Cover

Über dieses Buch:

Medina Thompson ist acht Jahre alt, als sie alles verliert. Von einer Pflegefamilie zur nächsten abgeschoben, wird aus ihr ein von Gewalt gezeichneter junger Mensch. Zwölf Jahre nach dem brutalen Mord an ihrer geliebten Grandma und ihrem Bruder Ross erfährt sie endlich, warum die beiden sterben mussten. Sie stellt sich ihrem Schicksal und tritt das Erbe ihrer Großmutter an: Die Jagd auf das Übernatürliche ...

Die komplette erste Staffel der spannenden Fantasy-Thriller-Reihe!

Über die Autorin:

Katja Piel wurde 1972 in Kelkheim geboren und lebt heute mit Mann und Kind in Rodgau. Sie ist seit 15 Jahren in der IT-Branche tätig.

Erst vor einem Jahr hat sie das Schreiben für sich entdeckt. Zunächst mit Kindergeschichten für ihren Sohn und nun mit Fantasy-Romanen.

Mit der Mystery-eBook-Serie THE HUNTER schlug Piel im Mai 2012 ein neues Kapitel auf. Die kurzweiligen Episoden, die ideal geeignet sind, um sie unterwegs zu lesen, wurden zunächst in Eigenregie bei Amazon veröffentlicht. Ab Oktober 2012 gibt es die Serie exklusiv bei dotbooks.

Die Website der Autorin: http://thehunterebooks.wordpress.com

Die Autorin im Internet: www.facebook.com/1TheHunter

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Neuausgabe März 2013

Die Einzelbände dieser Reihe wurden bereits 2012 und 2013 unter dem jeweiligen Einzeltitel bei dotbooks veröffentlicht.

Copyright © der Originalausgaben 2012 und 2013 dotbooks GmbH, München

Copyright © der Neuausgabe 2012 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Elsa Rieger

Titelbildgestaltung: Nicola Bernhart Feines Grafikdesign, München

Titelbildabbildung: Claus-Gregor Pagel

ISBN 978-3-95520-190-6

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Katja Piel

THE HUNTER
Staffel 01

dotbooks.

Inhalt

Staffel 01 | Episode 01: Medinas Fluch

Staffel 01 | Episode 02: Medina und die tanzenden Vampire

Staffel 01 | Episode 03: Dämonenblut

Staffel 01 | Episode 04: Blind Date mit dem Tod

Staffel 01 | Episode 05: Der Teufel schreibt E-Mails

Staffel 01 | Episode 06: Hexensabbat

Staffel 01 | Episode 07: Medina und der Vampirkönig

Staffel 01 | Episode 08: Die Geister, die du rufst

Staffel 01 | Episode 09: Fest des Blutes

Staffel 01 | Episode 10: Medinas Offenbarung

Lesetipps

THE HUNTER:

Staffel 01 | Episode 01:
Medinas Fluch

PROLOG

„Wir sollten uns wohl auf was gefasst machen“, wisperte Robin seinem Partner zu, nachdem sie aus dem Auto gestiegen waren und wachsam zum Haus gingen. Die Schultern des jungen Beamten zitterten und er räusperte sich unterdrückt.

Leise klapperte die Haustür im Wind. Es grollte in der Ferne, ein Sommergewitter zog auf, und die schwüle Luft roch nach elektrischen Teilchen. Die Sonne war noch nicht untergegangen, sie stach, aber die schweren Äste der Trauerweide spendeten etwas Schatten.

Matt blickte den Kollegen finster an, zog die Dienstwaffe aus dem Holster, und stieß die Tür mit dem Fuß auf.

„Muss ich das nicht immer“, murmelte er zur Antwort und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Robin legte die Hand auf Matt Wilsons Arm und zog ihn wieder zurück ins Freie.

„Matt, ich bleibe am Eingang.“

„Was soll das heißen? Du bist mein Partner, verfluchte Scheiße!“ Er blickte ihn ärgerlich an. „Also gut, mach Meldung. Ich brauche Verstärkung. Dir ist klar, dass du dafür Ärger mit mir kriegst?“

Robin schnaufte, schlurfte mit hängenden Schultern zum Auto zurück und setzte einen Funkspruch ab.

Matt bezog mit entsicherter Waffe seinen Posten vor dem Haus und sah stirnrunzelnd in den Himmel. Fuck! Vor einigen Minuten waren sie noch auf Streife gewesen und jetzt stand er hier mit einem ängstlichen Partner, dem die Knie schlotterten: Robin Damasto – ein Rookie, neu im Departement, und noch lange nicht so erfahren wie er.

Das Thompson-Haus wurde von der alten Lady Mary-Beth, ihrer kleinen Enkelin Medina und ihrem zwölfjährigen Bruder Ross bewohnt. Mary-Beth kümmerte sich in dem Viertel um Hilfsbedürftige und passte auf, dass die Kinder nicht in die Drogenprobleme ihrer Eltern gerieten. Jeder achtete sie. Niemand würde zulassen, dass ihr etwas passiert.

Mittlerweile waren die Wolken dunkler geworden und tauchten den Abend in  gespenstisches Licht. Blitze zuckten über das Haus hinweg, der Donner rollte  langsam näher.

In dem Moment traf die Verstärkung ein. Matt hatte die zwei noch nie vorher gesehen, es waren Detectives in Zivil.  Ein Mann und eine Frau. Er stellte sich mit Detective Johnson vor und seine Kollegin Detective Simmon. Abgehetzt wollte Johnson wissen, was Matt wisse.

Matt erklärte ihm, dass sie das Haus nicht betreten hatten, die Tür aber angelehnt vorgefunden hatten.

„Okay, Officer … “ Abwartend sah Johnson in an.

„Wilson. Officer Matt Wilson. Im Auto ist mein Kollege Robin Damasto.“

„Officer Wilson. Wir sichern den unteren Bereich und betreten das Haus zuerst. Sie gehen dann nach oben. Kein Laut. Wir wissen nicht, was dort vor sich geht, verstanden? Meldung im äußersten Notfall bei Angriff und Lebensgefahr. Alice?“

Die kleine, schmächtige Frau nickte, zog ihre Dienstwaffe, entsicherte sie und ging voraus.

Als Matt den Flur betrat, umfing ihn bereits der metallische Geruch von Blut. Sein Herz klopfte heftig und er spürte, wie ihm die Brust enger wurde. Ein beklemmendes Gefühl beschlich ihn, da es im Haus unangenehm still war. Schützend hielt Matt die Waffe vor sich und huschte vom Flur ins Wohnzimmer. Die Einrichtung passte zu der alten Frau. Er hatte sie als starke und liebenswerte Persönlichkeit in Erinnerung. Sie war immer elegant gekleidet, trug jedoch nie zu dick auf, um trotzdem vertrauenserweckend zu erscheinen. Auf ihrem faltigen Gesicht war stets ein Lächeln zu finden und ihre Augen strahlten Ruhe und Verständnis aus.

Hier würde er nichts finden, alles war aufgeräumt und sauber. Kein Blut. Auf ein Zeichen des Detectives betrat Matt die Treppe. Sie lag der Haustür gegenüber. Er erreichte den obersten Absatz und fand sich vor einer Wand wieder. Ein Flur führte von da nach beiden Seiten des oberen Stockwerkes.

