Für Martina Moore und Freckles

KAY PFALTZ

LAUREN

EIN AMERIKANISCHER HUND IN PARIS

ÜBERSETZT VON MONA KAUFMANN

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VORWORT

In der Morgendämmerung ist die Luft kühl und sauber. Ich schaue auf die erwachende Stadt, die Gebäude aus dem neunzehnten Jahrhundert sind in grauem Licht gebadet, während der Ober eine Tasse Café crème vor mich stellt. Ich trinke den ersten heißen Schluck Milchkaffee und werde von einer proustschen Fülle von Erinnerungen überflutet.

Der Kaffee schmeckt wie immer, genau wie beim ersten Mal. Auf der anderen Seite des Platzes schüttet der Besitzer einer Patisserie einen Eimer Seifenwasser auf den Bürgersteig. Hoch oben vom Balkon betrachtet eine orangefarbene Katze das Geschehen, als ob sie für ein Foto von Doisneau posiere, und wendet dann ihre Aufmerksamkeit einigen Tauben zu, die um die Schornsteine des Hauses flattern. Ich trinke den nächsten Schluck.

Ein Freund hat mich gebeten, einen Artikel über die bedingungslose Liebe zu schreiben. Ich stelle die Tasse hin. Ich habe schon einmal an diesem Tisch gesessen, vor vielen Jahren. Sie saß auf dem geflochtenen Stuhl neben mir. Ich kann ihre Augen vor mir sehen, die voll sehnsüchtiger Hoffnung auf das Croissant gerichtet waren und beobachteten, ob es sich vom Teller wegbewegen würde. Ich glaube, Paris wird mich immer an Lauren erinnern.

Ich habe oft gesagt, dass meine glücklichsten Augenblicke die waren, wenn sie an meiner Seite war, und viele davon erlebten wir in Restaurants. Irgendwann habe ich versucht, mich an die Anzahl und die Namen aller Restaurants zu erinnern, in denen wir gemeinsam gespeist hatten, manchmal mit meinen Freunden, aber meistens waren es nur wir beide: Hund und Mensch. Bei vierundachtzig habe ich aufgegeben. Ich weiß, es waren mehr, aber ich habe sie vergessen. Ich erinnere mich an die ersten Lokale, die wir besuchten, an Geburtstagsfeiern sowie an die bekannten Restaurants Taillevent und Robuchon und an all die, in denen wir regelmäßig aßen und wo sie geliebt wurde. Die besten Erinnerungen? Es war immer anders und doch wieder auf wundervolle Weise gleich.

»C’est un vieux copain.«

Der Ober fragte nicht, sondern er sagte es eher wehmütig, vielleicht dachte er an seinen eigenen Hund.

»Oui.«

Ich verbesserte ihn nicht. Viele Leute nahmen an, Lauren sei ein Rüde. Vermutlich, weil Beagles eher eine maskuline Rasse sind, so wie Malteser oft feminin erscheinen.

»Vous avez choisi?«

»Oui, je prendrais la salade folle pour commencer, et ensuite l’andouillette.«

»Ah, l’andouillette, très bien.«

Ich bat um etwas Wasser für Lauren, obwohl ich wusste, dass sie es nicht trinken würde, bis jeder letzte Essenskrümel verschwunden war. Der Ober lächelte sie an und ging. Sie legte sich niemals hin. Sie saß immer aufrecht neben mir, auf der gepolsterten Bank oder auf ihrem eigenen Stuhl. Ich redete mit ihr und sie schaute in meine Augen, ohne ein Wort von dem anzuzweifeln, was ich sagte, während die Gäste an den Nachbartischen uns mit einer Mischung aus liebevoller Neugierde und Respekt zuschauten. Pariser sind auf unvergleichliche Weise hundefreundlich. In diesem Bereich bin ich wohl am ehesten zu einer echten Pariserin geworden. Ich habe mich immer als Pariserin gefühlt, mehr als alles andere, doch ich war niemals eine. Irgendwie beruhigte es mich, nirgendwo hinzugehören. Was hatte Gertrude Stein gesagt? »Amerika ist mein Land, aber Paris ist meine Heimatstadt.« Oder so ähnlich.

Für eine mir lang erscheinende Zeitspanne – im Vergleich zu den Zeitabläufen der Geschichte war sie aber eher kurz – waren Lauren und ich in Paris zu Hause. Meine besten Gespräche führte ich mit Lauren. Ihre aufmerksamen und seelenvollen Augen regten mich zum Denken und Philosophieren an, so wie ich es nie mit meinen Freunden erlebte. Ging ich deshalb so gerne mit ihr essen, weil ich über alles sprechen konnte, was ich wollte, und sie mir immer zuhörte, ja, mich sogar unterhaltsam fand? Lieben wir unsere Tiere, weil sie sich nicht beschweren, uns nicht kritisieren und uns immer so akzeptieren, wie wir sind, trotz unserer Fehler? Ganz sicher, ja. Aber mit ihnen erleben wir auch die aufrechtesten Beziehungen, zu denen wir Menschen fähig sind. Die Kirche hat sich seit Jahrhunderten mit der Frage beschäftigt, ob Tiere eine Seele haben oder nicht. Für einen Tierliebhaber steht das außer Frage. Schauen Sie sich das Tier an, das Sie lieben. Jedes Mal, wenn ich in Laurens braune Augen schaute, sah ich mehr Seele als in vielen Menschen.

