Epub cover

Hans Joachim Schädlich

Catt

Ein Fragment

Herausgegeben und mit einem Nachwort
von Krista Maria Schädlich

Editorische Notiz

Hiermit wird das Fragment »Catt« von Hans Joachim Schädlich erstmals vollständig publiziert.

Ein Teilstück des Textes ist bereits 1995 in der Anthologie »›Nach zwanzig Seiten waren alle Helden tot‹. Erste Schreibversuche deutscher Schriftsteller« (herausgegeben von Karl Corino und Elisabeth Albertsen, erschienen im Verlag Marion von Schröder) veröffentlicht worden.

Das Romanfragment sowie die entsprechenden Begleittexte werden in dieser Ausgabe entsprechend ihrer Entstehungszeit in alter Rechtschreibung wiedergegeben, das Nachwort der Herausgeberin Krista Maria Schädlich hingegen in neuer.

Impressum und Copyright

Erste Auflage
Verbrecher Verlag Berlin 2015
www.verbrecherei.de


© Verbrecher Verlag 2015

Einband: Christian Walter
Lektorat: Kristina Wengorz
Satz und Ebookerstellung: Christian Walter

ISBN Print: 978-3-95732-123-7
ISBN EPub: 9783957321343
ISBN Mobipocket: 9783957321350

Catt heißt für mich schon immer Catt, sagt Uz. Nicht viele nennen Catt Catt. Die meisten nennen sie, wie sie heißt. Vielleicht nenne ich sie einmal nur noch, wie sie heißt, sagt Uz.

Uz sagt Catt zu Catt und daß er heute vorbeikommt, und Catt sagt,

Ich habe nichts herausgefunden.

*

Jeden Tag lerne ich fünfzig neue Gesichter kennen, fünfzig Stimmen, manche nennen nur eine Straße, ein Hotel, eine Behörde, einige fügen eine Wegbeschreibung hinzu, manchmal ist sie mir nützlich, andere reden die ganze Zeit über, reden meistens über sich selbst, aber zu mir, und ich kenne sie doch gar nicht, als mache sie die zufällige und einmalige Begegnung frei. Wenigstens tausend Leute im Monat, die ich vorher nie gesehen habe und nie wieder sehen werde, sagen irgend etwas zu mir, ich gehe mit Tausenden von Leuten um in einem Jahr, und mit immer weniger Leuten kann ich umgehen.

Immer schwieriger werde ich auch für viele Freunde. Es sind Leute, die mich manchmal brauchen, ich gebe ihnen meine Zeit, sie trinken Rotwein und essen belegte Brote. Ich bin selten zu Hause, und so rufen sie mich selten an. Wenn ich mit ihnen zusammensitze, rede ich, als sei ich nicht allein. Nur mit Uz rede ich wie allein.

Ich sage, Ich habe nichts herausgefunden.

*

Die enge Straße, in der Janina wohnt, ist unverändert. Die Straßenbahn, eingleisig, kommt mir auf der rechten Straßenseite entgegen, ich weiche zur Mitte aus. Ich kann nur in einer Querstraße parken, drei Häuser weiter. Vor dem Haus, in dem Janina wohnt, bleibe ich stehen. Der kleine Tabakladen, Zeitungen gibt es auch, Berliner Zeitung, Nationalzeitung, Neues Deutschland, an der Ladentür hängt ein Holzgestell, die Zeitungen sind mit Wäscheklammern festgemacht, übereinander, es genügt, daß man Titel und Schlagzeilen erkennt. Im Laden warte ich, daß hinter dem Vorhang, der den Durchgang zum Hinterzimmer verdeckt, eine Frau in den Laden kommt, Frau Timpe, bei der ich manchmal Zigaretten kaufe. Ich sage Cabinet zu Frau Timpe, und ehe sie mir sagt, warum ich hier bin, gibt sie einem Mann, der nach mir in den Laden gekommen ist, seine täglichen Zigaretten und sein monatliches Magazin. Sie wollen zu Fräulein Janina, aber die ist nicht mehr hier, sagt Frau Timpe. Frau Timpe weiß es, Janina ist (war?) ihre Untermieterin. Am vierten Tag hab ich ihre Zeitungen oben auf den Kühlschrank gelegt, sagt Frau Timpe. Ohne mir ein Wort zu sagen!

Mehr weiß Frau Timpe nicht. Die Zeitung hat sie abbestellt. Das Zimmer, in dem Janina wohnte, ist unverändert. Post kommt nicht. Der Bevollmächtigte des Abschnitts, in dem der Tabakladen von Frau Timpe liegt, hat alles notiert. Eine Nachricht von ihm hat Frau Timpe nicht bekommen.

Uz schweigt.

