Più nessuno mi porterà nel sud
Niemand bringt mich mehr in den Süden

Salvatore Quasimodo

»Los, gehn wir!«

»Ich könnt ewig so weitertanzen.«

»Wir bewegen uns gleich auf ne ganz andre Art, Schätzchen!«

Lolis Pausbacken wurden noch dicker, als sie grinste, und sie pustete sich ihren Pony à la Olivia Newton-John aus der Stirn.

»Du bist wohl scharf!«

»Heut geht ’s ab, Schätzchen!«

Bocanegra, das »Schwarze Maul«, erhob sich auf seine krummen Beine. Das galaktisch anmutende Gewölbe der Diskothek umschimmerte fluoreszierend seinen Kopf. Er zog seine Hose hoch und ging mit zuckenden Beinen zur Theke. Die Kellner schafften es wie durch ein Wunder, im Dunkeln zu bedienen. Dunkle Umrisse, die sich über der Theke auftürmten, erwiesen sich plötzlich als entspannt ausgestreckte Paare, die aus einem Knäuel von Armen und Zungen auftauchten. Bocanegra gab einem der Umrisse einen leichten Schubs.

»Ternero, auf geht ’s! Deine Schwester und ich wollen los.«

»Verdammt! Du hast mich voll rausgebracht!«

La Pecas, die »Sommersprossige«, hatte die abgewetzte Zunge bereits verschwinden lassen und setzte sie jetzt gegen den Störenfried ein.

»Okay. Wenn ihr keinen Bock auf Autofahren habt, seid ihr selbst schuld!«

»Autofahren? Bocanegra, beschwatz mich nicht wieder! Ich will heute nacht keinen Ärger!«

»Ich hab da einen blauen CX im Auge, einfach super!«

»Ein CX! Das ist was anderes! In dem hab ich noch nie gesessen.«

»Ein CX!« schwärmte La Pecas, die Augen auf ferne Horizonte gerichtet.

»Ich glaub, er hat sogar Telefon. Ist eher ’ne Hotelsuite als ’n Auto, Alter. In dem können wir alle vier vögeln, ohne daß er wackelt! «

»Das gefällt mir!« lachte Ternero, das »Bullenkalb«. »Ich ruf meine Ma an: ›Hallo Alte, wir bumsen grade in einem CX!‹«

»Geht mit Loli raus und wartet an der Ecke bei der Kartonfabrik!«

Bocanegra überquerte die Tanzfläche unter den Blitzen der Lichtorgel. Man konnte meinen, seine Beine empfingen Stromstöße von der weißen Fläche, die sich am Ende in seinem schwarzen Kraushaar ringelten.

»Du stehst auch immer nur hier rum, Alter. Siehst schon aus wie ein Briefkasten«, sagte er im Vorbeigehen zum Türsteher.

»Kannst mich ja ablösen, dann geh ich rein zum Tanzen! Blödmann!«

»Quatsch mich nicht voll, Mann!«

Bocanegra fühlte sich in der Dunkelheit sicherer, je weiter er sich von der blinkenden Leuchtreklame des Tanzlokals entfernte. Er steckte die Hand in die rechte Hosentasche und spürte den Dietrich, der auf der Rundung eines Hodens auflag. Nachdem er den Hoden durch den Stoff der Tasche hindurch liebevoll befingert hatte, nahm er die Hand heraus und schloß sie um das ganze Paket zwischen seinen Beinen, wie um es zurechtzurücken oder seine feste Verankerung zu prüfen. Ganz ungezwungen trat er neben den CX, steckte den Dietrich ins Schloß, und die Tür öffnete sich mit einem kleinen Schwung, majestätisch wie die Pforte zu einem Tresorraum. Die Karre riecht nach reicher Fotze! dachte Bocanegra. Wahnsinn, Havannas! Super, eine Flasche Whisky! Er öffnete die Motorhaube. Zärtlich, als würde er Haare streicheln, bog er die Drähte zusammen. Klappte die Haube zu. Nahm mit der beim Eigentümer vermuteten Würde und Eleganz den Platz hinter dem Steuer ein. Setzte die Whiskyflasche an die Lippen. Steckte sich eine Zigarre an. Fuhr sachte los und schlug das Steuer scharf ein, damit man die Reifen quietschen hörte, als er in die nächste Seitenstraße einbog. Durch einen Tunnel aus alten Ziegelsteinen und parkenden Autos gelangte er zu der Ecke, wo ihn Loli, Ternero und La Pecas erwarteten. Loli versank in dem Sitz neben ihm, während die drei Türen mit dem vorgefertigten Geräusch ins Schloß fielen.

»Beim nächstenmal sagst du mir vorher Bescheid! So ’ne Karre bringt Ärger. Das paßt nicht zu uns!«

»Vielleicht nicht zu dir. Ich seh aus wie ein Gentleman.«

»Ach nee, Bocanegra!« kicherte La Pecas aus dem Hintergrund.

»Und ich bin ’s nachher, die anschaffen gehn muß, wenn sie ihn in den Modelo-Knast stecken.«

»Wenn du anschaffen gehst, dann doch bloß, weil ’s dir Spaß macht!«

»Mann, was für ein geiler Schlitten! Wo fahren wir hin?«

»Wir fahren zum Vögeln nach Vallvidrera.«

»Ich mach ’s aber lieber im Bett.«

»Mit Pinienduft ist es am allerschönsten!« entgegnete Bocanegra, nahm eine Hand vom Steuer und schob sie in Lolis Ausschnitt, um eine feste, große Brust zu drücken.

»Fahr bloß nicht ins Zentrum von San Andrés, dort wimmelt ’s nur so von Bullen!«

»Mach dir nicht ins Hemd! Diese Typen riechen, ob man gute Nerven hat. Ihr müßt so cool sein, als wärt ihr in dem Wagen hier geboren.«

»Was rauchst du da, Bocanegra? Du machst mir noch ins Bett! Für solche Havannas bist du zu jung.«

Bocanegra nahm eine von Lolis Händen und legte sie dorthin, wo sein Penis die Hose ausbeulte.

