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und der giftige Gockel

erzählt von Megan Stine und H. William Stine

nach einer Idee von Robert Arthur

Kosmos

Umschlagillustration von Aiga Rasch (9. Juli 1941 – 24. Dezember 2009)

Umschlaggestaltung von eStudio Calamar, Girona, auf der Grundlage
der Gestaltung von Aiga Rasch

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele
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Aktivitäten findest du unter kosmos.de

© 2013, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Mit freundlicher Genehmigung der Universität Michigan

Based on characters by Robert Arthur.

ISBN 978-3-440-14058-1

eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Ein Albtraum

Peter Shaw bog mit seinem Wagen in den Parkplatz des Memorial Hospital ein und trat auf die Bremse. Er tippte noch zweimal kurz aufs Gaspedal, sodass der Motor seines Scirocco (gebraucht erworben, Baujahr 81) laut und kraftvoll aufheulte, dann schaltete er ihn aus. Die Scheibenwischer stoppten jäh mitten in ihrem Bogen.

»Mann, das schüttet vielleicht. Der reinste Wolkenbruch«, sagte Peter zu seinem Freund Justus Jonas auf dem Beifahrersitz. Im Gegensatz zu dem sportlich durchtrainierten Peter war Justus weder schnittig noch dynamisch. Er selbst nannte sich »vollschlank« oder »kräftig gebaut«, und um weitere beschönigende Bezeichnungen für »übergewichtig« war er nie verlegen. Andere mochten lachen über Justus’ Bestrebungen, den wahren Sachverhalt herunterzuspielen; Peter jedenfalls hielt sich mit Sticheleien sehr zurück. Schließlich war Justus sein bester Freund. Und außerdem hatte Justus das Team »Die drei ???« gegründet. Im Verein mit dem dritten Mann, Bob Andrews, waren sie in Rocky Beach als Detektive bestens bekannt.

Die beiden Jungen blieben im Wagen sitzen und schauten in das Unwetter hinaus. Das war mehr als ein normaler sommerlicher Schauer. Heftig und unablässig prasselte der Regen gegen die Windschutzscheibe. Und nun musste es ausgerechnet auch noch donnern und blitzen!

»Na, komm. Das hört so schnell nicht auf.« Peter schob sich das rötlich braune Haar aus der Stirn. »Die Besuchszeit ist schon fast zu Ende, und Kelly wartet auf mich.«

»Dass du dich von dem Mädchen so rumkommandieren lässt«, bemerkte Justus spitz. Widerstrebend löste er seinen Sicherheitsgurt.

»Ich sag dir das nicht so gern«, meinte Peter darauf, »aber Mädchen sind die einzige Sache, von der du nicht gerade viel verstehst.«

»Recht hast du«, gab Justus zu. »Aber das soll mich nicht davon abhalten, dir gute Ratschläge zu geben.«

Peter lachte.

Die beiden Freunde zogen sich die Kapuzen ihrer Sportjacken über den Kopf und sprinteten durch den Regen zum Klinikeingang. Im Foyer schüttelten sie die Regentropfen ab und liefen zu Zimmer 2113.

Kelly Madigan telefonierte gerade von ihrem Klinikbett aus und drehte dabei eine ihrer langen, braunen Locken zwischen den Fingern. Im Fernseher liefen unterdessen Videoclips, jedoch ohne Ton. Man sah Kelly nicht an, dass sie sich erst vor drei Tagen den Blinddarm hatte herausnehmen lassen.

Kelly war ein hübsches, sportliches Mädchen und besuchte – wie auch Peter, Justus und Bob – in Rocky Beach die Highschool. Vor sechs Monaten hatte sie von einem Tag zum anderen beschlossen, dass Peter Shaw eine feste Freundin brauchte. Peter hatte keinen nennenswerten Widerstand geleistet.

