9783869135779.jpg

Krimi-Logo_sr.jpg 

 

 

 

Jan Beinßen

 

Sechs auf Kraut

 

Paul Flemmings zehnter Fall

 

Kriminalroman

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

ars vivendi

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (Erste Auflage September 2015)

 

© 2015 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Stefan Imhof

Umschlaggestaltung: ars vivendi verlag unter

Verwendung einer Fotografie von © Frank N. Wirth

 

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-607-3

 

Inhalt

 

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Danksagung

Der Autor

 

»Heute brauchen wir nicht still zu sein. Einigermaßen ­anständig zu bleiben ist nicht gefährlich.«

Hermann Glaser

 

1

 

Paul Flemming hatte es eilig, sein Atelier abzusperren. Seinen Mantel zog er sich über, während er schon die Treppenstufen hinunterrannte. Als er auf die Straße trat, bekam er die ersten Vorboten des Herbstes zu spüren: Böen rissen trockene Zweige ab und ließen sie über das Kopfsteinpflaster tanzen. Die Baumkronen rauschten, durch die Giebel pfiff der Wind. Paul hielt seinen Kragen zusammen, lief über den Weinmarkt und warf dabei einen Blick auf seine Armbanduhr.

Eigentlich hätte er schon vor einer halben Stunde daheim sein sollen. Denn Katinka und er erwarteten Gäste: Hannah wollte heute ihren neuen Freund vorstellen. Diesmal was Ernstes – angeblich. An der Zeit wäre es ja, dachte Paul, denn sie war jetzt Mitte zwanzig und hatte bisher nur ein paar flüchtige Affären vorzuweisen. Manchmal argwöhnte Paul, dass seine leichtlebige und sehr unstete Stieftochter nicht bindungsfähig war. Aber das könnte sich ja jetzt ändern. Paul war gespannt auf den Neuen, von dem er bisher nur wusste, dass er Alexander Winterkorn hieß, als Krankenhausarzt arbeitete und ein ganzes Stück älter war als Hannah.

Es gab also Grund genug, auf kürzestem Weg nach Hause zu gehen. Doch das konnte er nicht: Paul war seinem Freund Jan-Patrick einen Gefallen schuldig. Er hatte dem Wirt des Goldenen Ritters zugesagt, sich eine Immobilie anzusehen. Es ging um einen leer stehenden Altbau, den Jan-Patrick erworben hatte, weil er sich in den Kopf gesetzt hatte, nun auch als Hotelier groß einsteigen zu müssen, und die bescheidenen Gästezimmer im Goldenen Ritter dafür nicht ausreichten. Das Haus in der benachbarten Lammsgasse hatte er für einen Appel und ein Ei bekommen, weil es als stark sanierungsbedürftig galt und jeder andere Investor mit einem Funken Verstand die Umbaukosten scheute. Auch Paul fand es gewagt, ja verrückt, was Jan-Patrick sich vornahm, wollte das Gebäude aber wenigstens mal in Augenschein nehmen. Also bog er ab und ging den Burgberg hinauf statt hinunter.

Als er die schmale Straße mit ihren eng aneinandergereihten Wohn- und Geschäftshäusern erreichte, musste er sich zunächst orientieren, um die richtige Hausnummer zu finden. Er blieb abrupt stehen und brachte damit einen älteren Herrn aus dem Konzept, den Paul kurz zuvor überholt hatte und der nun beinahe auf ihn aufgelaufen wäre. Paul entschuldigte sich bei dem Mann, dessen faltiges Gesicht auf ein Alter jenseits der Achtzig schließen ließ, dessen formelle Kleidung inklusive Hut und Aktentasche indes den Eindruck erweckte, als würde er gerade von der Arbeit in einem Büro kommen. Kopfschüttelnd ging der Senior weiter in Richtung des Gebäudes, das Paul inzwischen als Jan-Patricks Neuerwerb identifiziert hatte.

Es handelte sich um ein fünfstöckiges, spitzgiebliges Wohnhaus mit lachsrosa Sandsteinfront. An sich ein durchaus respektables Überbleibsel des Altbestandes, der den Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs überstanden hatte. Dennoch sah man dem Haus die Jahrhunderte an, die es auf dem Buckel hatte, und man musste kein Fachmann sein, um die witterungsbedingten Schäden an der Fassade zu erkennen.