»Aber für die Havanna hier bin ich alt genug?«

»Schwein!« Loli lächelte, aber ihre Hand zuckte zurück, als hätte sie ein stromführendes Kabel berührt. Ternero beugte sich vor und konzentrierte sich auf die Strecke, die Bocanegra nahm.

»Du sollst nicht ins Zentrum fahren, verdammt! Dort wimmelt ’s nur so von Kontrollen.«

»Mann, hast du vielleicht Schiß!«

»Das hat mit Schiß überhaupt nichts zu tun.«

»Ternero hat recht«, bemerkte La Pecas. Aber Bocanegra fuhr auf die Rambla von San Andrés und erreichte den zentralen Platz am Rathaus, die Plaza del Ayuntamiento.

»Scheiße, verdammte …« Terneros ohnmächtiger Aufschrei ließ Bocanegra grinsen.

»Alles in Ordnung, Junge! Ich hab ’s im Griff.«

»Schau, da sind sie!«

Loli hatte den Streifenwagen an der Rathausecke entdeckt.

»Nur keine Panik …«

Bocanegra zog die Augenbrauen hoch, um sorglos auszusehen, und fuhr an der Streife vorbei. Eine schiefe Dienstmütze bewegte sich, das Profil eines gelben Gesichts erschien im Licht der Straßenlaterne, die von einem aufgespannten Wahlplakat geschaukelt wurde: Ziehen Sie mit uns ins Rathaus ein! In dem gelben Gesicht gingen die Brauen ebenfalls hoch. Die dunklen Augen darunter schienen sich zu verengen.

»Wie der dich angeguckt hat!«

»Die gucken immer gleich. Immer von oben herab. Setz ihnen eine Mütze auf, und schon glauben sie, die Welt gehört ihnen.«

»Jetzt kommen sie hinter uns her!« rief La Pecas, die durchs Heckfenster schaute.

Bocanegras linkes Auge bohrte sich in den Seitenspiegel. Da waren sie, die gelben Scheinwerfer und das Blaulicht des Streifenwagens.

»Ich hab ’s dir gleich gesagt, du Schwuchtel, das bist du nämlich, eine Schwuchtel und ein Wichser!«

»Schnauze, Ternero, oder ich polier dir die Fresse! Die müssen mich erst mal kriegen.« Loli kreischte los und umklammerte Bocanegras Arm. Mit dem Ellbogen stieß er sie in die Ecke, wo sie, unter dem Fenster zusammengekauert, zu weinen begann.

»Jetzt gibt er auch noch Gas, der Hurensohn! Halt an, verdammt noch mal, halt sofort an! Wir müssen zu Fuß abhauen. Willst du, daß sie auf uns schießen?«

Die Lichtsignale des Streifenwagens wurden zu Tonsignalen. Er stieß Salven von Licht und Heultönen aus, um den CX zu stoppen.

»Ich muß Land gewinnen!«

Bocanegra gab Gas, und die Welt schoß bedrohlich auf die Kühlerhaube zu, als würde sie wachsen und dem Wagen entgegenfliegen. Er bog in eine Seitenstraße ein und hatte plötzlich zu wenig Platz – rechts parkten Autos, und von links ragte das Hinterteil eines Kleinwagens in die Einmündung. Der CX knallte dagegen, und Loli schlug mit dem Gesicht gegen die Frontscheibe. Bocanegra setzte zurück und krachte mit dem Heck gegen etwas, das mit einem metallischen Kreischen antwortete. Er hörte es kaum, seine Ohren waren blockiert von der Nähe der Sirene, und als er sich korrekt in den Verkehr eingeordnet hatte, flatterten ihm die Arme, der Wagen geriet ins Schleudern und prallte links und rechts gegen die parkenden Fahrzeuge, bis Bocanegras kraftlose Arme das Steuer unter Kontrolle bekamen. Die Hecktüren flogen auf, und Ternero und La Pecas sprangen hinaus.

»Stehenbleiben! Halt, oder wir machen euch kalt!«

Bocanegra hörte Schritte näherkommen. Loli weinte hysterisch, Nase und Mund voller Blut, aber ohne sich von ihrem Sitz zu rühren. Als Bocanegra mit erhobenen Händen ausstieg und sich aufrichtete, traf ihn sofort ein Stoß des gris.

»Diese Party wirst du so schnell nicht vergessen! Hände aufs Wagendach!«

Die Winkel seines Körpers wurden abgesucht, und er hatte Zeit, aus seiner Betäubung zu erwachen und festzustellen, daß Ternero ein paar Meter entfernt derselben Prozedur unterzogen wurde und La Pecas vor einem anderen Polizisten die Tasche öffnete.

»Das Mädchen ist verletzt!«

Bocanegra zeigte auf Loli, die ausgestiegen war und, den Hintern an den Streifenwagen gelehnt, immer noch Blut und Wasser heulte. Der Polizistenblick irrte für einen Moment in Lolis Richtung, und Bocanegra stieß ihn beiseite. In der dunklen Nacht öffnete sich vor ihm ein Korridor, er warf sich hinein und rannte los, daß die Absätze beinahe am Hintern anschlugen und die Arme wie Kolben auf und ab sausten. Trillerpfeifen. Trillerpfeifen. Abgerissene Verwünschungen hinter ihm. Mehrmals bog er ab, ohne den Lärm der Verfolger abschütteln zu können. Feuchte, abgestandene Luft füllte stoßweise und brennend seine Lungen. Gasse auf Gasse und keine einzige Hoftür. Hohe Ziegelmauern, nackt oder verputzt mit sandigem, nachtdunklem Mörtel. Plötzlich stand er wieder auf der Hauptstraße von San Andrés, und alle Scheinwerfer dieser Welt waren auf ihn gerichtet, als er mit einem Bein das Gleichgewicht hielt, während das andere seinen Schwung bremste. Einige Meter entfernt schaute ein Posten überrascht auf, der vor dem Wachhäuschen der Kaserne stand. Bocanegra stürzte auf die Fahrbahn und überquerte die hellerleuchtete Straße, hinüber zu dem freien Gelände, das sich in Richtung La Trinidad abzeichnete. Er mußte kurz verweilen, weil ihm die Luft ausging, hatte Blähungen und war nahe daran, sich zu übergeben, so sehr brannte die Luft in seinen Lungen.