»Du, Sue, ich mach jetzt Schluss«, sagte Kelly, während sie Peter und Justus zuwinkte. »Freitagabend habe ich ja immer eine Verabredung. Eben kommt mein Typ mit einem Freund zur Tür rein.« Gleich darauf lachte Kelly. »Wie der Freund so ist?«, wiederholte sie Sues Frage. Sie musterte Justus eingehend mit ihren großen, grünen Augen.

Justus nahm sich vor, ihrem Blick nicht auszuweichen, doch prompt wurde er nervös und musste wegschauen.

»Kommt drauf an, Sue«, gab Kelly am Telefon Auskunft. »Zugeknöpft bis tiefgekühlt, würde ich sagen«, setzte sie mit spöttischem, aber liebenswertem Lachen hinzu.

Justus ließ sich verdrossen auf einem der unbequemen Holzstühle nieder, die in Klinikzimmern zur Standardeinrichtung gehören, und verschränkte die Arme.

Doch plötzlich streckte Kelly den Arm aus – und reichte Justus den Telefonhörer! »Sue möchte mal eben mit dir reden.« Sie lächelte gewinnend.

Justus riss sich zusammen und versuchte, so zu tun, als sei ihm das Wort Panik überhaupt kein Begriff. Die Unterhaltung mit einem Tatverdächtigen bei der Aufklärung eines Falles stellte überhaupt kein Problem für ihn dar. Aber mit Mädchen reden – das war eher Sache von Bob Andrews.

»Na los, Justus«, ermunterte Peter grinsend seinen Freund. Er saß bei Kelly auf der Bettkante.

Justus stand bedächtig auf und nahm den Hörer entgegen. »Hallo«, meldete er sich steif. »Hier Justus Jonas.« Danach machte er erst einmal eine Pause.

»Hi«, sagte eine Mädchenstimme mit verlegenem Kichern. »Ich bin Sue. Wie läuft’s denn so?«

»Wie soll was laufen?« fragte Justus zurück. Sein nach den Gesetzen der Logik funktionierender Verstand war auf logische Fragen angewiesen, damit er logische Antworten geben konnte.

»Och … so allgemein …«, sagte Sue.

Justus räusperte sich und blickte aus dem Augenwinkel zu Kelly hinüber. Dass es bei diesem peinlichen Telefongespräch auch noch Zuhörer geben musste! Peter und Kelly strahlten ihn in glücklicher Zweisamkeit an.

»Na dann … vielleicht sieht mal sich mal irgendwo«, meldete sich Sue am anderen Ende der Leitung noch einmal.

In diesem Augenblick steckte eine Krankenschwester mit leuchtend kupferrotem Haar den Kopf zur Tür herein. »Die Besuchszeit ist vorüber. Sie müssen jetzt gehen«, verkündete sie streng.

Justus stieß einen Seufzer der Erleichterung aus und gab den Telefonhörer an Kelly zurück. »Ich ruf noch mal an, bis gleich«, teilte Kelly ihrer Freundin mit und legte rasch auf. Dann blinzelte sie Justus zu. »Wieder mal typisch Justus Jonas mit seinem umwerfenden Charme.«

Plötzlich wurde die Tür energisch aufgestoßen. Zwei Pfleger rollten in großer Hast eine Trage mit Fahrgestell ins Zimmer. Ein Arzt und zwei Schwestern folgten. Justus hatte gerade noch zur Seite springen können.

Auf der Trage lag eine ganz junge Frau mit dunklem, gelocktem Haar. Ihr hübsches Gesicht war bleich und mit Pflasterverbänden bedeckt. Sie schien nicht bei Bewusstsein zu sein.

»Sie bekommen eine Bettnachbarin, Kelly«, sagte der Doktor, ein junger Stationsarzt mit langem, hinten zusammengebundenem Haar und ruhigem Lächeln. Mit seiner Hilfe wurde die neue Patientin auf das zweite Bett gehoben, das in dem Krankenzimmer mit den grünen Wänden bisher leer gestanden hatte.

