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Die verhängnisvolle Brücke

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Über den Autor

Impressum

Hinweise und Rechtliches

E-Books im Reese Verlag:

J. S. Fletcher

 

Die verhängnisvolle Brücke

 

 

Kriminalroman

 

 

Reese Verlag

 

 

Die verhängnisvolle Brücke

 

 

Die Hauptpersonen des Romans sind:

 

Sir John Maxtondale: Geschäftsmann

Sir Stephen Maxtondale: Gutsbesitzer

Rupert Maxtondale: sein Sohn

Arthur Chaney: Privatdetektiv

David Camberwell: Privatdetektiv

James Robson: Pächter

Anne Kitteridge: Hausfrau

Selma Weekes: Hausfrau

Ettie Weekes: Ihre Tochter

Tom Batty: Stellmacher

Bill Mallwood: Polizeidirektor

 

1

 

Am Morgen des 16. Mai hörten Arthur Chaney und ich zum erstenmal von dem geheimnisvollen Verschwinden des Sir John Maxtondale. Chippendale trat in unser Büro und meldete, daß Mr. Ellerthorpe uns sprechen wolle. Viele Familien des alten Landadels ließen ihr Vermögen durch diesen bekannten Juristen verwalten, und wir hatten gelegentlich auch schon geschäftlich mit ihm zu tun gehabt. Da er schon vormittags um halb zehn erschien, nahmen wir an, daß es sich um eine dringende Sache handle. Ich warf Chippendale einen fragenden Blick zu.

»Er hat noch einen Herrn bei sich, der sehr vornehm aussieht.«

»Bitte, führen Sie die Herren herein«, sagte Arthur Chaney.

Mr. Ellerthorpe kam aufgeregt und nervös in unser Büro. Ein großer, älterer Herr folgte ihm, der seiner äußeren Erscheinung nach zweifellos dem englischen Landadel angehörte. Er sah sich etwas verwundert um.

»Guten Morgen allerseits«, begann Mr. Ellerthorpe. »Ich bin froh, daß ich Sie beide hier finde, denn ich habe einen dringenden, wichtigen Fall für Sie. Gestatten Sie, daß ich vorstelle - Sir Stephen Maxtondale.«

Wir verneigten uns kurz und höflich, und Chaney schob den beiden Besuchern Stühle hin.

»Worum handelt es sich denn, Mr. Ellerthorpe?«

»Sir Stephen ist mein Klient; ich stehe schon seit langer Zeit mit ihm in Geschäftsverbindung. Gestern abend kam er nun in die Stadt und suchte mich in meinem Büro auf. Der Fall, den er mir vortrug, geht aber über meine Befugnisse hinaus, und da ich nicht helfen kann -«

»Sind Sie zu uns gekommen«, ergänzte Chaney. »Bitte, erzählen Sie uns, worum es geht.«

»Es ist jemand verschwunden«, erwiderte Ellerthorpe.

»Und um wen handelt es sich?«

»Darauf kann ich Ihnen keine genaue Antwort geben - wenigstens im Augenblick noch nicht. Der Betreffende behauptete, Sir John Maxtondale zu sein, der ältere Bruder Sir Stephens.«

»Behauptet er das nur, oder ist er es wirklich?« fragte Chaney.

Mr. Ellerthorpe und Sir Stephen wechselten einen verständnisvollen Blick.

»Es wäre möglich, daß er es tatsächlich ist«, gab der Rechtsanwalt zu.

Chaney nahm den Band »Wer ist wer?« vom Regal und blätterte darin. Gleich darauf hatte er gefunden, was er suchte.

»Sir Stephen, ich sehe, daß Sie der neunte Baron Maxtondale sind?«

»Ja.«

»In welchem Verhältnis zu Ihrer Familie steht der Herr, von dem Mr. Ellerthorpe eben sprach?«

»Wenn seine Angaben stimmen, ist er der neunte Baron, und ich muß zurücktreten. Aber der Fall liegt unklar. Mein Vater, Sir William Maxtondale, war der achte Baron und hatte zwei Söhne, meinen älteren Bruder John und mich, Stephen. Als John fünfundzwanzig war, hatte er eine ernste Auseinandersetzung mit meinem Vater und verließ daraufhin das elterliche Haus.«

»Einen Augenblick«, unterbrach Chaney. »Ich will alles genau wissen. Ihr Vater wohnte damals auf seinem Landsitz in Warwickshire - soviel ich aus diesem Buch sehe, ist es Heronswood Park. Warum kam es denn zu dem Familienstreit?«