Paul betrachtete den zugenagelten Eingangsbereich und ließ seinen Blick höher wandern, als er auf einen ungesicherten Fensterladen aufmerksam wurde, den der Wind auf- und zuschlug. Direkt darunter schien der Sturm Staub und kleine Steinchen aus dem bröckelnden Sims zu treiben, und Paul sah mit gewisser Sorge, wie Steinbrösel herunterrieselten – direkt auf den Gehsteig, auf dem der alte Herr nur langsam vorankam.

Die nächste Böe fiel besonders kräftig aus. Wieder klapperte der Fensterladen. Und dann geschah es: Paul war einen Moment wie erstarrt, als er sah, dass sich einer der Fensterläden aus dem Scharnier löste, nach vorn kippte und nur noch in einer Angel hing.

Ihm schoss der Schreck durch alle Glieder. Jeden Augenblick könnte der Fensterladen abstürzen – und direkt darunter trottete gemächlich der nichts ahnende Senior! Paul handelte intuitiv und spurtete los: Im Nu hatte er den Rentner erreicht, packte ihn an den Schultern und schubste ihn aus der Gefahrenzone. Der Alte erschrak heftig, kam ins Stolpern und fiel beinahe hin. Keine zwei Sekunden später schlug der Fensterladen mit einem dumpfen Krachen auf dem Pflaster auf und zerbarst.

Ein Schwarm Spatzen suchte aufgeregt zwitschernd das Weite. Eine Passantin, die alles mit angesehen hatte, blieb mit besorgter Miene stehen, ging dann aber weiter, als sie merkte, dass Paul und der ältere Herr unversehrt waren.

Der Rentner, der sich Halt suchend an die nächste Hauswand lehnte, brauchte Zeit, um zu begreifen, was vorgefallen war. Mit schreckgeweiteten Augen starrte er zunächst auf die Holzsplitter, um danach Paul angsterfüllt anzusehen. Seine wässrigen blauen Augen flimmerten, als er sagte: »Meine Güte. So ein großes Stück …« Er schnappte nach Luft. »Was da alles hätte passieren können … Gar nicht auszudenken!«

»Sie hatten Glück im Unglück«, sagte Paul, dem das Herz ebenfalls noch bis zum Hals schlug. Die Sache war verdammt knapp gewesen.

»Wie konnte das denn geschehen?«, fragte der Mann aufgewühlt.

Paul bückte sich nach einem Trümmerstück und betrachtete das morsche Holz. »Der kräftige Wind …«, setzte er zu einer Erklärung an.

»Ich hätte tot sein können«, erkannte der Senior die ganze Tragweite der Situation. Nur sehr zögerlich löste er sich von der Wand und streckte Paul die Hand entgegen. »Ich bin Ihnen zu Dank verpflichtet, junger Mann.«

Paul schlug ein, nur um seine Heldentat sogleich herunterzuspielen: »Sie an meiner Stelle hätten das Gleiche getan und mich gewarnt. Und schauen Sie mal: Das Holz war ja schon ganz morsch.« Letzteres sagte er, um seinen Freund Jan-Patrick in Schutz zu nehmen. Gewissermaßen vorbeugend, falls der Herr auf die Idee kommen sollte, Anzeige zu erstatten.

»Es hätte gereicht, um mich zu erschlagen«, sah es der Rentner realistisch.

Darauf fiel Paul nichts Besseres ein, als ihn auf andere Gedanken zu bringen. Er fragte: »Sind Sie auf dem Weg nach Hause? Darf ich Sie ein Stück begleiten?«

»Nein, danke sehr, das ist nicht nötig«, antwortete sein Gegenüber und strich sich den Mantel glatt. Seine Aufregung schien sich allmählich zu legen, denn deutlich ruhiger und selbstbewusst erklärte er nun: »Ich bin unterwegs zu meinem Stammtisch. Immer dienstags treffen wir uns im Goldenen Ritter

»Ach ja?«, fragte Paul, den diese Auskunft nicht gerade begeisterte.

»Ja, und jedes Mal nehme ich denselben Weg. Seit etlichen Jahren.« Nach einem Blick die Fassade hinauf fügte er hinzu: »Ich kann Ihnen sagen: So etwas ist mir noch nie passiert.« Er räusperte sich, streckte seinen Rücken durch und sagte mit vorgestrecktem Kinn: »Ich habe mich noch gar nicht mit Ihnen bekannt gemacht. Polster ist mein Name.« Da er vor Paul offenbar keinesfalls den Eindruck eines hilflosen Rentners hinterlassen wollte, nannte er auch seinen Beruf – seinen ehemaligen Beruf: »Justizvollzugsbeamter a. D.«

Paul zuckte zusammen. Musste es ausgerechnet jemand aus dem Justizwesen sein? Die Chancen, dass ein Mann wie Polster Klage gegen Jan-Patrick einreichen würde, schienen gerade stark zu steigen.

