Von der Leistung, kein Zyniker geworden zu sein

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Inhaltsverzeichnis

Fußnoten

  1. Paul Spiegel (1937–2006) war von 2000 bis zu seinem Tod Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland.

  2. Lilo Fuchs, die Witwe von Jürgen Fuchs.

Statt eines Vorworts

Rede zum 60. Jubiläumsjahr des Verlags Kiepenheuer & Witsch, Berlin, 30. September 2011.

An diesem Tag möchte ich über etwas sprechen, wovon ich unverschämterweise hoffe, daß es in die Annalen des Verlags eingehen könnte. Deshalb und weil es mir auf jedes Wort ankommt, habe ich es aufgeschrieben und lese es Ihnen nun vor.

Es geht dabei um etwas Elementares, etwas, ohne das der Mensch nicht leben kann, das aber, wie alles Kostbare, ständig bedroht ist – es geht um Zugehörigkeit. Im konkreten Fall genauer: um ihren Verlust und um ihre Rückgewinnung.

Was Kiepenheuer & Witsch zu dieser Rückgewinnung beigetragen hat, das ist die Geschichte, die ich Ihnen zum 60. Jubiläumstag des Verlags und im 50. Jahr meiner ersten Begegnung mit ihm erzählen möchte – in gebotener Kürze, aber aus der Tiefe meiner Biographie.

An den Anfang das Geständnis: Über die größere Strecke meines »sündhaft langen Lebens« habe ich mich eher unbehaust gefühlt, emotional, politisch, in einem ganz persönlichen Sinn und – in langandauernder Distanz zu Deutschland. Ein Prozeß von früh an.

Zugehörigkeit war für den Sprößling des Jahrgangs 1923 so selbstverständlich wie die Luft zum Atmen da oben in Hamburgs Norden, eingesponnen in den Kokon der Familie, vertrauter Nachbarschaft und heißgeliebter

1933, April: »Hie Arier, hie Nichtarier!« So schon am ersten Schultag auf dem Johanneum, einem humanistischen Gymnasium – die erste Spaltung. Sommer 1934: »Ralle, mit dir spielen wir nicht mehr, du bist Jude«, so Heinemann, bis dahin mein bester Freund – Einkehr von Liebes- und Freundschaftsverlust als Alltagserfahrung.

1935, September: Der Zwölfjährige brütet dumpf über dem Text der Nürnberger »Gesetze zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre«, die Lektüre nicht immer verständlich, aber bedrohlich genug. Codex einer neuen Zeitrechnung für Deutschlands Juden, also auch für die Mutter – und ihren Anhang.

1938, 10. November, nachmittags – unter meinen Sohlen in der Hamburger Innenstadt die knirschenden Glassplitter der gestern nacht eingeworfenen Fensterscheiben jüdischer Geschäfte. Und in mir, wie an eine imaginäre Leinwand geworfen und so bis heute vor meinen Augen, das Menetekel: »Wer das getan hat, der ist zu allem fähig.«

1939, Anfang September, kurz nach Kriegsausbruch, auf der Gestapo-Leitstelle Hamburg, Stadthausbrücke – »staatsfeindlicher Äußerungen« wegen, »die das Miststück deiner jüdischen Mamme dir eingegeben hat«. Ich war 16 – wie habe ich dieses »Verhör« überstanden?

Herbst 1941: erste Kenntnis vom Massenmord an Juden im Osten Europas. Die Furcht vor dem jederzeit möglichen Gewalttod wird zum zentralen Lebensgefühl.

1944, August, ich war 21: zweites »Verhör« auf der Gestapo, Johannisbollwerk, Abteilung »Rassenschande« – Prügelorgien, Unwirklichkeiten, die in den alles übertäubenden Wunsch münden, nie geboren worden zu sein …Wie können Menschen Menschen so etwas antun?

