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Impressum

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel «Leaving the Atocha Station» 2011 bei Coffee House Press, St. Paul/Minneapolis.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, März 2015

Copyright © 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«Leaving the Atocha Station» Copyright © 2011 by Ben Lerner

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung ANZINGER | WÜSCHNER | RASP, München

(Umschlagbild nach dem Original von Granta Books, Foto-/Illustrationsnachweis: The Bridgeman Art Library Ltd./Alamy)

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

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ISBN Printausgabe 978-3-499-26919-6 (1. Auflage 2015)

ISBN E-Book 978-3-644-03371-9

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-03371-9

EINS

Zur ersten Phase meines Forschungsprojekts gehörte, dass ich unter der Woche morgens in einer spärlich möblierten Dachgeschosswohnung – der ersten Wohnung, die ich mir nach meiner Ankunft in Madrid angesehen hatte – aufwachte oder mich vom Lärm der Plaza Santa Ana wecken ließ, den ich nicht vollständig in meinen Traum integrieren konnte, dann den rostigen Espressokocher aufsetzte und mir einen Joint drehte, während ich auf den Kaffee wartete. Wenn der Kaffee fertig war, öffnete ich die Dachluke, die gerade so groß war, dass ich, wenn ich mich aufs Bett stellte, hindurchklettern konnte, und setzte mich rauchend und Kaffee trinkend auf das Dach, das die Plaza überblickte, wo sich Touristen versammelten, ihre Reiseführer vor sich auf den Metalltischen, und der Akkordeonspieler seinem Handwerk nachging. In der Ferne: der Palast und lange Wolkenstreifen. Als Nächstes erforderte mein Projekt, durch die Dachluke zurückzuklettern, zu scheißen, zu duschen, meine weißen Tabletten zu nehmen und mich anzuziehen. Dann suchte ich meine Tasche, die eine zweisprachige Ausgabe von Lorcas Gesammelte Gedichte, meine beiden Notizbücher, ein Taschenwörterbuch, John Ashberys Selected Poems sowie Drogen und Medikamente enthielt, und machte mich auf den Weg zum Prado.

Von meiner Wohnung aus ging ich die Calle de las Huertas entlang, nickte dabei den Straßenreinigern in ihren limonengrünen Overalls zu, überquerte den Paseo del Prado, betrat das Museum, das mit meinem internationalen Studentenausweis nur ein paar Euro kostete, und begab mich geradewegs in Raum 58, wo ich mich vor Rogier van der Weydens Kreuzabnahme hinstellte. Normalerweise stand ich binnen fünfundvierzig Minuten nach dem Aufwachen vor dem Gemälde, sodass in meinem Organismus noch Haschisch, Koffein und Schlaf miteinander konkurrierten, während ich die beinahe lebensgroßen Gestalten betrachtete und darauf wartete, dass sich ein Gleichgewicht einstellte. Maria stürzt für alle Zeiten ohnmächtig zu Boden; die Blautöne ihres Gewandes sind in der flämischen Malerei unübertroffen. In ihrer Körperhaltung wiederholt sich fast genau die von Jesus; Nikodemus und ein Helfer halten dessen offenbar gewichtslosen Körper hoch. Ca. 1435; 220 × 262 cm. Öl auf Eichenholz.

Ein Wendepunkt in meinem Projekt: Als ich eines Morgens bei dem van der Weyden eintraf, stellte ich fest, dass jemand meinen Platz eingenommen hatte. Er stand genau da, wo ich normalerweise stand, und einen Moment lang war ich verblüfft, als betrachtete ich mich selbst dabei, wie ich das Bild betrachtete, obwohl er dünner und dunkelhaariger war als ich. Ich wartete darauf, dass er weiterging, aber das tat er nicht. Ich fragte mich, ob er mich vor der Kreuzabnahme beobachtet hatte und nun davorstand, weil er zu sehen hoffte, was auch immer ich gesehen haben musste. Ich war irritiert und versuchte, ein anderes Gemälde für mein Morgenritual zu finden, aber ich war zu sehr an das Format und die Blautöne des Bildes gewöhnt, um mich mit einem Ersatz abfinden zu können. Gerade wollte ich Raum 58 verlassen, als der Mann plötzlich in Tränen ausbrach und krampfhaft schluchzte. Hatte er sich, fragte ich mich, bloß zur Wand gedreht, um sein Gesicht zu verbergen, während er sich mit dem wie auch immer gearteten Kummer auseinandersetzte, den er ins Museum mitgebracht hatte? Oder hatte er eine tiefgehende Kunsterfahrung?