Auch Paul stellte sich vor und versuchte abermals, den Vorfall herunterzuspielen. Außerdem bestand er darauf, Polster auf dem Weg zum Goldenen Ritter nicht von der Seite zu weichen, was sich als Segen erwies. Denn wie befürchtet, legte der ehemalige Gefängniswärter wenig später los:

»Ich wüsste zu gern, wem dieser alte Kasten gehört. Ob sich der Besitzer seiner Verpflichtungen bewusst ist? Ich glaube kaum. Man muss ihm eine Lektion erteilen, um zu verhindern, dass andere in Gefahr geraten.«

»Wenn Sie wollen, höre ich mich gern für Sie um«, sagte Paul eilig. »Ich erledige das. Überhaupt kein Problem.«

Die Dankbarkeit, die bis eben die Züge von Polsters Gesicht geprägt hatte, wich dem Argwohn: »Nein«, sagte er scharf. »Noch kann ich meine Angelegenheiten selbst regeln.« Er lüpfte seinen Hut und ließ Paul stehen, noch ehe sie die Irrerstraße mit dem Lokal erreicht hatten.

Paul schnaufte tief durch und beeilte sich, eine Abkürzung zu nehmen, um vor Polster im Goldenen Ritter zu sein. Keine zwei Minuten später betrat er das Gasthaus mit seinem altstadttypischen Chörlein und den im charakteristischen Blau lackierten Eisensäulen, die die Tür flankierten. Paul ließ die mit viel Eis gekühlte Frischfischtheke im Eingangsbereich links liegen und ging zielstrebig durch den urigen, gemütlichen Gastraum. Dahinter, in der Küche, vermutete er den Hausherrn.

Und tatsächlich stand Jan-Patrick in weißer Kochjacke und der dazugehörigen Mütze vor einem seiner Herde. Mit einer Maxiausgabe eines Kochlöffels rührte er in einem großen, mattsilbernen Topf.

»Alarmstufe Rot!«, rief Paul, kaum dass er hereingerauscht war. »Du bist in Schwierigkeiten! In großen Schwierigkeiten!«

Jan-Patrick ließ vor Schreck den Löffel fallen. Er sah Paul mit einem Blick an, der sich zwischen Sorge und Überraschung nicht festlegen wollte.

»Ich sage nur: Lammsgasse!«, machte Paul es kurz.

»Oje, ist wieder ein Teil der Regenrinne runtergekommen?«

»Nein, ein kompletter Fensterladen! Beinahe wäre jemand erschlagen worden. Und das ist nicht alles.«

Jan-Patrick senkte den Kopf und stützte sich am Herd ab. »Dieses Haus bringt mir nichts als Ärger. Hätte ich bloß die Finger davon gelassen.« Bang sah er Paul an. »Sag schon: Was ist noch passiert?«

»Derjenige, dem das Holz um Haaresbreite am Scheitel vorbeigerauscht ist, zählt zu deinen Stammgästen: Polster heißt er, ein ehemaliger Justizvollzugsbeamter, und wie es aussieht ganz die alte Schule. Er hat anklingen lassen, dass er den Besitzer der Immobilie vor Gericht bringen will.«

Obwohl Jan-Patrick ganzjährig über die gesunde Hautfarbe eines Südeuropäers verfügte, sah er mit einem Male sehr blass aus: »Weiß er schon …«

»Nein«, führte Paul seinen Gedanken aus. »Aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis er dahinterkommt. Ich an deiner Stelle würde als Erstes deine Hotelruine so schnell wie möglich absichern und am besten auch den Bürgersteig davor sperren lassen. Und anschließend solltest du dir eine Art Wiedergutmachung einfallen lassen. Du musst Polster milde und gnädig stimmen. Verwöhne ihn mit einem besonders guten Essen, schenk ihm den besten Wein aus deinem Keller ein und beichte ihm dabei, dass du der Übeltäter bist, aber alles wieder ins Reine bringen wirst.«

Jan-Patrick nahm Pauls Ratschläge dankbar an und sicherte zu, sich so bald wie möglich um das Lammsgassenhaus zu kümmern. Auch wolle er mit Polster sprechen, allerdings nicht im Kreise von dessen Stammtischbrüdern, sondern bei nächster Gelegenheit dezent am Rande.