Matt wendete sich nach links und lauschte den Dielen, die protestierend knarzten, als er über sie hinwegging. Schließlich stand er vor einem Zimmer, das wohl Mary-Beth gehört haben musste. Da die Tür sperrangelweit aufstand, konnte er direkt auf ihr großes Bett schauen.

„Gottverdammt!“, entfuhr es ihm und er verzog das Gesicht. Er stellte sich ans Fußende des Bettes und starrte auf etwas hinunter, das einmal ein Mensch gewesen war.

Mary-Beth lag auf dem Rücken, die Arme seitlich ausgestreckt. Ihr Leib war bis zum Schambein geöffnet und klaffte hässlich auseinander. In ihren aufgerissenen Augen spiegelte sich Todesangst wider. Matt vermeinte fast, die hilflosen verzweifelten Schreie aus ihrem halbgeöffneten Mund hören zu können.

„Verfluchte Scheiße!“, stammelte er und unterdrückte den Würgereiz, bis ihm die Tränen in die Augen schossen. Eiskalte Finger schienen sich um sein Herz zu pressen, als er den Jungen sah.

In dessen Kehle klaffte ein riesiges Loch, aus dem nur noch langsam Blut herausquoll. Auch seine Brust war brutal aufgerissen worden, so als hätte jemand durch den T-Shirt-Stoff nach seinem Herzen gegriffen und es entnommen.

Matts Knie wurden weich, Schweiß bedeckte sein Gesicht und rann ihm den Rücken hinab. Mit ausgetrockneter Kehle schluckte er hart. Der Anblick des malträtierten Jungen schockte ihn, er sank zu Boden, und das Adrenalin, das ihn die ganze Zeit durchflutet hatte, verlor seine Wirkung. Tief atmend versuchte er sich zu beruhigen, seinen Kopf wieder klar zu bekommen. Das zu tun, was von ihm erwartet wurde. Seine Gefühle hielten ihn jedoch noch weitere Minuten auf dem Teppich, er war nicht fähig aufzustehen. Betroffen kniff er die Augen zu und atmete gleichmäßig ein und aus, bis er sich wieder unter Kontrolle hatte.

In dem Moment sprang etwas auf ihn zu und hämmerte mit kleinen Fäusten auf ihn ein. Sein Herz hatte einen Moment ausgesetzt, er urinierte in die Uniformhose.

„Verdammt!“, rief er und bekam eine Faust zu fassen. Panisch versuchte sich das Wesen aus seinem Griff zu befreien und schrie und spuckte. Biss ihn sogar in den Arm. Matt erblickte ein kindliches Gesicht und er ließ die Faust los.

„Medina?“, flüsterte er. „Ganz ruhig, jetzt wird alles gut. Alles wird gut …“, murmelte er und zog den kleinen Körper an sich, um ihn zu wiegen und zu beruhigen. Langsam wurde das Kind ruhiger, um schließlich den Kopf an seine Schulter zu lehnen.

„Robin, fordere den Coroner und einen Krankenwagen an. Ich komme jetzt mit einer Überlebenden raus“, erklärte er mit gebrochener Stimme eilig durchs Funkgerät. „Und sag den Detectives Bescheid“, fügte er hinzu.

1.

Er lag auf einem Messingbett. Die Arme waren an der abschließenden Querstange des Betthauptes über seinem Kopf angekettet, die Fußgelenke links und rechts am Lattenrost unter der Matratze. 
Er hatte die Augen aufgerissen. Darin der typische Ausdruck, der zeigte, dass er kurz vor einem Orgasmus stand.
„Ja, oh ja. Bist du heiß, Babe“, stöhnte er und sein Körper wand sich unter ihr. Sein Kopf lehnte zwischen den Armen am Betthaupt, Schweißperlen liefen ihm von der Stirn in die Augen, dann über die Wangen. Einige sammelten sich auf der Nasenspitze, um in einem großen Tropfen auf seine Brust zu fallen. Mit kreisenden Bewegungen trieb sie ihn weiter an. Doch plötzlich stand sie auf und zog sich seelenruhig an. Bevor er richtig mitbekam, was sie vorhatte, schlüpfte sie in ihre Stiefel und verließ die Wohnung. Nicht ohne vorher das Geldbündel von der Kommode in ihre Hosentasche zu stopfen. Er schrie ihr irgendetwas nach, aber sie konnte die Worte nicht mehr hören, obgleich sie wusste, dass er wohl ziemlich sauer sein musste.

***

Ihre verschmierten Lippen verzogen sich zu einem Grinsen, als sie ihre Autotür fernöffnete, sich auf den glatten Ledersitz sinken ließ und den Motor startete. Schwungvoll fuhr sie aus der Parklücke und hob den Po an, um an ihre Zigaretten zu kommen. Mit der anderen Hand schaltete sie in den ersten Gang, klopfte sich eine aus der Packung und zündete sie an. Wen interessiert schon dieser Penner, ging es ihr durch den Kopf, als sie mit quietschenden Reifen losfuhr.

Genüsslich rauchte sie ihre Zigarette, schnippte die Asche aus dem offenen Fenster und erreichte bald eine Landstraße, die selten befahren wurde. Der Wind spielte mit ihren langen Haaren, streichelte ihre nackten Arme und kühlte sie ab. Es war früh am Abend, noch nicht ganz dunkel und die schwüle Luft ließ alles an ihr kleben. Sie kramte das Geld aus ihrer Hosentasche heraus, das sie dem Typen von der Kommode geklaut hatte. Die Banknoten waren ineinander verknittert, so dass sie immer wieder nach unten auf ihren Schoß schauen musste.

Plötzlich riss sie die Augen auf und stieg auf die Bremsen. Der Wagen drehte sich einmal um die eigene Achse und kam schließlich zum Stehen. Zitternd klammerte sie sich am Lenkrad fest und starrte durch die zerbrochene Windschutzscheibe ins Dunkel. Es bestand kein Zweifel, dass sie jemanden überfahren hatte. Angst kroch in ihre Glieder. Trotzdem müsste sie aussteigen und erste Hilfe leisten. Aber sie saß wie versteinert hinter dem Steuer, nicht fähig, Herr der Lage zu werden. Da klopfte es energisch am Seitenfenster. „Miss? Alles in Ordnung, Miss?“

Langsam drehte sie den Kopf und nickte mechanisch.

„Nicht erschrecken! Ich öffne jetzt die Tür. Ich werde Ihnen nichts tun, einverstanden?“

Wenig später stand sie am Straßenrand, lehnte sich gegen den fremden Mann und blickte starr auf ihr Auto.

„Ich habe schon die Polizei verständigt und einen Krankenwagen gerufen. Sie werden gleich da sein.“ Es war eine männliche, sehr ruhige und angenehme Stimme. „Wie ist Ihr Name, Miss?“, fragte er.

„Medina. Medina Thompson“, antwortete sie kraftlos, bevor es um sie herum dunkel wurde.

2.

Kopfschmerzen haben schon manche Menschen um den Verstand gebracht. Erst recht, wenn man gerade wach wird und die Stiche wellenförmig hinter dem Augapfel beginnen und sich bis zum Hinterkopf vorarbeiten.