Das Essen kam und obwohl sie völlig vom Essen besessen war – als ich sie fand, war sie fast verhungert –, saß sie geduldig neben mir und wartete auf ihren Anteil. Die Liebe, die ich für sie fühlte, und der Respekt wuchsen im Laufe unseres Zusammenlebens. Oft erschien der Koch selbst, um sie zu begrüßen. Im La Coupole, dem ersten Restaurant, in dem Lauren je speiste, feierte einmal Jeanne Moreau ihren Geburtstag mit einer Gruppe von Filmstars. Der Koch aber ging nicht als Erstes zu Mme. Moreau, sondern zu Lauren. Er nannte sie sage. Das was nur eine von vielen Situationen, in denen mein Hund so beschrieben wurde. Das französische Wort sage bedeutet weit mehr als klug. Es schließt gut erzogen, tugendhaft, sensibel, vernünftig, weise, gut und vor allem sanft mit ein. Lauren wurde zu einer vollendeten Verkörperung dieses Wortes.

Ich hebe meine Tasse und trinke den nun fast kalten Rest der Flüssigkeit. Ich stehe auf. Bedingungslose Liebe. Ich werde versuchen, darüber zu schreiben.

KAPITEL EINS

Das schönste Geschenk meines Lebens war ein seltsamer kleiner Hund. Genauer gesagt: eine Hündin. Sie hieß Lauren. Ich war in meiner Wohnung in Paris, als ich zum ersten Mal von ihr hörte – mein damaliger Freund hatte gerade mal wieder mit mir Schluss gemacht, zum vielleicht achtundachtzigsten Mal. Amy, meine Schwester, hatte mir schon lange ans Herz gelegt, ich solle mir doch einen Hund anschaffen. Sie meinte, er könne die Einsamkeit vertreiben und ich hätte jemanden zu versorgen, zu lieben und außerdem zwänge er mich, mein Appartement zu verlassen. Er wäre ein ständiger Begleiter, sagte sie. Amy schaffte sich jedes Mal einen Hund an, wenn sie deprimiert war. Es war ihre Antwort auf die Tiefschläge des Lebens. Sie hatte elf Hunde.

Das Telefon klingelte und in der Hoffnung, dass es mein Freund oder vielmehr Ex-Freund sei, lief ich hin. Es war Amy.

»Du solltest dir einen Hund anschaffen«, sagte sie, als ich den Hörer abnahm. Sie musste einen sechsten Sinn dafür haben, wie schlecht die Dinge gerade standen.

»Ich will keinen Hund! Ich will jemanden, mit dem ich beim Abendessen oder bei Kerzenschein reden kann; jemanden, der mit mir ins Kino geht; jemanden …«

»Klein-Autumn und ich reden miteinander«, unterbrach sie mich.

»Interessante Gespräche. Ich will anregende Konversation, Ideen.«

»Autumn und ich führen dauernd anregende Gespräche.«

»Das bist du, du hältst Selbstgespräche. Du wirst langsam exzentrisch, Amy.«

»Sei kein Flusspferd.«

Amy brachte das Wort aus unserer Kindheit ins Spiel, das früher eine Beleidigung, inzwischen jedoch ein Kosewort geworden war. Flusspferd oder Nilpferd war das deutsche Wort für Hippopotamus. Als Kinder konnten wir es nicht fassen, dass manche Deutsche glaubten, ein Hippo sei ein Pferd, das im Fluss lebte, und es auch noch Flusspferd nannten. Wir liebten es, die beiden Silben von unserer Zunge rollen zu lassen, und für eine Weile nannten wir jeden – Erwachsene, alte Damen, wen auch immer man sich denken konnte – ein Flusspferd, bis eines Tages unsere Mutter meinte: »Kinder, jetzt ist Schluss.« Eine Dame aus der Nachbarschaft hatte sich beschwert: Wir seien böse, würden sie beschimpfen und bestimmt beim Teufel landen. Meine Mutter schlug uns ein neues Wort vor. »Wie wäre es mit Rhinozeros? Ihr braucht es aber nicht auf unsere Nachbarn anzuwenden.« Ich glaube, wir haben Rhinozeros im Wörterbuch gesucht. Es scheint aber nicht den gleichen Klang wie Flusspferd gehabt zu haben, denn ich kann mich heute nicht mehr an das Wort erinnern.

»Amy, ich bin kein Flusspferd«, entgegnete ich. »Ich glaube nur nicht, dass ein Hund die Antwort auf meine derzeitigen Probleme ist. Nichts für ungut, was deine Lebensstrategien angeht«, fügte ich hinzu. »Du hörst nie auf mich, wenn du es dringend nötig hättest. Du wirst schon sehen. Hinterher ist man immer klüger«, beendete ich ihren Satz.

»Gut, lerne daraus! Mach nicht immer wieder die gleichen Fehler.«

»Du meinst, ich soll von dir lernen?«

»Natürlich.«

Wir legten auf, aber schon am nächsten Abend rief Amy mich erneut an, sie war ganz aufgeregt.

»Ich habe den Hund für dich! Sie heißt Lauren und ist einfach entzückend.«

»Warte mal.«

»Sie ist ein kleiner Beagle und du wirst sie lieben.«

»Warte einen Augenblick.«

Beagles gab es zu Hunderten in Virginia, wo ich aufgewachsen bin and wo Amy noch immer lebt. Sie sind Jagdhunde und wurden manchmal sehr schlecht behandelt. Viele waren Streuner oder kamen aus Kolonien, in denen die Hunde als Versuchstiere gehalten wurden, um neue Produkte zu testen. Manche hatten noch nie das Tageslicht gesehen. Beagles waren für diese Zwecke deshalb so begehrt, weil sie klein, freundlich und ausgeglichen sind. Die Tests waren oft eine Quälerei, die Tiere bekamen Spritzen, die Käfige waren winzig und hatten keine Fenster. Ich wolle nicht an diese Beagles denken.