»John hatte sich in die Tochter eines unserer Pächter verliebt und wollte sie heiraten. Mein Vater verbot es ihm aber und drohte, ihn zu enterben.«

»Eine Zwischenfrage. Gehören alle Ländereien zu dem Familienerbe?«

»Nein. Sie waren persönliches Eigentum meines Vaters; er konnte frei darüber verfügen.«

»Dann konnte er also Ihren Bruder in seinem Testament davon ausschließen?«

»Jawohl, aber John war seit seiner Volljährigkeit unabhängig von ihm. Er hatte von seiner Mutter und deren Familie ein bedeutendes Vermögen geerbt, so daß er sehr wohlhabend war. Er verschwand für immer, ohne jemandem seine Absicht mitzuteilen.«

»Und was wurde aus dem Mädchen?«

»Sie verschwand zur selben Zeit.«

»Die beiden haben sich wohl nachher getroffen und geheiratet. Was geschah weiter?«

»Die Jahre vergingen, und wir hörten nichts mehr von John. Auch die Familie des jungen Mädchens bekam keine Nachricht. Von beiden Seiten wurden Nachforschungen angestellt, die jedoch ohne Ergebnis blieben. Dann starb mein Vater, und noch einmal bemühten wir uns ernstlich, meinen Bruder John zu finden. Wir taten alles, was in unseren Kräften stand.«

»Das kann ich bestätigen«, bemerkte Mr. Ellerthorpe. »Ich habe damals die Nachforschungen geleitet.«

»Wir erließen Aufrufe in allen großen Zeitungen der Welt, was allein ein kleines Vermögen kostete, und wir beauftragten Privatdetektive, aber nirgends konnten wir eine Spur von ihm entdecken.«

»Ja, und nun?« fragte Chaney.

»Es kam, wie es kommen mußte«, fuhr Rechtsanwalt Ellerthorpe fort. »John Maxtondale wurde für tot erklärt, und Sir Stephen erbte Titel und Vermögen. Aber ...«

»Was wurde aus dem Landbesitz, über den Sir William frei verfügen konnte? Hat er ihn auch Sir Stephen vermacht?«

»Nein. Sir William starb, ohne ein Testament zu hinterlassen. Er hatte stets die Absicht, es aufzusetzen, aber er kam niemals dazu.«

»Wenn also John Maxtondale am Leben wäre, würde er das Erbe antreten?«

»Ja.«

»Wenn ich recht verstanden habe«, wiederholte Chaney, »würde John Maxtondale, falls er lebt, sowohl den Titel als auch das freie Familienvermögen erben?«

»Ja.«

»Und nun ist der Mann, der sich als John Maxtondale ausgibt, verschwunden?«

»Ja«, entgegnete Mr. Ellerthorpe und wandte sich dann an Sir Stephen. »Am besten erzählen Sie, was sich zugetragen hat.«

»Gestern nachmittag«, begann der Baron, »kam mein Nachbar, Mr. Henry Marston, der auf Sedbury Manor wohnt, aufgeregt zu mir und berichtete mir eine merkwürdige Geschichte. Er kennt mich sehr gut, da wir in unserer Jugend Spielkameraden waren. Am Abend vorher war zu später Stunde noch ein Besucher zu ihm gekommen, der sich als John Maxtondale ausgab. Henry Marston und John waren immer gute Freunde gewesen, bis John eines guten Tages verschwand. Marston glaubte fest, daß John gestorben sei, und hielt den Fremden deshalb zuerst für einen Betrüger. Aber schon nach kurzer Zeit dachte er anders darüber. Er legte dem Mann eine Anzahl von Fragen vor, die dieser prompt und zufriedenstellend beantwortete. Marston wußte, daß John eine alte Narbe am linken Oberarm hatte, und bat, ihm diese zu zeigen. Das Erkennungszeichen stimmte, und Marston kam nun zu der Überzeugung, daß er wirklich John Maxtondale vor sich hatte.«

»Hat er Mr. Marston erklärt, wo er sich die langen Jahre aufgehalten hat?« fragte Arthur.