»Was ist das eigentlich für eine Runde?«, erkundigte sich Paul und schob den Vorhang leicht beiseite, der die Küche vom Gastraum trennte. Ganz hinten im Restaurant, gut abgeschirmt durch dunkle Holzbalken und Querstreben, machte er zwei grauhaarige Männer an einem großen, runden Tisch aus, die sich über ansehnliche Portionen Rostbratwurst mit Kraut hermachten und sich dabei immer wieder aus einem bauchigen Porzellantöpfchen mit Kren bedienten. Unter ihnen schien Einigkeit darüber zu bestehen, dass original Nürnberger mit Meerrettich besser schmeckten als mit Senf.

»Sehr treue Kunden«, erklärte Jan-Patrick. »Vier ehemalige Arbeitskollegen im weitesten Sinne, alle aus dem Justiz- und Polizeidienst. Neben Polster ist ein Polizeioberwachtmeister darunter, ein früherer Gerichtsdiener und auch ein ehemaliger Stadtrat, der sich dem Thema Sicherheit verschrieben hatte. Natürlich CSU-Mitglied, wie es sich gehört.«

»Vier? Ich sehe aber nur zwei.«

»Die anderen kreuzen gewiss auch noch auf. Schon früher, als sie noch im Dienst waren, kamen sie hin und wieder vorbei. Seit sie in Rente sind, treffen sie sich hier regelmäßig dienstagabends. Die haben Sitzfleisch und bleiben zwei, manchmal drei Stunden. Sehr verlässliche Umsatzbringer, denn sie bestellen jedes Mal Sechs auf Kraut und nicht wenige Seidla dazu.«

»Und was machen sie, außer Würstchen zu essen und Bier zu trinken?«

»Karteln«, antwortete Jan-Patrick schmunzelnd. »Sind alles Spielernaturen. Zocken, was das Zeug hält. Schafkopf, Skat, Rommé. Langweilig wird denen jedenfalls nicht.« Ihm schien etwas eingefallen zu sein, denn plötzlich verschwand er im kleinen Büroraum, der sich an die Küche anschloss. Kurz darauf kehrte der Wirt mit einem gerahmten Bild zurück, dessen Glas gesprungen war.

»Schau, hier«, sagte Jan-Patrick und hielt Paul das Bild vor die Nase. »Das ist die ganze Truppe. Das Foto hängt sonst überm Stammtisch, aber Marlen hat es beim Staubwischen von der Wand gerissen.«

Paul betrachtete die abgebildeten Männer: allesamt durch und durch seriös, förmlich bis bieder gekleidet, die Haare ordentlich frisiert. »Da waren sie aber um einiges jünger«, merkte er an.

»Das Bild stammt aus den Achtzigerjahren. Das war noch zu Zeiten meines Vorgängers.«

Paul sah genauer hin: »Ich zähle fünf Stammtischbrüder, du hast bloß vier erwähnt …«

Jan-Patrick hob bedauernd die Schultern. »Karl Kraus, ein Polizeikommissar a. D., ist erst vor Kurzem verstorben.«

»Altersschwäche?«, tippte Paul.

»Treppensturz«, korrigierte Jan-Patrick. »Er ist vor seiner eigenen Haustür ausgerutscht und hat sich das Genick gebrochen. Ich war bei seiner Beerdigung, wie auch der ganze Stammtisch.«

»Wie alt ist er denn geworden?«

»Dreiundachtzig. Aber er machte bis zuletzt einen topfitten Eindruck. Da wäre noch was gegangen.«

»Tja …«

Jan-Patrick versuchte Paul zu einem Imbiss zu überreden. Angesichts der fortgeschrittenen Zeit lehnte dieser jedoch ab, denn zu Hause wartete man ja längst auf ihn.

»Nicht wenigstens ein kleines Krensüppchen, angereichert mit hauchfeinen Bratwurstscheibchen? Ein leichtes Mahl. Da kannst du daheim immer noch mit deiner Familie essen.«

Paul ließ sich verführen und genoss die formidable Suppe gleich in der Küche. Dazu leerte er zwei Gläser vom »Wein der Woche«, einer fruchtigen Scheurebe von Jan-Patricks Stammwinzer in Volkach.

 

Viel zu spät, aber gut aufgelegt trudelte er in Kleinweidenmühle ein. Im geräumigen Wohn- und Esszimmer ihrer gemeinsamen Wohnung wartete seine Frau bereits auf ihn – nicht aber Hannah und ihr neuer Freund Alexander.

»Wo stecken die beiden?«, fragte Paul mit Blick auf die geleerten Sektgläser, die auf dem Tisch standen.