»Ist sie ausgerissen?«

»Ziemlich wahrscheinlich!«

»Wirklich? Wo hast du sie gefunden?«, fragte ich.

»Sie hat mich gefunden. Na ja, in Wahrheit hat Autumn sie gefunden.« Autumn war der kleine Terrier meiner Schwester, den ich – zu ihrem Entsetzen – einen kleinen Lumpensack nannte. »Ich war spät dran, als ich zur Arbeit fuhr. Plötzlich bellte Autumn etwas unter der Terrasse an. Ich habe nachgeschaut und da sah ich sie. Sie war bewusstlos, nur Haut und Knochen und voller Flöhe. Ich schaute mir ihr Zahnfleisch an und wusste, ich musste mich beeilen. Hätte ich sie dreißig Minuten später gefunden, wäre sie tot gewesen.«

Damals als Amy das sagte, war mir die Tragweite dieses einen Satzes nicht bewusst. Ich hatte keine Ahnung, dass sich hier mein Schicksal entschied. Ich fragte nur: »Wie ist sie an den Namen Lauren gekommen? Hatte sie eine Hundemarke?«

»Nein, wegen Bogie«, sagte Amy und schien genervt zu sein. »Sie ist ein Weibchen, natürlich ist sie Lauren.«

Bogie war Amys Beagle. Obwohl sie ihn inzwischen liebte, hatte sie ihn erst nicht gewollt, als er zu ihr kam. Auch er war eines Tages in der Nähe ihres alten weißen Bauernhauses aufgetaucht. Ich glaube, es existierte ein stillschweigendes Wissen unter streunenden Hunden, dass dies das Haus war, in dem sie willkommen waren, gefüttert wurden und letztlich ein neues Heim finden konnten. Viele fanden den Weg zu Amy. Aber Amy liebte Sichthunde, die ihre Beute aus großer Entfernung ausmachten und diese bis zur Erschöpfung jagten. Sie wollte keinen Beagle, geschweige denn zwei.

Als Bogie zu Amy kam, hatte er eine zerschmetterte Kniescheibe. Nach zwei Operationen und mehr als zweitausend Dollar Kosten teilten die Tierärzte meiner Schwester mit, dass sie nichts mehr für den Hund tun könnten und ihn einschläfern müssten. Amy stimmte zu und machte sich mit Bogie auf den Weg, um sein Beagleleben zu beenden. Der Hund saß neben ihr auf dem Beifahrersitz, stoisch und mutig, und deshalb bekam er seinen Namen – Bogie, nach Humphrey Bogart. Die beiden kamen niemals beim Tierarzt an. Amy kehrte um, gab noch mehr Geld für Operationen aus und Bogie wuchs genauso glücklich und letztendlich gesund auf wie ihre anderen Hunde. Er hat seinem Namen allerdings nie wieder Ehre gemacht. Natürlich wurde Lauren nach Lauren Bacall genannt, der amerikanischen Schauspielerin und Ehefrau von Humphrey Bogart.

»Wo ist Lauren jetzt?«, wagte ich mich vor. Die Neugier war eben stärker als die Vernunft.

»Sie ist auf der Intensivstation. Die Ärzte konnten sie nicht anrühren, bevor ich nicht zurückgekehrt war und Apache für eine Blutübertragung geholt hatte.« Apache war Amys Schäferhund, und ich habe oft zu Amy gesagt, dass das Schäferhundblut in Lauren der Grund war, warum sie sich immer in große Schäferhundrüden verliebte. »Kay«, fuhr meine Schwester fort, »sie konnten sie nicht einmal baden aus Angst, dass sie in der Badewanne sterben würde. Stell dir nur dieses winzige, halb tote, aus Haut und Knochen bestehende Hündchen vor.«

»Ein totales Fest für Flöhe.«

»Ja, jedenfalls hetzte ich nach Hause. Ich war überzeugt, dass Lauren tot sein würde, bis ich zurückgekehrt war.« Noch Jahre später, wenn ich Amy bat, mir die Geschichte erneut zu erzählen, hielt ich automatisch den Atem an, als ob ich Lauren den Lebenswillen geben wollte, um ein Teil meines Lebens zu werden. »Sie hat irgendeine Krankheit«, fuhr Amy fort, »ähnlich wie AIDS, ihre Blutzellen greifen ihr Immunsystem an.« Amy machte eine Pause. »Die Ärzte sagen, dass sie es wahrscheinlich nicht schafft, aber ich meine, sie sollte ein Heim haben, wo sie hinkann, im Fall des Falles.«

»Ich brauche keinen Hund.«

»Ich kann sie auch nicht nehmen. Wahrscheinlich habe ich vergessen, dir zu sagen, dass ich gerade zwei neue Hunde bekommen habe.«

»Amy!«

»Hmmmm?«

»Du hast gesagt, du würdest keine mehr aufnehmen!«

»Diese beiden sind die letzten.«

»Das hast du immer gesagt.«

»Es waren besondere Umstände.«

»Anders ausgedrückt, du hast deine Meinung geändert.«

»Das ist mein gutes Recht. Und du wechselst das Thema. Du brauchst einen Hund. Du brauchst Lauren.«

»Also erstens ziehe ich große Hunde vor, und zweitens kann ich, wenn ich einen Hund habe, nicht so einfach in ein anderes Land fliegen, wann immer ich es will.«

»Mit einem kleinen Hund schon!«

Amy widerlegte auch diesen Einwand, wie sie es mit jedem tat, den ich vorbrachte. Sie blieb kategorisch bei ihrer Überzeugung: Hunde haben viele Vorteile. So nahmen die Dinge ihren Lauf.