Medina stöhnte gequält und rollte sich zur Seite, weil sie gewohnheitsgemäß eine Flasche Wasser neben dem Bett suchte. Aber ihre Hände griffen ins Leere und langsam kapierte sie, dass dies nicht ihr Zuhause war. Verschreckt rollte sie sich wieder auf den Rücken und blickte sich im Zimmer um. Der kargen Einrichtung und dem merkwürdig hohen Bett nach zu urteilen, befand sie sich in einem Krankenzimmer. Sogleich kam die Erinnerung wieder.

Ihr brummte der Kopf, al sie sich aufsetzte und in ihrem Mund sammelte sich Speichel. Entmutigt sank Medina wieder auf die weiche Matratze zurück.

„Shit!“, fluchte sie murmelnd. Wie spät ist es überhaupt? Ein Blick aus dem Fenster reichte. Es war dunkel, also entweder Abend oder Nacht. Als sie den Kopf in die andere Richtung drehte, entdeckte sie die Tür und war um eine Schmerzattacke reicher.

„Verfluchte Scheiße!“, schimpfte sie weiter und presste die Finger auf ihre Schläfen. Plötzlich wurde die Tür geöffnet, durch die eine kleine Person hereinhuschte. Sie kam zu Medinas Bett, lächelte und deckte sie wieder zu.

„Miss Thompson. Sie müssen sich ausruhen. Haben Sie Schmerzen?“ Medina antwortete mit einem leisen „Ja“.

„Ich werde Ihnen gleich etwas holen, okay?“ Während die Schwester das sagte, fühlte sie Medinas Puls und schaute dabei auf ihre Armbanduhr. Mit einem Nicken kramte sie in ihrem Kittel nach einer Taschenlampe und leuchtete in Medinas Augen. Wieder ein Nicken. Zuletzt steckte sie ihr den Fiebermesser ins Ohr, nahm das Klemmbrett vom Fußende des Bettes und trug die Werte ein. Als sie sich umdrehte, ergriff Medina ihren Arm.

„Warten Sie“, flüsterte sie. „Was …, was ist mit dem anderen Opfer? Geht es ihm gut?“ Ihre Augen schimmerten feucht, während sie die Frage stellte. Die Schwester drehte sich zu ihr um und blickte sie verständnislos an.

„Wen meinen Sie?“

Medinas Gedanken schlugen Purzelbäume. Sie will mich schonen, dachte sie panisch. All ihren Mut zusammennehmend, sagte sie: „Den ich angefahren habe.“ Ihr Herz schlug hart.

„Ich weiß nicht, von wem Sie sprechen. Sie haben niemanden angefahren. Der junge Mann, der die ganze Zeit draußen sitzt, hat Sie hierhergebracht. Ich dachte, Sie brauchen noch Ruhe, deshalb habe ich ihn noch nicht zu Ihnen gelassen …“ Weiter kam sie nicht, da Medina sie unsanft unterbrach.

„Was soll das heißen? Da muss jemand gewesen sein! Ich habe etwas gesehen und meine Windschutzscheibe ist ja wohl nicht einfach so zerbrochen, oder? Verfluchte Scheiße, Sie können mir jetzt sagen, was passiert ist. Ich erfahre es sowieso, wenn die Cops nach dem Unfall fragen.“

Die junge Schwester zog erstaunt die Augenbraue hoch, wohl aufgrund der Wortwahl, schüttelte nur sanft den Kopf und verließ das Zimmer.

„Was soll das denn jetzt? Kriegt man das so beigebracht auf eurer dämlichen Schwesternschule?“ Dann verstummte sie, weil der Mann, der sie aus dem Auto geholt hatte, eintrat.

„Alles in Ordnung mit Ihnen, Miss Thompson? Darf ich näher kommen?“, fragte er und runzelte besorgt die Stirn. Seine Stimme klang genauso sanft wie sie sie in Erinnerung hatte.

„Von mir aus“, seufzte Medina und musterte ihn verstohlen. Was ist das denn für ’n Versager, dachte sie. Sein Haar war glatt gekämmt, ohne Sinn für einen modischen Schnitt. Es war dunkel und schimmerte leicht, seine Augen waren langweilig braun, die Gesichtszüge weich, ohne jegliche Ecken und Kanten. Überhaupt war er total spießig angezogen mit seiner grauen Cordhose, dem Sweatshirt und den hellen Lederschuhen. Wieso geht er nicht heim zu seiner Frau, dachte Medina und prüfte schnell seine Ringfinger, die leer waren. Kein Wunder, wer will den schon, ging es ihr gehässig durch den Kopf. Suchend blickte er sich um, bis er einen Stuhl neben dem Schrank fand, ihn heranzog und sich darauf setzte.

„Mein Name ist Alexander Bacero. Ich habe mir Sorgen gemacht und bin mit dem Krankenwagen mitgefahren. Die Ärzte dürfen mir nichts sagen, also wollte ich warten, bis ich zu Ihnen darf.“

Ja klar, dachte sie. Willst mich wohl flachlegen, schoss es ihr durch den Kopf. „Jaja, mir geht’s gut. Man will mir nur nicht sagen, was mit dem anderen ist.“

Verwundert sah er sie an. „Mit wem?“, fragte er.

„Sagen Sie bloß, Sie spielen mit? So schwer hat es mich jetzt auch nicht erwischt“, fauchte sie ihn an. Medina spürte nun wieder die Schmerzen im Kopf und wurde  auf einmal müde.

„Miss Thompson, da war niemand. Nur Sie. Ich versichere Ihnen …“

Medina schloss die Augen, er verstummte. Sie wartete einige Minuten und öffnete sie wieder. Mist, wann würde endlich das Schmerzmittel kommen! Ihr Kopf dröhnte schlimmer als zuvor. Dennoch wollte sie auf der Stelle selbst überprüfen, ob sie jemanden überfahren hatte! Sie kroch aus dem Bett, schwankte einen Augenblick.

„Bleiben Sie besser liegen, Miss Thompson“, sagte Alexander und sprang auf. Über einem weiteren Stuhl am Fenster waren Medinas Klamotten drapiert, sie schlurfte darauf zu, zog das Klinikhemd aus und schlüpfte in ihre Jeansshorts, T-Shirt und Boots. Slip und BH fehlten, denn sie trug so gut wie nie Unterwäsche.

„Aber Miss Thompson!“, protestierte ihr Retter, als sie ohne ein Wort zur Tür ging und sie vorsichtig öffnete.

„Ruhe“, zischte sie Alexander an. Der Flur war leer und nur schwach beleuchtet. Ein Blick auf die Uhr an der Wand bestätigte ihr, dass es nachts war. Genauer genommen 1:15 Uhr. Glücklicherweise lag ihr Zimmer weit am Ende nahe dem Treppenhaus.

„Bin gleich zurück, bleiben Sie still“, ermahnte sie den Kerl und schlüpfte aus dem Zimmer, um mit wenigen Schritten die Stufen nach unten zu gelangen.

Nach wenigen Augenblicken hatte sie sich orientiert und wusste, wo sie war. Also ging sie die Straße weiter bis zu einer Hauptstraße, die auch um diese Uhrzeit gut befahren war und in Richtung Unfallort führte. Dort stellte sie sich an den Bordstein, hielt den Daumen hoch und wartete. Es dauerte nicht lange, als neben ihr ein Wagen stoppte und sich das Fenster öffnete.

„Sie wissen schon, dass trampen gefährlich ist, junge Lady? Wo wollen Sie denn hin?", rief ihr ein Mann mittleren Alters zu.