Ein unvollständiger Kalender jener zwölf Jahre. Aber kann es da verwundern, daß wir lange nur von »den« Deutschen gesprochen haben und uns im Krieg als Teil der Anti-Hitler-Koalition fühlten? Was ist unverständlich an dem Vorsatz, an der Selbstverständlichkeit, den blutigen Staub dieses Landes so rasch wie möglich von unseren Füßen zu schütteln, wenn wir davonkommen würden? Zugehörigkeit? Ein Fremdwort. Wie hätte die denn in dieser verlogenen Verdrängergesellschaft der ersten bundesdeutschen Nachkriegsjahrzehnte entstehen können? Würde sie, so gründlich verlorengegangen, überhaupt je zurückzugewinnen sein? Und hier, bei dieser alles entscheidenden Frage, ob ein Dasein gelingt oder mißlingt, hier kommt der Verlag Kiepenheuer & Witsch ins Spiel. Durch ein Buch.

Im Glauben, daß die Feinde meiner Feinde auch meine Freunde sein müßten, war ich 1946 in die Kommunistische Partei Deutschlands, Landesorganisation Hamburg, eingetreten. Ich brauchte elf Jahre, bis 1957, um zu erkennen, daß die Welt mit dieser Partei nicht bewohnbarer gemacht werden könnte. (Wobei mich in der Erinnerung noch heute die Überzeugungskraft entsetzt, mit der ich meine politischen Irrtümer damals unter die Leute gebracht habe.) Ein falscher Traum, der der Wirklichkeit nicht standhielt.

Aber wie war es dazu gekommen, zu dieser Fehlentscheidung, diesem Verlust an humaner Orientierung, dieser, wenn gewiß auch marginalen Teilhabe an Stalins Mordsystem? Eine Frage, die mir die Seele abdrückte, moralisch und intellektuell.

Der sie mir dann stellte, hieß Wolfgang Leonhard, Autor von Kiepenheuer & Witsch und des Bestsellers »Die

Von Carola Stern gegen einen murrenden Caspar Witsch durchgesetzt, erschien »Die Partei hat immer recht« im April 1961 bei Kiepenheuer & Witsch, Köln, Rondorfer Straße 5. Nicht die Biographie eines enttäuschten Kommunisten, sondern eine Anatomie des Stalinismus. Wie es der Partei gelang, einen Mann mit großer Sehnsucht nach Zugehörigkeit zu gewinnen, eine Zeitlang zu halten und ihn dann wieder zu verlieren. Die eigene Vita also unter das Elektronenmikroskop der Selbsterforschung gelegt … Dabei ging viel Haut mit ab. Aber schlimmer, als einen politischen Irrtum zu begehen, ist es, keine Konsequenzen aus ihm zu ziehen. Heute sage ich: Es war wie eine zweite Befreiung.

Das Buch »Die Partei hat immer recht« veränderte mein Leben von Grund auf, krempelte es um und um, innerlich wie äußerlich. Hier verlief die Nahtstelle zwischen dem verlorengegangenen, nun aber Stück um Stück zurückkehrenden Zugehörigkeitsgefühl.

Den Anfang machte, noch im April 1961, ein Interview über das Buch vor laufender Kamera des Fernsehens, einer Zunft, bei der ich dann auch gleich blieb – erst drei Jahre im NDR Hamburg, dann, ab 1964, vierundzwanzig beim WDR. Dies eine Epoche, wie ich sie mir in den allerkühnsten Träumen nicht hätte vorstellen können. Ein Stichwort – Hunger, Slums, Folter, Flüchtlinge –, und ich konnte für den WDR in die Welt hinausfliegen, wohin ich wollte. Es war die erste Einfügung in eine größere Gemeinschaft, was ihre

Dieser Prozeß hatte das große Loch in mir spürbar verkleinert – aber weg war es nicht. Da fehlte noch etwas, da klaffte noch ein Defizit. Und nun, an dieser Stelle, nimmt Kiepenheuer & Witsch den Faden wieder auf. Dreißig Jahre nach »Die Partei hat immer recht« und drei Jahre nach meiner Pensionierung beim WDR 1988 mit 65, 1991 erscheint dort mein Buch »Israel, um Himmels willen, Israel« – dem unter totaler Mißachtung geheiligter Begriffe wie »Ruhestand« und »Lebensabend« in den anschließenden zwanzig Jahren Schlag auf Schlag elf weitere Bücher folgen werden.