Katinka sah ihn enttäuscht und vorwurfsvoll an. »Vor einer halben Stunde sind sie gegangen. Hatten keine Lust, länger auf dich zu warten, was ich ihnen nicht verübeln kann.« Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. »Wirklich schade, Paul, dass du nie pünktlich sein kannst. Selbst dann nicht, wenn es um die Zukunft deiner Stieftochter geht.«

»Taugt er denn was, dieser Alexander?«, fragte Paul, ohne auf Katinkas Vorwürfe einzugehen. »Ist das nicht bloß wieder eine flüchtige Affäre, wie so oft? Ich meine: Der Typ ist Mitte dreißig und voll im Berufsleben, ein gestandener Mann also. Dagegen unsere kleine Hannah …«

»Sie ist sechsundzwanzig, Paul«, unterbrach ihn Katinka. »Ich halte diesen Altersunterschied nicht gerade für problematisch. Und um deine Frage zu beantworten: Ich glaube, diese Beziehung ist etwas Ernstes. Alex ist äußerst sympathisch und macht einen sehr verlässlichen Eindruck. Und Hannah ist bis über beide Ohren verliebt.«

Paul hielt an seinen Vorbehalten fest: »Du sprichst von einem verlässlichen Eindruck? Ich dachte, er ist Arzt? Stehen bei einem gut aussehenden Doktor nicht die Krankenschwestern Schlange?«

»Du und deine Vorurteile!«

 

Später am Abend saßen sie auf ihrem Sofa. Katinka beschäftigte sich mit ihrem Pad, während Paul mehr oder weniger ziellos durchs Fernsehprogramm switchte – eine günstige Gelegenheit für ihn, von seinem Erlebnis in der Lammsgasse zu berichten. Als Katinka vom früheren Beruf Polsters erfuhr, zuckte sie zusammen und legte den Tabletcomputer beiseite.

»Herrje! Musste es ausgerechnet ein Justizvollzugsbeamter sein?«, fragte sie. »Armer Jan-Patrick: Dem blüht richtig großer Ärger. Gerade die niedrigen Dienstränge können mitunter harte Hunde sein. Wenn dieser Polster unserem Jan-Patrick etwas ans Bein binden will, bekommt er bestimmt Unterstützung von ehemaligen Kollegen. Wer weiß, vielleicht hat er sogar Kontakt zu einem Staatsanwalt.«

Paul berichtete auch von der Stammtischrunde, der Polster angehörte und die wöchentlich im Goldenen Ritter zusammenkam. Katinka konnte sich sofort ein Bild machen:

»Solche Runden sind gefährlich. Es gab auch mal einen Stammtisch, der aus Richtern, Polizeidirektoren und Staatssekretären bestand. Da wurde gemunkelt, dass viele Urteile nicht im Oberlandesgericht, sondern im Goldenen Ritter gefällt worden sein sollen.«

»Nun, inzwischen sind das einfach alte Männer, die sich Jan-Patricks Bratwürste schmecken lassen und die Zeit mit Kartenspielen totschlagen. Einer ist sogar schon gestorben.«

Katinka hob den Zeigefinger: »Diese Männer mögen Greise sein, doch man darf sie nicht unterschätzen. Sie hatten und haben ziemlich sicher noch gute Verbindungen. Jan-Patrick sollte sich warm anziehen.«

 

2

 

Am folgenden Abend war Paul verabredet. Er war einen Tauschhandel mit Jan-Patrick eingegangen. Gegen ein mehrgängiges Essen im Goldenen Ritter hatte er sich dazu bereit erklärt, gemeinsam mit Jan-Patrick die Bruchbude in der Lammsgasse von innen zu inspizieren. Er sollte untersuchen, wo genau sich der Fensterladen gelöst hatte, sodass der Wirt möglichst bald die entsprechenden Handwerksarbeiten anweisen konnte.

Paul brauchte für die Strecke fünf Minuten länger als geplant, denn als er in Richtung Lammsgasse strebte, kreuzte Hannah seinen Weg. Dicht an ihrer Seite befand sich ein groß gewachsener, schlanker Kerl mit sehnigen Oberarmen, schwarzem, gelocktem Haar und lebendigen, dunklen Augen. Ein Ebenbild von Orlando Bloom, dem Star von Piraten- und anderen Hollywoodfilmen, ging es Paul durch den Kopf, dem wiederum eine gewisse Ähnlichkeit zum gealterten George Clooney nachgesagt wurde. Sollte das hier ein Treffen der Doubles werden?