Eine alte Holztür, in Sonne und Wind geborsten, sperrte eine Baustelle ab. Bocanegra konnte an den Rissen und Kanten Halt finden, bekam den oberen Rand zu fassen und versuchte sich hochzuziehen. Das Gewicht seines Körpers war zu schwer für die gestreckten Arme, und er fiel herab in die Hocke. Darauf trat er einige Schritte zurück, holte Schwung und schnellte hoch. Im Kampf zwischen dem schwankenden Holz und dem Körper, der es erklettern wollte, spürte er endlich die Oberkante der Tür in der Leistengegend, gab sich einen letzten Ruck und polterte plötzlich, wieder und wieder gegen unsichtbare Steine stoßend, einen lehmigen Abhang hinunter. Er fand sich auf Knien am Boden einer Baugrube zwischen den Grundmauern eines Neubaus wieder. Die Holztür, die er überklettert hatte, thronte über dem Abhang und schaute auf ihn herab wie auf einen Eindringling. Seine Augen tasteten sich durch die brüchige Dunkelheit und entdeckten, daß die Baustelle schon lange verlassen war. Alle Schläge, die ihn blindlings getroffen hatten, schmerzten mittlerweile, die Muskelverbindungen hatten ihre Spannung verloren, kalter Schweiß durchnäßte ihn mit Verzweiflung. Er suchte nach einem Winkel, wo er sich verstecken konnte, falls sie auf die Idee kamen, in die Baustelle einzudringen. In diesem Augenblick entdeckte er ihn. Er lag da, den Kopf auf einen Haufen Ziegelsteine gebettet, die offenen Augen auf ihn gerichtet und die Hände wie marmorne Schnecken nach oben gedreht, dem Himmel zu.

»Gott verdamm mich!« entfuhr es Bocanegra mit einem Schluchzen. Er näherte sich dem Mann und hielt inne, einen Schritt von der Eindeutigkeit des Todes entfernt. Der Blick des Mannes galt nicht mehr ihm; er schien vielmehr wie gebannt auf die alte Tür zu starren, als wäre sie, bevor er starb, seine letzte Hoffnung gewesen. Von jenseits der Tür ertönten nun Trillerpfeifen, Bremsenquietschen, die Stimmen von Verfolgung und Alarm. Der Tote und Bocanegra schienen gemeinsam ihre Hoffnung auf die Tür zu setzen. Plötzlich begann jemand dagegenzutreten. Bocanegra fing an zu weinen, ein hysterisches Kreischen drang aus seinem Bauch. Er ging zu einem Steinhaufen, um sich zu setzen und das Unausweichliche zu erwarten. Dabei sah er den Toten an und beschimpfte ihn:

»Verdammter Mistkerl! Da hast du mich in die Scheiße geritten, du Wichser. Du hast mir heut abend gerade noch gefehlt!«

»Wir Privatdetektive sind das Thermometer der herrschenden Moral, Biscuter. Und ich sage dir, diese Gesellschaft ist verfault. Sie glaubt an nichts.«

»Ja, Chef.«

Biscuter gab Carvalho recht, nicht nur, weil er erriet, daß dieser betrunken war, sondern auch, weil er stets bereit war, katastrophale Zustände festzustellen.

»Drei Monate, und keine einzige Peseta verdient. Kein Ehemann auf der Suche nach seiner Angetrauten. Kein Vater auf der Suche nach seiner Tochter. Kein Gehörnter, der Beweise für die Treulosigkeit seiner Frau haben will. Etwa, weil die Frauen nicht mehr von zu Hause davonlaufen? Oder die Töchter? Nein, Biscuter. Sie tun es mehr denn je. Aber heute kümmert es die Väter und Ehemänner einen Dreck, ob sie davonlaufen. Die Grundwerte sind verlorengegangen. Ihr wolltet ja die Demokratie!«

»Mir selber war es egal, Chef.«

Aber Carvalho meinte gar nicht Biscuter. Er sprach mit den grünen Wänden seines Büros oder mit jemandem, der auf der anderen Seite seines Schreibtischs saß. Ein Schreibtisch aus den vierziger Jahren, dessen Firnis in den letzten dreißig Jahren sanft nachgedunkelt war, als hätte er sich die ganze Zeit vollgesogen mit dem Halbdunkel dieses Büros an den Ramblas. Er leerte noch ein Glas eisgekühlten Tresterschnaps und krümmte sich unter dem Schauer, der ihm den Rücken hinunterlief. Kaum hatte er sein Glas auf den Tisch gestellt, wollte Biscuter nachschenken.

»Es reicht, Biscuter. Ich gehe ein wenig an die frische Luft.«

Er trat hinaus auf den Treppenabsatz, wo ihm der Lärm und die Gerüche des großen Gebäudes entgegenschlugen. Das Klappern von Absätzen und Kastagnetten aus der Tanzschule, das pedantische Klick-klick des alten Bildhauers, die Ausdünstungen der Abfälle, die sich in dreißig Jahren abgelagert hatten, vermischt mit dem stumpf gewordenen Lack und dem klebrigen Staub in den Ritzen der Dachluken, deren rhombische, trübe Augen in den Treppenschacht spähten. Er sprang in großen Sätzen die Treppe hinab, gestärkt oder getrieben von der Energie des Alkohols, und begrüßte dankbar den Ansturm der frischen Luft auf den Ramblas. Der Frühling spielte verrückt. Er gab sich kalt und neblig an diesem Märzabend. Nach ein paar Schritten und tiefen Atemzügen erholten sich sein umnebeltes Gehirn und seine vergiftete Leber.