Es war die Freiheit, ein Leben wie auf Flügeln. Vor mir lag der horizontlose Acker der Literatur. Begrenzungen gab es nicht, sowenig wie Zensur. Irland, Ostpreußen, Sizilien … Tiefe Lotungen in Historie und Gegenwart, vom Verlag großzügig ermöglicht, bis an Ort und Stelle alles durchgearbeitet war. Dabei im Rücken immer das Mutterschiff in Köln, das zum Mittelpunkt der schöpferischen Arbeit, ja, des ganzen Lebens geworden war.

Wohl durfte ich mich schon früher Schriftsteller nennen – war 1982 doch, nach vierzigjähriger Arbeit, meine Familien-und-Verfolgten-Saga »Die Bertinis« erschienen, dazu 1987 »Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein«. Aber so richtig getraut, mir den hohen Titel auch öffentlich

Heute bin ich, wo auch immer ich hinkomme, meist der Älteste, so alt, daß mir Siebzigjährige zwar nicht gerade wie Enkel, aber doch durchaus juvenil vorkommen wollen. Dabei ist ihr Zustand oft nicht nur schlechter als meiner in jenem Lebensabschnitt, sondern auch als mein gegenwärtiger. Mit anderen Worten – mit meiner physischen Verfassung habe ich Glück gehabt. Ich war 70, als ich mich nach dem Israelbuch 1993 an »Ostpreußen ade. Reise durch ein melancholisches Land« machte; 75 bei der »Deutschlandreise. Aufzeichnungen aus einer schwierigen Heimat«, 84 bei den »Erinnerungen eines Davongekommenen« 2007. Und werde an die 90 sein beim nächsten Buch im kommenden Frühjahr: »Von der Leistung kein Zyniker geworden zu sein. Reden und Schriften über Deutschland 1999–2011«, dem zwölften mit dem Signum K&W.

Initialzündung aber bleibt »Die Partei hat immer recht« – der Erstling, das Schmerzenswerk, das Debüt, des Autors eigene Kreuzigung. Bei dieser Gelegenheit eine Laudatio auf meinen Lektor und Freund Christian von Ditfurth, der mir stets wacker zur Seite gestanden hat und mit dem es nie andere Differenzen gab als den Kampf um die Kommata. Inzwischen habe ich allerdings den Widerstand aufgegeben, obwohl ich nach wie vor der Meinung bin, meistens recht gehabt zu haben. Aber in dieser Stunde der Wahrheit: Erwarten Sie bitte keine ungestüme Fortsetzung meiner Schriftstellerei! Vielmehr gestehe ich lieber gleich, daß sie in Buchform wohl getan ist, obschon ich das bereits mehrere Male angekündigt habe. Verbale Kreativität kann sich ja noch auf mannigfach andere Weise als zwischen zwei Buchdeckeln tummeln. Doch die Zeichen schrecken, so, wenn mir als potentieller Buchtitel und -thema seit geraumer Zeit nichts anderes einfällt als »Von der Widerspenstigkeit der Knöpfe« … Das braucht zwar noch kein Anzeichen von

Nur fühle ich mich, halten zu Gnaden, mittlerweile eben doch ein bißchen erschöpft und öfter erinnert an den späten Thomas Mann, als ihm die schöpferische Puste auszugehen drohte, worüber er nachweislich seiner Tagebücher heftig erschrak. Lange währte die Phase allerdings nicht, denn er starb bald nach dieser Eintragung, mit 85 Jahren. Die habe ich inzwischen nun um weitere vier übertroffen, was sich unter anderem dadurch bemerkbar macht, daß ich aus der Kniebeuge nicht mehr ganz so rasch hochkomme wie einst im Mai, sondern, um ehrlich zu sein, mit ziemlichem Knochengekrache. Was nichts daran ändert, daß ich meinen Freunden und Feinden noch möglichst lange erhalten bleiben will.