Paul unterzog Hannahs Begleiter einem sekundenkurzen Check und versuchte aus Haltung und Blick Rückschlüsse auf dessen Charakter zu ziehen. Dabei konnte er trotz seiner Vorbehalte nicht umhin, sympathische Züge im Gesicht des Arztes zu entdecken. Auch die Art, wie er seinen Arm um Hannahs Taille legte, sprach für sich: lässig und leicht statt besitzergreifend.

»So spät noch unterwegs?«, fragte Hannah und drückte ihrem Orlando demonstrativ ein Küsschen auf die Wange. Dazu musste sich die nicht eben klein gewachsene Hannah auf die Zehenspitzen stellen.

»So spät ist es doch noch gar nicht«, meinte Paul. »Es wird halt nur etwas früher dunkel im Herbst.«

Hannah lächelte ihn schief an und sagte: »Tja, jetzt lernt ihr euch eben auf der Straße kennen. Paul, das ist Alex. Alex, das ist Paul.«

Die beiden Männer nickten sich zu. »Schön, Sie kennenzulernen«, blieb Paul etwas distanziert.

»Mich freut es auch!« Alexander überwand die unsichtbare Barriere zwischen ihnen und streckte Paul seine Hand entgegen. »Ich habe schon viel gehört über den berühmten Paul Flemming.«

»Berühmt?« Paul lachte, während er Alexanders Hand schüttelte. »Wer verbreitet denn solche Lügenmärchen?«

»Eine intelligente, hübsche Frau, die ihren Stiefvater bei jeder Gelegenheit in den höchsten Tönen lobt«, antwortete Alexander und schaffte es, Paul verlegen zu machen.

»Glauben Sie ihr kein Wort«, sagte Paul und zwinkerte Hannah zu.

Paul sah auf die Uhr. Er klärte Hannah auf, was vorgefallen war, und meinte, dass er sich sputen müsse, um Jan-Patrick nicht warten zu lassen. Da er aber den Eindruck zu vermeiden versuchte, dass er Hannah nebst Freund loswerden wollte, schlug er ihnen spontan vor, ihn zu begleiten. Hannah sagte sofort zu, und auch Ale­xander zeigte sich einverstanden, sodass sie schließlich zu dritt in der Lammsgasse aufkreuzten. Dort, vor dem maroden Möchtegernhotel, erwartete sie ein niedergeschlagener Jan-Patrick. Hannah machte ihn mit ihrem neuen Freund bekannt, doch der Wirt hatte anderes im Kopf:

»Was für eine Pleite!«, jammerte Jan-Patrick. »Wo man auch hinfasst, bröckelt es. Wenn ich Pech habe, kann ich den ganzen Kram abbrechen. Ohne Totalentkernung wird sich wohl nichts machen lassen. Ich hätte es mir vor dem Kauf besser überlegen sollen, aber die Lage war einfach zu verführerisch.«

»Wart erst einmal ab, was die Fachleute sagen«, versuchte Paul zu beruhigen. Doch ohne Frage hatte sich sein Freund ein Haus andrehen lassen, das sich als Fass ohne Boden erweisen konnte. »Genau hier ist es passiert«, erklärte Paul und zeigte auf das Trottoir. Dort waren noch einige Splitter des abgestürzten Fensterladens zu sehen.

Er hob den Blick und ließ ihn über die lachsfarbene Sandsteinfassade gleiten, die von grauen Schleiern überdeckt wurde und zahlreiche Wunden aufwies. In Höhe des vierten Stockwerks fehlte an einem mitgenommenen Fensterrahmen einer der Läden. An dieser Stelle musste das morsche Teil gesessen haben, bevor es sich aus seiner Halterung gelöst hatte. Paul zeigte auf die Stelle und schlug vor: »Sollen wir uns das mal genauer ansehen?«

Jan-Patrick zog einen Bund mit mehreren großbärtigen Schlüsseln hervor. »Wir können gleich raufgehen«, sagte er, fügte aber – vorsichtig aus Erfahrung – hinzu: »Passt bloß auf, wo ihr hintretet. Das ganze Gemäuer ist baufällig, auch auf die Treppen ist kein Verlass. Neulich ist mir eine Stufe unter den Füßen weggebrochen.«

Als Jan-Patrick sich an einer für das historische Gebäude völlig unpassenden Stahltür zu schaffen machte, fiel Paul sofort der desolate Zustand des Schlosses auf. »Dafür braucht man keinen Schlüssel. Dieses alte Ding bekommt man locker mit einem Stück Draht auf«, meinte er und fragte: »Hast du keine Bedenken, dass dieser Schuppen als Absteige benutzt wird? Es gibt etliche arme Schlucker, die Nacht für Nacht auf der Suche nach einem Dach über dem Kopf sind.«

»Bislang habe ich hier keinen Obdachlosen erwischt«, antwortete Jan-Patrick nachdenklich und stieß die Tür auf.

