Kennt Prof. Schwarz
Tag und Stunde?

Die Situation kam Prof. Dr. Johannes Worch mehr als absurd vor. Da hatte er gestern in Dortmund stundenlang Studentinnen und Studenten geprüft, und nun wurde er selbst geprüft. Hier in Frankfurt an der Oder hatten sie einen Lehrstuhl für die Geschichte Brandenburg-Preußens geschaffen – das war sein Spezialgebiet und seine Leidenschaft. Und wenn es mit der Stelle klappen sollte, konnte er auch wieder nach Berlin zurückkehren, zurück nach Wilmersdorf. Seit er nach Dortmund gegangen war, lebte Corinna allein in ihrem großen Haus in der Brienner Straße. Das war auf Dauer keine Lösung, und sie hatten sich schon sehr voneinander entfremdet. Seine Ehe war nur noch zu retten, wenn er den Lehrstuhl in Frankfurt an der Oder bekam, denn von der Berliner Stadtgrenze bis zur Viadrina brauchte man mit dem Auto kaum mehr als eine Stunde.

Die Vorsitzende der Berufungskommission war eine Kollegin, von der er noch nie etwas gehört oder gelesen hatte, eine gewisse Sophie Sandow-Mahlpfuhl, und da fiel es ihm schwer, nicht arrogant zu wirken.

»Herr Worch, Sie wissen ja, dass wir hier in Frankfurt sehr auf die Nähe zu unserem polnischen Nachbarn bedacht sind und uns besonders für Themen interessieren, die mit der Geschichte beider Völker zu tun haben …«

»Eben darum möchte ich ja gern hier arbeiten.« Er verwies auf sein Werk Die Geschichte der preußischen Provinz Posen. »In meiner Arbeit habe ich auch festgehalten, dass es in Posen 1890, wenn man nach der Sprache urteilt, rund siebenhunderttausend Deutsche und etwas über eine Million Polen gegeben hat. Das ist ein Verhältnis, das wir im östlichen Brandenburg auch irgendwann einmal haben könnten, wenn die jungen Leute alle westwärts ziehen, die Alten sterben – und die Polen nachrücken.«

Seine Art, wissenschaftliche Kompetenz mit hintergründigem Humor zu verbinden, kam an. Und nachdem sie sich eine halbe Stunde lang angeregt unterhalten hatten, zweifelte er nicht im Geringsten daran, auf der beim Ministerium einzureichenden Dreierliste mit Abstand auf Platz eins zu stehen, zumal er den Eindruck hatte, dass ein Großteil seiner Kontrahenten an Sachkenntnissen nichts weiter vorzuweisen hatte als die Lektüre der Roman-Reihe Wie Berlin und Brandenburg wurden, was sie sind aus einem Berliner Verlag. Einzig Michael Massenz mochte er noch als ernsthaften Konkurrenten gelten lassen. Der kam aus Spremberg und hatte gerade seine Dissertation über die Sorben etwas ausgeweitet und in einem renommierten Verlag veröffentlicht. Aber dass er eine Gefahr für ihn darstellte, war nicht anzunehmen, zumal er kaum Lehrerfahrung vorzuweisen hatte.

Johannes Worch und Michael Massenz trafen sich auf dem Frankfurter Bahnhof. Worch wollte über Berlin nach Dortmund zurück und Massenz über Cottbus nach Spremberg.

»Ah, nach Grodk!«, rief Worch, als ihm Massenz das erklärt hatte. Grodk war der sorbische Name für Spremberg.

Massenz staunte: »Sie sind ja bestens informiert.«

Der Regionalexpress nach Cottbus fuhr ein, und Massenz musste sich verabschieden. Bald kam auch der Zug nach Berlin, und Worch machte es sich auf dem oberen Stock bequem – erster Klasse natürlich, wie es sich für einen erstklassigen Historiker gehörte.

Corinna Worch kam von einer Dienstreise aus Leipzig zurück. Sie war Juristin und hatte es bis zur Abteilungsleiterin in einer der großen Berliner Behörden gebracht. Was hätte sie, da Johannes in Dortmund saß, auch anderes machen können als Karriere? Sie war nicht nur in der Verwaltung, sondern auch in der SPD tätig und konnte bei der nächsten Regierungsbildung damit rechnen, zumindest Staatssekretärin zu werden. Dennoch war sie therapiebedürftig. Ein Glück, dass ihre Freundin Claudia am Südkreuz auf dem Bahnhof stand, um sie abzuholen. Sie umarmten sich lange.

»Glaub mir, Conny, wenn Johannes erst den Lehrstuhl in Frankfurt / Oder bekommen hat und wieder jeden Tag in Berlin ist, wird wieder zusammenwachsen, was zusammengehört.«

Corinna Worch löste sich von der Freundin und griff nach ihrem Rollkoffer. »Können zwei Menschen, die sich hassen, zusammengehören? Und mit meiner Partei habe ich auch nur Ärger. Ich bin auf einem Bauernhof groß geworden, und da haben wir uns als Kinder manchmal den Spaß gemacht, für unser halbes Dutzend Katzen nur einen Futternapf hinzustellen. Genauso geht es bei uns zu, wenn der Kampf um die raren Futternäpfe entbrennt. Da passt die Steigerung Feind, Todfeind, Parteifreund.«

Claudia lächelte ironisch. »Anders als im normalen Arbeitsleben: Da lieben sich alle.«

»Man kann das nur überleben, wenn man zu Hause jemanden hat, mit dem man über alles reden und bei dem man sich mal so richtig ausweinen kann.«

»Womit wir wieder bei Johannes wären«, murmelte die Freundin.

»Genau!« Corinna Worch kam nicht los von diesem Thema. »Er war nie zu Hause, und wenn er doch zu Hause war, dann hat er mich meistens niedergemacht, anstatt mich zu stützen.«

Sie gingen zum Parkplatz. Vom Bahnhof Südkreuz bis zur Brienner Straße waren es höchstens sechs, sieben Minuten, falls die A 100 nicht gerade wieder zwischen Innsbrucker Platz und Funkturm völlig verstopft war. Sie hatten Glück und kamen in flottem Tempo zum Abzweig Steglitz. Nun mussten sie rechts auf die Berliner und anschließend links auf die Brienner Straße einbiegen. Höhepunkt ihrer kleinen Sightseeing-Tour war der Friedhof Wilmersdorf mit seiner monumentalen Trauerhalle.

»Habt ihr hier euer Familiengrab?«, wollte Claudia wissen.

Corinna Worch lachte bitter. »Ja, natürlich habe ich mir schon eine Grabstätte ausgesucht, denn als ich Johannes neulich gefragt habe, ob er an Scheidung denke, hat er geantwortet: ›Ich denke eher an Mord.‹«

Wer Berlin nicht genauer kannte, hätte nie vermutet, dass sich gleich hinter dem wuseligen Fehrbelliner Platz und östlich des Hohenzollerndamms, der als Fortsetzung der Stadtautobahn anzusehen war, ein kleines Villenviertel versteckte. An der Mansfelder, der Kaub- und der Brienner Straße gab es ansehnliche Wohnobjekte, so auch das von Johannes und Corinna Worch.