Lauren blieb drei Wochen auf der Intensivstation. Ihr Leben hing jeden Tag an einem seidenen Faden. Waren ihre Werte im positiven oder im negativen Bereich? Kam sie durch oder nicht? Doktor John und seine Frau Kathy, die Tierärzte, schlossen sie in ihr Herz, wie so viele es taten in den kommenden Jahren, und retteten ihr das Leben. Sie übernahmen einige der Kosten selbst und ersparten Amy damit eine große Anzahl von Rechnungen, die sie nicht hätte zahlen können. Dies war absolut ungewöhnlich in der Welt der Tierärzte, denn wenn alle streunenden, kranken oder verletzten Hunde so behandelt würden, wären die Praxen bald am Ende. Ich hatte nach unserem Telefongespräch nicht weiter über Lauren nachgedacht, außer dass ich Amy ab und zu fragte, wie es dem kleinen Beagle ginge. Als Laurens Zustand sich besserte, drängte mich meine Schwester immer stärker, den kleinen Hund zu mir zu nehmen.

»Du liebst sie bestimmt.«

Ich wollte aber keinen Hund. Dann schickte Amy mir das Foto. Ich habe es noch immer. Wir nennen es das orangefarbene Foto, weil Lauren auf einem orangefarbenen Stück Stoff in Amys Garten sitzt. Es war Liebe auf den ersten Blick. Ich hatte noch nie ein Tier gesehen, was verletzlicher zu sein schien. Lauren war dürr und sah mitleiderregend aus, aber auf ihrem Gesicht und in ihren Augen lag ein Ausdruck von Akzeptanz. Akzeptanz ist etwas anderes als Resignation. Lauren hatte gelitten und sie hatte es, wie die meisten Tiere es tun, akzeptiert. Sie hatte keine Wahl gehabt. Ich wollte sie auf den Arm nehmen, sie streicheln und nie mehr loslassen. In dem Moment bemerkte ich den rasierten Fleck an ihrem Vorderbein, wo ihr die Infusion gegeben worden war. Wie konnte ich damals wissen, was dieser Fleck in Zukunft bedeuten sollte und dass Lauren in den folgenden Jahren selten ohne eine solche Stelle an ihrem Vorderbein sein würde, genauer gesagt – später – an drei ihrer vier weißen Beine! Ich rief Amy an, als ich das Foto sah.

»Ich will sie.«

Es war mir ernst. Plötzlich hatte ich Angst, dass Amy den Hund jemand anderem geben würde, denn sie hatte bereits in ihrem Freundeskreis herumgefragt. Amy war begeistert. Sie fühlte sich bestätigt.

»Sie ist genau richtig für dich.«

»Ja, ich habe Jason das Foto gezeigt und sogar er meinte, sie sei niedlich.«

»Niedlich wie Spitzenhöschen.«

»Lauren«, flüsterte ich. Das kleine Wesen auf dem Bild war dreifarbig: schwarz, braun und weiß. Schwarz und braun waren die Farben seines Rückens und der Seiten, der Bauch war weiß. Es stand auf wackeligen, weißen Beinen und war so dünn, dass ich jeden Wirbel in der Wirbelsäule zählen konnte. Es hatte einen krummen Schwanz mit einer weißen Spitze. Die großen, braunen Augen hatten die Farbe von aufgegossenem Tee und schienen mit Eyeliner umrandet zu sein. Der Kopf war braun mit einem wunderschönen Gesicht. Was mich aber am meisten rührte, war der Blick der Augen. Sie schauten verloren. Das war der Anfang einer Liebesgeschichte. Aber ich sollte Lauren erst über ein Jahr später bekommen. Amy rief mich nach einigen Tagen zurück.

»Also, wann nimmst du sie?«

»Jason hat heute wieder Schluss gemacht.«

»Ein Grund mehr, Lauren zu nehmen«, spaßte Amy, aber ich wusste, dass sie den Schmerz in meiner Stimme hörte.

»Ich kann sie nicht nehmen. Ich habe an meinem Arbeitsplatz gefragt. Normalerweise wäre ein Hund dort kein Problem, ich bin schließlich in Frankreich. Aber eine andere Frau hatte ihren Hund mitgebracht und der hat überall seine Haufen hinterlassen, so mussten sie Regeln setzen. Ich fürchte, es ist zu spät.«

»Du könntest sie trotzdem nehmen«, drängte Amy.

»Das möchte ich ihr nicht antun. Sie wäre den ganzen Tag allein in der Wohnung, wenn ich arbeite.«

»Du musst sie nehmen.«

Ich merkte, dass Amy langsam ungeduldig wurde wegen meiner Hartnäckigkeit. Aber ich fühlte mich so schlecht, dass ich nicht über einen Hund nachdenken konnte. Ich wollte mit Jason reden, wusste aber, dass es nicht gut war, ihn anzurufen. Ich konnte es nicht über mich bringen, Amy zu sagen, wie miserabel ich mich wirklich fühlte, doch ich wusste, dass sie es spürte.