*

Früher Morgen – ich kann keinen Lärm ertragen. Das Radio, Ganz liebe und ganz, ganz herzliche Grüße zum Geburtstag von Papa und Mama aus Leipzig, Türenschlagen, die vorbehaltlosen Stimmen von Kindern, Fragen, das Geräusch des Toasters, das vielleicht gerade noch. Alles, was mich von mir ablenkt. Ich habe Mühe, mich zurechtzufinden. Frau Spiker klopft an meine Zimmertür, Das Bad ist frei, und es kommt vor, daß ich Nein schreie, noch zwei Minuten für mich allein, dann will ich gelähmt antworten.

*

In meiner Kneipe, Linienstraße Ecke Chausseestraße, trinke ich vormittags einen Kaffee und nachmittags. Ich hocke mich an einen der Tische, die quer zur Theke stehen, winke der Kellnerin und sage, Schwarz.

An der Theke stehen Männer und trinken und rauchen. Von einem Tisch ganz hinten steht ein Mann auf. Er muß an der Theke vorbei. Ein Mann an der Theke dreht sich um, ruft dem Mann, der vorbei will, etwas zu und hält ihm ein volles Schnapsglas entgegen. Der andere Mann nimmt das Glas endlich und nippt. Er gibt das Glas zurück. Der Mann an der Theke hält das Glas in der Rechten, legt den linken Arm um die Schulter des anderen, zieht ihn zu sich heran und lehnt die Stirn an dessen Brust. Er hebt den Kopf wieder und sagt etwas. Der andere Mann sagt etwas, dreht sich um und geht.

Ich kenne die beiden nicht. Ich saß zu weit entfernt, ich habe nicht verstanden, was sie gesagt haben. Sie sahen ruhig aus. Sie können sogar befreundet gewesen sein.

Ich kenne die beiden. Ich saß nahe genug, um sie zu verstehen.

Sie sahen nur so ruhig aus.

*

Am Abend nach meinem Besuch in Frau Timpes Tabakladen hatte ich an Janinas Freund geschrieben. Als ich zum Briefkasten ging, wußte ich nicht mehr, ob ich gesagt hatte, Janina sei fort, oder gefragt, wo Janina sei, aber anders hätte ich nicht schreiben können. Janinas Freund hat mir nicht geantwortet, nach über zwei Wochen mußte ich es annehmen. Uz sagte, Schreib doch an Phil, er möchte rüberkommen.

Phil war da, Hallo Leute, ich hab euch was mitgebracht. Er zieht ein Blatt aus der Tasche, ein Kalenderblatt, schlechter Druck einer Graphik, die Phil modern findet. Wir freuen uns über den schlechten Druck einer Graphik, die Phil modern findet, nicht. Na, macht nischt, sagt Phil.

Den Weinbrand hat Uz besorgt. Phil ist beschäftigt, er hat eine neue Wohnung gemietet, Unverschämt teuer, sag ich euch, aber wem sag ich das. Die Malerei mach ich selber, dieses Wochenende noch, dann fahr ich erst mal nach Holland, bißchen Luft holen. Also dann, three cheers. Tja, euer Weinbrand ist ganz schön, aber habt ihr keinen Whisky im Haus? Uz sagt, Wir haben keinen Whisky im Haus.

Phil, sage ich, eh du nach Holland Luft holen fährst, geh doch für uns zu Janinas Freund, hier ist die Adresse.

*

Quantz redet, und ich brauche bloß zuzuhören. Er kommt für eine halbe Stunde, Gut, daß du zu Hause bist, und erzählt mir etwas. Quantz ist gar nicht Quantz, Quantz spielt Klarinette.