Medina fand ihn vertrauenswürdig, da er tatsächlich sorgenvoll klang. Und wenn nicht, wüsste sie sich zu wehren.

„Zur Wedemeyer Street. Ich habe dort gestern mein Handy verloren und wollte noch mal nachsehen.“

„Um die Uhrzeit? Da kann man doch nichts mehr sehen. Na gut, meinetwegen. Steigen Sie ein, ich muss sowieso in die Richtung.“

Sie sprachen nicht während der Fahrt, worüber Medina ganz froh war. Sie hatte keine Lust auf nette Konversation. Zehn Minuten später stand sie auch schon auf der besagten Straße und wusste nicht, was sie eigentlich hier zu suchen hatte. Als ob jetzt noch irgendwo Spuren zu sehen wären. Jetzt fand sie ihre Idee nur noch lächerlich, schlang die Arme um ihren Körper und hatte immer noch Kopfschmerzen. Ermattet setzte sie sich einfach auf den Randstein und starrte in die Dunkelheit.

Der Blitz - zumindest fühlte es sich so an - schoss mit einem Schlag durch ihren Kopf und schien ihre Gedanken aufzuwirbeln. Automatisch schloss Medina die Augen, der Schmerz füllte ihren Kopf aus, war kaum mehr auszuhalten. Es begann eine Szene vor ihren Augen abzulaufen. Immer und immer wieder. Wie ihre Großmutter sie und ihren Bruder in die Ecke des Schlafzimmers schob und sich schützend vor sie stellte. Sie sprach mit jemandem. Medina versuchte, hinter ihr hervorzulugen, aber Oma schob sie wieder hinter ihren Rücken.

Dann hörte der Schmerz so plötzlich auf wie er gekommen war und Medina öffnete ihre Augen. Sie wusste jetzt, was sie tun musste. Sie musste zurück! Zurück zu dem Ort, an den sie sich seit zwölf Jahren nicht zu erinnern vermochte.

3.

Als sich Medina zurück in ihr Krankenzimmer schleichen wollte, sah sie Alexander mit mehreren Schwestern im Gang stehen. Er gestikulierte mit den Händen. Medina konnte ihn nicht hören, deshalb straffte sie sich und ging näher. Den Plan, ungesehen zurück ins Bett zu kriechen, musste sie aufgeben.

„Was ist los?", fragte sie, als sie hinter ihm stand.

Er wirbelte herum.

„Miss Thompson. Da sind Sie ja. Wir haben Sie überall gesucht!“, rief er und seine Miene hellte sich auf.

Verwundert sah sie an ihn.

„Ja, ja, wo sollte ich schon sein? Ich brauche eine Schmerztablette, meine Kopfschmerzen bringen mich bald um!“ Medina wandte sich mit einem Augenaufschlag an die kleine Krankenschwester von vorhin. Die gab ihr ein Schälchen mit zwei Tabletten und ein Glas Wasser.

„Ich hatte sie bereits vorbereitet, aber dann waren Sie plötzlich weg“, Ihre Stimme klang vorwurfsvoll.

Medina zuckte nur gleichgültig mit den Achseln und spazierte zurück in ihr Zimmer. An der Tür hielt sie noch einmal kurz an und blickte Alexander bittend an. „Kommen Sie mit?“

Er nickte und folgte ihr. Medina zog sich aus und stieg wieder in ihr Bett. Sie schluckte die Tabletten und deckte sich zu.

„Ich wollte Sie um Hilfe bitten, Mr. …, eh, wie heißen Sie noch gleich?“

„Bacera. Sie können aber auch Alex zu mir sagen.“

„Gut, Alex. Könnten Sie mich morgen zum Haus meiner Großmutter fahren? Ich kann mir die Reparatur meines Wagens nicht leisten“, gestand sie kleinlaut und gähnte.

Er lächelte freundlich. „Ja natürlich. Kein Problem“, versicherte er ihr.

„Vielen Dank.“ Sie lächelte zurück und kuschelte sich in die Decke. Kurz darauf war sie eingeschlafen.

***

Alex blieb bei ihr sitzen und betrachtete sie. Vom ersten Augenblick hatte sie ihn fasziniert. Sie war wild und anziehend. Normalerweise umgab er sich nicht mit diesem Typ Frauen. Was würde Dad wohl zu ihr sagen? Bei dem Gedanken musste Alex grinsen. Sein Dad war Investmentbanker und hatte noch einiges mit ihm vor. Sein komplettes Leben war von ihm vorbestimmt. Welcher Kindergarten, High School, College und … welche Freunde er haben sollte. Das bezog die Frauen natürlich mit ein. Im Moment war Dads Favoritin Mandy, die Tochter seines Partners. Alex musste zugeben, sie war hübsch und clever dazu, aber so langweilig wie ein abgestandenes Bier. Wollte er etwa mit seinen 28 Jahren rebellieren? Alex verstand sich selbst nicht. Wieso saß er überhaupt hier? Was genau fand er an Medina so faszinierend? Vielleicht weil sie genau das Gegenteil war? Schmutzig und frech, aber unglaublich sexy. Wenn er nur jemals wieder diesen ersten Anblick von ihr aus seinem Kopf kriegen könnte, als sie aus dem Wagen gestiegen war. Stramme Brüste hatten sich unter dem engen T-Shirt abgezeichnet. Die langen muskulösen Beine, die braungebrannt aus den zerrissenen Jeansshorts herausragten und dazu die klobigen Boots, die eigentlich überhaupt nicht dazu passten. Ihr braunes, langes Haar hing ihr chaotisch ins Gesicht und reichte bis zu ihren schmalen Hüften. Und dazu die verwaschenen blauen Augen, die ihn verstört angesehen hatten.

Alex bekam schon wieder eine Erektion, wenn er an ihren nackten Hintern dachte, den er vorhin sehen durfte, als sie sich unbekümmert angezogen hatte.

Oh ja, er würde ihr helfen. Und er sehnte sich nach einem Blick von ihr, der ihm nicht sagte, er sei der letzte Loser.

***

Wenige Stunden später schlug Medina die Augen auf und wunderte sich, dass sie ihre Beine kaum bewegen konnte. Sie blickte an sich hinunter und entdeckte Alex halbliegend auf ihren Beinen, halbsitzend am Bett. Na toll, der ist ja so nervig wie eine streunende Katze, ging es ihr durch den Kopf. Wie sie Männer hasste, die immer eine Gegenleistung zu erwarten schienen. Leise seufzend griff sie nach dem Becher auf dem Nachttisch und trank gierig das restliche Wasser. Jetzt ’ne Kippe und ’nen Kaffee, dachte sie, zog die Beine unter ihm hervor, kleidete sich rasch an und schlich aus dem Zimmer. Auf dem Flur begegnete sie einem jungen Pfleger, der gerade dabei war, Frühstück zu verteilen.

„Kannst du mir einen Kaffee geben?“, fragte sie lächelnd.

Doch der Pfleger hatte nur Augen für ihre Brüste. Da sie ihn weiterhin fragend ansah, goss er schließlich den gewünschten Kaffee in einen Plastikbecher und reichte ihn ihr. „Zucker und Milch?“, stotterte er.