»Ist sie schwer verletzt?«, erkundigte sich Kelly.

»Das dürften wohl nur Schürfwunden sein«, äußerte sich Justus. Seinem Scharfblick entging nichts. »Allerdings vermute ich, dass sie nach einer Gehirnerschütterung noch unter einem Schock steht.«

»Aha – der geborene Diagnostiker.« Mit verdutztem Lächeln sah der Arzt zu Justus hinüber.

Das Pflegeteam bettete die junge Frau behutsam auf der neuen Liegestatt und hängte ihre Tropfflasche an den Ständer, damit die Infusion wieder in Gang kam. Als die Schwestern und die Pfleger sich vergewissert hatten, dass alles in Ordnung war, verließen sie den Raum, und der Arzt machte seine Eintragungen auf dem Krankenblatt.

»Was ist ihr denn passiert?«, fragte ihn Kelly Anteil nehmend.

»Autounfall auf dem Countyline Drive. Sie kam von der Fahrbahn ab. Bei einem solchen Unwetter am Abend bekommen wir immer einen oder zwei Notfälle herein«, erklärte der Doktor, schon auf dem Weg zur Tür. »Der Vater ist’n großes Tier, freilich kann man von ihr zurzeit nicht viel erkennen. Sie ist –«

Doch ehe der Arzt seinen Satz beenden konnte, öffnete die Krankenschwester mit dem kupferroten Haar nochmals die Tür.

»Ach, hab’s schon einmal gesagt. Nun sage ich es noch mal«, fuhr sie Justus und Peter barsch an. »Die Besuchszeit ist zu Ende. Gehen Sie jetzt sofort. Hierbleiben können Sie nur, wenn Sie selbst krank sind. Dann müssen Sie sich allerdings bei der Aufnahme melden.«

»Alles klar«, erwiderte Peter.

»Na schön.« Die Schwester lächelte säuerlich. »Dann brauche ich ja wohl die Wachhunde heute Nacht nicht herauszulassen.«

Sie drehte sich um und rauschte ab, und Peter gab Kelly schnell einen Abschiedskuss. »Bis morgen, Kleines. Ich geh noch mit zu Justus.«

Justus hatte sich mittlerweile mit der Aufschrift des Umschlages befasst, den der Arzt auf dem Tisch neben dem zweiten Klinikbett zurückgelassen hatte.

»Hey, was machst du denn da?«, fragte Peter.

»Ich konnte meine Neugier nicht bezähmen«, antwortete Justus. »Der Doktor kam ja nicht mehr dazu, uns ihren Namen zu verraten. Aber wer ist das nun – Julia Crown?«

Mit einem ratlosen Blick hob Peter die Schultern. Der Name sagte ihm überhaupt nichts. Also verabschiedeten sie sich von Kelly und gingen.

Eine Minute später wussten Peter und Justus dann doch ganz genau, wer Julia Crown war. Als sie auf den Aufzug zuschritten, stürmte gerade ein Riese von einem Mann heraus und lief schnurstracks zum Büro der Stationsschwestern. Er beugte sich über die Informationstheke, sodass sein besorgtes Gesicht ganz dicht vor dem der Schwester mit dem kupferroten Haar war. »Wo ist meine Tochter?«, wollte er wissen. »Wo liegt sie?«

»Das ist Big Barney Crown!« Justus hatte den Mann auf den ersten Blick erkannt.

»Richtig – der Chicken King!«, rief Peter.

Es konnte gar nicht anders sein. Der Mann trug den wohlbekannten rot-weiß-blauen Jogginganzug, genau wie in seinen Werbespots im Fernsehen. Und Big Barney Crowns Gesicht kannte sowieso jedermann in Südkalifornien. Auf allen Kanälen warb er regelmäßig und höchstpersönlich für seine Grillhähnchen-Imbisskette »Chicken Crown«.