Ich machte mir schon lange Sorgen, dass ich unfähig war, eine tiefgehende Kunsterfahrung zu haben, und es fiel mir schwer zu glauben, dass überhaupt jemand eine hatte, zumindest jemand, den ich kannte. Menschen, die behaupteten, ein Gedicht, ein Gemälde oder Musikstück hätten «ihr Leben verändert», misstraute ich zutiefst, zumal ich diese Leute oft schon vor ihrer Erfahrung gekannt hatte und keinerlei Veränderung feststellen konnte. Obwohl ich behauptete, Dichter zu sein, obwohl mir mein angebliches schriftstellerisches Talent mein Stipendium eingebracht hatte, fand ich Gedichtzeilen in aller Regel nur schön, wenn ich ihnen als Zitat in Prosa begegnete, in den Hausarbeiten, die meine Professoren im College aufgaben, wo die Zeilenwechsel durch Schrägstriche ersetzt waren, sodass, was sich da mitteilte, nicht so sehr ein bestimmtes Gedicht, sondern eher das Echo einer dichterischen Möglichkeit war. Insofern ich mich für die Künste interessierte, ging es mir um das Auseinanderklaffen zwischen meiner Erfahrung konkreter Kunstwerke und den in ihrem Namen aufgestellten Behauptungen; am nächsten kam ich einer tiefgehenden Kunsterfahrung noch mit der Erfahrung dieser Distanz, einer tiefgehenden Erfahrung fehlender Tiefe.

Sobald der Mann sich beruhigt hatte, was mindestens zwei Minuten dauerte, wischte er sich das Gesicht und schnäuzte sich die Nase mit einem Taschentuch, das er dann wieder einsteckte. Als er Raum 57 betrat, der bis auf einen schlaksigen, dösenden Wärter menschenleer war, steuerte er geradewegs ein kleines Votivbild von Christus an, das San Leocadio zugeschrieben wird: grüne Tunika, rotes Übergewand, ein Gesichtsausdruck von tiefem Leid. Ich tat so, als ließe ich andere Bilder auf mich wirken, während ich den Mann beim Betrachten des kleinen Bildes von der Seite beobachtete. Eine ganze Minute lang verhielt er sich ruhig, dann entfuhr ihm erneut ein Schluchzen. Das versetzte den Wärter jäh in Alarmbereitschaft, und unsere Blicke trafen sich: Meiner sagte, dass das schon im anderen Raum passiert war, seiner verriet das Bemühen zu entscheiden, ob der Mann verrückt war – vielleicht die Sorte, die ein Gemälde beschädigen, es bespucken, von der Wand reißen oder mit einem Schlüssel zerkratzen würde – oder ob er eine tiefgehende Kunsterfahrung hatte. Wieder wurde das Taschentuch gezückt, der Mann ging ruhig in Raum 56, stellte sich vor Der Garten der irdischen Lüste, betrachtete das Bild ruhig und tickte dann völlig aus. Jetzt waren drei Wärter im Raum – der schlaksige aus 57, die kleinwüchsige Frau, die immer in 56 aufpasste, und ein älterer Wärter mit unwahrscheinlich langem Silberhaar, der den jüngsten Gefühlsausbruch vom Gang aus gehört haben musste. Die ein, zwei anderen Museumsbesucher in 56 waren so sehr in ihre Audioführungen vertieft, dass sie die Szene, die sich vor dem Bosch abspielte, gar nicht mitbekamen.

Was soll ein Museumswärter eigentlich machen, dachte ich mir; was ist eigentlich ein Museumswärter? Einerseits gehört man einem Sicherheitsdienst an, der die Aufgabe hat, unschätzbare Materialien vor Verrückten, Jugendlichen oder der langsamen Erosionskraft von Kamerablitzen zu beschützen; andererseits hält man sich unter angeblichen Triumphen des Geistes auf, und wenn dieser Beruf ein Prestige hat, dann leitet es sich eben von der Überzeugung her, dass solche Triumphe einen Menschen durchaus zu Tränen rühren können. Es lag ein gewisses Pathos in der Unschlüssigkeit der Wärter, Wärter, die einen Großteil ihres Lebens vor zeitlosen Gemälden verbringen, aber immer nur gefragt werden, wie spät es ist, wann das Museum schließt, dónde esta el baño. Ich konnte die Verzückung des Mannes, wenn es das denn war, nicht teilen, aber ich sah mich bewegt vom Dilemma der Wärter: Sollten sie den Mann in den Flur bitten und versuchen, seinen Geisteszustand festzustellen, womit sie ihm zweifellos seine tiefgehende Erfahrung verderben würden, oder sollten sie das Risiko eingehen, diesen potenziellen Wahnsinnigen auf die Schätze ihrer Kultur loszulassen, und damit, unterem anderem, fraglos ihren Job riskieren? Ich fand ihre stumme Darbietung dieser Spannungen bewegender als jede Pietà, Kreuzabnahme oder Verkündigung, und ich fühlte mich wie einer der ihren, während wir den Mann von Raum zu Raum verfolgten. Vielleicht ist er ja ein Künstler, dachte ich; was, wenn er die Zustände, die er hier darbietet, gar nicht empfindet, wenn die Szenen, die er produziert, nur dazu gedacht sind, die Institution zu zwingen, sich ihrem Widerspruch in Gestalt dieser Wärter zu stellen. Etwas in dieser Art dachte ich, während ein weiterer Weinanfall ein Ende fand und der Mann ruhig dem Hauptausgang des Museums zustrebte. Die Wärter zerstreuten sich nicht so sehr erleichtert, wie mir schien, sondern eher traurig, und ich ertappte mich dabei, dass ich dem Mann, diesem großen Künstler, aus dem Museum und in den übernatürlich hellen Tag folgte.