»Ist dein Mann zu Hause?«, fragte Claudia.

»Nein, nach der Anhörung in Frankfurt wollte er nur ein paar Tage in Berlin bleiben und dann gleich wieder nach Dortmund, aber so genau weiß ich das nicht.«

Die beiden Freundinnen betraten das Haus, schalteten das Licht ein und gingen daran, alles für einen gemütlichen Abend vorzubereiten.

»Im Keller ist mehr Wein, als mancher Händler hat«, sagte Corinna Worch. »Und etwas zu essen hole ich aus der Tiefkühltruhe. Soll ich uns Scampi braten?«

»Ja, gerne.«

Sie stiegen die Kellertreppe hinunter. Hier war alles so sauber und ordentlich, dass Claudia es kaum fassen konnte, wenn sie an die Unordnung in ihrer Wohnung dachte. »Und gleich zwei Tiefkühltruhen habt ihr!«, rief sie. »Und eine ist so groß wie die im Supermarkt.«

»Ja, die ist aber erst letzte Woche geliefert worden und noch leer.«

Gunnar Granow galt bei seinen Kollegen als Exot, weil er seine Schwiegermutter mochte. Eigentlich jedenfalls. Sabine, gelernte Kindergärtnerin, mischte sich nicht in seine Angelegenheiten ein, sie kümmerte sich rührend um ihre Enkelkinder, sie war immer da, wenn man sie brauchte. Dennoch nervte sie ihn gehörig, denn es schien ihm, als sei sie Fontane begegnet und habe den zur Formulierung einer seiner schönsten Sentenzen angeregt: … das ist immer das Schlimme, dass die Menschen gerade die Passion haben, die sie nicht haben sollen. Die große Leidenschaft seiner Schwiegermutter waren Kreuzworträtsel, während man ihre Allgemeinbildung aber bestenfalls mit mangelhaft bewerten konnte. Das führte dazu, dass sie ihn andauernd nach etwas fragte.

Er las gerade in der Fachzeitschrift Kriminalistik einen Artikel über kognitive Verzerrungen bei polizeilichen Analysen. Der Autor Civelli hieß mit Vornamen Ignaz, was auf eine schwere Kindheit schließen ließ. Sechzehn Wahrnehmungsfallen hatte er aufgelistet, und Granow beschäftigte sich gerade konzentriert mit der vierten, der Selbstwertdienlichen Verzerrung, die folgendermaßen beschrieben wurde:

Ein Analyst, der unter nagenden Zweifeln an seinen analytischen Befähigungen leidet, vermag im Polizeialltag nicht zu bestehen. Überschätzt der Analyst hingegen seine eigenen analytischen Fähigkeiten zu sehr, so beeinträchtigt dies seine professionelle Analysekompetenz.

»Gunnar, in meinem Kreuzworträtsel ist nach einem Trauerspieldichter gefragt«, bemerkte seine Schwiegermutter.

Granow sah auf und überlegte. »Was haben wir für Trauerspiele? Emilia Galotti von Lessing.«

»Zu kurz.«

»Nehmen wir Hauptmann, Rose Bernd, das ist länger.«

Seine Schwiegermutter probierte es. »Hauptmann ist zu lang. Das gesuchte Wort hat acht Buchstaben.«

Granow dachte weiter nach. »Goethe und Hebbel sind dann zu kurz, und sonst fällt mir keiner ein. Hast du denn den ersten Buchstaben schon?«

»Nein«, musste sie bekennen.

»Was wird denn in der Zeile oben waagerecht gesucht?«

»Mexikanischer Indianer mit sechs Buchstaben.«

»Azteke.«

»Was du alles weißt!«, rief seine Schwiegermutter.

»Danke. Womit fängt denn nun der Trauerspieldichter an?«

»Mit Z.«

»Wie hast du denn Azteke geschrieben?« Er warf einen kurzen Blick auf ihre Rätselzeitschrift. »Du, erst kommt das Z und dann das T. Also Trauerspieldichter mit T.« Doch keiner fiel ihm ein. Also griff er zum guten alten Lexikon. »Dichter mit T? Tagore, Rabindranath – nein. Theodorakis, Mikis – auch nicht. Thoma, Ludwig – nein. Tieck, Ludwig – wieder Fehlanzeige. Trakl, Georg. Traven, B. – ich geb’s auf! Dann musst du eben warten, bis sie im nächsten Heft die Auflösung abgedruckt haben.«

»Nein, das geht nicht! Bleiben Felder leer, dann kann ich nicht einschlafen.«

»Mensch!« Jetzt war Granow doch die Lösung eingefallen. »Sie suchen gar keinen einzelnen Dichter, sondern nur ein Synonym für Trauerspieldichter. Prüf mal, ob Tragiker passt.«

»Ja, wunderbar!«

Granow wandte sich wieder seiner Fachzeitschrift zu. Er war gerade am sechsten Punkt seines Artikels angelangt – Handeln auf Grund einer Realitätsillusion –, da kam die nächste Frage seiner Schwiegermutter.

»Gunnar – ungebetener Gast?«

Ehe Granow »Du!« ausrufen konnte, klingelte sein Telefon.

Es war der Koordinator der Berliner Mordkommissionen. »Gunnar, Toter in der Tiefkühltruhe!«

»Wie viele Buchstaben?«

Der Kollege war schlagfertig. »Fünf.«

Jetzt war es an Granow, verwirrt zu sein. »Wie?«

»Worch, Professor Doktor Thomas Worch, Historiker in Dortmund.«

»Da soll ich jetzt nach Dortmund fahren? Na schön, aber nur, wenn Borussia spielt.«

»Der Mann hat einen Lehrstuhl an der Uni Dortmund, aber ein Haus in Berlin, in der Brienner Straße, gleich am Fehrbelliner Platz. Und da haben ihn seine Frau und deren Freundin in einer großen Tiefkühltruhe gefunden, einer sogenannten Handelstiefkühltruhe«, erklärte ihm der Koordinator.

»In den USA lassen sich viele einfrieren, weil sie hoffen, dass man sie fünfhundert Jahre später, wenn die Medizin fortgeschritten ist, wieder zum Leben erwecken kann.«

»Komm, setz dich ins Auto und fahr los!«

Granow, auf das Ausführen von Befehlen gedrillt, kam dem umgehend nach, und da es beim Zusammensein mit seiner Schwiegermutter doch ein wenig am erotischen Kribbeln gefehlt hatte, rief er, kaum dass er aus der Garage gerollt war, seine schöne Staatsanwältin an.