Er hatte 1 200 000 Pesetas auf der Caja de Ahorros, fest angelegt mit fünf Prozent Zinsen. Wenn es so weiterging, würde er nie genug verdienen, um sich mit fünfzig oder fünfundfünfzig Jahren vom Geschäft zurückzuziehen und von den Zinsen leben zu können. Die Krise. Die Krise der Grundwerte, sagte sich Carvalho, immer noch mit dröhnendem Schädel. Er hatte in der Zeitung gelesen, daß die Anwälte am Arbeitsgericht ebenfalls in der Krise steckten, weil sich die Arbeiter heute an die Rechtsberater der Gewerkschaftsbüros hielten. Die einen wie die andern – Opfer der Demokratie. Auch Ärzte und Notare waren Opfer der Demokratie. Sie mußten Steuern zahlen und dachten allmählich, der beste politische Status sei doch der eines Freiberuflers, der unter dem Faschismus lebt, aber einen gewissen liberalen Widerstand leistet.

»Wir Privatdetektive sind so nützlich wie die Lumpensammler. Wir holen aus dem Abfall das heraus, was noch keiner ist oder was bei näherer Betrachtung gar nicht als Abfall gelten kann.«

Keiner lauschte seinem Vortrag. Die Regentropfen trieben ihn im Laufschritt zur Calle Fernando, unter die überdachten Schaufenster von Beristain. Dort traf er auf drei Straßenmädchen, die über die Vorzüge von Fertigsuppen debattierten. Aus dem Laden kam ein winziger Junge mit einem riesigen Hockeyschläger. Sein Vater begleitete ihn und fragte ein ums andere Mal:

»Meinst du wirklich, er hat die richtige Größe für dich?«

»Ja, hombre, ja doch«, antwortete der Junge, erbost über die väterlichen Zweifel. Carvalho verließ seinen Unterstand und eilte die Straße hinauf zu einem Feinkostgeschäft, wo er oft seinen Käse und seine Wurstwaren kaufte. Noch einmal hielt er an, angelockt vom Gebell der kleinen Hunde, die hinter dem Schaufenster einer Zoohandlung im Stroh übereinanderpurzelten. Sein Finger spielte mit dem frechen Schnäuzchen eines Schäferhundwelpen, dessen Hinterbeinchen von zwei kleinen Foxterriern attackiert wurden. Dann legte er die geöffnete Hand auf die Scheibe, wie um dem Tier Wärme oder Kontakt zu vermitteln. Von der anderen Seite des durchsichtigen Vorhangs leckte das Hündchen das Glas, um Carvalhos Hand zu erreichen. Abrupt riß sich Pepe los und legte die kurze Entfernung zurück, die ihn von dem Feinkostgeschäft trennte.

»Das gleiche wie immer!«

»Die Gläser mit eingemachter Lende und butifarra sind gekommen.«

»Geben Sie mir zwei.«

Der Angestellte verpackte die Sachen mit routinierter Sorgfalt.

»Der Schinken aus Salamanca ist auch nicht mehr, was er mal war.«

»Alles nennt sich Salamanca-Schinken; alles, was nicht aus Jabugo oder Trevélez stammt, ist automatisch aus Salamanca. Zum Totärgern! Man weiß nicht mehr, ob man Schinken aus Salamanca oder aus Totana vor sich hat.«

»Man schmeckt es.«

»Ja, Sie, weil Sie was davon verstehen. Aber ich hab ’s auch schon erlebt, daß Schinken aus Granollers als Jabugo-Schinken verkauft wurde! So ist das heute!«

Carvalho verließ das Geschäft mit einem Paket, das an Käse Casar, Cabrales und Idiazábal enthielt, dazu chorizos aus Jabugo und Salamanca-Schinken für den normalen Verzehr sowie eine kleine Portion Jabugo-Schinken »gegen die Depressionen«. Seine Stimmung hatte sich gebessert, als er die Zoohandlung erreichte. Der Besitzer war gerade dabei abzuschließen.

»Und der Hund?«

»Welcher?«

»Der im Schaufenster!«

»Das war voll von Hunden.«

»Der kleine Wolf.«

»Das war eine Hündin. Ich hab sie alle drinnen, nachts sperre ich sie in Käfige, sonst schlägt man mir noch das Schaufenster ein, nicht um die Hunde zu klauen, sondern um irgendeine Schweinerei mit ihnen anzustellen. Die Menschen sind grausam.«

»Ich kaufe die Hündin.«

»Jetzt gleich?«

»Jetzt gleich.«

»Achttausend Pesetas«, sagte der Besitzer, ohne die Tür wieder aufzuschließen.

»Für dieses Geld können Sie mir doch keinen guten Schäferhund verkaufen!«

»Er hat keinen Stammbaum. Ist aber ein einwandfreies Tier. Sie werden es schon sehen, wenn Sie ihn mitnehmen. Sehr mutig. Ich kenne den Vater, und die Mutter gehört einem Schwager von mir.«

»Der Stammbaum interessiert mich nicht die Bohne.«

»Sie müssen ’s ja wissen.«

Der Hund trabte auf Carvalhos angewinkeltem Arm herum, am anderen baumelte eine Tüte mit Käse, Würsten, Hundefutter in Dosen, Kauknochen, Läusepulver, Desinfektionsmittel und einer Bürste – alles, was ein Mann und ein Hund zu ihrem Glück brauchen. Biscuter staunte über die Vornehmheit der Hündin, die sicher auf den Hinterbeinen stand, die Zunge einen halben Meter lang heraushängen ließ und ihre riesigen Ohren anlegte, so daß sie an die verstellbaren Tragflächen eines Jagdbombers im Sturzflug erinnerten.