Eine Zeitlang dachte ich an den großen Künstler

Während der ersten Phase meines Forschungsprojekts fuhr mein Spanischlehrer Jorge, den die Stiftung dafür bezahlte, dass er den Stipendiaten dazu verhalf, ihre Sprachkenntnisse möglichst rasch zu perfektionieren, an den meisten Wochenenden mit mir zu einem Campingplatz vierzig Minuten außerhalb von Madrid, wo seine Freunde von der Sprachschule hingingen, um zu kiffen und zu trinken, zu baden und jemanden abzuschleppen. Sie nannten mich El Poeta, ob in spöttischer Absicht oder aus Zuneigung, erfuhr ich eigentlich nie. Das Bier spendierte größtenteils ich, und ich kaufte auch mein Hasch bei Jorge, der viel zu hohe Preise verlangte. Der Campingplatz war nicht weiter der Rede wert: eine Lichtung mit ein paar Feuerstellen und ziemlich viel Abfall, obwohl ich dort außer uns nie jemanden sah und wir darauf achteten, nichts liegen zu lassen. Bis zum See waren es ungefähr dreißig Meter. An mich wurden nur wenige Worte gerichtet, wenn wir zu fünft oder zu sechst um das Feuer herumsaßen, tranken und mein Hasch oder das starke Gras rauchten, das Jorge zu vorgerückter Stunde präsentierte. Ich sagte kaum einmal etwas, versuchte allerdings zu lächeln und mit diesem Lächeln anzudeuten, dass ich verstand, was um mich herum gesagt wurde, weshalb ich es variierte, als reagierte ich damit auf die jeweiligen Äußerungen.

Eines Abends, als ich besonders high war, drang mir allmählich ins Bewusstsein, dass Jorge meinen Namen und nicht Poeta sagte, und zwar mit scharfer Stimme, während die anderen mich zornig und ungläubig ansahen. Dann ging mir auf, dass ich schon die ganze Zeit mein Lächeln lächelte, es einfach achtlos aufrechterhielt, während Isabel, eine von Jorges Bekannten, eine offenbar tragische Geschichte erzählte oder irgendetwas Schmerzliches bekannte – jedenfalls war ihre Stimme leise, und der Feuerschein fing sich in ihren Tränen. Ich brauchte, so kam es mir vor, fast eine Minute, um mein Gesicht von dem Lächeln zu befreien, einem Lächeln, das sie für meine Reaktion auf Isabels seelische Not hielten. Bei dieser seltenen Gelegenheit versuchte ich es mit Sprache: Ich hätte nicht verstanden, versuchte ich zu sagen, oder ich hätte nicht zugehört, aber was auch immer ich stammelte, war unverständlich, war kaum Spanisch. Ich hätte eigentlich nur sagen müssen, dass ich zugeknallt, abgedriftet sei, dass es mir schrecklich leidtue, wenn Isabel geglaubt habe, ich lächelte über ihre Geschichte, aber ich kam einfach nicht darauf, wie ich das oder sonst etwas ausdrücken konnte. Noch schlimmer war, dass das Lächeln automatisch zurückkehrte, während sie mir vermutlich gerade sagten, wie beschissen es sei, so auf das zu reagieren, was Isabel da schilderte. Dann warf Jorges Freund Miguel, der entweder mit Isabel verwandt oder in sie verliebt war, von der anderen Seite des Feuers aus seine Bierdose nach mir und sagte, ich solle aufhören, so dämlich zu grinsen. Ich musste unwillkürlich nervös lachen, nur dass mein Lachen zu meinem Entsetzen nicht nervös klang und die Kränkung für Isabel noch verschlimmerte, die inzwischen den Kopf in die Hände stützte. Sie stand auf und ging vom Feuer weg in Richtung See, gefolgt von den beiden anderen Frauen unserer Gruppe, während Miguel sich vor mir aufpflanzte und irgendeine Drohung ausstieß; Jorge hielt ihn zurück. Wenigstens wiederholte ich zu diesem Zeitpunkt immer wieder, es tut mir leid, es tut mir leid, aber Miguel riss sich los, oder Jorge ließ ihn los, und er schlug mich auf den Mund.

Es war kein kräftiger Schlag, aber ich fand, ich sollte zu Boden gehen. Miguel schrie mich an, und das Geschrei brachte Isabel und ihre Freundinnen vom See zurück. Miguel ließ sich von Jorge wegziehen und beruhigen. Ich schmeckte das Blut von meiner leicht verletzten Lippe und biss kräftig auf die Wunde, um sie noch zu vertiefen, damit ich schlimmer verletzt wirkte und so genügend Mitleid erregte, um den von meinem Lächeln angerichteten Schaden wettzumachen. Während ich mir die Hände vors Gesicht schlug und mich wie vor Schmerzen wand, achtete ich darauf, das Blut zu verschmieren, und als ich mich aufrappelte und wieder in den Feuerschein trat, schnappte Isabel erschrocken nach Luft und sagte, mi madre, mein Gott. Ich ließ das einsetzende Schweigen hinter mir und ging zum See hinunter, wo ich mir das Gesicht zu waschen begann. Einige Minuten später hörte ich Schritte auf dem trockenen Gras: Isabel.

«Tut mir leid», sagte sie.

«Nein, mir tut’s leid», sagte ich. «Ich verstehe nicht, was für eine Geschichte du vorhin zu mir gesagt hast», sagte ich vermutlich. «Mein Spanisch ist sehr schlecht. Ich werde nervös.»