»Julia Crown – Barney Crown«, sagte Justus. »Dann ist die junge Dame also die Tochter vom Chicken King.«

»Zimmer 2113, Mr Crown«, gab die Schwester Auskunft.

»Ist das auch ein schönes Zimmer?«, fragte Big Barney. »Meine Tochter soll hier nur das Beste bekommen. Wo ist es denn? Wo geht’s lang? Welche Tür?«

Es tat Justus richtig leid, Big Barney an diesem Ort so erregt und verstört zu sehen. Er trat an die Theke des Schwesternbüros. »Dort drüben ist das Zimmer, Mr Crown«, sagte er und wies mit dem Finger auf die Tür.

Big Barney Crown, der gut einen Kopf größer war als Justus, sah ihn verwirrt an. »Stimmt das auch?«, fragte er.

»Mein Freund und ich kommen von einem Besuch bei der Patientin, die mit Ihrer Tochter im Zimmer liegt«, erklärte Justus. »Wir konnten sehen, dass Julia jetzt schläft.«

Bei so beruhigendem Zuspruch schien sich der Chicken King etwas zu entspannen. »Hier, zwei Gutscheine für euch«, sagte er und gab Justus zwei Kärtchen aus der Tasche seines Sweatshirts. »Du gefällst mir, Junge. Hast ordentlich was auf den Knochen, genau wie meine Hähnchen. Schönen Dank auch.«

Justus grinste und sah Big Barney nach, wie er das Krankenzimmer betrat. Dann riss er die Gutscheine mittendurch.

»Spinnst du?« Peter wollte sich die Kärtchen schnappen, kam aber zu spät. »Was soll denn das?«

»Meine Diät«, entgegnete Justus bedrückt. »Gebratenes und Gegrilltes ist für mich streng verboten, das solltest du doch wissen.«

»Und ob ich das weiß«, sagte Peter. »Jede Zwischenmahlzeit musst du durch ein Stück Wassermelone ersetzen. Total verrückt. Aber wenn du auf Diät gesetzt bist, muss ich das ja noch lange nicht mitmachen. Ich finde die Grillhähnchen von Chicken Crown echt super.«

»Das musst du doch jetzt nicht breitwalzen«, beklagte sich Justus. »Ich find sie ja auch super. Ich kann das direkt riechen – die knusprig gebratene Haut und das weiße Fleisch, schön zart und saftig … «

Rasch liefen sie zu dem regennassen Parkplatz hinaus, und Peter fuhr los zu dem Haus, in dem Justus bei seiner Tante Mathilda und seinem Onkel Titus wohnte. Mr und Mrs Jonas betrieben auf dem gegenüberliegenden Gelände einen Trödelmarkt und Schrotthandel. Seit Jahren betrachteten Justus, Peter und Bob den Schrottplatz als ihr Revier, vor allem wenn sie sich mit einem Fall beschäftigten. Die drei ??? verfügten dort sogar über eine geheime »Zentrale«, nämlich einen Campinganhänger, den sie früher hinter Bergen von Schrott und Gerümpel versteckt hatten. Inzwischen stand der Anhänger nicht mehr im Verborgenen, und sie trafen sich meistens in Justus’ Elektronikwerkstatt, die gleich nebenan lag.

»Schade, dass wir nicht erfahren konnten, wie sich Julia Crowns Autounfall abgespielt hat«, sagte Justus im Auto, kurz bevor sie am Ziel waren. Dann bemerkte er, wie ihn Peter von der Seite ansah. »Jaja, ich weiß schon. Nichts deutet auf irgendwelche rätselhaften Ereignisse hin. Ich habe nur so ein Gefühl. Eine gewisse Ahnung.«

Peter bog in den Lagerplatz ein, und dann gingen sie über das aufgeweichte Gelände zu Justus’ Werkstatt. Auf Tischen und Regalen stapelten sich elektronische Geräte und Zubehör neuester Bauart, Kataloge für moderne Sicherheits- und Überwachungstechnik, Werkzeuge, Schulbücher und -hefte, leere Pizzakartons und Musikkassetten. Zwei Stühle gab es auch und außerdem noch ein Telefon mit Anrufbeantworter. Wie stets kontrollierte Justus als Erstes, ob eine Nachricht aufgezeichnet worden war.