Quantz sagt, Ich bin vielleicht sauer, kann ich dir sagen, und es ist schade, daß ich nicht weiß, was ich aufschreiben soll, was Quantz sagt, Wie ich gestern mit Napoleon in der Sonne liege, in Pankow im Bad, sagt doch Napoleon zu mir, Da kommt dein Chef. Was heißt hier Chef, sage ich, und Napoleon sagt, der kommt sogar her. Kommt der doch Tatsache ran und sagt, Also morgen um achte, in der Melodie, hat dir Solty schon Bescheid gesagt? Ich sage, Nee, und morgen um achte hab ich ’ne Mucke. Ich hätte ja glatt eine haben können, von wegen einen Tag vorher Bescheid sagen. Na gut, ich hab dann gesagt, Ich sag die Mucke ab, aber weißt du, woran das alles liegt? Der gibt uns seine Telefonnummer nicht mehr, ich weiß gar nicht, wo der jetzt wohnt, bei irgend ’ner Kleinen, aber Telefon hat sie, könnte doch immer mal einer von uns anrufen, wegen Termine und so, aber nein, ist nicht drin, weil Solty und olle Ekke mal nachts um viere angerufen haben, da hat er noch bei ’ner anderen gewohnt, der ist doch heimatlos, ubi penis, ibi patria, Solty und Ekke waren ganz schön bunt, und Solty hat gesagt, Weißt du was, Chefi, wir steigen bei dir aus, kannst dir ja vorstellen, was da los war. Seitdem ist nichts mehr mit Telefonnummer. Und dann die Sache mit dem Auto, ich sage schon ein Jahr, Du bist doch der Chef, kauf endlich ’n Fiat, laß ’ne Anhängerkupplung ranhauen, so ’n Anhänger kann ich besorgen, und dann können wir alles aufladen. Mensch, ich hab das allmählich dicke, ich fahr mir dauernd die Federn in ’n Arsch, mit den Verstärkern hinten drin, das ist doch sein Bier. Und weißt du, was kommt? Der kauft ’n Fiat, die Anhängerkupplung ist auch dran, aber Anhänger ist nicht. Auf ’n Rücksitz legt er seine Trompete, vorne setzt er sich seine Kleine rein, und dann ab. Die Anhängerkupplung ist für ­seinen Wohnwagen. Verstehst du, das sind alles so ’ne linken Dinger, ich glaube, wenn der Sommer gelaufen ist, dann ist bei mir Feierabend, Solty sagt das auch. Na ja, was gibt’s noch, ach so, am Sonnabend haben wir in Treptow gespielt, und zwei Stunden vorher Probe, aber wer nicht kam, war natürlich Tante Barbarina, sage ich immer, und da hab ich gesagt, ich weiß nicht, wer da noch alles rumstand, sage ich, Die Leute kommen doch hauptamtlich ihretwegen, da könnte sie auch ’n bißchen mit üben. Na, und hinterher kommt doch Chefi zu mir und sagt, ich soll gesagt haben, Tante Barbarina ist unheimlich faul, und doof ist sie auch. Möchte mal wissen, wer da wieder die Quatschtante gemacht hat, das ist doch amtlich Scheiße. So, jetzt hau ich wieder ab, noch ’n bißchen üben heute.

Ich höre zu, und Quantz sagt, Das war schön, daß ich dich mal wieder gesprochen habe.

*

Es kommt schon vor, daß ich an dem Auto etwas repariere, irgendeinen kleinen Schaden, gerade, daß ich nicht in die Werkstatt muß an diesem Arbeitstag. Ich fahre bis zu meiner Kneipe, öffne die Kühlerhaube, die Hände wische ich notdürftig mit einem Lappen ab, der immer zwischen den Vordersitzen liegt, ich freue mich auf einen Kaffee danach, aber vorher sage ich zu meinem Kneipenwirt, Ich wasch mir erstmal die Hände bei dir. Der Wirt spült Gläser und sagt, Wovon hast du denn solche Hände, deine Arbeit ist doch gar nicht so dreckig. Und ich will meinen Kaffee und sage, Gebastelt. Was fährst du denn jetzt, ’n Mercedes?

Nein, sage ich, den können die doch gar nicht bezahlen. ’n Moskwitsch!

’n Moskwitsch? Dafür hätten sie dir auch ’n Mercedes hinstellen können, der kostet zweie weniger. Weißt du, wo du ’n Mercedes kriegst?

Nein, sage ich.

Das kann ich dir sagen. Bei Winter, kennst du Winter?

Ich sage, Nein.

Was? Du kennst Winter nicht? Der Wirt fragt den Mann, der neben der Theke steht, Kennst du Winter?

Und der Mann sagt, Klar.

Siehst du, sagt der Wirt zu mir, und du kennst Winter nicht! Ich sag’s ja. Es ist immer dasselbe mit den Akademikern. Die kennen bloß, was sie gelesen haben, was anderes kennen die nicht.

Der Kneipenwirt spricht mit dem Mann an der Theke über die mangelhafte Ortskenntnis der jungen Leute, aber ich wasche mir die Hände, meinen Kaffee habe ich schon bestellt.

*

Frau Timpe wußte, wo der Bevollmächtigte zu treffen ist und wann, ich hatte es mir sogar notiert. Damals hätte er mir nicht viel mehr sagen können als Frau Timpe. Ich war später bei ihm. Als Uz mir von einer Frau erzählte, die nicht glaubte, daß ihrem Mann etwas passiert sein könnte, war genug Zeit vergangen. Aber dem Bevollmächtigten tat es leid, er konnte mir nicht helfen.

Ich füge das hier ein, immerhin lag es nahe, den Bevollmächtigten an Janina zu erinnern.