Wir verabschiedeten uns. Amy nahm Lauren zu sich, hegte aber immer die leise Hoffnung, dass ich sie eines Tages holen würde. Im Laufe der Monate wurde Lauren ein Teil der großen Hundefamilie und Amy gab es fast auf, ein anderes Zuhause für sie zu suchen. Sie liebte sie. Sie jetzt fortzugeben, würde sehr schmerzlich sein.

KAPITEL ZWEI

Ein Jahr später lief ich durch den Jardin du Luxembourg zum sechsten Arrondissement, wo ich arbeitete. Ich machte eine Pause und setzte mich auf einen Stuhl. Gegenüber befand sich eines der vielen Kunstwerke: der französische Garten. Der Jardin du Luxembourg war mein Paradies. Wenn mir mein Leben zu schwierig schien, kam ich hierher, suchte eine der Bänke oder einen grünen Eisenstuhl auf und ließ mich nieder. War es nun Gefühlsduselei oder nicht – die Bäume neigten ihre Äste und boten mir das Verständnis, das ich suchte und in den Fassaden der steinernen Gebäude – so schön auch immer sie waren – nicht finden konnte. Am Spätnachmittag malte das Licht lustige Schatten von Kinderwagen schiebenden Müttern. Der Brunnen tröpfelte lustlos in das Bassin hinter mir und die kleinen Holzschiffe segelten zielgerichtet umher. Die majestätischen Kastanienbäume boten mir Schutz, während ich gedankenlos die Farbpalette zu meinen Füßen betrachtete. Fatina tarde. Die Italiener haben zwei Worte für diesen Lebensstil, die sowohl Arbeiter, die eine Wand verputzen, beschreiben können als auch Paare, die sich lieben. Eile mit Weile. Menschen schlenderten vor meinen Augen hin und her. Die Europäer benutzen ihre Parks und Gärten; sie sind eine Erweiterung ihrer Wohnzimmer.

Ein Blick auf meine Armbanduhr zeigte mir, dass ich noch Zeit hatte. Ich nahm den Le Monde zur Hand und begann zu lesen, aber ich konnte die Nachrichten nicht aufnehmen. Die Druckerschwärze auf den Seiten wurde rot, wenn ich meine Augen bewegte. Obwohl die Luft noch kühl war, schien die Sonne hell. Das schwache nordeuropäische Licht ist nicht so stark wie das in Virginia, welches ich gewohnt war. Ich lernte die vorsichtigen Sonnenstrahlen schätzen. Sie waren umso befriedigender und irgendwie ergreifend. Ich lehnte meinen Kopf zurück und sah das orangefarbene Licht hinter meinen Augenlidern. Dann hörte ich den schönsten Laut auf dieser Welt: das Zwitschern eines Vogels zu Beginn des Frühlings. Wenn das Leben so herrlich war, warum lachte ich dann nicht fröhlich wie die Kinder im Gras?

Ich sprang auf und lief schnell zur Arbeit. Jason und ich waren wieder zusammen, aber er machte immer wieder Schluss und ich wusste nicht, warum. Das brachte mir deutlich die Vergänglichkeit des Lebens, insbesondere meines, ins Bewusstsein. Über den knarrenden Holzfußboden ging ich in mein Büro, doch als ich den Schreibtisch erreicht hatte, war ich unfähig zu arbeiten. Ich schaute zu Jasons verlassenem Arbeitsplatz hinüber und ließ es zu, dass meine Hand das Telefon fand.

»Hallo?«

Ich hörte seine Stimme und presste den Hörer stärker an mein Ohr.

»Hey, ich bin’s. Lass uns zusammen abendessen.«

»Ich, eh, ich kann nicht.«

»Och, komm. Ich habe dich seit einer Woche nicht gesehen. Bist du okay?«

»Mir geht’s gut. Aber ich habe andere Pläne.«

»Wer könnte wichtiger sein als ich?«

Ich scherzte, aber mein Magen zog sich zusammen.

»Kay, da ist etwas, was ich dir sagen muss. Ich wollte es dir nicht übers Telefon mitteilen, aber – ich kann dich nicht mehr sehen.« Ich sagte nichts und wartete darauf, dass er fortfuhr. »Kay, ich liebe dich wirklich und so …«

»Aber?«

Ich war verwirrt.

»Da ist eine Schwierigkeit«, sagte er leise.

»Welche?«

»Ich bin verheiratet, Kay.« Ich versuchte zu sprechen, aber er sprach für mich und ich war froh darüber. »Ich habe einen Fehler gemacht, als ich mich in dich verliebt habe. Es tut mir leid, wenn ich dich verletzt habe, aber so ist es. Ich kann dich nicht mehr sehen. Diesmal ist es mir ernst. Jetzt weißt du, warum.«

»Ich verstehe.«

»Versuch nicht, mich zu sehen. Ich kann nicht.«

»Jason, wir arbeiten zusammen.«

»Du musst kündigen, bitte, du musst. Die Situation ist unerträglich. Tu es mir zuliebe.«

»Ich liebe meine Arbeit.«

»Aber du liebst mich mehr, bitte.«

»Jason …«

»Es tut mir leid«, wiederholte er, seine Stimme versagte fast. »Kay, ich muss Schluss machen.«

Klick. Das Telefon war tot. Der Hörer sah etwas seltsam aus in meiner Hand. Ruhig verließ ich mein Büro und ging zu Rotonde, wo wir uns immer getroffen hatten. Er hatte mich nie zu sich eingeladen. Jetzt war mir auch klar, warum nicht. Ich erinnerte mich, wie wir das letzte Mal hier Seite an Seite gesessen und Aperitifs getrunken hatten. Schon damals hatte ich gespürt, dass etwas nicht stimmte, und mich unsicher gefühlt. Auf dem Heimweg musste ich um den Jardin du Luxembourg herumgehen, denn es war dämmrig und die Gärten waren geschlossen. Es war die Stunde entre chien et loup, wenn es nicht mehr hell, aber auch noch nicht dunkel ist. Normalerweise liebte ich diese Zeit des Tages. Heute aber war ich einsam und todunglücklich.