»Hallo, Leute«, kam eine wohlbekannte Stimme vom Band. Es war Bob Andrews, der dritte Mann im Detektivteam. »Tut mir leid, dass ich heute Abend nicht in der Klinik bei Kelly vorbeischaute, aber ich schaffte das einfach nicht mehr. Ich musste mir eine neue Rockband für die Agentur anhören, weil der Chef auswärts ist. Dann rief mich Jennifer an und erinnerte mich an unsere Verabredung. Das hatte ich dummerweise ganz vergessen, und Amy war dann total sauer, denn sie hatte mich zu einer Strandparty eingeladen. Die ist ja wohl ins Wasser gefallen. Also, Justus, du musst mir mal ein Computerprogramm schreiben, damit mir solche peinlichen Sachen nicht mehr passieren. Überleg dir’s mal. Morgen melde ich mich wieder bei euch.«

»Diese Arbeit für musikalische Nachwuchstalente hält Bob ja ganz schön auf Trab.« Kopfschüttelnd schaltete Justus den Anrufbeantworter ab.

»Allerdings«, stimmte Peter schadenfroh zu. »Der Job in der Agentur lässt ihm kaum noch Zeit für das süße Leben.«

Justus nahm sich ein kleines Gerät vor, das zum Decodieren der Ziffernkombinationen bei elektronischen Schlössern dienen sollte, und Peter setzte sich an einen anderen Tisch und machte sich daran, die Düse der neuen Kraftstoffeinspritzung für seinen Wagen zu reinigen. Dabei unterhielten sie sich so angeregt, dass sie die Zeit darüber ganz vergaßen.

Sie redeten über den Wagen, den sich Justus wünschte, über Bob, der sich wegen seines Jobs in letzter Zeit so rarmachte, und über die Zufallsbegegnung mit Big Barney Crown. Und Justus kam immer wieder auf Julia Crowns Unfall zurück. Es störte ihn jedes Mal ungemein, wenn er in einer solchen Angelegenheit nichts Genaues wusste.

Plötzlich klingelte das Telefon, und sie schreckten beide auf. Sie sahen auf die Uhr. Fast schon Mitternacht. Wer rief denn jetzt noch an? Auch für einen Freitagabend war es doch recht spät.

Justus ließ sich in einem alten Drehsessel nieder. »Die drei Detektive«, meldete er sich ganz geschäftsmäßig.

»Ich bin’s, Justus – Kelly. Stell den Lautsprecher an, ja? Ich hab was für euch beide.«

»Es ist Kelly«, teilte Justus Peter mit. Er schaltete am Telefon den Verstärker ein.

Peter war ebenso verblüfft wie Justus. »Was gibt’s denn, Kel?«, fragte er.

»Was äußerst Merkwürdiges«, sagte Kelly. »Julia Crown stöhnt die ganze Zeit und spricht im Schlaf.«

Da hatte Justus wieder jenes Gefühl wie zuvor. Aber er wollte keine voreiligen Schlüsse ziehen. »Angstträume sind nach einem solchen Unfall nichts Ungewöhnliches«, erklärte er.

»Ja, weiß ich«, sagte Kelly ungeduldig. »Aber was sie da zu träumen scheint, das finde ich reichlich makaber. Immer wieder stammelt sie: Millionen Menschen werden sterben.«

Dabei überlief es Justus und Peter nun doch kalt.

