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Sissi Flegel

Engelskuss und
Weihnachtstraum

Eine Liebesgeschichte in 24 Kapiteln

Mit Illustrationen von Tina Schulte

cbj ist der Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House

Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform

1. Auflage 2013

© 2013 cbj Verlag, München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag- und Innenillustration: Tina Schulte

Umschlaggestaltung: *zeichenpool, München

MI · Herstellung: AW

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-09348-8

www.cbj-verlag.de

1. Dezember

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Ich stecke mitten im Zickenzoff.

Und das, obwohl ich nur so mittel bin, also mittelgroß und mittelhübsch. Auch meine Augenfarbe ist nur so mittel – weder direkt braun noch richtig grün. Meine Haare sind auch nur mittelblond, doch seitdem ich mir ein paar Strähnchen gefärbt habe, sehen sie besser als nur mittelhübsch aus. Sie sind nämlich so lang, dass sie mir bis weit den Rücken hinab reichen. Darauf bin ich echt stolz.

Leider bin ich nicht besonders selbstbewusst. Zum Beispiel werde ich voll verlegen, wenn mich ein Junge ansieht. Den Blickkontakt halte ich nicht aus, ich finde das peinlich und verkrümel mich. »Wie willst du einen Freund finden, wenn du zu feige zum Hallo-Sagen bist?«, schimpfte meine allerbeste Freundin immer, als sie noch hier wohnte; vor kurzem ist sie leider nach Hamburg gezogen, weshalb sie nicht mitbekommen hat, was sich in der Schule und in meinem Leben geändert hat. Doch davon später.

Meine Leistungen und meine Noten sind ebenfalls nur mittel. Macht mir aber nix aus, solange ich in Musik eine Eins hab. Musik ist mein Lieblingsfach. Meiner Familie ist das völlig unverständlich; meine Eltern haben nämlich mit Musik nichts am Hut, und meine kleine Schwester hört sowieso nur ihre Prinzessinnen-Storys. Weil mein Opa, der im Liederkranz »Eintracht« singt, gecheckt hat, dass ich schon als Baby dauernd vor mich hin gesummt hab, nervte er meine Eltern, ich müsse in die Musikschule.

Zuerst habe ich Blockflöte gespielt, dann bekam ich Klavierunterricht. Das war vor vier Jahren. Jetzt bin ich dreizehn, spiele Klavier und singe in unserem Schulchor.

Und genau deshalb, weil ich singen kann, stecke ich gerade mitten im Zickenzoff.

Das kam so:

Wir haben einen genialen Musiklehrer. Chris Löwenfeld heißt er. Weil er einfach göttlich aussieht, singen die meisten Mädchen nur seinetwegen im Chor. Oder pusten im Orchester in die Blockflöten. Ende September trommelte Chris alle vom Chor und Orchester im Musiksaal zusammen, schwenkte ein Bündel Notenblätter, lächelte verheißungsvoll und rückte mit seiner neuesten Idee heraus. »Leute«, sagte er, »wir nehmen uns was Großes vor. Ein Musical.«

»Voll der Wahnsinn! Mama Mia?«

»Nein.«

»Ich war noch niemals in New York?«

»Nein.«

»Cats?«

»Wieder nein.«

»Was denn dann?« Von der Idee selbst waren wir echt begeistert, aber weil Chris Löwenfeld gestand, er habe die Musik geschrieben, zogen wir lange Gesichter. Obwohl er natürlich fast so gut wie Beethoven oder Mozart ist, schwante uns nichts Gutes.

Und dann kam’s.

»Ich habe ein Weihnachtsmusical komponiert«, sagte er bescheiden.

»Und das sollen wir singen?«, brüllte Mick. »Das ist jetzt nicht wahr, Herr Löwenfeld. Wenn Sie an Ihr Kinderlein kommet denken, trete ich aus dem Chor aus.«

»Ich auch! Ich auch!«, schrien die meisten von uns.