»Das wäre möglich, ich kann es aber im Augenblick nicht sagen«, erwiderte Sir Stephen. »Marston war sehr aufgeregt, und unsere Unterredung dauerte nur kurze Zeit. Vor allem wollte er mir mitteilen, daß sein Besucher verschwunden sei.«

»Und deshalb kommen Sie nun zu uns. Aber sicher haben Sie noch mehr zu berichten?«

»Ja. Marston, fragte seinen Freund, ob er hier in der Gegend bleiben wolle, und ob er seinen Bruder schon aufgesucht habe. Darauf erwiderte der andere, daß er zuerst zu Marston gegangen sei und bis dahin im Hotel Waldorf in London gewohnt habe. Er erzählte auch, daß er bereits drei Wochen in England sei und sich am nächsten Morgen mit seiner eigenen Familie in Verbindung setzen wolle. Vorher hätte er erst einmal bei Marston vorsprechen wollen. Dieser lud ihn daraufhin ein, die Nacht bei ihm zu bleiben, was John auch annahm. Am nächsten Morgen - das war gestern - mußte Marston eine Versammlung in Monkseaton besuchen. Kurz nach dem Frühstück ging er von zu Hause fort, ließ sich aber vorher von John versprechen, noch keinen Besuch in Heronswood zu machen, weil sie gemeinsam hingehen wollten. Als er jedoch um ein Uhr wieder nach Hause kam, war John verschwunden. Der Butler sagte, der fremde Herr sei gegen zehn Uhr ausgegangen, um einen Spaziergang im Park zu machen. Zum Essen wolle er bestimmt zurück sein. Aber John erschien nicht mehr, und Marston ritt nach Heronswood, um mir alles zu berichten. Ich kehrte mit ihm nach Sedbury zurück, aber dort erfuhren wir nichts Neues.

Später am Nachmittag rief ich dann das ›Hotel Waldorf‹ an und fragte, ob Mr. Maxton - unter diesem Namen hatte sich John in das Fremdenbuch eingetragen - zurückgekehrt sei. Ich erhielt die Antwort, daß das Gepäck noch auf dem Zimmer stehe, Mr. Maxton selbst aber am Tage vorher ausgegangen und bis jetzt nicht wieder erschienen sei. Nun fuhr ich mit dem Abendzug nach London, setzte mich mit Mr. Ellerthorpe in Verbindung und erzählte ihm alles. Heute morgen um acht gingen wir ins Hotel, aber Mr. Maxton war inzwischen noch nicht wieder aufgetaucht. Man gestattete mir, in sein Zimmer zu gehen, und ich sah an den aufgeklebten Gepäckzetteln, daß er von Südamerika nach Southampton gefahren war. Weitere Nachrichten konnten wir nicht über ihn erhalten. Ein Kellner im Rauchsalon sagte uns noch, daß Mr. Maxton vor ein paar Tagen zweimal von einem sehr gut gekleideten Herrn besucht worden sei. Sonst hatte er jedoch weder Besuch noch Post bekommen. Nachdem ich das Hotel verlassen hatte, telefonierte ich Marston an, aber auch er hatte nichts weiter gehört. Und daraufhin brachte mich Mr. Ellerthorpe zu Ihnen.«

»Es ist doch aber erst kurze Zeit her, daß Sir John verschwunden ist. Warum machen Sie sich deshalb so große Sorgen? Haben Sie irgendwelche Befürchtungen?« fragte Chaney.

»Ja«, antwortete Sir Stephen schnell. »Ich glaube, daß es sich um ein Verbrechen handelt!«

»Warum denn?«

Sir Stephen zögerte, und zwar so lange, daß Chaney sich erneut an ihn wandte und ihn zu einer Aussage zu ermuntern suchte.

»In Ihrem eigensten Interesse möchte ich Sie bitten, mir nichts zu verschweigen.«

»Ich möchte nicht gern etwas Schlechtes über einen Menschen sagen«, entgegnete Sir Stephen. »Aber als mein Bruder seinerzeit aus Heronswood verschwand, ließ er einen erbitterten Feind zurück. Der Mann lebt noch und ist ebenso rachgierig wie früher. Es handelt sich um einen unserer Pächter.«

»Sicher hat er damals auch das junge Mädchen verehrt?«

»Sie haben es erraten.«

»Wie heißt er denn?«

»James Robson. Er ist der Pächter der Home-Farm. Die Familie sitzt schon zweihundert Jahre auf dem Gut.«

»Vermutlich ist er schon ein älterer Mann?« sagte Chaney.