»Und das ist noch nicht alles«, fuhr Kelly fort. »Sie sagt noch mehr. Er vergiftet die Hähnchen. Schrecklich ist das. Schrecklich. Und es hört sich ganz so an, als ob sie genau weiß, wovon sie da redet. Gar nicht so wie das unverständliche Zeug, das jemand im Traum zusammenfantasiert.«

Peter stieß einen leisen Pfiff aus. »Das ist ja ein Hammer.«

»Ich sagte dir ja, dass ich ein ungutes Gefühl habe!«, brachte ihm Justus in Erinnerung.

»Tja«, meinte Peter. »Aber wer hätte geahnt, dass so was dahintersteckt – der Chicken King vergiftet meinen Lieblingssnack!«

Besuch zur Nachtzeit

»Hallo?« Aus dem Lautsprecher in Justus’ Werkstatt drang Kelly Madigans verdutzte Stimme. »Seid ihr noch da?«

Das waren sie, aber beiden hatte es die Sprache verschlagen. Wie oft hatten sie nun schon bei Chicken Crown einen schnellen Imbiss verdrückt? Hundertmal? Tausendmal? Justus hielt vermutlich den Rekord. Und wie oft hatten sie auf der Mattscheibe Big Barney Crowns freundliches Gesicht gesehen und seine spaßig-verrückte, aber überzeugende Stimme tönen gehört: »Meine Hähnchen sind die besten – die werden bei mir nicht alt und bei meinen Kunden erst recht nicht.«

»Big Barney Crown … was, der soll seine eigenen Hähnchen vergiften … ?« Peter schüttelte den Kopf. Ihm versagte die Stimme. Dann wurde er ganz ernst. »So was kann ich nicht glauben.«

»Das verlangt auch keiner von dir«, sagte Justus nach kurzem Überlegen. »Wie mir Tante Mathilda immer wieder predigt, soll man sich niemals zu schnell festlegen, weil das den Blick einengt.«

»Was willst du damit sagen?«, fragte Peter.

»Eines ist klar«, meinte Justus. »Big Barney Crown können wir rein gar nichts anlasten. Einmal ist es völlig unbewiesen, dass ausgerechnet Big Barney die Person sein soll, von der Julia im Schlaf spricht. Grillhähnchen vergiften – das können auch andere Leute. Und im Übrigen ist es durchaus möglich, dass Julia Crown noch unter der Wirkung der Medikamente oder des Unfallschocks steht oder dass sie tatsächlich Albträume hat.«

»Wisst ihr was?«, meldete sich Kelly aus ihrem Klinikbett. »Am liebsten würde ich euch direkt mit Julia verbinden, damit ihr selbst mit ihr reden könnt, aber die Anschlussschnur ist zu kurz für eine Verbindung ins Traumland. Oh, hört mal … habt ihr das eben mitbekommen?«

Peter schüttelte den Kopf Justus verdeutlichte es Kelly am Telefon. »Nein, nichts gehört. Was war denn?«, fragte er.

»Gerade hat sie es wieder gesagt«, berichtete Kelly. »Sie sagte: Nein – die Leute werden sterben. Nein, nicht!«

»Also gut«, teilte Justus Kelly mit. »Morgen um elf beginnt die Besuchszeit. Da kommen wir hin und reden mit Julia. Ich nehme doch an, dass sie uns dann selbst berichten kann, ob sie schlecht geträumt hat oder nicht.«

»Recht so«, meinte Kelly. »Aber irgendwas Geheimnisvolles ist da im Spiel, das lass ich mir nicht nehmen.«

»Bis morgen, Kleines«, sagte Peter noch. Dann legte er den Hörer auf.

An Schlaf war in dieser Nacht kaum zu denken. Justus blieb auf und zerbrach sich den Kopf darüber, wer wohl Millionen Menschen vergiften wollte und aus welchem Grund. War es vielleicht doch Big Barney? Oder gab es etwa eine Verbindung zwischen Julia Crown und irgendwelchen fanatischen Terroristen aus dem politischen Untergrund? Wer sonst sollte auf die Wahnsinnsidee verfallen, ausgerechnet das saftige Hähnchenfleisch Marke Chicken Crown zu vergiften?