In einem Café bestellte ich zwei Kronebourgs, obwohl ich selten trank, wenn ich deprimiert war. Diesmal schien es geholfen zu haben. Ich kam an McDoes vorbei – wie die Franzosen umgangssprachlich für McDonald’s sagen – und ging dann die Rue Soufflot hinauf. Dort gab es viele Cafés, in denen Paare lachten, sich berührten, sich küssten und einander verliebt in die Augen sahen. Ich fragte mich, ob irgendjemand je so in meine Augen schauen würde. Sie kamen auf mich zu, zu zweit, Händchen haltend. Ich ging am erleuchteten Pantheon vorbei, das allein dastand, genau wie ich, und in diesem Augenblick wusste ich, dass ich niemals irgendwohin gehören würde. Ich würde niemals zu jemandem gehören.

Ich kam in meine Wohnung und setzte mich hin. Leer war sie, wie immer leer. Alles, was ich am nächsten Morgen denken konnte, war, dass ich etwas unternehmen musste. Ich musste raus. Ich lief aus dem Haus und die Rue Blainville hinauf, auf dem Rückweg ging ich an der majestätischen neoklassizistischen Fassade des Pantheons vorbei. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit für alle. Klar, sagte ich zu mir selbst. Dein Liebhaber teilt dir am Telefon mit, dass er in Wirklichkeit verheiratet ist. Das musste ihm irgendwie entfallen sein, als wir uns kennenlernten. Jetzt sollst du kündigen. – Ich strebte stracks auf meinen Zufluchtsort zu, den Jardin du Luxembourg, kam an der Statue von George Sand vorbei und flüsterte: »Auf Wiedersehen.« Dann ging ich weiter zu Baudelaire und der Freiheitsstatue und zu den Bienen in ihren Körben. Ich lief an den Spalierfrüchten und dem Medicibrunnen vorbei. Mir wurde klar, dass ich Abschied nahm. Ich verließ den Jardin du Luxembourg. Sieben Jahre lang hatte ich ihn jeden Tag, zu jeder Jahreszeit und zu allen möglichen Tageszeiten durchquert. Ade, Kastanien. Ade, Linden.

Die Situation war unerträglich, Jason hatte recht. Sie war es seit Jahren. Ich war nur zu blind gewesen, es wahrzunehmen. Jetzt wusste ich, dass ich meinen Job für Jason aufgeben würde. Ich liebte ihn, das dachte ich zumindest. Natürlich wusste ich auch, dass es dumm war, denn ich liebte meine Arbeit ebenso. Ich war eine Romantikerin, damals, und ich bin es noch heute. Aber ich bereue nichts und ich glaube, das ist das Wichtigste. Mein Leben hätte einen anderen Verlauf genommen, wenn ich zu der Zeit in Paris geblieben wäre. Doch da war noch jemand anderes, den das Schicksal für mich bereithielt. Ade, Orangerie. Ade, Marie de’ Medici, die standfest allem Tumult trotzt. Ich habe lang genug in Paris gelebt. Ich gehe zurück in die USA.

Am Abend rief ich Amy an und berichtete, was Jason gesagt hatte. »Wie kann er es wagen, verheiratet zu sein!« Amy schäumte vor Wut. Sie ließ alles stehen und liegen, um nach Paris zu kommen und bei mir zu sein, während ich packte. Sie wusste, wie es in mir aussah. Sie sagte wenig, während sie bei mir war, aber sie war da. Sie machte mir Gurkensandwiches, was eine Heldentat für sie war, da Amy niemals Essen zubereitete. Gurkensandwiches waren meine Lieblingssandwiches gewesen, als wir klein waren, und meine Schwester ging davon aus, dass mein Geschmack sich nicht verändert hatte. Ich wusste, dass ich kein schlechter Mensch war, aber ich fühlte mich trotzdem schlecht. Wie konnte ich nur so dumm gewesen sein, die Situation nicht durchschaut zu haben? Wahrscheinlich lässt ein Wunschdenken uns allen Realitäten gegenüber blind werden, und sind sie noch so offensichtlich. Eine Zeile aus der Göttlichen Komödie ging mir immer wieder im Kopf herum: So verstehe, dass Liebe der Samen sein muss für jede Tugend in dir und für jede Tat, die Strafe verdient. Etwas weniger poetisch als Dante sagte ich zu Amy:

»Liebe ist beschissen.«

»Oh weh, Liebes, das ist deutlich.«

»Liebe ist schwer.«

»Originell.«

»Verflixt! Ich will jetzt nicht denken. Ich fühle zu viel.«

»Ich verstehe.«

»Liebe ist nichts für mich. Mit mir ist irgendetwas falsch.« Amy rollte mit den Augen. »Ich werde nie Liebe finden.«

»Ruhig, Kay. Du wirst wieder lieben. Glaub mir.« Ich glaubte ihr nicht. Eines Morgens ging ich zum Briefkasten und fand einen Umschlag mit den goldenen Manschettenknöpfen von Cartier, die ich Jason geschenkt hatte. Kein Brief war dabei. Langsam schlich ich die Treppen hinauf, zurück in die Wohnung, und fiel aufs Sofa. Amy setzte sich neben mich. Einerseits wollte ich weg aus Paris, anderseits auch wieder nicht. Wie konnte ich die Stadt verlassen, die ich so liebte? »Du kannst wieder Bäume sehen.«

Amy war immer auf der Sonnenseite des Lebens, im Gegensatz zu mir. Sie wusste, dass ich das Leben auf dem Land liebte.