«Dein Spanisch ist gut», sagte sie. «Wie geht es deinem Gesicht?»

«Mein Gesicht ist gut», sagte ich, was sie zum Lachen brachte. Sie löste das Tuch, mit dem sie ihr Haar zusammengebunden hatte, tauchte es ins Wasser, wrang es aus, wischte mir damit das restliche Blut vom Gesicht, tauchte es erneut ein und wrang es aus. Dann sagte sie entweder etwas über den Mond, den Effekt, den der Mond auf das Wasser hatte, oder sie führte den Vollmond als Entschuldigung für Miguels Verhalten oder das allgemeine Drama des Abends an, obwohl der Mond gar nicht voll war. Ihre Haare waren lang, länger vielleicht als die des Museumswärters. Dann schilderte sie möglicherweise, wie sie als Kind im See geschwommen war, oder sie sagte, Seen erinnerten sie an ihre Kindheit, oder sie fragte mich, ob ich als Kind gern geschwommen sei, oder sagte, das, was sie über den Mond gesagt habe, sei kindisch. Sie fragte mich, ob ich ein bestimmtes Gedicht von Lorca kennte, bei dem offenbar mehrere Farben eine Rolle spielten, weswegen sie sanft die Rs rollen musste, was ich nicht konnte. Sie bot mir eine Zigarette an, wir rauchten, ich betrachtete das Wasser und wurde nüchtern.

Ich wollte wissen, weshalb sie geweint hatte, und es gelang mir, diesen Wunsch im Wesentlichen dadurch zu vermitteln, dass ich die Worte für «Feuer» und «vorhin» wiederholte. Sie blieb eine ganze Weile stumm und begann dann zu sprechen; irgendetwas über ein Zuhause, aber ob sie einen Haushalt oder das konkrete Gebäude meinte, konnte ich nicht sagen; ich hörte Straßen- und Monatsnamen; eine Aufzählung von Dingen, die ich für Buch- oder Songtitel hielt; schlechte Zeiten oder schlechtes Wetter, Epoche, Onkel, Veränderung, eine Analogie mit dem Sommer, irgendetwas über den Kauf eines roten Autos und/oder einen Unfall damit. Aus dem, was sie sagte, bildete ich mehrere Geschichten, und zwar unmittelbar, sodass ich nicht so sehr nichts verstand als vielmehr in Akkorden verstand, in einer Pluralität von Welten. Ihr Onkel war heute vor einem Jahr auf einer Straße in Salamanca bei einem Autounfall ums Leben gekommen; sie hatte mit dafür gesorgt, dass ihr Freund, ein Junkie, den Sommer über in eine Klinik kam, und nun wollte er nichts mehr von ihr wissen und war nach Barcelona gezogen; das Haus ihrer Eltern, die in einer Kleinstadt lebten, wurde zwangsversteigert, und sie hatte Kisten mit Kinderspielzeug durchgesehen; sie hatte sich wegen des Bürgerkrieges mit einem ihrer Geschwister zerstritten. Diese Fähigkeit, mich zwischen möglichen Denotaten zu bewegen, sie sich überlagern und auseinandergehen zu lassen wie Wellen, den Satz vom ausgeschlossenen Dritten zu ignorieren, wenn ich Spanisch hörte – das war ein Durchbruch in meinem Projekt, ein Phasenwechsel. Ich schwieg und machte ein Gesicht, das dem Bild Leocadios nachempfunden war.

 

Vom Prado aus ging ich üblicherweise in ein kleines Café namens El Rincón, wo ich ein Sandwich aß – einfach hartes Brot mit Chorizo – und, wenn keine Touristen da waren, der einzige Esser war, denn bis zur Mittagszeit war es für die Spanier noch lange hin. Dann ging ich ein paar Häuserblocks weiter zum Retiro, dem zentralen Stadtpark, nahm meine Notizbücher, das Taschenwörterbuch und den Lorca heraus und zog einen durch.