Medina schüttelte den Kopf. Mit dem Kaffee verließ sie über die Treppe das Gebäude, fummelte im Gehen ihre Zigarettenschachtel aus der Hosentasche und zündete sich eine an. Mit kleinen Schlucken würgte sie das dünne Gebräu hinunter und rauchte. Als sie fertig war, schnippte sie die Kippe weg, kippte den restlichen Kaffee in die Büsche und warf den leeren Becher, nach einem kurzen Blick über ihre Schulter, hinterher. Sie wollte gerade wieder hochgehen, als Alex aus der Tür des Hauptgebäudes trat. Suchend stand er in der Einfahrt. Sie wollte ihn nicht länger auf die Folter spannen, sondern schlenderte auf ihn zu.

„Alex. Wolltest du schon los? Ist doch okay, wenn ich Du sage, oder?“

Er wirkte verdattert. „Geht es dir besser? Die Polizei hatte nach dir gefragt, aber ich wusste ja nicht, wo du bist.“

Auch das noch, dachte sie. Sie war weder krankenversichert, noch hatte sie Lust auf die Cops. Ihr Auto konnte sie sowieso nicht bezahlen. Sie lächelte betont fröhlich, denn tatsächlich ging es ihr etwas besser.

„Mir geht es super. Komm, lass uns einfach verschwinden“, schlug sie vor und griff nach seiner Hand. Widerstrebend ließ er sich von ihr wegzerren.

„Wo ist dein Auto?“, fragte sie und blieb stehen. Alex zeigte auf den metallic-grauen BMW x5, der aufgrund seiner Größe eineinhalb Parkplätze belegte. In ihrem Gesicht zeigte sich keinerlei Regung und er schien enttäuscht. Schweigend stiegen sie ein.

„Wohin soll‘s denn gehen?“, fragte er, als er aus der Parklücke fuhr.

„L.A. Besser gesagt San Bernardino. Da ist das Haus meiner verstorbenen Großmutter.“

„Dir ist schon klar, dass wir mindestens sechs Stunden unterwegs sein werden? Frisco ist ja nicht gerade um die Ecke.“

Medina runzelte die Stirn. „Und? Ist das ein Problem für dich?“, fragte sie herausfordernd und blickte ihm dabei tief in die Augen.

„Nein, nein. Kein Problem“, stotterte er und fummelte am Navigationsgerät herum.

Wie sollte sie sechs Stunden mit diesem Langweiler aushalten? Sie könnte so tun, als wäre sie wieder müde und hätte Kopfschmerzen, überlegte sich Medina, und froh über diese einfache Lösung sank sie tiefer in den Sitz.

***

Sie waren bereits eine Weile auf der California State Route 1 unterwegs, als Alex zu reden begann. Er hielt ihre Nähe fast nicht aus. Wie sie lässig neben ihm saß, für ihn ein Leichtes, seine Hand zu ihren Schenkeln wandern zu lassen.

„Suchst du etwas Bestimmtes bei deiner Großmutter?“, fing er an und warf ihr einen kurzen Seitenblick zu.

„Alex, sorry, aber ich hab schon wieder wahnsinnige Kopfschmerzen. Ich werde etwas schlafen, okay?“ Ihre Stimme klang matt und sie schloss die Augen.

Alex war enttäuscht. Er fuhr mit den Fingern durch sein leicht strähnig gewordenes Haar und fummelte einen Kaugummi aus der Mittelkonsole. Dieser abgestandene Geschmack in seinem Mund machte ihn wahnsinnig. Vielleicht könnte er beim nächsten Stopp eine Zahnbürste und Zahnpasta kaufen.

Wann hatte er jemals so etwas Verrücktes getan? Einfach nicht zur Arbeit erscheinen, nicht duschen, mit seinen Klamotten vom Vorabend am Leib? Dennoch fühlte es sich richtig an. In seine Gedanken versunken, hörte er Medina leise wimmern, allmählich wurde sie lauter und dann fing sie an zu reden. Die Worte, die sie mit ihren sinnlichen Lippen formte, waren schmutzig und Alex hätte sie wecken sollen, aber er spürte wie sie ihn erregten. Wie sein Schwanz steifer wurde und hart gegen den Cordstoff rieb. Bin ich völlig krank, fragte er sich beschämt. Er fuhr zum nächsten Parkplatz und stieg aus dem Wagen. Glücklicherweise war der Platz leer und Alex lief einige Meter, um sich wieder einzukriegen. Als er zum Auto zurückkam, stand Medina davor und rauchte. Sie wirkte müde, aber alles an ihr übte dennoch eine heftige Anziehung auf ihn aus. Kopfschüttelnd trat er zu ihr.

„Wenn du rauchen kannst, scheint es dir ja besser zu gehen“, grummelte er und stieg ins Auto.

4.

Das Viertel hatte sich seit damals stark verändert. Hübsche Familienhäuser säumten nun die Straße und hatten dem Elend den Garaus gemacht. Nichts deutete mehr auf Banden- oder Drogenkriege hin. Medina gab Alex Anweisungen, dann standen sie vor dem Haus.

„Und du bist sicher, dass wir richtig sind?“, fragte er.

Medina rollte mit den Augen. „Ja, bin ich. Ich war zuletzt vor zwölf Jahren hier. Wartest du hier?“, bat sie und ihre Stimme klang wieder freundlicher. Alex nickte. Er war schrecklich neugierig darauf, wie ihre Geschichte lautete, aber leider hielt sie sich zurück und sprach - wenn überhaupt - gar nicht von sich. Dankbar lächelte sie ihn an und verließ den Wagen.

***

Minutenlang stand sie vor der Tür. Müsste ich nicht irgendetwas fühlen?, fragte sie sich überrascht. Mit zitternden Händen zog sie eine Halskette über den Kopf und hielt das Medaillon fest. Hierin verwahrte sie den Schlüssel für das Haus. Es war ein besonderes Schmuckstück, das sie beim Spielen auf dem Dachboden gefunden hatte. Medina wollte es unbedingt haben, da es durch seine ungewöhnliche Größe bestach und sie sich vorgestellt hatte, was sie darin alles verwahren könnte. Gran hatte es ihr schließlich zum achten Geburtstag geschenkt. Seit jener Nacht bewahrte sie den Schlüssel darin auf.

Endlich fasste sie Mut und schloss auf. Die Tür ließ sich nur schwer öffnen, so dass sie zuerst an ihr ziehen und rütteln musste. So lang war es schon her und doch durchströmten Medina Erinnerungen. Alle - bis auf eine. Es fehlte jene Nacht. So sehr sie sich auch anstrengte, sie kam immer nur bis zu dem Teil, an dem sie im Police Departement gesessen und die beiden Officers ihr einen Kakao gegeben hatten.

Langsam ging sie durch den Flur und blieb an der Tür stehen, die zum Wohnzimmer führte. Weiße Decken lagen über den Möbeln, die Fenster waren mit Holzlatten verschlossen worden. Wer hat aufgepasst und gewartet, dass sie wiederkommen würde?, fragte sie sich.