»Sieht aus wie ein Kaninchen, Chef. Soll ich sie hier bei mir behalten?«

»Ich nehme sie mit nach Vallvidrera. Sie würde dir hier alles vollkacken.«

»Übrigens, da war ein Anruf für Sie. Ich habe den Namen im Büchlein notiert.«

Jaime Viladecans Riutorts, Rechtsanwalt. Während er die Telefonnummer wählte, rief er Biscuter zu, er solle ihm etwas zum Abendessen aufwärmen. Er hörte ihn in der kleinen Kochnische hantieren, die er auf dem Flur zur Toilette improvisiert hatte. Biscuter summte zufrieden über den Auftrag vor sich hin, während das Hündchen versuchte, ins Telefonkabel zu beißen. Zwei Sekretärinnen verdeutlichten, wie weit entfernt und wichtig sein Gesprächspartner war. Endlich meldete sich die Stimme eines englischen Lords mit dem Akzent eines reichen Pinkels von der Avenida Diagonal.

»Die Angelegenheit ist sehr delikat. Wir sollten uns persönlich unterhalten.«

Er notierte den Termin, legte auf und ließ sich mit einer gewissen Zufriedenheit im Leib in seinen drehbaren Sessel fallen. Biscuter breitete eine Serviette vor ihm aus und stellte einen dampfenden Teller madriguera con chanfaina darauf. Das Hündchen wollte am Essen teilhaben. Carvalho setzte es vorsichtig auf den Boden und legte ihm ein Stückchen Fleisch auf ein weißes Blatt Papier.

»Es stimmt schon. Manchmal bringen Kinder Segen ins Haus.«

Viladecans trug eine goldene Krawattennadel und Manschettenknöpfe aus Platin. Sein Äußeres war untadelig, selbst die kahle Stelle auf seinem Kopf – ein ausgetrocknetes und poliertes Flußbett zwischen Uferböschungen von weißem Haar, das aussah, als ließe er es beim besten Friseur der Stadt oder wahrscheinlich der ganzen Hemisphäre schneiden. Dies hätte jedenfalls die Sorgfalt erklärt, mit der die Hand des Rechtsanwalts ein ums andere Mal über das verbliebene Gestrüpp strich, während seine Zungenspitze genießerisch zwischen den fast geschlossenen Lippen hin und her glitt.

»Ist Ihnen der Name Stuart Pedrell ein Begriff?«

»Sagt mir was.«

»Er könnte Ihnen aus vielerlei Gründen bekannt sein. Die Pedrells sind eine angesehene Familie. Die Mutter war eine hervorragende Pianistin, obgleich sie sich nach der Eheschließung zurückzog und nur noch auf Wohltätigkeitsveranstaltungen spielte. Der Vater war ein bedeutender Industrieller schottischer Herkunft, sehr bekannt vor dem Krieg. Jedes der Kinder ist eine Persönlichkeit für sich. Sie werden von dem Verleger gehört haben, dem Biochemiker, der Pädagogin oder dem Bauunternehmer.«

»Wahrscheinlich.«

»Es geht um den Bauunternehmer.«

Er zeigte Carvalho eine Reihe von Zeitungsausschnitten, die an Karteikarten geheftet waren: »Leiche eines Unbekannten auf einem Bauplatz in La Trinidad gefunden«, »Toter als Carlos Stuart Pedrell identifiziert«, »Er hatte sich vor einem Jahr von seiner Familie unter dem Vorwand verabschiedet, eine Polynesienreise zu machen«.

»Unter dem Vorwand? Hatte er das nötig?«

»Sie wissen doch, wie Journalisten mit der Sprache umgehen. Die Nachlässigkeit in Person.«

Vergeblich versuchte Carvalho, sich die Nachlässigkeit in Person vorzustellen, aber Viladecans war bereits damit beschäftigt, ihm die Sachlage zu schildern, wobei er seine Handflächen zusammenführte, die die beste Maniküre des gesamten kapitalistischen Blocks erhalten hatten.

»Also, es geht um folgendes: Mein Freund, ein guter Freund, wir kannten uns von der gemeinsamen Schulzeit bei den Jesuiten, machte eine innere Krise durch. Manche Männer, vor allem solche von der Sensibilität meines Freundes Stuart, können es schlecht ertragen, wenn sie die Vierzig überschreiten, fünfundvierzig werden und – ach! – schon auf die Fünfzig zugehen. Nur so erklärt es sich, daß er Wochen und Monate über der Idee brütete, alles hinter sich zu lassen und auf irgendeine Insel in der Südsee zu fahren. Das Projekt nahm dann plötzlich Gestalt an. Er hinterließ, geschäftlich gesehen, alles geregelt und verschwand. Wir gingen alle davon aus, daß er nach Bali gefahren war, oder Tahiti oder Hawaii, was weiß ich, und selbstverständlich nahmen wir an, die Krise sei nur vorübergehend. Die Monate vergingen, und wir mußten einer Situation ins Auge sehen, die unumkehrbar zu sein schien, so unumkehrbar, daß heute die Señora Stuart Pedrell diejenige ist, die die Geschäfte leitet. Und schließlich, im Januar, diese Nachricht: Stuart Pedrell wurde tot auf einem Bauplatz in La Trinidad aufgefunden, erstochen, und wir wissen heute mit Sicherheit, daß er Polynesien niemals erreicht hat. Wir wissen weder, wo er war, noch, was er während dieser ganzen Zeit gemacht hat, aber genau das müssen wir unbedingt wissen.«