»Damit habe ich gerechnet«, sagte Löwenfeld cool. »Aber das möchte ich natürlich nicht. Wie wär’s, wenn ihr euch erst mal anhört, wie ich’s mir vorstelle?« Er setzte sich ans Klavier, und was soll ich sagen? Er hatte die alten Weihnachtslieder komplett verändert; sie rockten so, dass wir direkt mittanzten. Nur die Geschichte fanden wir eben out of date.

Jedenfalls wir, die sie kannten. Aber weil natürlich auch ausländische Mitbürger in unsere Schule gehen, von denen man nicht erwarten darf, dass ihnen die Story schon seit der Kindergartenzeit erzählt wurde, verlangte Löwenfeld, dass Emil sie erst mal erzählt. Emil trägt eine Harry-Potter-Brille, hat dauerverstrubbelte knallrote Haare, ist unser Klassenclown und echt cool, obwohl er der Sohn eines Pfarrers ist, und natürlich kennt er die Geschichte familienbedingt aus dem ff. Obendrein hat er einen Notendurchschnitt von ’ner glatten Eins. Zuverlässig und jedes Jahr.

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»Die Weihnachtsgeschichte soll ich erzählen, Herr Löwenfeld? Also die geht so:

Ein Kaiser namens Augustus wollte unbedingt die Zahl seiner Untertanen wissen, weshalb er – damals gab’s ja noch kein Einwohnermeldeamt und von einer weltweit vernetzten Datenbank konnte man noch nicht mal träumen – allen Leuten befahl, sie sollen verdammt noch mal dahin gehen, wo sie geboren wurden. Damals, also vor rund zweitausend Jahren, konnte man sich natürlich noch nicht einfach ins Auto setzen, die Adresse ins Navi eingeben und losdüsen. Man musste das Pferd oder den Esel satteln, oder, wer ganz reich war, sich in ’ne Kutsche setzen. Mit dem Picknickkorb auf den Knien und ’nem Märchenerzähler auf dem Beifahrersitz, der einem die Zeit vertrieb. Nur die Armen waren natürlich so richtig mies dran; die mussten zu Fuß los, und das auch noch in der ungünstigen Jahreszeit.«

»Wieso war die Jahreszeit ungünstig?«, wollte Amanda wissen. »Ich denke, in einem Land am Mittelmeer ist immer Sommer?«

»Quatsch«, sagte Yasin sofort. »Im Winter kann’s in der Türkei oder in Syrien oder noch weiter südlich total frostig werden. Und Mann, da hat kein Haus eine Zentralheizung. Jedenfalls keines, das ich kenne«, setzte er hinzu.

»Echt?« Amanda hob ihre perfekt gezupften Brauen. »Na ja, Yasin, du wirst eben nicht in den entsprechenden Kreisen verkehren.«

Wir alle wissen, dass Amanda ein bisschen naiv ist; deshalb winkte Yasin nur ab und fragte, wie die Geschichte weitergehe.

»Sie geht so weiter«, sagte Emil, »dass eine Schwangere namens Maria mit ihrem Josef dahin wandern musste, wo sie geboren waren. Mit einem dicken Bauch ist das kein reines Vergnügen, außerdem war’s saukalt und sie waren auch nicht die Einzigen auf der Straße. Was bedeutete, dass die Unterkünfte überfüllt waren. Ich schätze mal, dass August, dieser Kaiser damals, ein harter Knochen war. Offensichtlich wollte er die Sache pronto hinter sich bringen und in null Komma gar nichts die Zahl seiner Untertanen schwarz auf weiß auf dem Tisch liegen sehen. Dem war’s auch komplett egal, dass in den Landgasthöfen das Essen ausging und die Betten hinten und vorn nicht reichten. Und wenn bei einer Schwangeren unterwegs die Wehen einsetzten, hatte sie eben Pech gehabt.

Maria hatte Pech.