Spärliche Sonnenstrahlen bahnten sich einen Weg durch die Ritzen an den Fenstern. Staubkörnchen tanzten darin und einen Moment lang hielt die Atmosphäre Medina gefangen. Rasch schüttelte sie den Kopf und überlegte, wo sie hier wohl etwas finden könnte, das auf jene Nacht hinwies. Hätten die Cops es dann nicht längst entdeckt? Medina nahm sich vor, als nächstes das Department zu besuchen. Möglicherweise hatte sie Glück und die beiden Polizisten von damals waren noch da. Froh über ihren Plan, stieg sie die Stufen zum oberen Stockwerk hinauf und ging direkt in Grandmas Zimmer. Alles sauber. Der Teppich war neu verlegt worden, das Bett und die restlichen Möbel waren aber dieselben, genau, wie sie sie in Erinnerung hatte. Auch hier waren die Fenster mit Brettern gesichert worden, es war dämmrig. Medina legte den Schalter um. Nichts! War ja klar, schoss es ihr durch den Kopf und sie ging kurzerhand zum Fenster. Vielleicht könnte sie eines der Bretter lösen. Aber so sehr sich auch abmühte, es passierte nichts.

„Kacke“, fluchte sie leise und drehte sich zur Kommode um. Sie öffnete die Schubladen. Leer. Sie waren mit Zeitungspapier ordentlich ausgelegt worden. Wieder fragte sie sich, wer sich um das Haus gekümmert haben könnte. Plötzlich hörte sie Stimmen im Flur und lauschte.

„Wer sind Sie und wer ist da oben?“, hörte sie eine aufgeregte, weibliche, älter klingende Stimme.

„Nun, ich wollte Miss Thompson einen Gefallen tun …“

Medina vernahm  Schritte, die die Treppe hinaufstampften. Sie wich ins Zimmer zurück, aus Angst, wer gleich vor ihr stehen würde. Im Türrahmen erschien eine robuste Mittvierzigerin mit kurzen, ausgeblichenen Haaren und sah sie zunächst überrascht an.

„Medina? Bist du das wirklich?“, flüsterte sie und kam näher.

Hinter ihr erschien Alex und machte ein entschuldigendes Gesicht. Medina warf ihm einen bösen Blick zu.

„Jetzt bloß keine Umarmung, ja? Wer sind Sie? Sind Sie die Person, die aufgepasst hat auf … auf Grandmas Haus?“

Die Frau blieb stehen und hob kurz die Schultern, als hätte sie die Reaktion erwartet. Beide musterten sich und dann drehte sich die Frau um und sagte leise: „Komm mit runter, ich werde dir alles erklären. Mister?“, sprach sie Alex an, der ihr den Weg versperrte. Er trat beiseite und wirkte etwas verloren. Fast tat er Medina leid. Er ist der Mann, er wird sich wohl wehren können, dachte sie und folgte ihr nach unten.

„Mein Name ist Ruth Simmon, ich bin die Nachbarin und Freundin deiner Grandma gewesen“, begann sie, zog ein Laken vom Sofa und faltete es ordentlich zusammen, bevor sie sich setzte. Mit der Hand bedeutete sie Medina, sich ebenfalls zu setzen. Alex wurde von beiden Frauen gar nicht beachtet, so blieb er einfach stehen.

„Nun“, fuhr Ruth fort und strich dabei durch ihr kurzes Haar. „Deine Grandma fing so ein halbes Jahr vor dem Unglück damit an, mir mitzuteilen, was geschehen sollte, wenn sie sterben würde.“ Ihre Augen sahen traurig aus, die Mundwinkel hingen schlaff nach unten. Ruth war deutlich vom Alter gezeichnet. „Ich war besorgt und fragte sie, ob sie ernsthaft krank war, aber sie verneinte und wollte über die Hintergründe nicht sprechen. Und wer sie kannte, wusste, dass es keinen Sinn gemacht hätte, in sie zu dringen. Also teilte sie mir mit, was mit dir und mit Ross passieren sollte. Wobei ihr Hauptaugenmerk nicht auf Ross lag. Es hatte mich damals schon gewundert, aber ich durfte nicht widersprechen und langsam hielt ich sie für senil. Jedenfalls sollte ich mich um das Haus kümmern. Dann wollte sie, dass du auf deinen eigenen Füßen stehen solltest und damit meinte sie, ich dürfe mich nicht einmischen. Egal, was passiert. Denn erst habe ich ganz selbstverständlich angeboten, dass ihr beiden zu mir kommen könnt. Davon wollte sie nichts hören und wurde richtig wütend.“

Verwirrt lauschte Medina ihren Worten. Das bedeutete also, wegen ihrer Grandma hatte sie so aufwachsen müssen? Immer eine andere Pflegefamilie, Übergriffe der Väter, Schläge der Mütter, bis sie es nicht mehr ausgehalten hatte, sie bestahl und fortlief? Bei dem Gedanken gefror ihr Herz zu Eis und sie ballte unwillkürlich die Fäuste.

„Heißt das, meine Gran wollte nicht, dass mir jemand hilft?“ Die Worte kamen ihr erstaunlich ruhig über die Lippen.

„Nicht nur das, Medina. Deine Granny hat dir sogar eine beträchtliche Summe hinterlassen. Das Geld liegt in einem Treuhandfonds und weißt du, was das Merkwürdigste ist?“

Eigentlich hatte Medina noch damit zu kämpfen, dass ihre geliebte Grandma sie auch nach ihrem Tod im Stich gelassen hat, und jetzt fing die alte Schlampe noch an, ihr zu erzählen, sie wäre wohlhabend. Kopfschüttelnd blickte sie auf ihre immer noch geballten Fäuste.

„In wenigen Stunden ist der Fonds frei, das heißt, die Erbin erhält offiziell das Geld. Aber noch viel merkwürdiger ist, dass deine Grandma das heutige Datum dort festgeschrieben hat und mir mitteilte, dass an diesem Tag etwas passieren würde.“ Ruth strich sich über die Stirn.

Ungläubig starrte Medina ihr ins Gesicht. Das dämmrige Licht machte sie nervös und die Luft schien so dick, dass sie kaum atmen konnte. Eine Entschuldigung murmelnd verließ sie auf unsicheren Beinen das Haus, zündete sich schnell eine Zigarette an und sah in den Himmel. Ihre Hände zitterten und sie hatte das Gefühl, sie würde träumen, aber dazu war alles zu real. Vor dem Haus war es auch nicht besser, die hohe Luftfeuchtigkeit ließ sie schwindeln, also schnippte sie die Kippe nur halbgeraucht weg und betrat das Haus wieder. Alex stand immer noch hinter einem Sessel und am liebsten hätte sie ihn angeschrien, um ihre Wut loszuwerden. Da er aber kein Wort sprach, hatte sie keinen Grund ihn anzugreifen. Also bedachte sie ihn mit einem genervten Blick und setzte sich wieder neben Ruth, die sie fragend ansah.

„Deine Granny hat dich sehr geliebt, Medina“, sagte die Frau sanft.

Wütend sprang Medina auf und blickte Ruth hasserfüllt an.

„Ich war acht Jahre! Acht beschissene Jahre alt. Ein kleines verstörtes Mädchen, das nicht wusste, was mit ihrem Bruder und ihrer heißgeliebten Gran passiert war. Fremde Leute haben mich aufgenommen. Menschen, denen Geld wichtiger war und die das ganze Haus voller Kinder hatten, um sie zu quälen und zu schänden. Wissen Sie, wann ich das erste Mal Sex hatte? Na?“

Beschämt blickte Ruth zu Boden, nachdem sie sich vorher bekreuzigt hatte.