Aus rein egoistischen Gründen ist es deshalb ein bißchen schade für mich, daß der Verlag den Sitz von der Marienburg in die Kölner City verlegt hat, unter uns gesagt. War es doch bis dahin von Bayenthal aus ein herrlicher Spaziergang oder ein kurzer Fahrrad-Sprint – Rondorfer Straße 5, 50968 Köln.

Aber es kommt noch etwas hinzu, was mir diese Adresse unvergeßlich gemacht hat. Setzt die Geschichte, die ich Ihnen hier erzähle, doch dort ihre eigentliche Pointe.

Denn da war sie, diese Wand, diese magische Wand links vom Eingang die Treppe hoch in den ersten Stock – Köpfe, viele Köpfe, nichts als Köpfe: Autorinnen und Autoren, die von Kiepenheuer & Witsch verlegt worden sind. Darunter viele Namen der Weltliteratur, ein erschütterndes Kaleidoskop quer durch die ebenso grandiose wie mörderische Historie des 20. Jahrhunderts, ein Anblick, an dem ich mich nicht sattsehen konnte! Ich nenne hier keinen Namen, weil man sie dann alle nennen müßte, um niemanden zurückzusetzen, und dazu sind es zu viele. Aber von dieser Wand ging

Nun, lieber Helge, Gevatter, bist du, nun sind Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie alle, wie Sie hier versammelt sind, an der Reihe, um die große Tradition fortzusetzen und sich den Herausforderungen zu stellen, die unser Zeitalter rascher Wandlungen für Literatur, Literaten und den Verlag mit sich bringt. Und das nun in den lichten Räumen des Verlagssitzes mit Blick auf Kölns imperialen Hauptbahnhof, und ganz in der Nähe, zum Anfassen, der Dom …

Zusammen mit dem Dank, daß Sie mir bis hierher zugehört haben, eine letzte Liebeserklärung. In meinem langen Leben, das sich bis auf zwölf Jahre dem hundertsten genähert hat, in diesen Äonen, hat es etwas gegeben, das nie angetastet worden ist. Eine eherne Konstante, ein Urverhältnis, eine Musik, mit der es nie Dissonanzen gab, Heimat auch in tiefster Heimatlosigkeit, etwas Rostfreies, pures Gold: die deutsche Sprache, unsere wunderbare, wunderbare Sprache!

»O gäb’ es eine Fahne, ein Thermopylä, wo ich mit Ehren

Und so möchte ich denn hier zum Schluß noch einmal vermelden: Es war der Verlag Kiepenheuer & Witsch, der das Verdienst hat, mir nach so unheilvoller Vorgeschichte und so vielen Kratzern, Beulen und Stichen zu später Zugehörigkeit verholfen zu haben. Wofür ich heute dankbar und redlich Zeugnis ablegen wollte – in unerschütterlichem Glauben an das Kulturgut Buch. Also, für Kiwi und für uns alle: Masel tov, masel tov – und ein langes Leben noch!

»Hamburger Abendblatt«, 24. Juli 1999.

Der Schritt um die Ecke vom Gänsemarkt auf den Jungfernstieg fächelt mir ein sachtes Lüftchen zu, die Silhouette der Petrikirche sticht kupfergrün in einen Vormittagshimmel, wie er blauer nicht sein könnte, und aus der Mitte der Binnenalster schießt die Fontäne so steil hoch, als seien alle Gesetze der Schwerkraft aufgehoben, ehe der Schwall dann doch, in Myriaden Tropfen zersprüht, wasserstäubend zurückfällt.