Allerdings hatte sie doch ein bisschen Glück im Unglück. Sie schaffte es nämlich gerade noch bis zu einem Gasthof auf dem Land, der damals wohl Karawanserei genannt wurde.« Emils Augen leuchteten auf. »Karawanserei! Mann, das ist ein tolles Wort, finde ich; man kann sich richtig vorstellen, wie die Esel und Kamele schreien, wie’s nach teuren orientalischen Gewürzen riecht, wie Ballen schimmernder Seide abgeladen und Kästchen mit Perlen und Edelsteinen in den hauseigenen Safe geschlossen werden. Es muss eine fantastische Atmosphäre geherrscht haben, so mit verschleierten Frauen, die alle total dünn waren und geheimnisvolle, kholumrandete schwarze Augen mit plüschigen Wimpern hatten.«

»Die hättest du wohl gerne gesehen, was?« Yasin lachte fies, aber Emil ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.

»Und dann die Männer in ihren wallenden weißen Gewändern … ich kann mir vorstellen, wie mitleidig sie den armseligen Josef gemustert haben, der so abgerissen daherkam: ›Sorry, alles ausgebucht!‹

Und wie der auf die Maria mit ihrem dicken Bauch zeigte, die sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. ›Könnt ihr kein Bett für sie freimachen?‹

Wie gesagt, die Maria hatte Glück im Unglück, denn der Wirt war Gott sei Dank kein ganz so harter Knochen wie August, der Kaiser. Das Blöde war nur, dass seine Gäste für ihre Unterkunft bezahlt hatten und er beim besten Willen kein Bett herbeizaubern konnte. Na ja, obwohl im Stall die Kamele, Ochsen und Esel dicht an dicht standen, schaffte er’s, dass sie zusammenrückten und für die Maria ein Plätzchen frei wurde. Der Wirt und Josef schichteten ein paar Lagen Heu übereinander, und dann war’s auch schon so weit: das Kind wurde geboren.

Ohne Hebamme, ohne Arzt, ohne all dem Drum und Dran in Bezug auf Hygiene und so.

Aber alles ging gut.

»Nur«, fuhr Emil fort, »konnte man das Frischgeborene nicht auf dem Boden liegen lassen, die Ochsen, Esel und Kamele wären aus Versehen vielleicht drauf rumgetrampelt. Also legte Maria oder Josef oder der Wirt das Baby in einen Futtertrog, den man damals Krippe nannte.

Jetzt kommt der dritte und spannendste Teil der Geschichte; eigentlich ist’s voll Fantasy, würd ich heute mal sagen.

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Weil nämlich auf einmal Engel in den Stall flatterten. Die sangen, und natürlich müssen sie göttliche Stimmen gehabt haben, astrein müssen sie die Töne getroffen haben. Hätte ich gerne gehört, ehrlich!«

»Ich auch«, flüsterte ich, und Amanda hauchte verzückt:

»Engel mit himmlisch schönen Stimmen …«

Na ja, sie ist eben ein bisschen bekloppt.

Ich sah, wie sich Yasin an die Stirn tippte. Er zwinkerte Emil zu, der auch zwinkerte und weiter erzählte: »Dann tauchte auch noch ein riesiger Stern am Nachthimmel auf. Der bewegte sich ziemlich schnell, was ein paar Hirten auffiel, die wegen der Kälte nicht schlafen konnten und deshalb ums Lagerfeuer hockten.

Klar, dass die neugierig waren und der Sache nachgingen – kam ja nicht alle Nächte vor, so ein Wahnsinnsstern. Sie liefen ihm also hinterher. Plötzlich stoppte er überm Stall eines Gasthauses, das sich mitten im Nirgendwo befand. Zuerst dachten sie wahrscheinlich, sie seien verarscht worden, aber dann machten sie doch die Tür auf, und was war? Ein Neugeborenes lag im Futtertrog, überirdische Wesen mit Flügel am Rücken jubilierten, und dann tauchten auch noch drei Farbige in fantastischen Gewändern auf, die behaupteten, sie seien Könige.