*

Uz hat mich wieder gefragt, ob ich mir nicht ein anderes Zimmer suchen will, die S-Bahn fährt nicht fünfzig Meter entfernt am Haus vorbei, direkt unter meinem Fenster, Du kannst keinen Lärm ertragen, sagst du. Und die Kinder von Frau Spiker, am Morgen, oder am Nachmittag, wenn du dich ausruhen willst.

Aber ich habe Frau Spiker, und Uz weiß das. Ich habe überlegt, wie ich es ausdrücke. Ich will das Zimmer hier behalten, trotz des S-Bahn-Lärms, daß die beiden Kinder laut sind, stört mich eigentlich gar nicht, weil sich Frau Spiker nicht um mich kümmert. Auch wenn sie mehr Zeit hätte, würde sie es nicht tun. Daß sie morgens an meine Tür klopft – ich habe sie darum gebeten. Die alte Wohnung von Familie Spiker ist freundlich zu mir; ich öffne die Wohnungstür und betrete einen langen Korridor, von dem, gleich rechts, nur meine Zimmertür abgeht. Wenigstens acht Meter ist dieser Teil des Korridors lang, er hat keine Fenster, und am Ende setzt er sich im rechten Winkel fort, bis zur Küche. An diesem anderen Teil des Korridors erst liegen die Zimmer von Familie Spiker, auch das Bad ist dort. Trotzdem höre ich, daß die Kinder von Spikers die Türen zuschlagen, und ich höre, wie die Kleine jeden Morgen ruft. Wenn wir uns in der Küche treffen, ich koche mir meinen Kaffee, die Kinder frühstücken am Küchentisch, fragen sie mich, und ich frage sie. Die Kleine hat mir gesagt, daß sie in die Schule kommt, in diesem Herbst, Das wird bestimmt besser als im Kindergarten, sagt sie. Und ehe mir was einfällt, sagt ihr Bruder, er ist zwölf, Das hab ich auch erst gedacht.

Ich höre zu.

*

Herr Dr. B. ist Auslandskorrespondent und muß zum Flughafen. Er reist für eine Wochenschrift, die ich manchmal kaufe, und befragt, wie es sich denn in verschiedenen Ländern lebe und schreibe für eine Wochenschrift, gibt er sich vertraulich, er ist der Überlegene, und spricht nur beiläufig von seinem Volvo, dort, von der Wohnung in der Vorstadt, von seinen Einkäufen, man gewöhnt sich daran, vieles schwindet da zu Kleinigkeiten, die man nicht missen möchte, gewiß, aber wozu viel darüber reden. Und schreiben? Mein Gott, wenn ich ehrlich sein soll, ich kann schreiben, was ich will, es muß eben bloß stimmen, und solange die Leute hier das Gefühl haben, daß wir der Mittelpunkt Europas sind.

*

Neben Familie Spiker wohnt ein alter Mann, er ist allein in der Wohnung, auf die Straße geht er nicht mehr. Frau Spiker kauft oft für ihn ein, manchmal kocht sie für ihn. Heute hat er Geburtstag. Er sitzt schon den ganzen Tag da und wartet auf etwas. Er wartet immer auf etwas. Heute wartet er auf ein Telegramm von seinem Sohn. Aber es kommt kein Telegramm.

*

Am späten Vormittag kommen nur wenige Fahrgäste. Die Wagen warten in langer Reihe. Da habe ich es nicht allzu gerne, wenn jemand nur um den nächsten Schornstein gefahren werden will, eine kurze Strecke, die sich nicht lohnt für mich, und dann stehe ich in der Reihe der wartenden Wagen wieder ganz hinten. Aber ich sage zu meinen Fahrgästen nicht, Das hätten Sie auch laufen können. Ich sage gar nichts, meine Fahrgäste halten mich vielleicht für freundlich. Ich scheue einfach die ärgerlichen Antworten und, daß ich ärgerlich antworten müßte.

Nur selten zeige ich mich wirklich unfreundlich. Nicht, weil der Mann, der an der Opernbar einsteigt, um ein Uhr nachts, betrunken ist. Aber ich merke, die Fahrt wird ihm zuviel, er muß sich wohl übergeben, und ich fahre an den Straßenrand und sage, Kotzen Sie mir nicht das Auto voll, steigen Sie aus. Doch es geht ihm schon viel besser. Ich fahre also weiter, aber dann ist es doch wieder da, und der Mann nimmt seine Mütze vom Kopf, eine Ballonmütze aus Wildleder, hält sie vor den Mund und erbricht sich. Er kurbelt die Scheibe herunter und wirft seine Mütze hinaus, ich fahre weiter. Mir ist übel, aber er hat sich an das gehalten, was ich ihm gesagt habe.

*