»Paris hat mehr Bäume als jede andere Stadt, außer einer«, erwiderte ich. Ich hatte vergessen, welche die andere war, und es beschäftigte mich. Seltsam, an was man sich in Stresszeiten erinnert.

»Du kannst Lauren sehen.«

Lauren war mir egal, ich wollte Jason, aber das erwähnte ich nicht, um Amy nicht zu verletzen.

»Ein Unglück kommt selten allein«, sagte ich stattdessen zu ihr.

»Ja, das erste Unglück passiert. Und bist du am Boden zerstört, ziehst du noch mehr Unglück an. Ein Teufelskreis, das Leben ist zyklisch. Wenn du gut drauf bist, ziehst du Gutes an. Erzähl mir einen Witz.«

Ich erzählte gern Witze, aber meine Familie lachte mich immer aus; sie meinte, meine Witze seien kindisch.

»Na gut«, fing ich an. »Ein Mann hatte einen Flink von Kühen …«

»Nein! Nicht den Witz. Es gibt keinen Flink, es ist eine Herde.«

»Ein Flink bedeutet zwölf oder mehr Kühe.«

»Das hast du dir ausgedacht. Es ist eine Herde.«

»Flink.«

»Herde.«

»Okay, ich erzähl dir einen anderen.« Ich dachte einen Augenblick nach. »Okay, fertig?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich kann’s kaum erwarten.«

»Zwei Erdnüsse gingen durch den Central Park …«

»Nein!«, kreischte Amy. »Nein, Kay, nicht diesen Witz, nein, nein, nein. Das ist der schlimmste Witz, den ich je gehört habe.«

Ich wartete, bis sie sich umgedreht hatte, und flüsterte: »Eine war gesalzen.« Amy hielt sich die Ohren zu, wobei ihre Abneigung jedoch nur gespielt war. »Okay, was ist eine Kuh mit …?«, begann ich einen anderen Witz, konnte aber vor Lachen nicht weitersprechen.

»Ich kenne niemanden mit solch einem kindischen Sinn von Humor. Deine Witze sind schrecklich! Du bist die Einzige, die darüber lacht. Ich bin froh, dass du dich so leicht amüsieren kannst. Angenommen, du kämest ins Gefängnis oder so …«

»Gefängnis?«

Amy schüttelte mit dem Kopf und zog die Augenbrauen hoch.

»Man kann nie wissen. Jedenfalls kannst du dann da rumsitzen und dir selbst schreckliche Witze erzählen. Du wirst dich nie langweilen.«

Aber Amy konnte selbst vor Lachen kaum noch sprechen, und ich dachte an die oft zitierten Worte der großen französischen Schauspielerin Arletty: Einander lieben bedeutet, miteinander lachen zu können.

KAPITEL DREI

Zurück in Virginia, wohnte ich bei meiner Mutter. Meine Mutter war eine ausgezeichnete und fantasievolle Köchin. Sie kochte wundervolle Mahlzeiten für mich, sie redete mit mir, bedrängte mich aber nicht. Das kleine Fleckchen Land, auf dem sie lebte, tat mir gut. Ich liebte es, jeden Tag die Sonne auf- und untergehen zu sehen. In Paris sah ich sie selten und ich hatte sie vermisst. Ich hatte auch meine Familie vermisst. Mein Bruder Ted lebte in nur elf Kilometer Entfernung von uns. Jetzt konnte ich Zeit mit ihm verbringen. Er brachte mich zum Lachen, aber auch zum Nachdenken, mehr als jeder andere, den ich kenne. Ich hatte seine intelligente und anregende Gesellschaft vermisst. Mein Vater brachte mich nicht zum Nachdenken; er war so klug, dass er für mich dachte. Er konnte jede Frage beantworten, die ich an ihn stellte – egal, ob es sich um Geschichte, Wissenschaft, Philosophie oder was auch immer handelte. Er würde bestimmt eines Tages für irgendetwas den Nobelpreis erhalten. Ich bin meinem Vater in vielerlei Hinsicht ähnlich, aber was den Verstand betrifft, fiel der Apfel sehr weit vom Stamm. Während ich in Paris lebte, war es ein Luxus gewesen, Zeit mit meiner Familie zu verbringen. Jetzt fühlte sich die Nähe, die lange brachgelegen hatte, überraschend gut an.