„Ich war nicht mal neun!“, spuckte Medina aus. „Dieser Hurensohn hat mich mittags im Zimmer besucht und mir seinen dicken, ekligen Schw…“ Weiter kam Medina nicht. Alex hatte sich ihr genähert und hielt sie von hinten fest im Arm. Ihre Schultern zitterten und die Knie gaben nach. Schluchzend ließ sie die Umarmung zu, den Kopf in den Händen vergraben. Ruth schien es zu bevorzugen, kein Wort mehr zu sagen. Nur noch das Schluchzen und Jammern Medinas war zu hören. Als keine Träne mehr da zu sein schien, hob sie den Kopf und blickte Ruth herausfordernd an.

„Was ist jetzt mit der Kohle? Ich will sie gleich haben und hier endlich abhauen.“

„Ja, sicher, das verstehe ich. Ich habe aber noch etwas für dich. Warte bitte hier, ich bin gleich wieder da.“

Alex reichte ihr ein Taschentuch, sie putzte sich die Nase. Dass er kein Wort sagte, machte sie auf der einen Seite wahnsinnig, auf der anderen rechnete sie ihm das hoch an. Jeder andere hätte nun ein paar Worte zu ihrer Kindheit gesagt und wie schlimm doch alles für sie gewesen sein musste. Er nicht. Fast wünschte sie sich, dass er etwas sagen würde, damit sie mit ihm Streit anfangen könnte, aber er blieb nur still hinter ihr stehen.

Wenig später war Ruth wieder da und überreichte ihr ein Kästchen aus Holz. Es war verschnörkelt, bemalt und klein wie eine Packung Margarine. Medina schüttelte es, aber es schienen sich keine losen Dinge darin zu befinden. Als sie wieder aufsah, hatte Ruth mit Alex das Haus verlassen. Dankbar ging Medina zur Couch und setzte sich. Das Kästchen hielt sie im Schoß. Was für eine beschissene Kacke ist das hier eigentlich?

Nach einer Weile öffnete sie es und fummelte umständlich das kleingefaltete Papier heraus. Als sie es endlich auseinandergefaltet hatte, lagen fünf beschriebene Seiten auf dem Boden, von denen sie die erste nicht mal mit viel Mühe entziffern konnte. Also widmete sie sich dem nächsten Blatt.

Medina,

Es musste passieren, da es unser aller Schicksal war, mit dem du fest verwoben bist. Du wirst es irgendwann verstehen. Du wirst mir niemals verzeihen, aber du wirst mich verstehen lernen.

Ich mag mir nicht ausmalen, wie du die letzten zwölf Jahre verbringen musstest, aber glaube mir, mein Schatz, je härter du ums Überleben kämpfen musst, desto härter wirst du werden …

Medina ließ den Brief sinken und schüttelte mit Tränen in den Augen den Kopf. Woher hatte Grandma gewusst, wann ich diesen Brief lesen werde? „Shit, was ist hier eigentlich los? Werde ich bekloppt?“, fragte sie laut und nahm den Brief wieder zur Hand.

… und diese Härte wirst du brauchen, um deine Aufgabe zu erfüllen. Alles, was du dazu noch benötigst, wirst du im Keller finden. Zerstöre das Medaillon und lass die Vorderseite in einem dafür vorgesehenen Schloss einrasten. Was du dann finden wirst, ist dein Schicksal, weshalb viele Menschen ihr Leben geben mussten. Ich weiß genau, du wirst das Richtige tun, du bist deiner Mom so ähnlich.

Ich liebe dich

Für immer

Deine Grandma

„Na toll. Und wo finde ich das Schloss? Witzig, Oma!“ Zornig zerknüllte sie den Brief und starrte auf ihr Medaillon. Na gut, ich geh ja schon. Mit wenigen Schritten war sie an der Kellertür und kramte ihr Feuerzeug aus der Hosentasche. Mit dem flackernden Licht in der Hand stieg sie vorsichtig die Stufen hinab und kam sich plötzlich vor, als wäre sie wieder acht. Angst hielt sie fest im Griff und begleitete sie nach unten.

Logischerweise musste das Schloss an einer der Wände sein. Medina versuchte mit den Fingern Unebenheiten zu ertasten und hoffte, das Feuerzeug würde nicht den Geist aufgeben. Aber die Hoffnung währte nur kurz, denn ehe sie noch den Gedanken zu Ende gedacht hatte, erlosch es. Mehrmals hintereinander versuchte sie, es wieder anzubekommen, aber keine Chance. Kaum hatte sie sich damit abgefunden, fiel ihr die Dunkelheit auf, die sie nun umhüllte und damit schwappte die Panik endgültig über Medina, nistete sich ein in jede Faser ihres Körpers und schnürte ihr die Brust zu.

Es war so dunkel, dass sie ihre Hände nicht mehr vor Augen sehen konnte und die Orientierung komplett verloren hatte. Sie hörte ein Flüstern, allerdings vermutete sie es im ersten Moment, dass es ihrer Panik entsprang, pure Einbildung war. Aber als das Wispern lauter wurde und Medina auch noch einen kühlen Luftzug am Arm spürte, bekam sie Gänsehaut. Nicht wegen der plötzlichen Kälte, sondern weil ihre Angst fast unerträglich wurde. Und dann spürte sie etwas durch ihre Haare greifen. Schreiend stolperte sie im Keller umher. Das wenige Licht, das durch die Tür kam, reichte nicht bis dorthin, wo sie sich befand. Es war ein Albtraum, aus dem sie nicht erwachen konnte, weil sie nicht schlief. Als sie auch noch über irgendetwas fiel und sich den Fuß verknackste, schrie sie aus vollem Hals. Tränen liefen ihr über das Gesicht und für einen kurzen Moment sah sie wieder die Szene mit Grandma, die sich schützend vor ihre beiden Enkel gestellt hatte. Doch wer sollte sie hören? Alex war mit Ruth aus dem Haus gegangen. Vermutlich hatte sie ihm Eistee serviert und sie saßen bei ihr auf der Veranda.

Medina holte tief Luft und nahm all ihren Mut zusammen. Was soll hier bitte schon sein? War sie nicht bisher mit allem alleine fertig geworden? Stöhnend stand sie auf und humpelte mit nach vorne gereckten Armen durch den Keller, in der Hoffnung, sie würde gleich die Wand berühren.

„Endlich, Med“, kam es deutlich aus der Dunkelheit. Med? So hatte Ross sie immer genannt und schon damals hätte sie jedes Mal aus der Haut fahren können, wenn er sie so rief. Blind tapste sie nach vorne, fing an sich zu drehen.

„Was soll die Scheiße?“, rief sie mutiger, als sie sich fühlte.

„Jetzt reg dich nicht gleich wieder auf, Schwesterherz“, sagte die Stimme amüsiert. Medina erstarrte.

5.

Tatsächlich saß Alex mit Ruth auf ihrer Veranda. Nur tranken sie keinen Eistee, sondern Bier aus der Dose. Eigentlich hatte Alex keine Lust, mit der schrulligen Frau zu sprechen. Daher schaltete er sein Handy an und amüsierte sich über die 36 Anrufe in Abwesenheit, alle von seinem Dad. Die Kurznachrichten sahen nicht besser aus, denn offensichtlich hatte Dad keine andere Möglichkeit mehr gesehen. Sie fingen mit „Wo zum Teufel steckst du“ an, bis zum bittenden „Alex, melde dich, wir machen uns Sorgen“.