Zuerst glaubte ihnen das keiner. Erst als sie ihre Geschenke aus den Rucksäcken zogen, gingen den Leuten im Stall die Augen auf.«

»Echt?«, quietschte Amanda. »Wieso denn?«

»Na!«, Yasin rammte ihr den Ellbogen in die Rippen. »Warum wohl? Weil die Könige nicht bloß einen Apfel und ein Bounty ins Stroh legten, deshalb!«

Emil runzelte die Stirn. »Mensch, Amanda, kennst du die Geschichte wirklich nicht?«

»Nö. Sollte ich?«, entgegnete sie und riss die Augen ganz weit auf.

Emil schüttelte nur den Kopf. »Jedenfalls – die Könige brachten das Wertvollste aus ihren Schatzkammern mit. Das war erstens«, zählte er auf, »ein Kästchen voller Goldstücke. Zweitens: Ein Beutel voll mit Weihrauchklumpen.«

»Was’n das?«, flüsterte Mareike neben mir, doch Emil hob nur die Hand. »Moment mal. Das erkläre ich gleich. Der dritte König brachte Myrrhe mit. Das hab ich neulich erst gegoogelt, Leute. Myrrhe ist ein Baum, der in Afrika und Arabien wächst und drei Meter hoch werden kann. Es ist experimentell belegt, dass die Myrrhe gegen die unterschiedlichsten Bakterienstämme und Pilze hilft. Tatsache ist, dass sie seit dreitausend Jahren als Heilpflanze verwendet wird und auch«, er grinste, »zum Einbalsamieren von Leichen. Und Weihrauch ist ein Harz, das im Altertum so kostbar war, dass die Herkunft bei Todesstrafe nicht verraten werden durfte und deshalb die Handelsstraßen überwacht wurden.«

»Wie gruselig«, sagte Amanda und verdrehte die Augen.

2. Dezember

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Als Emil die Geschichte zu Ende erzählt hatte, klingelte es. An diesem Tag war der Unterricht zu Ende, und als wir raus und zum Bus gingen, fragte Mick in die Runde: »Leute, was haltet ihr von Löwenfelds Idee?«

»Ein Musical als solches ist okay. Nur die Story ist mir zu antik«, erklärte Paul. »Ich meine: eine Geburt im Stall, und dann auch noch Engel! Also wirklich … ohne mich!«

Die meisten stimmten ihm zu, und Mick brachte die Sache auf den Punkt. »Wir könnten doch Maria und Josef als Obdachlose geben. So in Klamotten aus ’nem Spendensack …«

»Ja, und sie ziehen mit einem Wagen aus dem Supermarkt durch die Gegend …«, ergänzte Paul. »Darin transportieren sie ihre gesamte Habe, und natürlich müsste das Kind an der Autobahn oder unter einer Brücke geboren werden. Voll krass … und wenn wir grooven Zu Bethlehem geboren, müssten dazu Autos hupen und Bremsen quietschen. Ich meine, wenn schon die alten Melodien in unsere Zeit übersetzt werden, warum dann nicht auch die ganze Geschichte? Überhaupt – heute kommen Kinder in Krankenhäusern zur Welt. Von ’ner Stallgeburt hab ich noch nie nix gehört.« Paul sah uns der Reihe nach an. »Ihr etwa?«

»Dann müssten wir aber auch auf die Engel verzichten«, sagte Amanda plötzlich.

»Na und?«, fragten Paul und Mick gleichzeitig.

»Die Engel sind total wichtig«, beharrte Amanda.

»Aber Engel sieht man nicht; es würde reichen, wenn man ihre Stimmen hört.«

Amanda stampfte mit dem Fuß auf. »Engel müssen sein, ihr Blödmänner!«

»Okay«, sagte Mareike, »das sehe ich auch so. Aber wenn wir auf Engel nicht verzichten, frage ich: Wie stellt ihr euch die drei Adligen aus dem Morgenland vor?«

Mick zeigte sofort auf Murat und Yasin. »Zwei haben wir schon; den dritten treiben wir locker auf. Frag mal deinen Bruder, Yasin.«

»Kann ich erledigen«, meinte er gleichmütig und stopfte sich einen Kaugummi in den Mund. »Aber nur …«, Yasin trat von einem Bein aufs andere, »wenn ich den Wirt singen darf.«

»In der Geschichte kommt kein einziger Wirt vor«, protestierte Emil, der Pfarrerssohn.