»Ich erinnere mich an den Fall. Der Mörder wurde nicht gefunden. Wollen Sie auch den Mörder?«

»Nun. Wenn sich der Mörder findet, um so besser. Aber was uns in erster Linie interessiert, ist die Frage: Was tat er in diesem Jahr? Verstehen Sie bitte, es stehen zahlreiche Interessen auf dem Spiel.«

Über die Sprechanlage wurde die Ankunft von Señora Pedrell gemeldet. Fast im selben Moment ging die Tür auf, und eine Frau von fünfundvierzig Jahren erschien im Büro, deren Anblick Carvalho einen Stich in die Brust versetzte. Sie trat ein, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, und präsentierte die reife Schlankheit ihrer Figur, als wäre sie die einzige Person im Raum, die Beachtung verdiente. Viladecans stellte sie einander vor, was die dunkelhaarige Frau, deren markante Gesichtszüge die ersten Spuren des Alters verrieten, lediglich nutzte, um ihre Distanz zu Carvalho zu unterstreichen. Ein flüchtiges »Sehr erfreut«, mehr verdiente der Detektiv ihrer Meinung nach nicht, und Carvalhos Antwort darauf war, wie gebannt auf ihre Brüste zu starren, bis sie sich genötigt sah, ihren Oberkörper zu betasten, um nach einer Indiskretion ihrer Kleidung zu suchen.

»Ich war im Begriff, Señor Carvalho über die Vorgeschichte zu informieren.«

»Sehr gut. Viladecans wird Ihnen gesagt haben, daß ich vor allem auf Diskretion Wert lege.«

»Dieselbe Diskretion, mit der der Fall veröffentlicht wurde. Wie ich aus diesen Ausschnitten ersehe, ist nie ein Foto Ihres Gatten erschienen.«

»Kein einziges.«

»Warum?«

»Mein Mann verschwand inmitten einer Lebenskrise. Er war nicht Herr seiner selbst. Wenn er gute Laune hatte, was einem Wunder gleichkam, schnappte er sich den ersten besten und erzählte ihm die Geschichte von Gauguin. Auch er wollte Gauguin werden. Alles hinter sich lassen und in die Südsee fahren. Alles, das heißt mich, seine Kinder, seine Geschäfte, sein soziales Umfeld, was man eben so ›alles‹ nennt. Ein Mann in diesem Zustand ist eine leichte Beute für jeden Dahergelaufenen, und wäre der Fall breitgetreten worden, hätten Unverschämte zu Tausenden auftauchen können.«

»Haben Sie das mit der Polizei vereinbart?«

»Sie haben getan, was sie konnten. Ebenso das Außenministerium.«

»Das Außenministerium?«

»Es bestand ja die Möglichkeit, daß er wirklich in die Südsee gefahren war.«

»Er ist nicht gefahren.«

»Nein. Er ist nicht gefahren«, erwiderte sie mit einer gewissen Befriedigung.

»Das scheint Ihnen Freude zu machen.«

»Ein wenig. Ich hatte diese Geschichte satt. ›Dann geh doch endlich!‹ sagte ich mehr als einmal zu ihm. Der Überfluß würde ihn ersticken!«

»Mima …« Viladecans versuchte, sie zu unterbrechen.

»Alle Welt fühlt sich erstickt – besser gesagt, alle Welt, außer mir. Als er weg war, konnte ich endlich aufatmen. Ich habe gearbeitet. Ich habe seine Arbeit mindestens ebenso gut, nein, besser als er gemacht, denn ich hatte nicht ständig Gewissensbisse.«

»Ich möchte dich erinnern, Mima, daß wir zu einem anderen Zweck hier sind.«

Aber Carvalho und die Witwe fixierten einander, wie um zu taxieren, wie aggressiv der andere werden könnte.

»Sie empfanden also eine gewisse Zärtlichkeit für ihn.«

»Machen Sie sich ruhig lustig, wenn Sie wollen! Eine gewisse Zärtlichkeit, ja. Aber sehr wenig. Diese Geschichte hat mir eins klargemacht: Niemand ist unersetzlich. Und noch etwas Schlimmeres: Einen Posten, den wir einmal bekleidet haben, reißen wir für immer an uns.«

Carvalho war verwirrt von der dunklen Leidenschaft, die aus diesen schwarzen Augen sprach, aus diesen beiden elliptischen Falten, die einen reifen und wissenden Mund umgaben.

»Was genau wollen Sie wissen?«

»Was mein Mann ein Jahr lang getrieben hat, in diesem Jahr, als wir ihn in der Südsee glaubten und er sich wer weiß wo herumtrieb und wer weiß was für Dummheiten anstellte. Ich habe einen erwachsenen Sohn, der nach dem Vater geraten ist, mit dem erschwerenden Umstand, daß er einmal mehr Geld erben wird als sein Vater. Zwei andere Söhne, die um diese Tageszeit wahrscheinlich auf irgendeinem Berg der Umgebung Motorrad-Trial fahren. Eine Tochter, die nervenkrank ist, seit die Leiche ihres Vaters entdeckt wurde. Einen kleinen Jungen, den die Jesuiten der Schule verweisen wollen… Ich muß über alles die Kontrolle behalten, absolute Kontrolle.«

»Was wissen Sie bis jetzt?«

Viladecans und die Witwe blickten einander an. Der Anwalt ergriff das Wort:

»Dasselbe wie Sie.«

»Hatte der Tote nicht irgend etwas bei sich, das die Bestimmung seines Aufenthaltsortes erleichtert?«

»Seine Taschen waren leer.«

»Nur dies wurde gefunden.«

Die Witwe hatte aus ihrer Handtasche ein zerknittertes Agenda-Blatt geholt, das tausend Hände zerfleddert hatten. Jemand hatte darauf mit Kugelschreiber notiert:

»più nessuno mi porterà nel sud.«

»Ich kenne Sie nicht mal.«

Er trug die Haare kurz, einen dunklen Anzug ohne Krawatte, eine Sonnenbrille mit sehr dunklen Gläsern, die das glänzende Weiß des jugendlichen Gesichts noch betonten. Trotz seiner Schlankheit lag etwas Öliges in seinen Bewegungen, als hätte er Schmierfett in den Gelenken seines geräuschlosen Körpers.