Muffige, feuchtwarme Luft schlug ihnen entgegen, als sie ein mit Mosaikboden ausgelegtes Treppenhaus betraten. Das Licht war spärlich, denn eine verspielt-verschnörkelte Deckenleuchte aus Messing und geschliffenem Glas hatte wohl schon seit Langem den Dienst quittiert. Die hohe, stuckverzierte Decke wurde von Stockflecken und Schimmelpilz verunziert, und die breite Treppe mit ihren massiven dunklen Stufen hatte ihr Geländer eingebüßt.

Trotz dieses trostlosen Gesamteindrucks konnte Paul nun etwas besser nachvollziehen, weshalb sein Freund bei dieser Immobilie zugeschlagen hatte: Das Haus hatte Flair! Zwar bedurfte es viel Phantasie, um sich dieses verlotterte Foyer im Zustand nach einer Generalsanierung vorzustellen. Doch wenn man genug Vorstellungskraft aufbrachte, entstand das Bild einer stilvollen und gediegenen Lobby eines Hotels aus den guten alten Zeiten.

Nun war Paul gespannt auf den Zustand der anderen Räumlichkeiten und versuchte grob abzuschätzen, wie viel Geld wohl nötig sein würde, um das Haus wieder auf Vordermann zu bringen. An der Seite des sich ebenfalls interessiert umschauenden Alexander ging er die Treppe hinauf, die unter ihrem Gewicht knarrte und ächzte, als würde sie angesichts der unerwarteten Belastung wehklagen.

»Ein verrückter Plan«, raunte Alexander ihm zu – so leise, dass es der vorangehende Jan-Patrick nicht mitbekam. »Eine Renovierung wird sich nie auszahlen. Lieber sollte er diese verrottete Kiste abreißen und durch einen Neubau ersetzen.«

»Ich fürchte, er hat keine Wahl, denn der Denkmalschutz hat auch noch ein Wörtchen mitzureden«, entgegnete Paul. »Außerdem wäre es schade um den Baubestand. Ich denke, dass die Gäste von einem Altstadthotel eben genau das erwarten: Alt soll es sein. Oder zumindest den Anschein von Nostalgie erwecken.«

»Trotzdem sollte er zusehen, das Haus so schnell wie möglich wieder loszuwerden«, hielt Hannahs Freund an seiner Meinung fest. »Man liest ja häufig Zeitungsartikel über ambitionierte Bauherren, die wegen unerfüllbarer Auflagen und explodierender Kosten geradewegs in die Pleite gerauscht sind«, sagte er, während unter ihm die Bohlen krachten. »Ganz abgesehen von den Gefahren für die Passanten, wie sich ja gezeigt hat.«

»Da haben Sie recht.«

»Sie können mich gern duzen. Ich bin der Alex«, sagte Hannahs Freund mit seiner tiefen, angenehm warmen Stimme.

Paul sah ihn an, registrierte das offene Lächeln, was Alex einen weiteren Pluspunkt einbrachte, atmete aber auch sein etwas aufdringliches Aftershave ein, was einen Minuspunkt ergab. »Ich heiße Paul«, sagte er ein wenig verhalten, weil er sonst nur mit Leuten per Du war, die er wirklich gut kannte.

Die Wohnungen auf der vierten Etage entsprachen genau dem Bild, das bereits das Treppenhaus gemacht hatte – mit einem Wort: desolat. Die vier durchquerten ein ehemaliges Wohnzimmer, dessen halb heruntergerissene, geblümte Tapeten darauf schließen ließen, dass hier zuletzt vor zwanzig Jahren gewohnt worden war. Auf dem Boden lagen Teile des Deckenputzes, der durch den Einfluss der Feuchtigkeit abgeplatzt war.