»Ist’n Fehler. Die Leute suchten doch eine Herberge, was im Morgenland …«, er würgte, als wäre ihm schlecht, »bei uns in der Türkei oder in Syrien und so eben Karawanserei genannt wurde. Hat Emil doch schon gesagt, ihr Blödmänner.«

»Hä?« Mick kratzte sich am Kopf. »Erklär das mal genauer. Was war noch mal ’ne Karawanserei?«

»Hast vorhin bei Löwenfeld gepennt, was?« Yasin grinste. »So was wie ein Motel, wo die Reisenden und Händler nachts abstiegen. Nur dass sie nicht ihre Autos in Garagen, sondern eben ihre Kamele im Stall parkten.« Er zeigte mit dem Finger auf Mick. »Jetzt behaupte mal, in so ’ner Absteige hätte es keinen Wirt gegeben.«

Wir nickten. Klar, Yasin hatte recht. Wir brauchten einen Wirt.

»Und Engel«, beharrte Amanda. »Die drei Weisen aus dem Morgenland. Und jede Menge Hirten.« Sie spielte mit ihrem Lipgloss. »Kann mir jemand sagen, wie wir die Hirten geben könnten? Ich meine, außer den Hirten war damals ja nachts keiner auf den Feldern. Wer ist heute nachts unterwegs und schaut sich die Sterne an?«

»Liebespaare«, schrie Mick sofort und lachte wie blöd.

»Polizisten, die Streife gehen. Nutten. Taxifahrer und Obdachlose«, zählte Paul auf.

Lilli warf ihre kupfergoldene Mähne zurück. »In einem Fetzen aus dem Kleidersack singe und spiele ich nicht die Maria. Dass das mal klar ist. Überhaupt finde ich die Idee voll abartig: Maria und Josef an der Autobahn. Wenn ihr’s schon krass haben wollt, sollte das Kind in ’ner U-Bahn-Unterführung zur Welt kommen.« Sie schüttelte sich. »Ich bin für die alte Geschichte. Mit ’nem Stall, mit Ochs und Esel und einer Krippe. Da ist wenigstens noch Romantik drin.«

»He!«, protestierte Jonas. »Zeig mir den Stall, in dem heute noch ’ne Krippe steht. Ich kenne keinen.«

Weil Jonas’ Vater im nächsten Dorf einen ziemlich großen Bauernhof mit mehr als dreißig Kühen und etlichen Ziegen bewirtschaftet, lachten alle. Nur ich nicht. Erstens, weil ich seit Kurzem Jonas’ Nachbarin, und zweitens, weil ich schwer in ihn verliebt bin und mich jeden Morgen auf ihn freue, denn dann kann ich mich im Schulbus in seine Nähe setzen. Aber wie das mit dem Verlieben kam, obwohl wir nicht in dieselbe Schule gehen, berichte ich später.

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Jedenfalls – wegen Lillis Absicht, die Maria zu spielen, kam die Diskussion erst richtig in Schwung. Und weil sie und Amanda und Mareike sich verbündeten und absolut gegen eine unromantische Geburt an der Autobahn waren, überstimmten sie schließlich die Jungs, denen die Geschichte – ob alt oder auf ultramodern getrimmt – sowieso zweitrangig war. Die wollten Musik machen, und sonst nix.

Doch bis zum nächsten Treffen mit Chris Löwenfeld hatten sie sich’s dann doch nochmals überlegt und schlugen einen Mittelweg vor. »Schauplatz: Eine Hütte in den Bergen«, sagte Mick. »Wie wäre es damit?«

»Pfff«, machte Mareike geringschätzig. »Wie öde!«

»Ich bin für ’ne Tiefgarage«, sagte Jonas großspurig. »Wär doch mal was Neues.«

»Null Glanz und Glimmer. Trostloser geht’s nicht«, stellte Lilli fest. »Ohne mich, Leute.«

Wir steckten echt in einer Sackgasse.