Wenn die Sonne schien und ich Hasch und Tabak ins richtige Verhältnis brachte, wenn andere Leute da waren, aber so weit weg, dass ich sie zwar reden hörte, aber nicht, in welcher Sprache, überkam mich eine kleine Welle der Euphorie. Es waren noch viele Stunden Sonnenlicht übrig, für die Spanier war es noch nicht einmal richtig Nachmittag; es waren noch viele Monate Stipendium übrig, denn es hatte ja gerade erst begonnen; doch das Stipendium würde auch nicht zu lange dauern – an einem bestimmten Datum würde ich in mein früheres Leben zurückkehren: wegen meines Auslandsaufenthalts für alle ein bisschen interessanter, wahrscheinlich dünner, ansonsten aber unverändert. Abgesehen von den einfachsten Abläufen brauchte ich mich in Madrid nicht dauerhaft einzurichten; ich musste mir keine Gedanken darüber machen, mir einen Freundeskreis aufzubauen, was immer das hieß. Ich hatte den endlosen Tag, viele Monate voller endloser Tage, und doch begrenzte das Datum meiner Rückkehr dieses Gefühl von Grenzenlosigkeit, verhinderte, dass es bedrohlich wurde. Ich verspürte den Ansturm eines Gefühls, das ich für Liebe hielt, zunächst für die Dinge in Reichweite: die im Staub herumhüpfenden Mauersegler, wenn es denn welche waren, die Alleen mit ihren altehrwürdigen Bäumen, die steinernen Statuen von Königinnen und Königen, vor denen die Touristen posieren, Liebe für das Gleißen von El Estanque, dem künstlichen See des Parks. Liebe für Topeka: den Hühnergeier auf dem Telefonmast, das Jüngelchen mit der in den Bund seiner Trainingshose gesteckten Signalpistole, den einer Schnappschildkröte oder einem Feuerwerkskörper zum Opfer gefallenen Finger; Liebe für den brutalen Kerl mit dem Vollbart, eine Liebe, die nur eine Mutter ertragen konnte. Liebe für alle meine Babysitter außer James; Liebe für den Ringer, der vom Wasserturm fiel, wo er versucht hatte, toll auszusehen. Dann für Providence: für den ersten Zusammenbruch zwischen den Regalen, das Verticken von rezeptpflichtigem Kram an die unterbelichteten Kids der Stars, die Ankunft in New York aus einem Tunnel oder aus dem Schlaf heraus, die Neudefinition des Begriffs «reich», Liebe für den nicht gelesenen Gedichtband, für Cyrus und unsere Spaziergänge. Am intensivsten aber Liebe für jenes Andere, den schallschluckenden Schirm, die weiße Maschine des Lebens, sich in mittlerer Entfernung verdichtende Schatten, obwohl das dem nicht einmal nahe kommt, die Textur des Et cetera selbst.

An diesen Tagen arbeitete ich an dem, was ich Übersetzung nannte. Ich schlug mehr oder weniger aufs Geratewohl den Lorca auf, übertrug die englische Version auf eine Seite meines ersten Notizbuchs und begann Änderungen vorzunehmen, nämlich ein Wort durch das erste Wort zu ersetzen, das ich damit assoziierte, und/oder die Reihenfolge der Zeilen durcheinanderzuwürfeln, und dann nahm ich an Änderungen vor, was auch immer diese Änderungen mir nahelegten. Oder ich schlug nach, wie das englische Wort, das ich ersetzen wollte, auf Spanisch hieß, und ersetzte dieses Wort dann durch ein englisches, das ähnlich klang («Unter dem Bogen des Himmels» wurde zu «Unter dem Bogen des cielo», das zu «Unter dem Bogen des Cellos» wurde). Dann verflocht ich Fragmente der Prosa, die ich in meinem zweiten Notizbuch festhielt, mit den auf diese Weise hergestellten Übersetzungen («Unter dem Bogen des Cellos / schlage ich aufs Geratewohl Lorca auf» und so weiter).

Wenn die Sonne aber nicht schien und das Verhältnis nicht stimmte, wenn entweder zu viele Leute da waren oder der Park leer war, dann tat sich beim Rauchen ein Abgrund in mir auf. Jetzt war der Nachmittag auf schreckliche Weise grenzenlos; der Abend und der nächste Tag in Raum 58 würden für immer ausbleiben; Silber und Grau schwanden aus der Landschaft. Ich brachte es nicht über mich, das Buch aufzuschlagen. Es war schlimmer, als wenn man ein flaues Gefühl hat; ich war ein flaues Gefühl, ein unspielbares Adagio für Streicher; innere Entfernungen dehnten und verkürzten sich, wenn ich atmete. Es war, als hätte man den richtigen Zeitpunkt verpasst, aus einem Albtraum aufzuwachen; jetzt musste man darin leben, sich darin einrichten. Er, wenn ich es so formulieren darf, hatte das als Kind verspürt, wenn man ihn ins Ferienlager schickte; sein Herz schien zugleich zu rasen und stillzustehen. Dann stockte ihm der Atem, flachte ab, barst; als wäre in zehntausend Meter Höhe ein Fenster zersprungen, entstand ein plötzliches Vakuum. Etwas von dem Grau wurde in ihn hineingesogen, und er wusste nicht mehr weiter; er wurde zu einem Symptom seiner selbst. Er brachte die Kraft auf, in seine Tasche zu greifen, schraubte das kindersichere Fläschchen auf, legte die gelbe Tablette kurz auf seine Zunge, zerkrümelte sie zwischen Daumen und Zeigefinger und beförderte ihre feuchten Überreste wieder in seine Mundhöhle. Dann wartete und wartete er, und schließlich stumpfte sich die Schärfe von etwas ab. Er bemerkte, dass ihm warm war; nein, dass ihm kalt gewesen war. Er führte die Hände zum Gesicht und fand beide fremd; Erstere waren immer noch eiskalt, Letzteres wurde heiß. Er dachte an die öffentlichen Telefone neben El Estanque; er könnte sich von jemandem zu Hause beruhigen lassen. Aber dort war es sieben, acht Stunden früher, und alle schliefen noch. Und welcher Erwachsene, wenn er denn einer war, ruft aus unerfindlichem Grund in Panik zu Hause an, wie er als Kind schluchzend vom Ferienlager aus angerufen hatte: Bitte kommt und holt mich ab. Er nahm einen seltsamen Geschmack in seinem Mund wahr; sein Speichel gehörte zu jemand anderem, vom Schlucken wurde ihm übel. Das, sagte er sich voller Autorität, ist ein Zeichen von Schizophrenie; das ist der Beginn der raschen Aufsplitterung deiner sogenannten Persönlichkeit; du wirst in die Klinik müssen. Er konnte das Papierhemd auf seiner Haut spüren. Er zerkrümelte einen zweiten Tranquilizer, stand, kaum Herr über seine Beine, auf und ging in Richtung Haupttor. Die anderen Fußgänger auf dem Paseo del Prado betrachteten ihn seltsam. Er hatte den deutlichen Eindruck, dass jeder, dem er begegnete, stehen blieb und sich nach ihm umdrehte; es fiel ihm schwer, nicht zu rennen; seine Wohnung entfernte sich mit seiner Annäherung; aus jedem vorbeifahrenden Auto drang Gelächter. Die Gewissheit, dass nichts davon wirklich war, machte es nur umso schlimmer.