Frau Dr. Monique Müller-Linthe freute sich in der Tat, von ihm mitgenommen zu werden. »Erst dachte ich, Sie wollten mich auf den Arm nehmen«, sagte sie, als sie eingestiegen war. »Tote Babys in Tiefkühltruhen haben wir ja ab und an einmal und in Brandenburg – schrecklich! –, öfter auch einzelne Leichenteile. Aber ein ganzer Professor!«

»Möglicherweise war es ein Selbstversuch«, sagte Granow. »Der Mann war Historiker. Vielleicht wollte er einmal am eigenen Leibe erfahren, wie es so gewesen sein könnte, als den Menschen zu Beginn der Eiszeit langsam der Verstand eingefroren ist.«

»Sie scherzen!«

»Ja, aber wie meine Schwiegermutter immer sagt: Die Welt wird von Tag zu Tag verrückter. Es gibt heutzutage die skurrilsten Arten, zu Tode zu kommen.« Er verwies auf ein Buch von Wendy Northcutt. »Da haben auf den Philippinen Kriminalbeamte neben einem Eimer voll TNT eine Zigarettenpause gemacht. Und ein Schwertschlucker hat ersatzweise einen Regenschirm genommen und aus Versehen auf den Knopf gedrückt, so dass der sich in seinem Schlund geöffnet hat. Und so weiter.«

Die Staatsanwältin verfolgte einen anderen Gedanken. »Ich kann mir vorstellen, dass jemand den Toten in die Riesentiefkühltruhe gelegt hat, damit man den genauen Zeitpunkt des Todes nicht mehr feststellen kann.«

Granow lächelte. »Trotzdem kann Professor Schwarz Tag und Stunde feststellen.«

»Na hoffentlich!«

***

Prof. Schwarz saß mit seiner geliebten Enkeltochter in einem Eiscafé am Strausberger Platz und war glücklich. Die Sonne schien, man schaute auf die sprudelnden Fontänen des Springbrunnens, und Nora war mit ihrem Eisbecher beschäftigt. Das Eisschlecken hielt sie aber nicht davon ab, eifrig über einen »ganz doofen« Klassenkameraden zu berichten. Die Rolle des Großvaters beschränkte sich darauf, immer wieder zu nicken und »Hm« zu brummen. Schwarz hätte noch stundenlang so sitzen können, doch das Klingeln seines Mobiltelefons beendete die Idylle.

Es meldete sich Theresa Marotzke. »Hallo, Professor, wir haben hier einen super-coolen Kollegen von Ihnen. Die Staatsanwältin und mein Chef möchten Sie möglichst bald hier sehen. Brienner Straße in Wilmersdorf, nahe Fehrbelliner Platz.«

»Ich komme«, erwiderte Schwarz. »Ich muss nur noch meine Enkeltochter unterbringen und werde wohl Mutter und Großmutter beim lange geplanten Sonnabend-Shopping stören müssen. Aber was heißt denn ›Kollege‹? Es geht doch nicht etwa um einen Rechtsmediziner – unsere ›Fachfamilie‹ ist klein.«

»Nein, keine Sorge. Kollege war nur auf die Professur bezogen, der Tote war wohl Historiker. Und ›cool‹ sollte meinen, dass er in einer Tiefkühltruhe liegt.«

»Na, das wird ja richtig interessant. Hoffentlich hat die Truhe Energieklasse A, sonst bekommen wir es noch mit den Umweltaktivisten zu tun.«

Nora sah ihren Großvater ernst an. »Ich weiß schon, du musst zum Einsatz. Schade. Ist ein Freund von dir gestorben?«

Schwarz beruhigte die Kleine »Nein, nein, ich kenne den Mann gar nicht. Jetzt gebe ich dich bei deiner Mama ab, und dann muss ich weiter zur Arbeit.«

Als die sanfte Frauenstimme seines Navigationsgerätes Schwarz verriet, dass er sein Ziel erreicht hatte, sah er auch schon den Streifenwagen und den Polizeiposten an der Haustür.

Der Polizist nickte freundlich. »Guten Tag, Professor Schwarz, bitte geradezu in den Keller!«

Dort empfingen ihn neben der Staatsanwältin auch Granow und Marotzke von der Mordkommission. Zwei Kriminaltechniker packten gerade ihre Einsatzkoffer aus.

Die Staatsanwältin Dr. Müller-Linthe gab eine erste Übersicht. »Der Tote heißt Johannes Worch, 47 Jahre, Professor für Geschichte in Dortmund, hat aber hier im Haus eine Wohnung. Seine Ehefrau hat ihn gefunden und identifiziert. Wir brauchen vor allem die Todesursache und die Todeszeit.«

Schwarz nickte. »Mit der Todesursache werden wir kaum Probleme kriegen, so gut wie die Leiche gekühlt wurde. Das kann nur etwas dauern. Aber mit der Todeszeit … Na, schauen wir mal. Kann ich denn schon anfangen?«

Der Kriminaltechniker schüttelte den Kopf. »Wir brauchen noch zirka eine halbe Stunde, vor allem um Fingerabdrücke und DNS-Spuren an der Truhe zu sichern.«

»Gut«, stimmte Schwarz zu, »wir gehen währenddessen wieder an die Sonne.«

Die Staatsanwältin zündete sich dort eine Zigarette an und wandte sich an Schwarz. »Tut mir leid, dass wir Ihren Sonnabend mit dem Enkelkind gestört haben.«

»Glücklicherweise lässt sich das ja wiederholen. Aber diesen Tiefkühlfall hätte ich mir ungern entgehen lassen. Ich habe den Eindruck, dass das allmählich in Mode kommt, wenn auch eher mit Säuglingen oder Leichenteilen. Insofern ist die Vorgehensweise nicht ganz neu, aber ein vollständiger Erwachsener – das ist doch eine Premiere für mich. Ich muss Sie jetzt schon darauf vorbereiten, dass frühestens morgen am Nachmittag mit der Sektion begonnen werden kann, sollte unser Mann völlig durchgefroren sein. Das zeigt unsere Erfahrung mit Erfrorenen, die bei starkem Frost erst nach Tagen im Freien gefunden wurden.«

»Die Truhe war auf minus achtzehn Grad eingestellt. Bei unserem Eintreffen haben wir minus sechzehn Grad gemessen«, warf der Kriminaltechniker ein.

Und Granow ergänzte: »Die Ehefrau ist sich aber nicht sicher, wie lange die Truhe nach der grauenvollen Entdeckung geöffnet war.«

Dann begann Schwarz mit der Leichenschau. Granow und die beiden Kriminaltechniker hoben den steif gefrorenen Leichnam aus der Truhe und legten ihn auf eine ausgerollte Folie. Der Tote war vollständig mit Anzug und Schuhen bekleidet. Schwarz und die Kriminaltechniker schossen mehrere Übersichts- und Detailfotos. Schwarz diktierte seine Befunde der »Äußeren Besichtigung« und registrierte eine Platzwunde am Hinterkopf, mehrere fleckförmige Hautabschürfungen an der linken Stirnseite, am Nasenrücken, am linken Jochbeinbogen und an beiden Handrücken. Die Kleidung öffnete er, soweit es möglich war. »An eine vollständige Entkleidung ist hier nicht zu denken, es sei denn, wir zerschneiden die Sachen.« Dabei blickte Schwarz fragend zur Staatsanwältin.

Die bat ihn, damit noch zu warten.