»Ja, achtundfünfzig wie mein Bruder.«

»Die beiden waren also Rivalen?«

»Robson war früher mit Lucy Mills verlobt. Ob sie meinen Bruder tatsächlich ins Ausland begleitet hat, kann ich nicht sagen, aber sie verschwand zur selben Zeit wie er.«

»Und Robson war natürlich wütend darüber.«

»Ja. Damals war er schon bekannt wegen seines heftigen, jähzornigen Charakters. Er fuhr sofort nach London, um meinen Bruder und Lucy Mills ausfindig zu machen und zur Rede zu stellen. Ob er jemals eine Spur von ihnen fand, weiß ich nicht. Er ging dann von London nach Paris und blieb mehrere Wochen von zu Hause fort. Nach seiner Rückkehr sagte er nichts über seine Erlebnisse, aber als mein Bruder einige Zeit verschwunden war, erklärte er öffentlich auf dem Markt in Monkseaton, daß er John umbringen werde, sobald er ihn sähe, und wenn er dreißig oder vierzig Jahre warten müsse. Und das war sein bitterer Ernst!«

»Hat Robson jemals geheiratet?«

»Nein. Er ist ein schweigsamer, griesgrämiger Mann, dabei aber ein tüchtiger Landwirt, der sein Gut tadellos in Ordnung hält. Soviel ich weiß, hat er seine Rachepläne noch nicht aufgegeben.«

»Sie halten es also für möglich, daß er Ihren Bruder getroffen - und ermordet hat?«

»Ja. Unser Park und die Ländereien Sir Marstons grenzen aneinander. Wenn John durch den Park von Sedbury Manor ging, konnte er leicht auf Robsons Land kommen, und es ist sehr wahrscheinlich, daß sich die beiden begegnet sind.«

»Haben Sie Robson danach gefragt, Sir Stephen?«

»Nein, dazu hatte ich keine Gelegenheit. Ich verlor keinen Augenblick und fuhr sofort nach London, um mit meinem Rechtsanwalt zu sprechen.«

»Aber warum hatten Sie es denn so eilig?«

»Zunächst dachte ich, John hätte sich an Mr. Ellerthorpe gewandt, den er von früher her sehr gut kannte.«

»Aber er hatte sich nicht bei Ihnen sehen lassen?« fragte Chaney den Anwalt. »Und was sollen wir nun in der Angelegenheit tun?«

»Gehen Sie nach Heronswood und klären Sie den Fall auf«, erwiderte Sir Stephen. »Ich muß Gewißheit haben. Mit dem Zwölfuhrzug fahre ich selbst nach Monkseaton zurück, und mein Rechtsanwalt begleitet mich. Kommen Sie mit, Mr. Camberwell?«

Chaney warf mir einen Blick zu, und ich nickte schnell.

»Gut, dann treffen wir uns am besten zum Zwölfuhrzug auf dem Bahnhof Euston.«

Kurz darauf gingen unsere beiden Besucher, und Chaney sah mich zufrieden an.

»David Camberwell, ich kenne die Maxtondales und ihren Landsitz in Warwickshire. Sie beziehen jedes Jahr fünfzigtausend Pfund Einkommen daraus!«

2

 

 

Ich sah ihn überrascht an.

»Was willst du damit sagen?«

»Fünfzigtausend Pfund sind eine hübsche Summe, obwohl heutzutage die Einkommen- und Erbschaftssteuern sehr hoch sind.«

»Ich kann mir wirklich nicht denken, was du meinst. Und woher weißt du, daß Heronswood soviel Ertrag abwirft?«

»Ich kann mich genau darauf besinnen, wie der Fall Maxtondale vor Gericht verhandelt wurde. Damals erklärte man John für tot, und der genaue Betrag mußte vor Gericht angegeben werden. Einige Zeit, bevor wir uns kennenlernten, Camberwell, hatte ich einen Fall in jener Gegend zu bearbeiten. Damals hörte ich viel über die Maxtondales und ihre reichen Besitzungen. Es ist eine sehr alte Familie, die sich vor drei- bis vierhundert Jahren in Heronswood angesiedelt hat. Zuweilen ging es den Leuten nicht so gut, aber in der letzten Zeit schwimmen sie geradezu in Geld!«

»Woher kam denn dieser plötzliche Wechsel?«

»Die Kohlengruben auf ihrem Grund und Boden sind so einträglich. Hast du noch nie etwas von der Heronswood-Kohlengrube gehört? Die Lager sind so ergiebig, daß sie noch über hundert Jahre Vorhalten. Es ist angenehm für Sir Stephen, daß man das Bergwerk vom Schloß aus nicht sieht. Hohe Bäume liegen dazwischen. Heronswood ist ein herrlicher Landsitz; ich habe es damals besucht. Prachtvolle, alte Gemälde hängen dort, in der Bibliothek stehen kostbare Bücher, und die Schränke sind voll von wundervollem, altem Porzellan, Kristall und Silber. Aber du wirst ja noch alles mit eigenen Augen sehen.«