Er eilte die sechs Treppen hinauf, kramte nach dem Schlüssel, ließ die Tasche fallen und warf sich aufs Bett. Er zog die Decke komplett über sich. Dann hielt er meine Siesta.

 

An den meisten Tagen setzte ich, wenn ich aus meiner Siesta erwachte, den Espressokocher auf und rollte mir einen Joint, während ich auf den Kaffee wartete. Wenn er fertig war, drehte ich die Dusche auf, und wenn das Wasser heiß war, nahm ich den Kaffee mit unter die Dusche, wo Wasserspritzer ihn verdünnten und ich von Dampf und Koffein langsam wieder einen klaren Kopf bekam.

Während der ersten Phase meines Forschungsprojekts dachte ich, ganz Madrid schliefe während der Siesta, und stellte mir beim Wegdämmern vor, ich schlösse mich dem Rest der schlummernden Hauptstadt an, obwohl ich später erfuhr, dass ich von allen Menschen, die ich in Madrid kannte, der Einzige war, der diese Zeit tatsächlich zum Schlafen nutzte. Ob meine Übersetzung im Retiro gut geklappt oder ob ich die Grauheit in meine Brust gesogen hatte, ich fühlte mich nach der Siesta fast immer gleich, das heißt, ich fühlte nichts, schlief allerdings, wenn ich die Tranquilizer genommen hatte, eine Stunde länger und hatte, wenn ich besonders durcheinander gewesen war, ein leichtes chemisches Brennen hinten im Mund. Dieses chemische Brennen kannte ich schon seit meiner Kindheit, und ich hatte angenommen, dass jeder es kannte, dass es mindestens so universell war wie der Kupfergeschmack von Blut und irgendwie damit zusammenhing, erfuhr jedoch später, dass niemandem, den ich kannte, dieser Geschmack geläufig war, jedenfalls nicht so, wie ich ihn beschrieb, nicht als spezieller Nachgeschmack der Panik. Zu Hause hatte ich nie Mittagsschlaf gehalten, und die Siesta hatte einen dramatischen Effekt auf mein Zeitgefühl, denn sie schien den Tag entweder zu verdoppeln, sodass die Erinnerung an den Morgen wie die Erinnerung an etwas der Nacht Vorausgegangenes war, oder aber die erste Tageshälfte komplett zu verdrängen.

Wenn ich mich abgetrocknet und angezogen hatte, zündete ich den Joint an, goss mir den Rest des Espressos ein, gab, wenn ich im Park eine Übersetzung fertiggestellt hatte, diese in meinen Laptop ein und mailte sie Cyrus. Obwohl ich in meiner Wohnung Internetzugang hatte, behauptete ich in meinen E-Mails, ich schriebe aus einem Internet-Café und meine Zeit sei sehr begrenzt. Ich gab mir alle Mühe, den größten Teil der E-Mails, die ich bekam, nicht zu beantworten, als würde das den Eindruck erwecken, ich wäre offline, vollauf damit beschäftigt, Erfahrungen zu sammeln, während ich in Wirklichkeit viel Zeit online verbrachte, besonders am Spätnachmittag und am frühen Abend, wo ich mir Videoclips von schrecklichen Dingen ansah. Wenn ich Cyrus geschrieben hatte, versuchte ich, Don Quixote in einer zweisprachigen Ausgabe zu lesen, aß etwas, normalerweise Chorizo, Hartkäse, Oliven und weißen Spargel aus einem Glas, öffnete eine Flasche Wein, gab den Quixote auf und las Tolstoi auf Englisch; seine Hauptwerke hatte ich als Mängelexemplare in der Casa del Libro bekommen.