Danach wandte er sich an die interessiert zuschauenden Vertreter von Justiz und Polizei. »Ich kann gar nichts zu eventuellen inneren Verletzungen sagen. Der Leichnam ist steinhart, offenbar durchgefroren und braucht Zeit zum Auftauen. Aber es gibt äußere Verletzungen, sie sind Folgen stumpfer Gewalt und passen am ehesten zu einem Sturzgeschehen. Die Hautabschürfungen, insbesondere aber die Kopfplatzwunde sollten Spuren am Ereignisort hinterlassen haben. Die Todeszeitbestimmung wird schwierig. Unser übliches Programm mit Totenflecken, Totenstarre, Leichenkälte, mechanischer und elektrischer Erregbarkeit der Muskulatur und so weiter ist hier nicht anwendbar. Bis jetzt gibt es zwei Hinweise. Erstens: Das komplette Durchfrieren des Körpers hat wahrscheinlich mindestens 24 Stunden gedauert. Zweitens: Die Horn- und Bindehäute der Augen sind deutlich vertrocknet, und die Abschürfungen an Gesicht und Händen zeigen Vertrocknungen leichteren Grades. Das würde auch zu einer Lagerung in der Truhe von über 24 Stunden passen. Aber mehr nach der Obduktion! Diesmal liegen die Möglichkeiten zur Klärung der Todeszeit vielleicht eher auf der Seite der Ermittlungen. Es muss doch rauszukriegen sein, wann der Professor Worch zuletzt lebend gesehen wurde. Ach ja, noch etwas, die Totenflecke sind auffallend hellrot. Das dürfte hier ein reiner Kälteeffekt sein. Ich meine, der ist nach dem Tode eingetreten, denn die Fingernägel sind ziemlich dunkel livide.«

Der Erste Kriminalhauptkommissar Granow startete noch einen letzten Versuch. »Robert, ist der Mann denn nun durch Unterkühlung gestorben oder tot in die Truhe geraten?«

Die Reaktion von Schwarz war ungewohnt kühl. »Ich dachte, das hatten wir geklärt, Gunnar. Wir müssen die Obduktion abwarten. Ich will mich trotzdem zu einer vorsichtigen Vermutung hinreißen lassen. Es erscheint mir wahrscheinlicher, dass Worch erst nach einer tödlichen Gewalteinwirkung oder einem Tod aus anderer Ursache in die Truhe geraten ist. Ich meine doppelte Totenflecksysteme zu sehen – aber das ist bei dem jetzigen Kenntnisstand nicht sicher.«

»Was sind doppelte Totenflecke?«, fragte die Staatsanwältin.

Da antworteten Schwarz und Granow fast im Chor: »Die liegen an der Körpervorder- und -rückseite.«

Schwarz ergänzte: »Das passiert nur, wenn der Tote nach einigen Stunden umgelagert wurde.« Danach packte Prof. Schwarz seine Einsatztasche und verabschiedete sich mit den Worten »Wir sehen uns morgen um 16 Uhr im Sektionssaal«.

Am nächsten Tag führte der Rechtsmediziner die Staatsanwältin und die Kommissare zu dem Leichnam. »Wir haben unsere Tiefkühlleiche seit gestern bei Raumtemperatur liegen lassen, wie es aussieht, mit Erfolg.« Schwarz begrüßte den Assistenten Dr. Krell und den Sektionsassistenten Walter Mann. »Vorgehen wie immer. Ich hoffe, der Tote ist jetzt ausreichend aufgetaut. Herr Mann entkleidet vorsichtig Schicht für Schicht, und wir schauen. Alles Wichtige der ›Äußeren Besichtigung‹ wird von mir diktiert.«

Und so arbeitete das Team sich vorwärts. Die Kleidung wurde sorgfältig ausgebreitet.

Schwarz untersuchte die wertvolle Uhr und tat sie in einen Asservatenbeutel. An dem entkleideten Leichnam demonstrierte er den Besuchern die Totenflecke. »Sehen Sie, wir finden einmal die typische Hypostase, das heißt Blutsenkungsfülle, an der Körpervorderseite, wenn auch recht schwach ausgeprägt, und dann deutlicher an der Rückseite. Wir schließen daraus, dass der Tote nach etwa sechs bis acht Stunden von der Bauchlage in die Rückenlage verbracht wurde, in der er dann aufgefunden wurde.«

Es folgte die detaillierte Untersuchung aller Körperregionen mit besonderer Beschreibung und fotografischer Dokumentation der Verletzungen. Schließlich konnten die Rechtsmediziner mit der »Inneren Besichtigung« fortfahren. Mit besonderer Sorgfalt wurde der Schädel präpariert. Ebenso wurde die Wirbelsäule dargestellt, zuerst von der Rückenseite freigelegt, dann nach Entnahme der inneren Organe von vorne. Bevor Schwarz zum »Vorläufigen Gutachten« überging, demonstrierte er die wichtigsten Verletzungen. »Entscheidend für den Tod ist diese schwere Hirnprellung bei einem Bruch von Schädeldach und -basis. Weiterhin gibt es einen Bruch des vierten und fünften Halswirbelkörpers. Wie Sie hier sehen, ist darunter das Rückenmark gequetscht. Ich fasse jetzt zusammen.«

I. Sektionsergebnis
Leiche eines bekannten, 47 Jahre alten, 179 cm großen und 78 kg schweren Mannes.
Näher beschriebene Platzwunde der Kopfschwarte am Hinterhaupt, korrespondierende Fraktur von Schädeldach und -basis mit schwerer Hirnprellung.
Näher beschriebene Halswirbelfrakturen mit Halsmarkquetschung. Mehrfache fleckförmige Hautunterblutungen und -abschürfungen am Gesicht, an beiden Handrücken und Kniegelenken.
Bluteinatmungsherde beider Lungen. Kleinfleckige Unterblutungen der Herzinnenhaut.
Kleiner Nierenbeckenstein links.
Geringe allgemeine Arteriosklerose.

II. Todesursache: schweres Schädel-Hirn-Trauma und Bruch der Halswirbelsäule.

III. Es handelt sich um einen Tod aus nicht-natürlicher Ursache.

IV. Nach dem Ergebnis der quantitativen Alkoholbestimmung aus Schenkelblut und Urin lag zum Zeitpunkt des Todeseintritts keine alkoholische Beeinflussung vor.

V. Der Betroffene wurde am gestrigen Tag tiefgefroren in einer Tiefkühltruhe im Keller seines Wohnhauses aufgefunden. Das bei der äußeren Besichtigung vorgefundene doppelte Totenflecksystem lässt darauf schließen, dass sich der Betroffene nach dem Todeseintritt zuerst für mehrere Stunden in Bauchlage befand und nach ca. 6 bis 8 Stunden in Rückenlage verbracht wurde. Als Todesursache ist zweifelsfrei die schwere Verletzung des Schädels und der Halswirbelsäule festzustellen. Sie ist Folge stumpfer Gewalteinwirkung, wozu am ehesten ein mehrzeitiges Sturzgeschehen geeignet erscheint.

VI. Zur Frage der vitalen Einwirkung tiefer Temperaturen ist festzustellen, dass die Sektion an Haut und inneren Organen keine Zeichen der Unterkühlung ergab. Histologische und histochemische Untersuchungen von Gewebsproben der Haut und innerer Organe werden noch zur Frage der Vitalität durchgeführt.