»Dann kanntest du also die Familie Maxtondale schon, bevor Sir Stephen in unser Büro kam? Es wäre doch sehr peinlich für ihn, wenn er den Titel wieder ablegen müßte. Aber wenn John tatsächlich ermordet wurde, bleibt Sir Stephen ja Baron.«

»Die Sache ist nur fatal, wenn der ältere Bruder einen Sohn hat.«

Ich sagte zunächst nichts darauf.

»Damit ist die Sache also entschieden - wir fahren heute nach Heronswood?« fragte ich dann.

»Ja. Chippendale bekommt seine Aufträge, und wir machen uns auf den Weg. Kurz vor der Abfahrt wollen wir aber noch einmal das Hotel anrufen und fragen, ob man inzwischen etwas von Mr. Maxton gehört hat.«

Um elf Uhr dreißig riefen wir an, aber wir hörten nur, daß Mr. Maxton bisher nicht zurückgekehrt sei. Daraufhin fuhren wir zum Bahnhof und trafen dort Sir Stephen Maxtondale und Mr. Ellerthorpe. Wir speisten im Zug, und natürlich drehte sich das Gespräch um Sir John.

»Das Bergwerk wurde erst eröffnet, nachdem John Maxtondale aus Heronswood verschwunden war. Es ist möglich, daß Marston ihm das am Abend vorher erzählte. Wenn Sir John nun neugierig war und sich gestern morgen die Anlagen ansehen wollte, mußte er durch das Gehölz zwischen Sedbury Manor und dem Park von Heronswood gehen. Und soviel ich weiß, liegen dort alte Versuchsschächte.«

»Ja, das stimmt«, erwiderte Sir Stephen.

»Könnte er dort nicht abgestürzt sein?«

»Das ist nicht sehr wahrscheinlich«, erwiderte der Baron.

»Die Schächte sind doch eingezäunt, und außerdem ist dort wieder alles so dicht zugewachsen, daß man kaum hinkommen kann, Nein, ich glaube, wir müssen nach einer anderen Ursache suchen. Robsons Ländereien stoßen an Marstons Park, und es ist dort sehr einsam.«

»Sie können nicht von dem Gedanken loskommen, daß Robson Ihren Bruder beiseite geschafft hat?« fragte Chaney.

»Ich kenne Robson. Er glaubt, daß ihm bitteres Unrecht geschehen ist. Bei anderen Leuten verliert sich der Groll mit den Jahren, aber der Mann spricht sich nicht aus; er ist verschlossen und trägt seinen Zorn immer noch mit sich herum» Ich glaube bestimmt, daß sich die beiden gestern morgen getroffen haben.«

»Nun, das werden wir ja noch herausfinden, Sir Stephen«, entgegnete Chaney zuversichtlich. »Können Sie mir vielleicht noch etwas mehr über Mr. Marston erzählen?«

»Ach, über Henry Marston kann man nicht viel berichten. Er ist ein typischer Vertreter des englischen Landadels - alter Junggeselle, schätzt Pferde, Hunde, Jagden, ist ein vorzüglicher Schütze, spielt gut Kricket und liebt anregende Gesellschaft. Außerdem bekleidet er mehrere öffentliche Ämter. Das ist eigentlich alles, was man von ihm sagen kann.«

»Er war der letzte, der John Maxtondale gesehen hat«, meinte Chaney. »Es ist wichtig, daß wir ihn aufsuchen und mit ihm sprechen.«

»Nein, der letzte war sein Butler«, erklärte Sir Stephen.

»Dann müssen wir auch den befragen. Aber vor allem möchte ich wissen, was Ihr Bruder Mr. Marston am ersten Abend erzählt hat. Ich glaube nicht, daß die beiden bald zu Bett gegangen sind. Marston hat bestimmt etwas von Sir Johns Tätigkeit während seiner langen Abwesenheit gehört.«

»Mein Wagen wartet in Monkseaton am Bahnhof«, bemerkte Sir Stephen. »Dann können wir sofort nach Sedbury Manor hinausfahren.«

Kurz nach drei Uhr kamen wir dort an, und ich betrachtete das Anwesen eingehend. Ein großes, viereckiges Gebäude stand in einem gepflegten Park. Vor dem Haupthaus dehnte sich eine Rasenfläche aus, und verschiedene kleine Gärten waren von besonderen Mauern umschlossen. Das Herrenhaus lag ziemlich isoliert. Als wir den breiten Fahrweg entlangkamen, zeigte Sir Stephen quer über den Park.

