das Geld habe ich Dir hinten im Buch hinterlegt.

Du wirst Deine Prüfung an Silvester ablegen. Das sind nur wenige Wochen, weshalb Du sehr fleißig lernen musst. Du bist eine intelligente junge Hexe – Du kannst das schaffen.

Mein liebes Kind, ich wünsche Dir viel Erfolg beim Lernen. Floyd wird Dir Gesellschaft leisten. Pass gut auf ihn auf. Er ist erst eineinhalb Jahre alt und damit noch ein richtiges Gürteltierbaby. Gürteltiere können in freier Wildbahn bis zu 20 Jahre alt werden. Im Zoo werden manche sogar 30 Jahre alt. Deshalb sei nicht böse, wenn er Unfug macht. Er ist noch sehr jung. Ich konnte Floyd durch einen einfachen Zauberspruch das Sprechen beibringen. Aber ich befürchte, dass es ungleich schwieriger sein wird, ihn wieder zum Schweigen zu bringen. Ich vermute, dass auch Floyd magische Kräfte hat, aber das wird sich zeigen.

Vergiss bitte nicht, in der nächsten Zeit regelmäßig Klavier zu üben. Das muss eine Hexe zwar nicht können, aber Du bist etwas Besonderes.

Tausend Küsse

Deine Großmutter

Lexa ließ das Schreiben sinken.

Sie war eine Hexe? Das sollte wohl ein Scherz sein. Sie hatte Hexengeschichten gelesen, aber sie wusste natürlich, dass es keine Hexen gab. Wenn sie mit ihrer Großmutter darüber gesprochen hatte, hatte Magda Kuhlmann immer nur gelächelt. Bei dem Gedanken an ihre Großmutter traten ihr erneut Tränen in die Augen. Sie sah Floyd an, der sie neugierig musterte.

»Was schreibt deine Großmutter denn?«

»Woher weißt du, dass der Brief von meiner Großmutter ist?«

»Die Schrift sieht aus wie die auf dem anderen Brief.«

Lexa nickte anerkennend mit dem Kopf. Floyd war vielleicht noch ziemlich klein, aber er war ein sehr schlaues Gürteltier.

Ihre Großmutter hatte nicht geschrieben, wie lange sie wegbleiben würde. Lexa musste aber davon ausgehen, dass sie sie nicht vor Silvester wiedersehen würde. Das waren mehr als zwei Wochen!

Überhaupt diese Ausbildung. In dem Brief stand nichts von einer Schule. Nur von diesem dicken alten Buch. Was sollte sie denn nun mit ihrer normalen Schule machen? Nicht mehr hingehen? Das war allerdings ein sehr verlockender Gedanke.

Es dämmerte bereits, als Lexa mit Floyd schließlich den Speicher verließ. Das tat sie auch nur, weil Floyd so drängelte. Er hatte fürchterlichen Hunger.

»Was soll ich dir denn zu fressen geben?«, fragte Lexa ihn unsicher.

»Tacos!«

»Tacos? Was ist das denn?«

»Warst du noch nie beim Mexikaner? Tacos mit Hackfleischsoße natürlich. Viel, viel Hackfleischsoße!«

Lexa sah förmlich, wie Floyd das Wasser in der Schnauze zusammenlief. Sie ging zum Kühlschrank, öffnete die Tür und sah hinein. In der Ecke stand eine große Plastikschüssel. Auf dem Deckel klebte ein Zettel.

Für heute – morgen musst du alleine klarkommen. Oma.

Lexa lächelte und öffnete die Dose. Darin lagen kleine Fladenbrote, die mit Hackfleisch, Gemüse und Käse gefüllt waren.

»Tacos!«, jubelte Floyd.

Nachdem Lexa die Tacos im Backofen heiß gemacht und sie geschwisterlich mit Floyd geteilt hatte, setzte sie sich an den großen Tisch, an dem sie immer ihre Hausaufgaben machte, und öffnete das Hexenbuch.

Es sah aus wie ihr Fremdwörterlexikon. Eigentlich hatte sich Lexa ein solches Buch viel spektakulärer vorgestellt. Mit viel Glitzerzeug oder so. Magischer halt. Das Buch hatte aber nur einen Ledereinband, der alt und abgestoßen aussah. Die Seiten waren leicht vergilbt. Immerhin hatte es goldene Ecken, die aber sehr angelaufen waren.

Auf der ersten Seite stand: Dieses Buch gehört Alexandra Kuhlmann. Die Handschrift war kindlich rund und sehr sorgfältig.

Lexa starrte auf den Eintrag. Ihre Mutter war also wirklich eine Hexe gewesen?

Wieder traten Lexa die Tränen in die Augen. Ihre Mutter war wahrscheinlich so alt wie sie selbst gewesen, als sie das Buch gelesen hatte. Ob sie wohl auch ganz allein gelassen worden war, bevor sie es zum ersten Mal aufschlug?

Plötzlich verschwand der Eintrag vor Lexas Augen. Er verblasste einfach.

Lexa konnte nicht widerstehen. Sie nahm ihren Füller und schrieb sorgfältig: Dieses Buch gehört Alexa Lankenau.

Dann kochte sich Lexa einen Tee und füllte eine Milchschale für Floyd. Sie reinigte den kalten Kachelofen im Wohnzimmer, füllte ihn mit Holz und Papier und zündete ihn an.

Floyd trank etwas von der Milch, dann beschnupperte er die gesamte Einrichtung des Wohnzimmers. Als das Feuer im Ofen richtig brannte, verschwand er nach oben, kam mit dem alten Unterrock zurück, machte sich daraus auf der warmen Ofenbank ein Nest, legte sich hinein und stöhnte behaglich.

Lexa war froh, dass sie wusste, wie man Feuer machte. Sie kannte sich gut aus, weil sie ihrer Großmutter immer bei der Hausarbeit geholfen hatte.

Nun wandte sie sich ihrem neuen Buch zu und stutzte. Was ihr fehlte, war ein Zauberstab. Brauchte nicht jede Hexe einen Zauberstab? Sie hatte schließlich alle Bücher über den berühmten Magier Harry Potter gelesen und wusste daher, dass der Zauberstab das wichtigste Instrument eines Zauberers war.

Lexa schlug das erste Kapitel auf.

Es war übertitelt mit Zehn populäre Irrtümer über Hexen:

4. Zauberstab

Wieso 4.? Das war ja eigenartig. Was waren denn die ersten drei Irrtümer? Neugierig begann sie zu lesen. Die ersten Worte lauteten:

Lexa, du brauchst keinen Zauberstab.

Lexa schlug das Buch erschrocken wieder zu. Es sprach sie mit ihrem Namen an! Wie ging das denn? Dann fiel ihr aber wieder ein, dass es ja ein Zauberlehrbuch war. Da konnte man schon besondere Fähigkeiten erwarten, oder?

Also schlug sie es wieder auf.

Lexa! Schön, dass du weiterliest. Wir haben ja nicht ewig Zeit. Also: zum Zauberstab. Du brauchst keinen. Du hast deine Zeigefinger und davon sogar gleich zwei. Einen hast du also immer in Reserve. Die werden dir nicht geklaut, sondern höchstens verletzt oder mit Absicht gebrochen. Wenn man sie dir gar abschneiden sollte, hast du bereits so große Probleme, dass dir auch ein Zauberstab nicht weiterhelfen würde, weil man ihn dir zu diesem schrecklichen Zeitpunkt längst weggenommen hätte. Du brauchst auch keinen Raben und keine Eule, sondern nur eine Katze. Die sollte allerdings schwarz sein, weil dein Geschäft oft bei Nacht geschieht.