Ich bin auf dem Wege zur Anlegestelle, und dort angelangt, geschieht auch schon, worauf ich, zugegeben klopfenden Herzens, sehnlichst warte: Mit weichem »Töff, töff, töff« aus dem Schornstein, kommt langsam ein Boot rückwärts aus seiner Liegestatt hervor, steuert um, schlägt einen Bogen auf die Pier zu und wird vor meinen Füßen unter markerschütterndem Pfeifton vertäut. Es kann nicht wahr sein und ist es doch: Nach 65 Jahren werde ich heute zum erstenmal wieder mit einem Alsterdampfer fahren! – also einem, dessen Schraube wirklich mit Dampf angetrieben wird, und nicht, wie die anderen, die sich zwar auch so nennen, tatsächlich aber Dieselmotoren haben.

»Manchmal ging es mit der Familie zur Richardstraße, wo die Alsterdampfer anlegten, an einem kleinen Ponton, der im Wasser des Kanals schaukelte. Diese Fahrten waren für Roman Bertini ein großes Erlebnis, nicht allein wegen der

So steht es in meiner autobiographischen Hamburger Familien-Saga »Die Bertinis«, und so war es in meiner Kindheit Jahr um Jahr gegangen. Bis 1934, dann nicht mehr, der gewandelten, der Hakenkreuzverhältnisse wegen, die uns scheu machten in der Öffentlichkeit und fortan auf die geliebten Ausflüge »in die Stadt« verzichten ließen.

Aber nun, 1999, an einem Sommertag, sechseinhalb Jahrzehnte nach der letzten Fahrt, stehe ich auf den Planken eines, nein, des letzten der damaligen Alsterdampfer, der nach langer Odyssee für 950000 Mark vom »Verein Alsterdampfschiffahrt e.V.« liebevoll restaurierten »St. Georg«. Zwänge ich wie damals meinen Kopf wieder nach unten in den Maschinenraum, wo dank Ölbefeuerung zwar kein Heizer mehr zu schuften braucht, es aber dennoch heiß hervorquillt; sehe ich, wie damals, Pleuel, Kurbeln und Schieber in voller Bewegung stampfen, wirbeln, rattern; erkenne da unten Kupferrohre, das große rote Rad für die Umsteuerung, den Druckmesser, hinter dessen Glasscheibe der Zeiger nahe vor dem roten Strich 10 bar anzeigt; bestaune die ganze blinkende, wie auf Hochglanz polierte Metallpracht, und lasse

Dann, nach Durchfahrt der »St. Georg« unter dem rechten Bogen der Lombardsbrücke, vor mir die weite Fläche der Außenalster, segelbetupft und changierend, eine spiegelglatte Hoheit, östlich eingerahmt von Ufergrün und den Fronten vornehmer Hotels, westlich von dem gediegenen Scherenschnitt der Harvestehuder Seite, und im Norden begrenzt von der Brücke an der »Schönen Aussicht«.

Ich stütze mich auf die Reling, während die Fenster des Schiffes leise klirren, aus den Lautsprechern melodische Swingmusik nostalgische Gedanken weckt und eine ältere Frau in unverkennbar Hamburger Mundart mich fragt, ob Großeltern von mir in der Barmbeker Schwalbenstraße gewohnt hätten, »so um 1930 herum, als ich noch ein Kind war«. Auf meine Bestätigung – »ja, ja, mütterlicherseits« – ruft sie strahlend aus: »Dann hab’ ich doch auch ein bißchen von den ›Bertinis‹ miterlebt!«

Schwanewikbucht, Kuhmühlenteich, dann unter der Brük-ke hindurch in den Mundsburger Kanal, an dem weiter aufwärts einst die Anlegestelle Richardstraße gelegen hatte, Ausgangs- und Endpunkt unserer so früh abgebrochenen familiären Alsterdampferfahrten »in die Stadt« …