»Wenn Sie hier geradeaus sehen, können Sie den oberen Teil des Daches und die Schornsteine von Heronswood erkennen. Weiter südöstlich steht das Maschinenhaus der Kohlengrube, und in dieser Richtung liegt die Home-Farm, wo Robson wohnt. Wenn man von hier aus nach Heronswood oder zur Kohlengrube gehen will«, sagte er nachdenklich, »muß man die Home-Farm berühren. Es führt ein Fußpfad durch den Park, der an den Gebäuden des Gutshofs vorbeikommt.«

»Gibt es keine anderen Häuser hier in der Nähe?« fragte Chaney. »Liegt das Wohnhaus Mr. Marstons ganz allein?«

Sir Stephen deutete auf eine Gruppe von Ulmen östlich von der großen Rasenfläche.

»Dort drüben liegt das Dorf Sedbury. Man kann es von hier aus nicht sehen, aber der Ort hat eine Kirche, ein Pfarrhaus, mehrere Gutshöfe und eine Anzahl kleinerer Gehöfte. Außerdem stehen in der Gegend verstreut noch Häuser, in denen Marstons Angestellte wohnen, Parkwächter und so weiter. Und dort liegt der See.«

Er wies auf eine Lichtung zwischen den Bäumen, von der man einen Ausblick auf eine große Wasserfläche hatte.

Die Bäume am Ufer neigten ihre Äste weit hinab, so daß es dort düster und dunkel aussah.

Mr. Marston, ein großer, breitschultriger Mann, empfing uns an der Haustür.

»Nun, haben Sie etwas von ihm gehört?« wandte er sich sofort an Sir Stephen.

»Nein!«

»Ich habe auch weiter nichts erfahren können. Bitte, treten Sie näher.«

Er brachte uns in ein kleines, hübsches Zimmer, klingelte dem Butler und bestand darauf, daß wir uns erst erfrischten. Bei einem Glas Whisky-Soda stellte Sir Stephen dann Chaney und mich eingehend vor, und Mr. Marston betrachtete uns nachdenklich.

»Es ist eine sonderbare Sache«, meinte er und setzte das Glas nieder. »Ich weiß wirklich nicht, wie ich sie mir erklären soll.«

»Mr. Chaney möchte einige Fragen an Sie richten«, sagte Sir Stephen.

Mr. Marston wandte sich an meinen Partner und sah ihn aufmerksam an.

»Es ist nicht viel, was ich wissen will«, begann Chaney.

»Zunächst handelt es sich um die Identität des Fremden. Sind Sie fest davon überzeugt, daß Sie Sir John Maxtondale vor sich hatten?«

Mr. Marston nickte.

»Darüber kann nicht der geringste Zweifel bestehen.«

»Hat er Ihnen etwas aus seinem Leben erzählt?«

»Nein, nicht ein Wort!«

»Auch nicht, wo er sich all die langen Jahre aufgehalten hat?«

»Nein.«

»Haben Sie ihn danach gefragt?«

»Nein. Das war doch nicht meine Sache.«

»Hat er Ihnen wenigstens gesagt, woher er kam?«

»Ja. Aus dem ›Hotel Waldorf‹ in London.«

»Er hat nicht angegeben, wo er sich eingeschifft hat?«

»Nein, darüber haben wir nicht gesprochen.«

»Hat er dann wenigstens seine Absichten geäußert? Hat er die Erbschaft erwähnt?«

»Nein, mit keinem Wort.«

»Auch über seine Familie, über seinen Bruder hat er nichts gesagt?«

»Er meinte nur, daß Stephen wohl drüben in Heronswood wohnen würde.«

»Nichts weiter?«

»Nein.«

Chaney lächelte.