»Wenn das rauskommt, daß ich Ihnen diese Information gebe, bin ich als Polizist erledigt.«

»Señor Viladecans ist sehr einflußreich.«

»Sein ganzer Einfluß wäre nutzlos. Man hat mich sowieso schon auf dem Kieker. Wegen politischer Aktivität. Der ganze Laden wimmelt von Heuchlern. Wenn man sie hört, sind sie alle stinksauer über die Lage, aber sobald es darum geht, etwas zu tun, läuft gar nichts. Die sorgen sich nur um ihre Gehaltsklasse und daß ihnen keiner ihre Nebenjobs kaputtmacht.«

»Sind Sie ein roter Polizist?«

»Nichts da. Ich bin Patriot.«

»Ich verstehe. Sie waren an der Untersuchung des Falles Stuart Pedrell beteiligt? Sagen Sie mir alles, was Sie wissen!«

»Wenig. Zuerst hielten wir ’s für eine Schwulengeschichte. Kommt echt selten vor, daß ein reicher Typ verschwindet und ein Jahr später erstochen auftaucht. Es sah aus wie ein klarer Fall von Arschfickerei. Aber erstens sagte der Gerichtsmediziner, daß er arschmäßig Jungfrau war, zweitens kannte ihn keiner aus der Schwulenszene. Dann war da seine Kleidung. Das war nicht seine eigene. Die hatten ihm fremde Klamotten aus zweiter oder dritter Hand übergezogen, völlig abgetragen, mit der klaren Absicht, keine Spuren zu hinterlassen.«

»Warum hat man ihm dann den Zettel gelassen?«

»Um uns aufs Glatteis zu führen, nehme ich an. Verstehen Sie den Text?«

»Niemand bringt mich mehr in den Süden.«

»Ja, das haben wir auch schon herausgefunden. Aber was soll das heißen?«

»Der Tote hatte sich vorgenommen, in die Südsee zu fahren, nach Ozeanien.«

»Lesen Sie die Notiz doch mal genau: Niemand … bringt … mich … mehr … in … den … Süden. Er spricht von jemandem, der ihn nicht hinbringt, obwohl er könnte. Das machte uns Kopfzerbrechen. Und warum auf Italienisch?«

»War es seine eigene Handschrift?«

»Ja, es war seine.«

»Also …«

»Er muß das Gedächtnis verloren haben oder so was. Er verkehrte mit der Unterwelt und bekam einen Messerstich ab. Wenn es nicht seine eigene Familie war, die ihn klammheimlich entführen ließ. Sie wollten die üppige Kohle nicht wieder hergeben und haben ihm die Kehle durchgeschnitten. Es könnte auch geschäftliche Hintergründe geben, aber das kommt kaum in Frage. Die brisantesten Geschäfte, auf die er sich einließ, waren die in der Baubranche, und die hat er nie aufgegeben, soll heißen, er hat Strohmänner benutzt. Tja, amigo. Mehr will ich zu dieser Sache nicht sagen. Hier haben Sie die Liste von allen Leuten, die wir belästigt haben: Geschäftspartner, Freunde, Gönner und Neider. Ich hab schon zu Señor Viladecans gesagt, daß ich dazu nichts mehr sagen werde.«

»Bleibt die Polizei an dem Fall dran?«

»Nein. Die Familie hat das Unmögliche möglich gemacht, damit sie nicht weitermachen. Sie haben eine angemessene Frist abgewartet und dann die Einstellung der Nachforschungen veranlaßt. Der gute Ruf der Familie und die ganze Sülze.«

Der junge Polizist ließ mit einem seltsamen Geräusch die Zunge von innen gegen die Wange schnalzen, und Carvalho faßte dies als Verabschiedung auf, denn danach stand er auf und ging zur Tür. Unterwegs wurde er von der kleinen Hündin attackiert, die versuchte, ihn in die Fersen zu beißen.

»Das ist mir aber ein Straßenköter!«

»Es ist eine Hündin.«

»Das ist übel. Lassen Sie sie kastrieren?«

Carvalho runzelte die Stirn, und der Polizist ging endlich. Niedergeschlagen von soviel Verachtung, neigte die Hündin den Kopf erst auf die eine, dann auf die andere Seite, wie um die guten und die schlechten Seiten des Lebens zu betrachten.

»Du bist richtig feige.«

»Ein Angsthase«, verkündete Biscuter und trat hinter dem Vorhang hervor.

»Das ist es. Wir nennen dich Bleda, Angsthase, weil du so schnell aufgibst.«

»Und sie kackt, wo es ihr gerade paßt«, schimpfte Biscuter mit Ingrimm. Der Unterschied zwischen ihm und der Hündin bestand darin, daß Bleda – mehr oder weniger, im guten oder im schlechten – eine gewisse Rasse besaß und Biscuter nicht. An Carvalhos ehemaligem Gefängniskollegen hatte die Natur das Wunder einer unschuldigen Häßlichkeit vollbracht: eine blonde, nervöse Mißgeburt, die zur Kahlköpfigkeit verdammt war. Carvalho hörte Charos Absätze auf der Treppe klappern, die Wohnungstür wurde geöffnet. Erschöpfung und Wut teilten sich ihr Gesicht.

»Du lebst also noch! Sag jetzt nicht, du wolltest mich gerade anrufen!«

»Nein. Nein, ich sag ’s nicht.«

Carvalho nahm eine Flasche Weißwein aus einem Zinkkübel, trocknete sie ab und füllte die drei Gläser, die Biscuter auf den Tisch gestellt hatte.