Ich hatte vorgehabt, mir selbst Spanisch beizubringen, indem ich Meisterwerke der spanischen Literatur las, und über Wesen und Wirkung eines so gelernten Spanisch phantasiert: wie sein archaisches Aroma und seine formal gesteigerte Rhetorik mit den Banalitäten des Alltagslebens kollidieren und nicht so sehr den Eindruck eines aus einem fremden Land, sondern vielmehr den eines aus einer fremden Zeit Stammenden erwecken würden; ich stellte mir vor, wie ich am Lagerfeuer eine schöne und erlesene Formulierung benutzte, nachdem Jorge das starke Gras hervorgeholt hatte, und wie ich die Gesichter der anderen beobachtete, während ihnen aufging, dass es nicht etwa an meiner Ignoranz oder meinem Akzent lag, dass sie nichts verstanden, sondern daran, dass sie selbst so weit vom Zenit ihrer Sprache entfernt waren. Ich stellte mir mich selbst aus ihrer Perspektive vor, wenn ich dieses erhabene Idiom erst einmal fließend beherrschte: Mein Beispiel hätte etwas Auratisches und stünde schließlich für irgendeine ungenutzte Macht in ihrer Sprache, sodass künftig selbst mein Schweigen wohldurchdacht, beredt wirken würde. Aber ich brachte es einfach nicht über mich, im Spanischen an Prosa zu arbeiten, teils weil ich so viele Wörter nachschlagen musste, dass ich nie imstande war, die Bewegung eines Satzes zu erleben; er blieb immer soundso viele Teilchen, wurde nie zu einer Welle; ich hatte nicht die Geduld, dieselbe Passage immer wieder zu lesen, bis die Wörter schließlich aufhörten, bloße Punkte zu sein, und eine Linie bildeten. Ich machte mir schließlich klar, dass es mir viel mehr als auf irgendeine Handlung oder irgendeinen konventionellen Sinn auf die schiere Direktionalität ankam, die ich beim Lesen von Prosa wahrnahm, die Textur der Zeit in ihrem Verstreichen, die weiße Maschine des Lebens. Selbst bei den dramatischsten Szenen, wenn etwa Natascha plötzlich neben ihm steht, bewegten mich am stärksten nicht so sehr das Pathos der Wiedervereinigung und das Hinscheiden von Andrej, sondern die Aktion der Präpositionen, Konjunktionen etc.; der Schwung der Aussage war bezwingender als das Ausgesagte.

Das Lesen von Gedichten, wenn Lesen denn das richtige Wort dafür ist, war dagegen etwas ganz anderes. Gedichte wiesen meine Aufmerksamkeit aktiv zurück, sie waren undurchlässig und dinglich, sie weigerten sich, mich zu fesseln, ihre Artikel, Konjunktionen und Präpositionen lösten sich nicht in ein Gefühl und ein Tempo auf; man konnte in die Räume zwischen Wörtern fallen, während man versuchte, sie miteinander zu verbinden. Doch gerade durch die Weigerung, mich zu fesseln, verhieß das Gedicht die Möglichkeit einer höheren Form des Gefesseltseins, deren ich unwürdig war, eine tiefgehende Erfahrung, die aus dem Inneren des beschädigten Lebens heraus nicht verfügbar war, und deshalb wurde das Gedicht zu einer Figur für dessen Außen. Ein Gedicht auf Spanisch zu lesen fiel mir erheblich leichter, als spanische Prosa zu lesen, weil alles Nichtwissen, Zögern und Misslingen, das mit dem Versuch einherging, das Gedicht zu erfahren, vertraut war; ebendas stattete jedes Gedicht mit einer negativen Macht aus, der Umstand, dass es mich nicht bewegte, bewegte mich, zumindest ein bisschen; meine Unfähigkeit, das Gedicht auf Spanisch zu begreifen oder von ihm ergriffen zu werden, ähnelte so sehr meiner Unfähigkeit, das Gedicht auf Englisch zu begreifen oder davon ergriffen zu werden, dass ich mir in dieser Hinsicht wie ein Muttersprachler vorkam. Nachdem ich also den Don Quixote weggelegt, gegessen, mir einen runtergeholt und etwas Tolstoi gelesen hatte, stieg ich mit dem Rest des Weins und einer Anthologie zeitgenössischer spanischer Dichtkunst aufs Dach und las im restlichen Licht ein paar Gedichte.

 

Während die Nacht hereinbrach, begann sich die Plaza Santa Ana mit Touristen zu füllen, und man konnte auch einige Madrileños sehen, die sich mit Wangenküsschen begrüßten, obwohl die Ortsansässigen sich erst viel später in voller Stärke zeigten. Man konnte mehrere Sprachen hören, für mich am misstönendsten amerikanisches oder australisches Englisch, außerdem Stühle, die über das Pflaster schrappten, Besteck, das über Teller schrappte, Gläser, die von den Metalltischen genommen oder darauf abgestellt wurden, und normalerweise auch einen harmlos unfähigen Geiger. In der Ferne konnte man Flugzeuge sehen, die mit langsam blinkenden Landelichtern Barajas ansteuerten, die Kondensstreifen verschwommen rosa, bis es völlig dunkel war. Ich stellte mir vor, die Passagiere könnten mich sehen, stellte mir vor, ich wäre ein Passagier, der mich dabei sehen könnte, wie ich zu mir Herabschauendem hinaufschaute.