Erst fand Alex das hier alles sehr aufregend und lustig und wollte seinen Dad damit provozieren, aber schließlich bekam er doch Gewissensbisse, stand auf und ging in den Garten, wo er ungestört telefonieren konnte.

„Dad, ich bin’s, Alex.“

„Junge, wo steckst du? Ich mache mir Sorgen und habe alle Krankenhäuser abgeklappert.“

Nein, Dad, nicht alle, dachte er.

„Alles okay, Dad. Ich musste einer Freundin aus der Patsche helfen und bin in LA. Bitte gib mir ein paar Tage frei, ihr geht es wirklich nicht gut.“

„Wer ist deine Freundin?“

War ja klar, dass er das fragen würde.

„Du kennst sie nicht. Ich habe sie zufällig wiedergetroffen. Sie muss ein paar Dinge klären, bei denen ich ihr helfe.“

„Alex, denk bitte an den Majestro-Deal. Wir müssen in zwei Wochen nach Italien und die Präsentation ist noch nicht vorbereitet …“

Dad, dieser beschissene Deal interessiert mich einen Dreck, dachte er, antwortete aber brav: „Ja, Dad, selbstverständlich, Dad. Ich melde mich wieder, okay?“ Genervt legte er auf und schlenderte wieder zu Ruth, die ihn keines Blickes würdigte. Selbst die schrullige Alte behandelt mich wie Luft, ging es ihm durch den Kopf.

„Alles okay?“, fragte sie dann doch unvermutet.

„Jaja, alles bestens“, erwiderte er knapp und wandte sich wieder seinem Handy zu. Wohl wissend, dass er unhöflich war, aber war sie das nicht auch? Sogleich bekam er ein schlechtes Gewissen und packte es weg.

„Na ja, eigentlich macht sich mein Dad ziemlich Sorgen“, sagte er. „Ich bin einfach so gegangen, ohne Nachricht. Dabei kenne ich Medina erst seit gestern Nacht.“

Ruth stimmte ihm mit einem Nicken abwesend zu. „Weißt du, ich habe eigentlich gar nicht richtig mitbekommen, was damals passiert ist. Irgendjemand hatte die Polizei gerufen und plötzlich war niemand mehr da und auf meine Fragen hat natürlich auch kein Mensch reagiert, da ich nicht zur näheren Verwandtschaft gehöre. Ich habe mich nicht getraut, zu fragen, als es hier überall von Polizisten und FBI-Agenten wimmelte. Das Haus war wochenlang nicht zugänglich und ich habe mich einfach versteckt und so getan, als wäre nichts passiert.“ Entschuldigend blickte sie Alex an.

„Ich habe kein Recht, Sie zu verurteilen, Ruth“, antwortete er nur und trank noch einen Schluck Bier.

6.

Langsam löste sich Medina aus der Starre. Jetzt wurde sie zornig über den unsichtbaren Spaßvogel und fauchte: „Keine Ahnung, wer du bist, aber ich find das nicht witzig. Ich werde jetzt aus dem Keller hinausspazieren und mit einer Taschenlampe wiederkommen. Wenn du dann noch da bist, hast du Pech gehabt, weil ich dir dann mal so richtig die Fresse polieren werde.“ Prompt setzte sie sich in Bewegung, immer mit den Händen vorneweg. Gelächter verfolgte sie, was ihre Wut nur noch mehr schürte. Zähneknirschend berührte sie endlich die Wand und tastete sich vorwärts.

„Hey, Med. Das war doch nur ein Joke. So ähnlich wie damals, als ich dir erzählt habe, ich hätte Mimi im Garten vergraben.“

Ruckartig blieb Medina stehen. Eiskalt lief ihr feuchter Schweiß die Achseln hinunter. Das konnte niemand wissen! Mimi war ihre Katze gewesen und sie war plötzlich verschwunden. Medina hatte tagelang geweint, Grandma schaffte es nicht, sie zu beruhigen und Ross ärgerte sie und erzählte ihr, er hätte die Katze im Garten vergraben. Daraufhin war Medina in den Garten gerannt und hatte mit den bloßen Händen in der Erde gebuddelt. Granny war stinksauer gewesen und Ross vor Lachen umgefallen. Er hatte sich auf dem Boden gekringelt. Wie alt war sie damals gewesen? Fünf oder sechs? Mimi war natürlich nicht tot, sondern kam irgendwann wieder heim. Als Entschuldigung hatte sie eine tote Maus mitgebracht.

Sanft berührte sie ein Lufthauch an der Wange, an der wieder Tränen hinunterliefen. Sie wollte es so sehr glauben, aber wie bescheuert war das denn? Welcher Trottel glaubt an Geister … oder war er kein Geist?

„Was bist du?“ Sie wisperte vor Angst.

„Ein paranormales Wesen. Energie, die hier auf der Erde übrig geblieben ist. Was weiß ich denn? Jedenfalls hat Granny mir gesagt …“

„Granny?“, unterbrach sie ihn ungläubig.

„Ja. Granny. Sie durfte nicht hier bleiben, hatte aber etwas Zeit, mit mir zu sprechen, deshalb weiß ich auch nur das Wichtigste.“

Da stand sie und unterhielt sich mit ihrem Bruder Ross, der seit zwölf Jahren tot war, als wäre es das Normalste der Welt. Sie war verstört.

„Na ja, sie hat mir ein paar Sachen gesagt, die wichtig sind, wenn deine Zeit gekommen ist. Hm, offensichtlich ist das heute. Ich hab jegliches Zeitgefühl verloren, sorry.“ Seine Stimme kam immer aus einer anderen Richtung und Medina verlor langsam die Geduld.

„Kannst du nicht mal stehen bleiben? Es macht mich wahnsinnig, wenn ich ständig den Kopf drehen muss“, schimpfte sie.

„Ich bin so aufgeregt, dass du endlich hier bist. Genau wie Granny es gesagt hat. Hast du schon ihre Schatulle bekommen? Blöde Frage, klar, sonst wärst du nicht hier unten. Also, da sind so ein paar Briefe drin. Einer ist ganz besonders wichtig. Der hilft mir nämlich, endlich aus dem Haus zu kommen und mit dir zu gehen. Dabei musst du die Sprache nicht kennen, sagte Granny. Lies es einfach vor, wie es da steht, der Rest passiert von selbst.“ Er klang so, als wolle er mit ihr in eine Shopping-Mall und Eis essen. Über diese Situation musste Medina plötzlich lachen. Ein befreiendes Lachen, das sie durchschüttelte und ihr all ihre Angst nahm. Bald machte Ross mit und der Keller war erfüllt von fröhlichem Gelächter.

„Kannst du mir mal sagen, wieso du so lachst?“, wollte er wissen, nachdem der Lachanfall abgeklungen war.

„Na, wenn das mal nicht urkomisch ist, Ross. Könnte ich dich eigentlich sehen, wenn es hier Licht gäbe?“

„Sehen? Ich glaube nicht. Ich bin nur Energie, ich habe keinen Körper. Jedenfalls konnte mich die schrullige Lady nicht sehen, die hier ab und zu vorbeikam. Manchmal habe ich sie erschreckt, weil mir langweilig war. Dann war sie länger nicht da, kam aber doch immer wieder“, lachte er.

Jetzt wollte Medina wissen, was passieren würde, wenn sie den Brief vorläse. So lange war sie allein gewesen, hatte so viel ertragen und nun war Ross wieder da. Aber wieso eigentlich?