Und nun bin ich also zum erstenmal seit damals wieder auf dieser nassen Straße von und zum Jungfernstieg, inmitten der vertrauten Geräusche von einst, dem Stampfen, Schleudern und Zischen, aber auch, ebenfalls unvergessen, inmitten der Stille, dem leisen Gleiten des Bootes auf diesem wie verwunschenen Kanal, sowohl an Steuer- wie auch an Backbord schwellendes, dichtes, hängendes Grün, gerade, als wären wir im Regenwald und nicht inmitten einer Millionenstadt.

Vom Heck her steigen Dampfschwaden auf, verflüchtigen sich, lösen sich auf, wie die Erinnerungsfetzen an damals.

»PD. St. Georg. Reiherstiegwerft 1876. Länge 21 m, Breite 4,20 m, 75 PS. Umgebaut und restauriert 1994« lese ich auf einem Schild, gleichsam ein Ausweis der Verbundenheit und des Stolzes, wie sie sich personifizieren in dem dezent blauuniformierten Mann da vorn im spitzzulaufenden Bug, Käpt’n und Steuermann in einem, der alle notwendigen Manöver – »Vorwärts!« – »Stopp!« – »Zurück!« – »Ganz langsam!« – »Halbe Kraft voraus!« – über das Sprechrohr weitergibt; in dem Maschinisten, der sie auf dem heißen Platz zwischen Kessel und Antriebsaggregat empfängt und ausführt, und in dem »Decksmann«, der das Fahrgeld eintreibt und unterwegs unermüdlich den auskunftsfreudigen Cicerone und Reiseführer macht (wobei die Passagiere erfahren, daß die Becken der Binnen- und Außenalster mit ihren 185 Hektar der Ausdehnung des Fürstentums Monaco entsprechen).

Ganz von innen her dabei, behandeln die drei den schnaufenden Oldtimer wie ein lebendes Wesen, und das unter so offensichtlichem Spaß an ihrer Arbeit, daß meine schrullige Liebe zur Dampfmaschine und ich uns hier zusammen mit ihnen auf den Decksplanken der »St. Georg« ganz aufgehoben fühlen. So, wie es mir überhaupt geht in meiner Vaterstadt Hamburg, dessen phantastisches Türme-Ensemble – St. Katharinen, St. Jakobi, St. Petri, Nikolaikirche, Rathaus und Michel – jetzt vom Wasser her wieder die unvergleichlichste aller urbanen Kulissen bildet.

Dann pflügt die »St. Georg« – »Volle Kraft voraus!« – wieder auf den rechten Bogen der Lombardsbrücke und unter ihr hindurch auf die Pier am Jungfernstieg zu.

Beim Anlegemanöver geraten drei Entenkinder in arge Bedrängnis. Mittschiffs zwischen Ponton und Bordwand gefährlich eingeengt, paddeln sie hysterisch um ihr Leben, entkommen aber durch die Achtsamkeit des Steuermanns gerade noch rechtzeitig nach vorn ins Freie – gerettet!

123 Jahre ist sie jetzt alt, die »St. Georg«, und hat mir heute, fast 25000 Tage nach meiner letzten Fahrt in der Kindheit, ein seltenes Erlebnis beschert. Also fällt es mir schwer, mich von ihrem Anblick da unten loszureißen. Doch dann kriege ich gerade noch mit, welchen Zauber die alte Dame immer noch ausströmt: Als die Dampfpfeife ertönt, ein schriller, greller, unverwechselbarer Urlaut, da schauen alle, aber wirklich alle wie auf Kommando in die gleiche Richtung!

Und so wird es bleiben, selbst wenn die Technik die Menschheit befähigte, das Universum zu erobern: Nichts, gar nichts wird je wieder auch nur annähernd heranreichen an das faszinierende Urbild der industriellen Revolution – die Dampfmaschine!