Zwischen Kalk, Steinstaub und abgeblätterter Farbe entdeckte Paul aber noch etwas anderes: mehrere Zigarettenstummel, direkt vor dem Fenster, das seinen Fensterladen eingebüßt hatte. Paul bückte sich danach und hob mit spitzen Fingern einen auf. »Hier hat jemand geraucht«, stellte er fest und sah Jan-Patrick fragend an. »Warst du das?«

»Du weißt, dass ich mir – wenn überhaupt – nur ab und zu ein Zigarillo gönne.« Seine Brauen zogen sich zusammen. »Du hattest vielleicht doch den richtigen Riecher, dass hier Stadtstreicher ein- und ausgehen.« In düsterer Stimmung fuhr er fort: »Könnte es sein, dass sich einer von diesen Brüdern auf die Brüstung gelehnt und den Absturz des Fensterladens verursacht hat?«

Paul betrachtete die Zigarette in seiner Hand, die nur zu zwei Dritteln aufgeraucht war. Auch die anderen Kippen auf dem Boden waren nicht bis zum Filter heruntergebrannt. »Ein Mittelloser hätte niemals so viel Tabak verschenkt«, gab Paul zu bedenken und fragte: »Waren in letzter Zeit andere Leute im Haus? Handwerker zum Beispiel?«

Jan-Patrick nickte heftig, als es ihm wieder einfiel: »Die hätte ich fast vergessen! Ja, ich bin neulich schon mit einem Bauexperten hier oben gewesen, der den Auftrag dann aber abgelehnt hat. Und, ja, der hat Kette geraucht, eine nach der anderen. Wahrscheinlich stammen die Stummel von ihm.«

Vielleicht, vielleicht aber auch nicht, dachte Paul, ließ Jan-Patricks Äußerung jedoch unkommentiert.

Alexander hatte derweil auch die Fensterbänke untersucht. »Sieht nicht gut aus«, lautete sein Urteil. »Das sitzt alles so locker, dass jederzeit das nächste Teil herabstürzen kann.«

»Du musst unbedingt etwas unternehmen!«, redete nun auch Hannah auf den überfordert wirkenden Jan-Patrick ein.

»Das stimmt«, fand Paul. »Sorg wenigstens für eine Notabsicherung.«

»Für kommenden Mittwoch habe ich eine weitere Firma bestellt, die auf so etwas spezialisiert ist. Die wollen sich ums Nötigste kümmern und lassen sich ihre Leistungen mit Gold aufwiegen«, sagte Jan-Patrick mit gequälter Miene.

»Kommenden Mittwoch? Das ist ja noch eine ganze Woche. Da kann man nur hoffen, dass es vorher niemanden mehr trifft«, meinte Alexander, was sich in Pauls Ohren etwas sarkastisch anhörte. Doch möglicherweise war er gegenüber dem neuen Mann in Hannahs Leben einfach zu kritisch eingestellt.

Vor dem Haus, wo Paul den unangenehmen Modergeruch abstreifte und die frische Luft in vollen Zügen einatmete, verabschiedeten sich Hannah und Alex, um weiter durch die Stadt zu ziehen. »Schaufensterbummel«, sagte Hannah nur und ließ dabei offen, welche Fenster sie zu besichtigen gedachten. Hauptsache nicht die eines Babyausstatters, dachte Paul.

 

3

 

Eine Woche später hatte Paul das Haus in der Lammsgasse beinahe vergessen. Der Alltag hatte ihn wieder: Paul musste Geld verdienen und seinem Job als Fotograf nachgehen.

»Ja, sehr gut machst du das, fast wie ein Profi! Aber arbeite noch etwas an deiner Körperhaltung. Aufrecht stehen und Brust raus. Wunderbar, genau so! Jetzt die Arme anwinkeln und anspannen. Und nicht ganz so bärbeißig schauen. Ja, schon besser!«

Paul legte viel Überzeugungskraft in seine Stimme und drückte den Auslöser der Kamera. Das Blitzlicht flammte zeitgleich mit drei großen, goldenen Schirmreflektoren auf und hob die Sehnen und Muskeln des Nachwuchsmodels hervor, dessen bis auf den Slip nackter Körper mit glänzendem Öl eingerieben war.

Paul tat sich schwer mit seinem heutigen Auftrag: Der junge Mann, der sich vor seiner Linse in Pose warf, bildete sich ein, der neue Arnold Schwarzenegger zu sein. Mit den Bildern, die Paul von ihm schießen sollte, wollte er sich bei der Deutschen Meisterschaft im Bodybuilding bewerben. Doch der muskelbepackte Schönling erwies sich nicht nur als ziemlich hüftsteif, sondern besaß auch kaum Ausstrahlung. Da nutzten ihm sein riesenhafter Bizeps und der Waschbrettbauch wenig, wenn sein Gesicht ihn als trübe Tasse entlarvte.