In der ersten Phase meines Forschungsprojekts kannte ich niemanden außer Jorge und seinen Freunden, und sie luden mich niemals ein, unter der Woche abends etwas mit ihnen zu unternehmen; ich weiß aber auch nicht recht, wie sie das hätten anstellen sollen, da ich Jorge nur freitags in der Sprachenschule sah. Ein Telefon hatte ich nicht, und sie wussten nicht genau, wo ich wohnte. Da ich keines der gesellschaftlichen Ereignisse besucht hatte, die die Stiftung veranstaltete, gab es niemanden, dem ich mich anschließen konnte, falls ich all das tun wollte, was man eben so tut, wenn man in Madrid ist: von einer Bar zur nächsten ziehen und sich dabei zügig besaufen, dann in einer mehrstöckigen discoteca aufschlagen und zu fürchterlichem Techno tanzen, wenn das denn das richtige Wort dafür ist, stundenlang herummachen, dann Chocolate con churros essen und im Morgengrauen nach Hause wanken. Das war offenbar für eine bemerkenswerte Bandbreite von Altersgruppen Programm; jedenfalls waren noch sehr spät Menschen unterschiedlicher Generationen unterwegs; noch um Mitternacht spielten Kinder auf der Plaza; selbst wer nicht mehr ganz jung war, trank bis zum frühen Morgen. Ich war weder an solche Zeiten noch an so viel öffentlichen Raum gewöhnt. Zwar fühlte ich mich über dieses ganze Gezeche erhaben, wünschte mir in Wirklichkeit aber sehnlichst, in irgendeiner Form daran beteiligt zu sein, weil ich mich nachts schrecklich langweilte, aber auch, weil ich mich von der mit vulgärer Triebhaftigkeit aufgeladenen Luft fraglos angezogen fühlte. Natürlich konnte ich nicht allein auf der Plaza sitzen, obwohl ich Männer sah, die das taten, Reiseführer neben ihren Biergläsern, und ich konnte nicht auf eine der unzähligen umherziehenden Gruppen zugehen und darum bitten, mich ihr anschließen zu dürfen, aber mir wurde irgendwann klar, dass ich meine Wohnung verlassen und ungeniert in den Strom der Nacht eintreten konnte, solange ich zielstrebig ging und so tat, als müsste ich irgendwohin.

Also drehte ich mir ein, zwei Joints, steckte sie in ein Päckchen Zigaretten, trank ein Glas Wasser, putzte mir die Zähne und ging die Treppe hinunter aus dem Haus und auf die Plaza. Während ich sie überquerte, kam es mir so vor, als beobachtete ich mich selbst vom Dach meiner Wohnung aus; von dort aus konnte ich sehen, dass ich zu schnell ging, worauf ich stehen blieb, mir einen Joint oder eine Zigarette anzündete, um meinen Gang dann in weniger hektischem Tempo in Richtung Puerta del Sol fortzusetzen, dem buchstäblichen Zentrum der Stadt, das ich in wenigen Minuten erreichen konnte. Dort hielt ich dann inne, um zu entscheiden, wo ich angeblich hinmusste.

Meistens ging ich die Gran Vía entlang, wo die Prostituierten rauchend – trüber Schimmer von Orange und dunkelrotem Lippenstift – vor den mit Rollläden verschlossenen Ladenfronten standen, und kam schließlich nach Chueca, ein weitgehend schwules Viertel, das laut Reiseführer für sein pulsierendes Nachtleben bekannt war, wo in aller Regel jedoch weniger Amerikaner unterwegs waren. Die Straßen in Chueca waren so eng und die gleichnamige Plaza in jenen Monaten so voll, dass es leicht war, so herumzulaufen, dass die Leute rechts von einem annahmen, man wäre mit den Leuten links von einem unterwegs, und umgekehrt. Das galt auch für die diversen überquellenden Bars des Viertels. Ich konnte einen Drink bestellen und mit gelangweiltem Gesicht mitten in der Bar stehen, und die Leute vermuteten, ich gehörte zu einer der Gruppen um mich herum; oft sprachen mich sogar Leute aus der einen oder anderen großen Gruppe an, weil sie meinten, ich wäre einer von ihnen, den sie nur noch nicht kennengelernt hätten. Bei dem allgemeinen Lärm konnte ich so gut wie nichts hören, aber ich lächelte, nickte, hob manchmal auch leicht mein Glas und wandte mich von diesem Zeitpunkt an etwas mehr der Gruppe zu, aus der heraus ich angesprochen worden war; langsam wurde ich darin aufgenommen.

So lernte ich auch Arturo kennen, ein Wendepunkt in meinem Projekt. Ich befand mich in einer überfüllten Bar in Chueca, einer gemischten Bar mit marokkanischem Dekor und paillettenbesetzten Kissen überall, und trank einen klebrigen Mojito, als er eintraf und die Gruppe zu begrüßen begann, um die ich kreiste. Er umarmte mich innig, nachdem er die anderen umarmt hatte, und fragte mich, da ich dem Tresen am nächsten stand, ob ich etwas zu trinken wollte. Während wir darauf warteten, bedient zu werden, fragte er mich, woher ich Soundso kennte, der, wie ich annahm, die Zusammenkunft organisiert hatte. Ich zuckte auf eine Weise die Achseln, die andeutete, dass jeder Soundso kannte. Dann fragte er mich, woher ich käme, und ich log: New York. Er sagte entweder, dass er kürzlich in New York gewesen sei oder dass er bald dorthin fliege. Wozu, fragte ich. Zu einer Musikaufführung, antwortete er, oder um Musik aufzuführen, oder zu sonst etwas Aufgeführtem. Was machst du in Madrid, fragte er. Hier lieferte ich eine Version der Antwort, die ich für meine Spanischprüfung in Providence auswendig gelernt hat