VII. Die Bestimmung der Todeszeit ist im vorliegenden Fall sehr schwierig. Bis zum Zeitpunkt der Auffindung sollten aber mindestens 24 bis 36 Stunden vergangen sein.

VIII. Zur Frage einer eventuellen toxischen Beeinflussung wurde entsprechendes Organmaterial einer chemisch-toxikologischen Analyse zugeführt.

IX. Die Obduzenten behalten sich ein endgültiges Gutachten ausdrücklich vor.

X. Prof. Dr. med. Robert Schwarz, Dr. med. Hans Krell

Granow fasste die Meinung der Kriminalisten zusammen. »Haben wir das richtig verstanden: Wir haben jetzt nur noch Ort, Zeitpunkt und Ursache des tödlichen Sturzes zu klären?«

»Also ganz einfach«, fügte Marotzke spöttisch hinzu.

Da ergriff Schwarz das Wort. »Der klassische Ort für so ein mehrzeitiges Sturzgeschehen wäre eine Treppe. Ein Treppensturz würde alle Verletzungen von Johannes Worch einschließlich der tödlichen Befunde erklären. Vielleicht findet ihr ja entsprechende Spuren in seiner Wohnung oder seinem Treppenhaus. Mehr Glück braucht ihr sicher für die Aufdeckung der Ursache seines Sturzes.«

»Und wie sollen wir das Alibi von Tatverdächtigen prüfen, wenn die Todeszeit so unsicher ist?«, fragte die Staatsanwältin.

»Da kämen wir weiter, wenn ich entsprechende Kühlversuche unternehmen könnte. Dazu bräuchten wir eine frische Leiche mit 78 kg Körpergewicht und vergleichbarer Kleidung, die wir in eine typengleiche Truhe bei minus achtzehn Grad deponieren.«

Die Staatsanwältin machte ein erschrockenes Gesicht. »Das kann ich nicht genehmigen! Ganz abgesehen davon – wie wollen Sie denn die passende Leiche finden? Ohne den zustimmenden Willen des Verstorbenen oder seiner Hinterbliebenen sehe ich rechtliche Probleme. Und denken Sie an die Boulevardpresse, wenn die das mitkriegt!«

»Dann nehmen wir eben ein passendes Schwein als Versuchsobjekt«, schlug Schwarz vor. »Auch das ist natürlich ein großer Aufwand. Oder Sie vertrauen meiner Intuition in Kombination mit detaillierten Untersuchungen. Danach ist der Tod des Professors Worch vor genau drei Tagen gegen 17.10 Uhr eingetreten.«

Jetzt konnte man eine Stecknadel fallen hören. Alle schauten zu Prof. Schwarz, der seinen Auftritt sichtlich genoss.

»Wie haben Sie denn das herausgefunden?«, fragte die Staatsanwältin.

Granow machte ein nachdenkliches Gesicht und sagte zu dem Rechtsmediziner: »Robert, du nimmst uns jetzt auf den Arm. Nach diesem Zeitraum ist eine präzise Todeszeitbestimmung doch gar nicht mehr möglich. Das hast du auch bisher nie gemacht. Also rück schon raus mit der Sprache!«

»Dann werde ich mein Geheimnis verraten«, freute sich Schwarz. »Der Tote trug eine Armbanduhr, teures Stück der Marke Cartier, 750er Gold, Automatik. Die hat einen gewaltigen Schlag erhalten, erkennbar an der Delle im Gehäuse und dem Sprung im Deckglas. Die ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bei dem Sturz stehengeblieben – vor drei Tagen um 17.10 Uhr. Ich habe die Uhr schnell bei den Asservaten verschwinden lassen, weil ich ihre Bedeutung von Anfang an erkannt hatte.«

»Also, da überlege ich mir, ob ich nicht ein Strafverfahren wegen Unterschlagung von Beweismitteln gegen Sie einleite«, meinte die Staatsanwältin lachend.

Und Granow brummte: »Robert, das zahle ich dir heim. So seine alten Freunde und erfahrene Ermittler zu verscheißern! Aber gut, damit haben wir jetzt einen Anhaltspunkt, für welche Zeit wir Alibis zu prüfen haben. Eigentlich wäre die Uhr ja unser Revier gewesen.«

»Darüber streiten sich allerdings die Gelehrten«, erwiderte Schwarz. »Nach meiner Philosophie ›gehört‹ die Leiche und alles an der Leiche dem Rechtsmediziner.«

»Ihre Theorie hat einen Haken, Professor«, warf Theresa Marotzke ein. »Mit Ihrer Zeitangabe können Sie doch nur die Zeit des Sturzes meinen, wir wollen aber die Todeszeit wissen.«

»Ich merke, Sie denken mit«, stimmte ihr Schwarz zu. »Aber das habe ich schon bedacht. Die schwere Verletzung von Gehirn und Halsmark hat das Opfer bestenfalls noch Minuten überlebt, also gibt es keine relevante Zeitabweichung zwischen Sturz und Todeseintritt.«

Mit den Worten »Dann können wir uns wieder an unsere Arbeit machen« verabschiedeten sich die Kriminalisten.

Auch Frau Dr. Müller-Linthe wandte sich zum Gehen, musste aber vorher noch einen an Schwarz gerichteten scherzhaften Tadel loswerden. »Wehe, wenn Sie uns noch einmal so auf den Arm nehmen, Herr Professor!«

***

Sie kannten nun den Tathergang und wussten ziemlich genau, wann Johannes Worch getötet worden war, aber das sei, so Granow, auch nicht mehr als das Wissen, dass zwei mal zwei gleich vier war. Nun, es kam zwar nicht die ganze Menschheit als Täter in Frage, aber es gab doch mehr Verdächtige, als ihnen lieb sein konnte. »Da hätten wir erst einmal all jene Studierenden, die bei ihm durchgefallen sind und sich von ihm schlecht behandelt fühlten«, begann Granow mit der Aufzählung. »Plus der Doktoranden, die Angst hatten, dass er sie beim Plagiat erwischt«, fügte Theresa Marotzke hinzu. »Kommen die lieben Kollegen hinzu, die ihn gehasst haben könnten, warum auch immer«, fuhr Granow fort. »Und als letzte Gruppe haben wir noch seine engen Bezugspersonen von der Ehefrau über den Schwiegervater bis zur Geliebten.« »Die Zufallstäter nicht zu vergessen«, beendete Theresa Marotzke die Aufzählung. »Der Einbrecher zum Beispiel, den er in seiner Villa überrascht hat.« »Wo fangen wir an?« Das war rein rhetorisch gefragt, und Granow gab sich auch gleich selbst die Antwort. »Natürlich bei seiner Frau.« Theresa Marotzke blickte ungläubig zu ihm hinüber. »Du meinst, die war es selber?« »Nein, obwohl ja nichts ganz auszuschließen ist, aber sie kann uns am besten sagen, bei wem ihr Mann auf der Abschussliste gestanden haben könnte.«

Sie fuhren also in die Brienner Straße, diesmal mit Granows Wagen, trafen aber Corinna Worch nicht an. Nachbarn verrieten ihnen, dass sie es nicht ausgehalten habe, sich allein in der »Mordvilla« aufzuhalten, und zu ihrer Freundin Claudia gezogen sei. Deren Telefonnummer hatte man, und so bekam Granow schnell heraus, dass sie nach Westend in die Bayernallee zu fahren hatten.