’ne Tiefgarage, eine U-Bahn-Station, ein Parkplatz an der Autobahn oder bei Pennern unter einer Brücke kam als Schauplatz für unser Musical für uns Mädchen überhaupt nicht infrage.

Jonas und die anderen Jungs lehnten einen Stall plus Krippe komplett, weil unwahrscheinlich, ab, und eine Hütte in den Bergen fanden wir einfach deshalb öde, weil wir ja sozusagen schon in den Bergen wohnten.

Zwei ganze Chorstunden lang diskutierten wir über mögliche und unmögliche Schauplätze für unser Musical, dann, in der dritten Stunde, rückten Emil und Yasin, die beiden sind allerbeste Freunde, mit einer genialen Idee heraus.

»Yasin hat mich auf den Gedanken gebracht«, begann Emil bescheiden, »dann hab ich gegoogelt und Folgendes festgestellt. Erstens: Unter Morgenland versteht man in Europa den Erdteil, über dem morgens die Sonne aufgeht. Im Klartext sind das die Länder am östlichen Mittelmeer.«

»Zweitens«, fuhr Yasin fort, »befindet sich der Ort Bethlehem im »Morgenland«, einem Land am östlichen Ufer des Mittelmeers. Deshalb …«

» … schlagen wir als Schauplatz unseres Musicals weder so was Uncooles wie einen Autobahnrastplatz noch eine urige Hütte in den Bergen hinter unseren Häusern vor, sondern …«

Die beiden lachten sich an, dann platzten sie heraus:

»Eine Karawanserei!«

Eine Weile war’s im Musiksaal totenstill.

Dann sagte Lilli verträumt: »Überall Ballen kostbarer Seide … der Duft nach Weihrauch und Räucherstäbchen … Gold und Edelsteine …«

»Kholumrandete Augen«, setzte Mareike hinzu, »Gesichtsschleier mit Perlenborten …«

»Pantöffelchen mit aufgebogener Spitze und durchsichtige Pluderhosen … einfach himmlisch!« Amanda verdrehte wieder mal ihre Glubschaugen.

»Krummdolche«, fiel Mick plötzlich ein. »Sag mal, Yasin, tragen Araber nicht immer einen kostbaren Krummdolch im Gürtel?«

»Oje«, sagte Yasin und kratzte sich am Ohr. »Kannst du mir sagen, ob sich alle Deutschen eine Schwarzwälder Kuckucksuhr ins Wohnzimmer hängen?«

»Wieso?« Da dämmerte es Mick. »Sorry. Klar, heute trägt man einen Revolver, aber damals? Vor zweitausend Jahren?«

Wir lachten ihn aus, aber er ließ nicht locker. »Ich spiele einen Händler«, sagte er entschieden. »Komplett mit weißem Gewand, Krummdolch und Kamel.«

»Das braucht’s bei dir nicht extra«, sagte Murat. »Wo du doch eh ein Kamel bist.«

Mick winkte nur ab. »Ich geb einen Händler oder gar nichts.«

Damit war das Thema Rollenverteilung auf dem Tisch, und Lilli, unsere Klassenqueen, hob die Hand. »Ich übernehme freiwillig die Maria. Und ihr …«, sie drehte sich zu ihren zwei allerbesten Freundinnen um, »singt natürlich die Engel. Mirja, wenn du willst, kannst du Engel Nummer drei sein.«

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Unser Musiklehrer fuhr sich durch die Haare und setzte sich erst mal ans Klavier. »Das ist sehr freundlich von dir, Lilli, aber bevor wir die Rollen verteilen, beschäftigen wir uns mit Stimmbildung und üben die Chöre ein. Keine Widerrede; die Sommerferien waren lang, eure Stimmen sind eingerostet.« Er schlug ein paar Akkorde an und stand wieder auf. »Doch zuerst zum Orchester. Wir brauchen einen taktfesten Schlagzeuger. Mick? Bist du dabei?«

Mick nickte. »Wenn’s sein muss. Dann fällt für mich die Rolle eines Händlers aber flach.«

»Paul, nimmst du noch Trompetenunterricht?«

Paul zeigte auf Yasin. »Er ist besser als ich.«

»Wir nehmen euch beide«, sagte Chris Löwenfeld.