»Sie waren doch alte Freunde - sicher haben Sie bis spät in die Nacht aufgesessen. Worüber haben Sie denn geplaudert?«

»Ach, über alte Zeiten - über Jagd, über Schießen und Fischen.«

»Am nächsten Morgen mußten Sie zu einer Sitzung nach Monkseaton und nahmen ihm das Versprechen ab, vor Ihrer Rückkehr nicht nach Heronswood zu gehen?«

»Ja. Wir wollten erst zusammen zu Mittag essen und den Besuch dann gemeinsam machen.«

»Und als Sie zurückkamen, war er verschwunden. Nun noch eine andere Frage, Mr. Marston. Sie kennen die Drohungen, die Robson vor Jahren ausgestoßen hat. Haben Sie Sir John davon erzählt?«

»Nein. Ich weiß wohl, daß Robson gedroht hat, aber das ist schon lange her, und ich habe seine Redereien niemals ernst genommen.«

»Sir Stephen glaubt, daß der Mann auch heute noch rachsüchtig ist.«

»Ich halte es aber nicht für richtig, Robson zu verdächtigen.«

»Was könnte denn Ihrer Meinung nach Sir John zugestoßen sein?«

Mr. Marston zuckte die Achseln.

»Es ist doch Ihre Sache, das herauszubringen.«

»Können wir jetzt wohl einmal mit Ihrem Butler sprechen?«

Mr. Marston klingelte, und ein Diener erschien. Nach einer kurzen Erklärung seines Herrn führte er uns durch eine Halle und mehrere Gänge zu dem Butler. Masey, der Butler, war gerade dabei, eine prachtvolle alte Silberschüssel zu putzen und sah uns fragend an, als wir nähertraten. Er mochte etwa fünfzig Jahre alt sein und bewegte sich ruhig und gemessen.

»Wir wollen uns ein wenig mit Ihnen unterhalten, Mr. Masey«, sagte Chaney und suchte sich den bequemsten Stuhl im Zimmer aus. »Sie haben doch gestern als letzter den fremden Herrn gesehen?«

»Vielleicht findet sich sonst noch jemand. Hier im Haus habe ich ihn allerdings zuletzt gesehen.«

»Wissen Sie, wer er war?«

»Nein. Ich hörte nur, daß Mr. Marston ihn John nannte. Weiter weiß ich nichts.«

»Haben Sie ihn nicht schon früher gesehen?«

»Nein.«

»Wie lange sind Sie hier in Stellung?«

»Fünfzehn Jahre.«

»Ach, dann war es vor Ihrer Zeit.«

Masey sah ihn fragend an.

»Ich weiß nicht, was Sie meinen.«

»Darauf kommt es im Augenblick auch nicht an. Wir wollen wieder auf gestern morgen zurückkommen. Was tat der Fremde, nachdem Ihr Herr weggefahren war?«

»Er blieb noch eine Weile im Frühstückszimmer und las die ›Times‹. Ich kam zufällig hinein, und da sagte er, er wolle sich einmal im Park umsehen. Er fragte auch, wann zu Mittag gegessen würde, und als er hörte, gegen ein Uhr, versprach er, zu der Zeit zurück zu sein.«

»Und dann ging er fort?«

Masey zögerte.

»Soviel ich weiß.«

»Haben Sie nicht gesehen, daß er das Haus verließ?«

»Nein. Ich habe die anderen Angestellten gefragt, aber niemand hat ihn tatsächlich fortgehen sehen. Wir haben zwar mehrere Ausgänge in den Park, aber trotzdem ist es merkwürdig. Draußen waren überall Leute an der Arbeit, aber keiner hat ihn beobachtet!«

»Das ist allerdings sonderbar«, entgegnete Chaney.

»Wohin ging er denn, nachdem er mit Ihnen gesprochen hatte? Wer verließ zuerst das Frühstückszimmer - Sie oder er?«

»Er trat zuerst in die Halle hinaus. Vielleicht hat er dann sein Zimmer aufgesucht. Wohin er später ging, weiß jedenfalls niemand. Er kam nicht zum Mittagessen und ist auch seit der Zeit nicht wieder auf getaucht.«

»Wer hat ihm die Haustür geöffnet, als er ankam?«

»Ich!«

»Hat er Ihnen seinen Namen genannt?«

»Nein. Er sagte nur, ich möchte Mr. Marston melden, daß ein alter Freund ihn besuchen wolle.«

»Hatte er Gepäck?«

»Nein. Mr. Marston teilte mir später mit, daß der Herr die Nacht über bleiben würde. Ich ließ sofort ein Fremdenzimmer richten und sorgte für einen Schlafanzug und die notwendigen Toilettenartikel.« Chaney erhob sich.