Corinna Worch sah aus, als würde sie jeden Augenblick kollabieren. Granow fragte sich, ob es der Tod ihres Mannes war, der ihr so zusetzte, oder die Angst um ihre politische Karriere, denn wie immer die Sache ausgehen sollte, etwas blieb immer hängen.

»Wir bitten um Verständnis, dass wir alles noch einmal aufwühlen müssen und Sie damit zusätzlich belasten«, begann er. »Aber es ist unsere Pflicht, den Täter ausfindig zu machen.«

»Ja, selbstverständlich. Fragen Sie nur!« Sie trank die Tasse Beruhigungstee aus, die ihre Freundin für sie gekocht hatte. »Darf Claudia bei unserem Gespräch dabei sein?«

»Eigentlich nicht …«

Nachdem die Freundin das Wohnzimmer verlassen hatte, baten Granow und Marotzke Corinna Worch zu erzählen, wie sie beide nach Hause gekommen waren und den Toten gefunden hatten. Dies sozusagen zur Aufwärmung, aber auch um etwaige Widersprüche zu entdecken. Die gab es aber nicht.

Theresa Marotzke stellte dann die erste relevante Frage. »Wie war denn das Verhältnis zu Ihrem Mann?«

Corinna Worch zögerte einen Augenblick mit einer Antwort. »Wenn ich jetzt sage, dass es denkbar schlecht gewesen sei, dann komme ich als Täterin in Frage. Behaupte ich aber, es sei wunderbar gewesen, dann werden Sie bald von anderen die Wahrheit hören, und wieder bin ich verdächtig.«

»Sie haben ja das Alibi, zur vermuteten Tatzeit in Leipzig gewesen zu sein«, begann Granow. »Aber von Leipzig ist man mit dem Zug in einer guten Stunde in Berlin, und Hotels kann man auch verlassen, ohne dass es an der Rezeption jemand bemerkt.«

»Danke für Ihre Offenheit!«, rief Corinna Worch. »Aber wo sind die Fakten, die das belegen? Ohne die werden Sie keinen Untersuchungsrichter dazu bringen, mich in Untersuchungshaft zu nehmen.«

Theresa Marotzke machte eine Handbewegung, die sie beruhigen sollte. »Nicht so heftig, Frau Worch, bitte! Wenn Sie die Sache nüchtern sehen, dann werden Sie zugeben müssen, dass wir gar nicht anders handeln können.«

Granow staunte, dass die verehrte Kollegin imstande war, auch druckreifes Deutsch zu reden, und verlor darüber fast den Faden. »Ja, äh …«

»Wenn Sie es nicht waren, Frau Worch, dann muss es doch jemand anders gewesen sein, logo!« Theresa Marotzke lief langsam zur Höchstform auf. »Und wer fällt Ihnen da ein, wenn Sie einmal nachdenken würden …«

»Zuerst fällt mir da der Monteur ein, der uns diese dreimal verfluchte Riesentiefkühltruhe angeschlossen hat. Sie hat und hat nicht richtig funktionieren wollen, sooft er auch gekommen ist, um sie zu reparieren. Zum Schluss hat es einen Riesenkrach mit meinem Mann gegeben, und sie sind wohl sogar mit den Fäusten aufeinander losgegangen.«

»Sie können also nicht ausschließen, dass die Tiefkühltruhe, als Sie in Leipzig waren, wieder einmal kaputtgegangen ist und der Monteur Ihren Mann nach einem heftigen Streit die Kellertreppe hinuntergestoßen hat?«, hakte Theresa Marotzke nach.

»Sie sagen es, Frau Marotzke.«

Granow fragte sich, ob Theresa Marotzke den VHS-Kurs »Hochdeutsch für Berliner« mit einer »Eins plus« abgeschlossen hatte, und hatte Mühe, sich weiter auf das Gespräch mit Corinna Worch zu konzentrieren. Nachdem sich Theresa Marotzke den Namen des Monteurs aufgeschrieben hatte, Michael Witschel, kam Granow auf die Studenten zu sprechen, die Johannes Worch womöglich bis hin zu Mordgedanken gehasst hatten.

»Am ehesten war es einer von denen, die bei ihm durchgefallen sind.« Corinna Worch schloss die Augen, um sich besser konzentrieren zu können. »Da war besonders einer, der fürchterliche Drohungen ausgestoßen hat … Wie der hieß? Lassen Sie mich überlegen … Der hatte einen Namen, der mich immer an eine der Schauspielerinnen aus der alten Garde erinnert hat.«

Granow wollte ihr auf die Sprünge helfen. »Grete Weiser, Hertha Feiler, Heli Finkenzeller, Brigitte Mira?«

»Nein, nein … Die hat in der Serie Forsthaus Falkenau mitgespielt. Die Oma …«

»Bruni Löbel!«, rief Theresa Marotzke. »Hat meine Frau immer gesehen.«

»Ja, richtig, Löbel heißt der Kerl! Der wollte bei meinem Mann promovieren, das hat aber nicht geklappt. Er war hier und hat geschrien, durch die Unmenschlichkeit meines Mannes sei sein ganzes Leben verpfuscht. Er werde aber eines Tages die richtige Antwort auf diese Kränkung finden.«

Granow blickte zu Theresa Marotzke hinüber. Die nickte, und damit konnten sie sich erst einmal von Corinna Worch verabschieden. »Auf Wiedersehen.«

Sie lachte. »So sympathisch Sie auch sein mögen – ich erhoffe mir kein Wiedersehen.«

Michael Witschel und Löbel, diese zwei Namen standen nun obenan auf ihrem Notizblock, und sie beschlossen, mit dem Monteur zu beginnen.

»Bei der mangelnden Selbstbeherrschung, die Witschel zu haben scheint, könnte er doch durchaus den Herrn Professor die Treppe hinuntergestürzt und anschließend in die Tiefkühltruhe gelegt haben, um die sie sich vorher gestritten hatten. Was für ein Gag!«

Die Firma, für die Michael Witschel arbeitete, residierte in der Köpenicker Straße, und zwar zwischen Michaelkirchstraße und Bethaniendamm.

»Das ist die absolut hässlichste Ecke Berlins!«, rief Granow, als sie dort angekommen und ausgestiegen waren. Bauruinen wechselten sich ab mit besetzten Häusern, von denen jeden Augenblick Putz und Balkone herunterzufallen drohten, verfallenen Fabrikgebäuden, die sich ebenfalls im Besitz irgendwelcher Autonomen befanden, Plätzen des billigsten Gebrauchtwagenhandels und verwahrlosten Brachen. Dazwischen ein Jugendhotel, ein aufgestylter Gewerbehof aus früheren Zeiten und durchaus das eine oder andere moderne Bürogebäude – aber das half der Gegend wenig, den Eindruck eines Slums zu verwischen.