Yasin spuckte einen Kaugummi ins Taschentuch. »Geht nicht. Ich bin der Wirt.«

»Das werden wir sehen. Zunächst spielst du im Orchester die Trompete. Murat? Trommel oder Xylofon? Was ist dir lieber?«

»Blöde Frage. Trommel natürlich.«

Lana und Lukas, unsere Zwillinge, spielen seit ewigen Zeiten Geige, sieben Mädchen Flöten, zwei das Glockenspiel, vier Jungs Gitarre und so ging es weiter, bis nur noch der Klavierpart übrig blieb, den sich keiner von uns zutraute.

»Ich frag mal herum«, sagte Chris Löwenfeld schließlich. »Vielleicht bekommen wir ja Verstärkung aus anderen Schulen unseres Schulzentrums. Wenn nicht, ist das auch kein Problem. Dann spiele ich Klavier und dirigiere.«

Damit war die Stunde zu Ende. Seitdem üben wir eine Stunde pro Woche die Chöre ein, und natürlich sind alle von Mal zu Mal neugieriger, wer denn nun welche Rolle bekommen wird. Alle außer mir. Ich bin die Stütze im Sopran und scheide deshalb als Solistin von vornherein aus.

Und überhaupt, gegenüber Lilli mit ihrer kupfergoldenen Mähne bin ich nur ein mittelblondes mickriges Mäuschen. Trotz der hübschen Strähnchen in meinen langen Haaren. Ich bin nämlich, wie schon erwähnt, nicht besonders selbstbewusst. Wenn ich mir vorstelle: Ich mutterseelenallein auf der Bühne! Ich im Licht! Niemand, der mir die Hand hält! Aber unten – der Zuschauerraum voller Mütter, Väter, Kinder! Alles Leute, die mich kennen! Nicht zu vergessen die Lehrer!

Oh Gott!

Und dann Chris, der den Taktstock hebt und mir den Einsatz gibt … Ich hole Luft, öffne den Mund … und kein Ton kommt heraus! Hab den Text vergessen, weiß nicht mehr, wie die Melodie geht … Das Orchester, das noch ein paar Takte spielt … die Zuhörer, die sich räuspern oder husten, dann kichern, schließlich lachen, und mich zuletzt auspfeifen!

Mir wird heiß und kalt, wenn ich nur daran denke, ich sollte auf der Bühne ein Solo singen! Das kann ich nicht; ich bin sicher, ich würde einen totalen Blackout erleiden. Würde mich bis auf die Knochen blamieren. Den Chor, das Orchester und unseren Musiklehrer Chris Löwenfeld dazu!

Also ich und die Maria singen? Never. Das wäre mein totaler Untergang – hundert Pro.

3. Dezember

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Nun aber zu Jonas, denn das mit dem Verlieben kam so:

Die mittelgroße Stadt, in der ich und meine kleine Schwester geboren sind, liegt im Voralpenland, direkt am Fuße der Berge. Dort sind wir aufgewachsen, dort sind wir in den Kindergarten, in die Grund- und später dann auf die weiterführende Schule gegangen, und meine Freundinnen und Freunde wohnen noch dort. Nur meine Ma, meine Schwester und ich nicht mehr, denn unsere Eltern haben sich im Frühling getrennt. Im Sommer sind dann meine Ma, meine Schwester und ich in das kleine Dorf gezogen, weil da die Miete nicht so hoch ist. Früher konnten wir zu Fuß zur Schule gehen, jetzt müssen wir mit dem Bus fahren. Wenn ich mich mit meinen Freundinnen treffen möchte, zum Shoppen oder einfach nur so zu ’ner Latte und einem Schwatz, muss ich das Rad nehmen oder auf den Bus warten. Der fährt nur einmal am Nachmittag, was natürlich megablöd ist.