Um zwei Uhr in der Frühe rief Justus Bob Andrews an. Er setzte ihn ins Bild und trug ihm auf, am Vormittag ebenfalls zur Klinik zu kommen.

Nach dem Telefongespräch hatte Bob Mühe, noch einmal einzuschlafen, denn es war schon öfter vorgekommen, dass Justus gleich mehrmals hintereinander anrief, wenn er sich in etwas verbissen hatte.

Auch Kelly fand wenig Schlaf. Fast die ganze Nacht lag sie in ihrem Klinikbett wach und lauerte darauf, dass Julia Crown wieder im Schlaf sprechen würde. Jedes Mal, wenn Julia in ihrem Bett zu stöhnen anfing, fragte Kelly leise: »Wer, Julia? Wer vergiftet die Hähnchen?« Doch Julia reagierte nicht darauf.

Peter schlief als Einziger wie ein Murmeltier.

Als Peter und Justus am späten Vormittag bei Kelly ankamen, schien die Sonne hell ins Klinikzimmer.

Justus nahm sofort gewisse Veränderungen wahr. Kelly sah diesmal sehr müde aus. Die Anzahl der Blumensträuße im Zimmer hatte sich über Nacht vervierfacht. Auf dem Besucherstuhl neben Julias Bett thronte ein riesiges Plüschhähnchen mit einer goldenen Krone. Doch gleich als Erstes sprang ihm ins Auge, dass der Bereich um Julias Bett und Schrank durch dichte Vorhänge von der Umgebung abgeschirmt war.

»Ist da etwa sonst noch jemand drin?«, erkundigte sich Justus und zeigte auf die Abtrennung. Er wollte dringend mit Julia reden und dem ganzen Spuk ein Ende bereiten.

»Psst.« Kelly gebot Schweigen und erklärte im Flüsterton: »Da ist niemand außer Julia. Ich glaube, sie schläft immer noch.«

In diesem Augenblick betrat Bob Andrews das Zimmer. »Entschuldigt, dass ich zu spät komme. Dieser verflixte Schlitten wollte mal wieder nicht«, erklärte der große, schlanke Junge. Er nahm den Baumwollpullover ab, den er sich um die Schultern gehängt hatte. Bob war einmal ein magerer, bebrillter kleiner Bursche gewesen, der viele Jahre in der Abgeschiedenheit zwischen den Bücherregalen der städtischen Bibliothek gearbeitet hatte. Doch das hatte sich inzwischen geändert. Kontaktlinsen, farbenfrohe Kleidung, ein Job bei Sax Sendlers Talentvermittlung, ein eigenes Auto, Karateunterricht und eine gute Portion neu erwachten Selbstbewusstseins hatten Bob, der bei den drei ??? für Recherchen und Archiv zuständig war, in einen aufgeschlossenen, attraktiven Jungen verwandelt.

»Na, wo ist unser Fall? Oder ist die kleine Prinzessin des großen Chicken King ausgeflogen?«, fragte Bob.

»Der Fall liegt hinter dem Vorhang.« Peter sah kurz hinüber. »Die Patientin schläft. Bedauerlicherweise können wir sie nicht ansprechen.«

»Das würde Justus logischer ausdrücken – im Prinzip könnten wir sie stundenlang ansprechen.« Bob musste lächeln. »Allerdings würde sie nicht antworten.«

»Wenigstens hat sie sich inzwischen beruhigt«, sagte Kelly leise. »Ihr hättet mal hören sollen, wie sie die ganze Nacht über gestöhnt hat. Einige interessante Besucher waren übrigens auch hier.«

»Mitten in der Nacht?«, fragte Justus überrascht. »Wie konnten die sich nur an dem reizbaren rothaarigen Drachen vorbeimogeln?«

Kelly zuckte mit den Schultern. »Sehr mysteriös, nicht?«

»Und was waren das nun für Leute?«, erkundigte sich Justus skeptisch.