Diesen Michael Witschel glaubte Granow schon einmal gesehen zu haben – in einer Fernsehsendung, bei der der stärkste Mann gesucht wurde. Das waren Kerle, die dicke Baumstämme in die Höhe stemmten, schwere Lastwagen an einem Seil hinter sich herzogen oder dutzendweise Steine vom Umfang einer Weltkugel auf hohe Gestelle hoben. Ein Leichtgewicht wie Worch zu packen und die Kellertreppe hinunterzuwerfen wäre für Michael Witschel ein Klacks gewesen.

Das Einleitungsritual dauerte nicht lange, schon kamen sie zu den ersten Fragen. Ob sich Michael Witschel an die Lieferung der Riesentiefkühltruhe an Prof. Worch in die Brienner Straße erinnern könne.

Der Hüne schaute grimmig auf sie herab. »Seine Frau hat Ihnen von dem ganzen Theater erzählt, wie?«

»Ja«, wagte Granow zu antworten, wobei er schon überlegte, mit welchem der Karateschläge oder Judogriffe, die er einmal gelernt hatte, diesem sprechenden Muskelberg am besten beizukommen war. Wahrscheinlich mit keinem.

Michael Witschel wurde noch um einige Grade böser. »Und jetzt behauptet diese selten dämliche Kuh sicherlich, ich hätte ihren Alten umgebracht.«

»Nein, das sind wir, die das in Erwähnung ziehen müssen«, sagte Theresa Marotzke und sah mit Erleichterung, wie Granows Hand langsam in Richtung seiner Waffe ging.

Diese Bewegung schien auch Michael Witschel nicht entgangen zu sein, denn er wurde eine Spur friedfertiger und schilderte in knappen Worten, was er in der Brienner Straße alles erlebt hatte. »Der Herr Professor war immer so von oben herab …«

Von oben herab – so war er auch die Kellertreppe hinuntergesegelt, dachte Granow, hielt aber den Mund. Den öffnete er erst wieder, als sie zur berühmten A-Frage kamen. »Gut, wir nehmen zu Protokoll, Herr Witschel, dass Sie die Tat entschieden abstreiten. Das können Sie nun am besten mit einem hieb- und stichfesten Alibi untermauern.« Er nannte Tag und Stunde, so wie sie aus dem Gutachten von Prof. Schwarz herauszulesen waren.

»Tut mir leid, da war ich die ganze Zeit bei mir im Keller und habe trainiert. Allein, ja.«

Froh, nicht in der Charité gelandet zu sein, setzten sie sich wieder ins Auto, um zur Freien Universität zu fahren. Theresa Marotzke hatte schon herausgefunden, dass der Fachbereich für Geschichts- und Kulturwissenschaften in der Koserstraße 20 residierte. Als Granow das in sein Navi eingegeben hatte, wurde ihm gemeldet, dass es bis dorthin 13,0 Kilometer seien und sie bei der aktuellen Verkehrslage 37 Minuten bräuchten. Das stimmte in etwa, aber es dauerte doppelt so lange, bis sie Löbel gefunden hatten. Er saß mit einigen Kommilitonen in einem Restaurant in der Altensteinstraße. Granow und Marotzke stellten sich vor und baten ihn in einen der hinteren Räume. Granow musste Worch posthum recht geben: Einem solchen Dumpfmeier wie diesem Löbel hätte er nicht einmal ein Plagiat á la Guttenberg zugetraut. Schnell kamen sie zur Sache.

Löbel prallte zurück. »Ich soll Professor Worch umgebracht haben?«

Theresa Marotzke nickte. »Ja, weil er sie nicht als Doktoranden haben wollte.«

»Wer sagt das?«, rief Löbel.

»Wir stellen hier die Fragen«, kam automatisch Granows Antwort.

»Das ist doch totaler Blödsinn!«, erregte sich Löbel. »Es ging doch gar nicht um eine Dissertation, sondern darum, dass er alles darangesetzt hat, mich nach meinem Bachelor vom Masterstudium auszuschließen.«

Theresa Marotzke hatte ein sagenhaftes Geschick, harmlos zu tun und dabei unbemerkt eine Falle aufzustellen. »Und da waren Sie noch einmal bei ihm zu Hause, um ihn umzustimmen?«

»Nein, nicht bei ihm zu Hause, sondern in seinem Büro.«

Nun sah Granow den Zeitpunkt gekommen, auch Löbel die A-Frage zu stellen.

Der druckste eine Weile herum, aber es fiel ihm nichts ein, was ihn entlastet hätte. »Ja, da muss ich wohl zu Hause gewesen sein und geschlafen haben.«

Zurück in der Keithstraße, machten sich Granow und Theresa Marotzke erst einmal ans Kaffeetrinken. Sie schwiegen eine Weile von diesem und jenem, dann hatte Granow eine Idee.

»Wir spielen jetzt Gottesurteil, das heißt, ich mache vier Lose, und du ziehst eines. Dann wissen wir, wer es war beziehungsweise ob wir noch weiter suchen müssen.« Er machte sich ans Werk, riss vier gelbe Zettel von seinem Notizklotz und beschriftete sie:

Corinna Worch
Michael Witschel
Björn Löbel
Der große Unbekannte

Nachdem er alle sorgfältig zusammengefaltet und unter dem Schreibtisch gemischt hatte, hielt er sie Theresa Marotzke hin.

Die zögerte noch mit ihrer Entscheidung. »Ist das nicht ein bisschen unprofessionell?«

Granow lachte. »Das ist das Kommissar-Zufall-System in seiner reinsten Form.«

»Na gut.«

Theresa Marotzke griff zu und zog Der große Unbekannte.

»Törööö!«, machte Granow. Das kannte er noch aus der Zeit, als seine Kinder eine Benjamin-Blümchen-Kassette nach der anderen gehört hatten. »Alles zurück auf null!«

»Dann müssen wir in der Worch-Villa anfangen.«

»Du sagst es!«

Wieder in der Brienner Straße, sahen sie im Arbeitszimmer von Prof. Worch alles durch. Sie hofften, etwas zu finden, das für sie irgendwie von Interesse sein konnte. Vor allem suchten sie nach einem Hinweis auf einen Kollegen, Doktoranden oder Studenten, der so mit dem Professor verfeindet war, dass eine heftige körperliche Auseinandersetzung möglich schien.

»Nichts!« Nach einer Stunde hatten sie nichts gefunden, was sie weiterbringen konnte, und Granow sank im Wohnzimmer auf die Couch, um sich ein wenig zu erholen. Er warf dabei einen Blick auf den Glastisch, wo einige Zeitungen, Magazine und Romane herumlagen. Was las man so im Hause eines angesehenen Historikers und einer zukünftigen Spitzenpolitikerin? Sicherlich nur äußerst anspruchsvolle Literatur. Bei dieser Erwartungshaltung zuckte er regelrecht zusammen, als er ein Produkt der Yellow Press erblickte. Aufgeschlagen war die Seite mit den Kreuzworträtseln. Das erinnerte ihn an seine nervende Schwiegermutter, und da er noch etliche weiße Felder sah, waagerecht wie senkrecht, hörte er unwillkürlich die Gute fragen: »Gunnar – linker Nebenfluss der Donau?« Er nahm das Blättchen zur Hand, um zu sehen, welche Frage so schwierig war, dass Corinna Worch nicht in der Lage gewesen war, sie zu beantworten. Dass es eine weibliche Handschrift war, erkannte er auch ohne graphologisches Studium. Dann stutzte er, denn in einigen Feldern hatte er eine männliche Handschrift entdeckt. Typisch männliche Druckbuchstaben, exakt und mit mehr Druck geschrieben. Er rief Theresa Marotzke herbei und fragte sie, was sie davon hielte.