»Wir wollen uns einmal in seinem Zimmer umsehen. Vielleicht hat er etwas zurückgelassen, was uns als Anhaltspunkt dienen könnte.«

»Soviel ich weiß, hat er nur ein paar Zeitungen mitgebracht. Aber wenn Sie mir folgen wollen, zeige ich Ihnen das Fremdenzimmer gern.«

Wir begleiteten den Butler nach oben. Ein Blick zeigte, daß Maseys Angabe stimmte: Auf dem Tisch neben dem Bett lagen nur ein paar Abendblätter und eine Zeitschrift. Ich hätte mich kaum darum gekümmert, aber Chaney nahm die Zeitungen sofort an sich. Gleich darauf machte er mich auf eine Bleistiftnotiz am Rand aufmerksam. »Hier steht eine Adresse: 203a, Hatton Garden, E. C. I.«

 

3

 

 

Chaney notierte die Adresse sorgfältig, steckte die Zeitungen in die Tasche und wandte sich dann wieder an den Butler.

»Haben Sie ein Telefon im Haus?«

»Es tut mir leid, aber das besitzen wir nicht. Mr. Marston ist sehr konservativ in seinen Gewohnheiten. Telefon kann er nicht leiden. Aber im Dorf ist ein Postamt.«

Wir gingen wieder nach unten in die Räume des Butlers, und dort diktierte mir Chaney ein Telegramm an Chippendale:

 

Sofort 203a Hatton Garden gehen. Alle Firmen notieren, die dort Büros haben. Drahtantwort nach Sedbury Manor, Monkseaton.

 

Masey schickte einen Diener fort, der es aufgeben sollte, und Chaney und ich kehrten zu dem Zimmer zurück, in dem wir Marston, Sir Stephen und Ellerthorpe zurückgelassen hatten. Sie unterhielten sich noch immer über den sonderbaren Fall.

»Es wäre mir eine große Hilfe gewesen«, sagte Ellerthorpe gerade, »wenn er Marston etwas über seinen Londoner Aufenthalt erzählt hätte. Wer war zum Beispiel der Mann, der ihn zweimal im Hotel besuchte? Das deutet doch darauf hin, daß er geschäftliche Besprechungen hatte.«

»Ich glaube, darin sind wir einen Schritt weitergekommen«, erwiderte Chaney und zog die Zeitschrift aus der Tasche. »Dies fanden wir in seinem Zimmer, und hier ist mit Bleistift eine Adresse notiert: 203a, Hatton Garden. Was sagen Sie dazu?«

»Ich möchte lieber wissen, was Sie davon halten. Ich bin kein Detektiv«, erwiderte der Anwalt.

»Ich glaube, es handelt sich hier um Geschäfte mit Diamanten. Vielleicht kam Sir John Maxtondale aus einer Gegend, wo es Diamantenfelder gibt. Stand auf seinem Gepäck nicht, daß er von Südamerika nach Southampton gereist war?«

»Ja, von Rio«, bemerkte Ellerthorpe.

»Das wäre also Brasilien, und dort gibt es Diamantenfelder. Vielleicht hat er sich mit Diamantenhandel befaßt. Adressen in Hatton Garden lassen darauf schließen. Diese hier ist eilig und mit Bleistift an den Rand der Zeitung geschrieben. Sir John hat die Zeitung wahrscheinlich an einem Bahnhofskiosk gekauft und dann einen Herrn getroffen, mit dem er in geschäftliche Unterhaltung kam. Er schrieb sich schnell dessen Adresse auf. Vermutlich handelt es sich um einen Juwelenhändler in Hatton Garden, den ihm jemand empfohlen hatte.«

Ein Diener trat ins Zimmer und ging auf Mr. Marston zu.

»Mrs. Robbins möchte Sie sprechen.«

Marston sah ihn erstaunt an.

»Was will sie denn von mir?«

»Sie will Ihnen etwas über den vermißten Herrn mitteilen«, entgegnete der Diener zögernd. »Sie nannte ihn Sir John.«

Marston sah überrascht von einem zum andern. Wir alle wußten, daß außer uns niemand den Namen kannte.

»Führen Sie Mrs. Robbins herein!«

Eine rotwangige, ältere Frau, die sich allem Anschein nach viel im Freien aufhielt, kam ins Zimmer. Sie verneigte sich kurz vor dem Hausherrn, dann vor uns und schaute uns mit einem strahlenden Lächeln an, als ob sie höchst befriedigt wäre, uns versammelt zu sehen.

»Nun, Mutter Robbins, warum sind Sie hergekommen? Und wer ist dieser Sir John, von dem Sie sprachen?«