Meine Schwester war begeistert, mich wieder in den USA zu haben. Einige Tage nach meiner Rückkehr besuchte ich sie. Die Leute hatten immer gesagt, es sei offensichtlich, dass wir Schwestern sind. Ich konnte das nie verstehen. Meiner Meinung nach ähnelte ich weder Amy noch Ted. Amy war wie jemand, den Gott aus Versehen auf die Erde hat fallen lassen. Sie hatte goldenes, sonnendurchflutetes Haar, braune Augen und alle ihre Gliedmaßen, jeder Finger und jeder Zeh waren perfekt geformt. Ihre Aura glänzte wie der Schein auf einem alten Tisch aus Walnussholz. Aber mehr noch als das unterschied sie die Tatsache von mir, dass sie sich in keinster Weise ihres Aussehens und damit ihrer Wirkung auf die Welt der lebenden, atmenden, bei McDonald’s essenden, rote Ampeln überfahrenden Männern bewusst war. Mir schien es, als lebte sie ein absolut sorgenfreies Leben, jenseits aller gesellschaftlichen Einschränkungen, an die wir anderen uns halten mussten. Das Aussehen meiner Schwester ließ viele Leute annehmen, sie habe wenig Verstand. Aber das Gegenteil war der Fall. Mit sieben Jahren hatte sie die Odyssee gelesen, wobei ihr als einziger Fehler unterlief, Penelope wie Pen-a-lope auszusprechen, da sie den Namen niemals laut gehört hatte. Seitdem brauchte ich nur zu sagen, wann immer sie mich ärgerte: »Halt den Mund, Pen-a-lope.« Es war eine Waffe, die ich mir für die Zeiten aufhob, in denen ich sie wirklich brauchte.

»Ich will dir etwas zeigen.« Sie ging voraus. »Schau.«

»Oh, Autumn hat ein neues Bett. Ihr Name ist sogar eingestickt.«

»Nicht doch, du Dummkopf. Im Stuhl.«

Sie zeigte darauf. Auf dem Stuhl saß ein kleiner Hund und schaute zu mir hoch. Es war Lauren.

»Sie sieht so anders aus.«

Ich hatte sie nicht erkannt.

»Sie hat zugenommen. Sie musste«, verteidigte Amy sie.

Ich setzte mich, nahm Lauren auf den Arm und streichelte sie. Ihr Fell sah struppig aus, war aber unerwartet weich. Es war heiß und Amy hatte keine Klimaanlage. Wir gingen nach draußen, um die leichte Brise auszunutzen. Immer noch Lauren auf dem Arm haltend, ließ ich mich neben Amy im Gras nieder und schaute hinauf zu den grünen Bäumen und dem dunstigen Himmel von Virginia. Während ich den Duft des Grases und der Erde einatmete, raschelten die Blätter über mir. Lauren schien zufrieden zu sein, während sie auf meinem Bauch lag. Nach einer Weile sprang sie hinunter und fing an, im Kreis zu rennen.

»Sie hat die Whirlies!«, freute sich Amy.

»Was?«

»Als es ihr in der Klinik besser ging, ließen die Tierärzte sie hinaus, und sie rannte im Kreis herum. Die Ärzte nannten das die Whirlies.«

»Die Whirlies«, sagte ich mit gespielter Abneigung. Ich hasste kitschige Phrasen oder wenn Leute mit ihren Tieren Babysprache redeten. Dann fing Lauren an, mit Bogie und Autumn zu spielen. Sie biss die Hunde in die Fesseln und wartete, dass sie sie jagen würden. Sie spielten und spielten, bis sie endlich alle hechelnd auf der Seite lagen.

»Sie ist schlecht dran.«

Amy drehte sich auf den Bauch.

»Was meinst du?«

»Als sie in der Klinik war, hat sie Tunnel zu den Käfigen der anderen Hunde gegraben und Futter gesucht. Sie hätte sterben können.«

»Sie scheint sehr klug zu sein.«

»Von wegen!«, höhnte Amy. »Sie wollte Futter. Sie glaubt immer noch, dass sie verhungert. Du hättest sie sehen sollen, als ich sie nach Hause brachte. Sie schmiss sich gegen den Kühlschrank. Ich mache keine Witze.«

»Da siehst du, wie klug sie ist«, sagte ich und versuchte, mir einen Hund vorzustellen, der sich auf der Suche nach Futter gegen einen kalten, weißen Kühlschrank warf, doch es wollte mir nicht gelingen.

»Nein, sie ist nur total auf Futter fixiert.«

Ich beobachtete Lauren, die jetzt im Gras schnüffelte. Sie gehörte mir nicht und doch fühlte ich mich mit ihr verbunden, vielleicht weil ich sie eigentlich hätte nehmen sollen. Sie sah gesund aus, doch es ging ihr noch lange nicht wirklich gut. Nachdem sie außer Lebensgefahr war, hatten die Tierärzte ihr Medikamente gegeben. Sie nahmen an, dass Lauren ganz früh in ihrem Leben Staupe hatte, die die epileptischen Anfälle verursachte, mit denen sie ständig zu tun haben würde. Um die Anfälle unter Kontrolle zu halten, gaben sie Lauren zweimal am Tag Phenobarbital und eine Spritze Potassium Bromide. Lauren hatte auch immer noch die Krankheit, die ihr Immunsystem so geschwächt hatte, doch dafür gab es kein Mittel, damit musste sie leben. Ich sah ihr zu, als sie sich plötzlich auf den Rücken warf und anfing zu zucken. Ich sprang auf und lief zu ihr.

»Beruhige dich«, rief Amy. »Es ist kein Anfall – sie macht nur die Squirmies.«

»Die Whirlies und jetzt noch die Squirmies? Ich gehe.«

Ich verabschiedete mich von meiner Schwester und ihren Hunden, küsste Lauren auf ihren braunen Kopf und schwang mich in das Auto meines Vaters.

KAPITEL VIER