»Ja, das muss ein Mann gewesen sein, da haste recht.«

Granow verstand das nicht. »Wenn ich meiner Schwiegermutter beim Rätselraten helfe, dann fragt sie mich nach etwas, und ich rufe ihr zu, welches Wort sie einsetzen soll, aber ich gehe doch nicht hin und nehme ihr den Bleistift aus der Hand, um das gesuchte Wort selber einzutragen.«

Für Theresa Marotzke ließ das nur eine Schlussfolgerung zu. »Da hat sich einer über das Kreuzworträtsel hergemacht, der Langeweile hatte. Und zwar als Corinna Worch nicht da war.«

»Ja, aber ihr Mann kann das nicht gewesen sein, der war ja in Dortmund.«

Um in dieser Hinsicht ganz sicher zu sein, suchten sie in Worchs Unterlagen nach Passagen, wo er etwas in Druckschrift festgehalten hatte. Nein, er war es nicht, der sich am herumliegenden Kreuzworträtsel versucht hatte.

»Also muss es ein anderer gewesen sein, ein Besucher.«

Sie riefen Corinna Worch am Arbeitsplatz an und erfuhren, dass sie keinen Besucher empfangen habe, einen männlichen schon gar nicht. »Nur meine Freundin Claudia war da.«

Als Granow wieder aufgelegt hatte, fragte ihn Theresa Marotzke, was denn der große Unbekannte eingetragen habe. »Ich meine, was hat er denn gewusst, das die Worch nicht gewusst hat?«

»Hier, Held in Strittmatters Der Laden

»Und?«

»ESAU MATT«, antwortete Granow. »Wäre mir nie eingefallen.«

»Mir auch nicht«, bekannte auch Theresa Marotzke. »Und was noch?«

»Russischer General gegen Napoleon: WITTGENSTEIN. Ich dachte immer, das sei ein Philosoph gewesen …«

»So was kann doch nur ein Historiker wissen, also einer von Worchs Truppe!«, rief Theresa Marotzke.

»Und ein Strittmatter-Kenner oder einer, der über die Sorben geforscht hat«, fügte Granow hinzu. »Aber wer?«

Da sprang Theresa Marotzke auf. »Mensch, bei Worch auf dem Schreibtisch liegt eine Dreierliste der Viadrina aus Frankfurt an der Oder. Da steht er an erster Stelle und an zweiter einer, der was über die Sorben veröffentlicht hat. Wenn der nun hier war und …«

»Ja, vielleicht ein wenig corriger la fortune«, murmelte Granow.

»Wat is los?«, fragte Theresa Marotzke mit einem kleinen sprachlichen Rückfall.

»Dem Schicksal, dem Glück ein wenig auf die Sprünge helfen.«

So kamen sie auf Dr. Michael Massenz, und das Weitere war dann reine Routine. Nach zwei Tagen hatte er ein umfassendes Geständnis abgelegt. »Ich war gierig nach der Professur. Und Worch war doch schon Professor, er hätte ruhig zu meinen Gunsten verzichten können. Ich habe ihn fast kniefällig darum gebeten, doch er wollte mich hinauswerfen. Dabei ist es zu der Rangelei gekommen, in deren Folge er die Treppe hinuntergestürzt ist. Um die Tat zu vertuschen, habe ich ihn dann in die Tiefkühltruhe gelegt.«

***

Granow rief bei Schwarz im Institut für Rechtsmedizin an, um ihm die neueste Entwicklung zu präsentieren. »Stell dir vor, Robert, wir haben es mit einem Berufungsstreit unter Akademikern zu tun. Der Täter stand mit Worch auf einer Berufungsliste, aber nur auf Platz zwei. Hat sich mit Worch gestritten, weil dieser seine Bewerbung nicht zurückziehen wollte.« »Wundert mich eigentlich nicht, da geht es doch um viel. Auch im akademischen Betrieb kann man in ein Haifischbecken geraten. Hat denn mein Kabinettstückchen mit der Todeszeit bei der Aufklärung geholfen?«, fragte Schwarz. »Na sicher, sonst hätten wir weder die Angaben zum Alibi noch zum Tatablauf klären können. Übrigens, meine Holde lässt schön grüßen und fragt, ob wir nicht den Erfolg bei unserem Italiener in Zehlendorf mit einem guten Rotwein feiern wollen. Unsere Frauen werden, wie üblich, den Termin klarmachen.«

»Geht in Ordnung, und schöne Grüße zurück!« Danach wandte sich Schwarz wieder seinem Gutachten zu, aber seine Gedanken waren immer noch bei dem Fall Worch. Wenn die Leute wüssten, wie komplex und schwierig die Todeszeitbestimmung ist, dachte der Rechtsmediziner. Die sahen und hörten ja in ihren Krimis überwiegend sogenannte Experten – meist auch noch fälschlich als Pathologen oder Kriminaltechniker bezeichnet –, die den Todeseintritt präzise in Stunde oder sogar Minute angaben. Aber das konnte in Wirklichkeit niemand.

Wenn Mediziner oder Kriminalisten von Todeszeitbestimmung sprachen, dann war das retrospektiv gemeint, also rückblickend auf die Zeit des eingetretenen Todes gerichtet. Wenn man das prospektiv könnte – den Zeitpunkt des künftigen Todes vorhersagen! Aber wie die alten Römer schon gesagt hatten: Mors certa, hora incerta. Sinngemäß lautete die Aussage: Unser Tod ist gewiss, der Zeitpunkt ist ungewiss. Und das war auch gut so!

Die Rechtsmediziner verfügten bei ihren Untersuchungen zur Todeszeit zwar über die notwendigen Kenntnisse und Methoden, kannten aber auch deren Grenzen. Vor allem wussten sie um die Probleme und die Bedeutung ihrer Aussagen – vorrangig im Rahmen strafrechtlicher Ermittlungen, aber auch was das Zivilrecht, zum Beispiel die Erbfolge bei mehreren Verstorbenen, betraf. Sie sprachen deshalb lieber von »Todeszeitschätzung« und gaben klugerweise eher ein zu großes als ein zu kleines Todeszeitintervall an. Schwarz kannte Fälle, bei denen durch falsche Datierung der Todesstunde oder des Todestages die kriminalpolizeilichen Ermittlungen in eine falsche Richtung gelenkt worden waren. Ja, musste Schwarz feststellen, in meinem Fach ist oft genug die Praxis der Prüfstein für die Qualität des Sachverständigen. Ein Fehlgutachten reichte, das Ansehen eines jahrelang erfolgreichen Gutachters zu erschüttern.