Trotzdem hat mir der Umzug Glück gebracht: Unser Schulzentrum in der Stadt mit Haupt- und Realschule und Gymnasium ist riesig. Wir teilen uns zwar den Pausenhof, doch normalerweise bleibt man unter sich. Jonas begegnete ich, weil er wie jetzt auch ich mit dem Bus zur Schule fuhr. Zuerst haben wir uns nicht mal angeschaut, dann haben wir uns zugenickt. Tage später setzte ich mich neben ihn, weil kein anderer Platz mehr frei war, und nach etwa einem Monat begleitete er mich zum ersten Mal nach Hause. Unser Häuschen liegt von seinem Hof, in dem er mit seiner Familie lebt, etwa hundert Meter entfernt; für ihn war das nur ein kleiner Umweg – für mich war es der Himmel auf Erden.

Es kam aber noch besser.

Kurz darauf bat er mich ums erste Date, danach trafen wir uns täglich und hingen im Dorf mit den anderen ab. Bis dann im Oktober ein satter Herbststurm übers Land fegte und wir uns in seine Scheuer flüchteten. Der Wind heulte, der Regel prasselte nur so aufs Dach – es war echt zum Fürchten. Jonas legte die Arme um mich und wollte wissen, ob ich Angst hätte. Ich nickte. Er sagte: »Wenn ich bei dir bin, passiert dir nichts.«

In diesem Augenblick heulte der Wind auf und ich meinte, jetzt würde er das Dach mit sich forttragen. Jonas lachte leise, zog mich an sich und legte seine Lippen auf meine Lippen. Obwohl es ein ganz zarter Kuss war, hörte ich nichts mehr vom Regen und vom Sturm; ich hörte nur noch Jonas’ Atem.

Nach diesem stürmischen und trotzdem himmlisch schönen Nachmittag wusste ich: Ich hatte mich schwer in Jonas verliebt – und er hatte sich in mich verliebt.

Ich tat alles, damit meine Mutter nichts mitbekam, denn seit sich meine Eltern getrennt hatten, nahm sie es mit der Aufsicht sehr genau.

Leider ist meine kleine Schwester furchtbar neugierig; immer wühlt sie in meinen Sachen herum, und neulich hat sie tatsächlich mein Handy in die Finger bekommen und Jonas’ SMS gelesen. Alle. Besonders natürlich die: »Treffen wir uns um sechs in unserer Scheune?«

Damit ist sie sofort zu unserer Mutter gerannt, und die machte mir gleich eine Szene, die sich gewaschen hatte. »Im Herbst ist es um sechs stockdunkel, Mirja! Was habt ihr in der Scheune getan? Sag mir das!!!«

Hätte ich sagen sollen: »Liebe Mutter, wir haben natürlich geknutscht.«

Ne, das geht gar nicht. Aber zu meiner Schwester habe ich gesagt, das Petzen würde ihr noch verdammt leidtun!

Das Schönste in unserem kleinen Häuschen ist der grüne Kachelofen, vor den wir unseren Esstisch gestellt haben. Er versöhnt mich mit dem Umzug aufs Land. Denn wenn ich im Rücken die Wärme spüre und dabei aus dem Fenster schaue, sehe ich sofort, wenn Jonas zu mir kommt.

Jonas ist mein erster richtiger Freund; seine Lippen sind so weich, wenn er mich küsst – davon kann ich nicht genug bekommen. Wenn er mich dann auch noch zärtlich anschaut, schwebe ich echt auf Wolke sieben und finde das Leben einfach herrlich.

Das Blöde ist jetzt aber der Zickenzoff, an dem niemand anders als Chris Löwenfeld schuld ist. In der Chorprobe hat er nämlich heute die Rollen verteilt. Eigentlich dachten wir ja alle, dass Lilli, unsere Klassenqueen, die Maria spielen wird. Deshalb sackte mir der Unterkiefer runter, als unser Musiklehrer auf mich deutete. »Du, Mirja, wirst die Maria singen.«

Aber hallo – ich hatte mich wohl verhört.

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