»Probier mal, Charo! Die Katalanen lernen allmählich, wie man guten Wein macht. Ein Blanc de Blancs. Hervorragend. Vor allem für diese Zeit!«

»Für was für eine Zeit?«

»Für diese Zeit eben. Zwischen dem letzten Gang des Mittagessens und dem ersten Gang des Abendessens.«

Charo war in die Falle getappt. Sie hatte sich mit ausgestellten, von den Knien aufwärts aber geschlossenen Beinen an den Tisch gesetzt und trank den Wein, wobei sie Carvalhos Verkostungsritual nachahmte. Biscuter versuchte es ebenfalls, schnalzte aber zu laut mit der Zunge.

»Uff! Was ist denn das?« Charo war vor Schreck aufgesprungen, als Bleda an ihrer Hand schnüffelte.

»Ein Hund. Besser gesagt, eine Hündin.«

»Das ist also deine neue Freundin?«

»Meine allerneueste. Ich habe sie gestern gekauft.«

»Ist ja nicht gerade eine Schönheit. Wie heißt sie?«

»Bleda.«

»Was, Mangold?«

»Im Katalanischen bedeutet bleda nicht nur ›Mangold‹, sondern auch ›Angsthase‹, fava tova, weiche Bohne.«

Während die Hündin auf ihrem Schoß saß und versuchte, ihr Gesicht abzulecken, ließ Charo eine Schimpftirade über Carvalho niedergehen. Der Detektiv hüllte sich in Schweigen, während er Gläser nachfüllte, die sie durstig und frustriert leerten. Der grüne, saure Geschmack des Weins verursachte ihm ein Jucken hinter den Ohren, und im Gegenzug zog sich seine ganze Mundhöhle zusammen. Er fühlte sich bestätigt, als hätte er ein Stück Heimat in sich selbst wiedergefunden.

»Tut mir leid, Charo, aber ich war müde. Ich bin müde. Wie läuft das Geschäft?«

»Schlecht. Die Konkurrenz ist saumäßig. Wegen der Wirtschaftskrise machen sogar die Nonnen die Beine breit.«

»Sei nicht so ordinär, Charo! Deine Kundschaft war doch immer handverlesen!«

»Laß uns von was anderem reden, Süßer!«

Carvalho hatte vergessen, daß es ihr unangenehm war, mit ihm über ihre Arbeit zu sprechen. Oder hatte er es nicht vergessen? Eigentlich wollte er sie loswerden, aber ohne sie zu beleidigen. Carvalho sah, wie sie das Glas an die Lippen hob, mit geschlossenen Knien und der Steifheit einer Besucherin. Er lächelte ihr geheimnisvoll zu. Ihm war plötzlich bewußt geworden, daß er, obwohl stets bestrebt, keine Bindungen einzugehen, nun die gefühlsmäßige und moralische Verantwortung für drei Menschen und einen Hund trug: für sich selbst, Charo, Biscuter und Bleda.

»Laß uns essen gehen, Charo!«

Er näherte sich der Tür, hinter der Biscuter mit dem Geschirr hantierte.

»Und du auch, Biscuter! Auf Kosten des Hauses.«

Sie aßen im Túnel. Biscuter war verblüfft über das Gericht mit weißen Bohnen und Miesmuscheln, das Carvalho bestellt hatte.

»Was die sich alles ausdenken, Chef!«

»Das ist älter als der aufrechte Gang. Bevor die Kartoffel nach Europa kam, brauchte man auch schon eine Beilage zu Fleisch, Fisch oder Meeresfrüchten.«

»Was Sie nicht alles wissen, Chef …«

Charo hatte sich eine Minestrone und frischen Thunfisch a la plancha bestellt. Carvalho trank weiterhin wie besessen seinen Wein, als brauchte er eine Transfusion von weißem, kaltem Blut.

»An was arbeitest du gerade?«

»Ein verschwundener Toter.«

»Was, hat man eine Leiche geraubt?«

»Nein. Ein Mann ist verschwunden und nach einem Jahr als Toter wieder aufgetaucht. Er wollte sein Leben ändern, das Land, den Kontinent, seine Welt verlassen, und am Ende fand man ihn erstochen, zwischen Konservenbüchsen und Bauschutt. Ein Versager. Ein reicher Versager.«

»Reich?«

»Superreich.«

Carvalho nahm sein Notizbuch aus der Tasche und begann vorzulesen:

»Tablex S.A., Sperrholzprodukte, Industrial Lechera Argumosa, Milchprodukte, Iberische Bau GmbH, Aufsichtsrat der Banco Atlántico, Sitz und Stimme in der Industrie- und Handelskammer, Aufsichtsrat der Privasa Bau und Verschrottung … und noch weiterer fünfzehn Gesellschaften. Überraschenderweise sind zwei schwindsüchtige Verlage darunter: Einer gibt Gedichtbände heraus und der andere eine Zeitschrift der kulturellen Linken. Anscheinend tat er gerne gute Werke.«

»Rausgeschmissenes Geld, finde ich. Bei der Menge von Zeitschriften und Büchern, die es gibt, Chef. Man geht zum Kiosk und findet nichts. Auch wenn sich der Besitzer auf den Kopf stellt, um was zu finden.«

»Alles Schrott«, urteilte Charo, während sie ein Stückchen Thunfisch mit Knoblauch und Petersilie zum Mund führte. »Alles voll mit nackten Kerlen und Weibern.«

Biscuter verabschiedete sich, als er fertig war. Er sei müde und müsse früh aufstehen, das Büro in Ordnung bringen und zum Markt gehen. Carvalho dachte ein paar Minuten später an ihn und stellte sich vor, wie er einsam auf dem Klappbett im Büro schlief.

»Oder er holt sich einen runter.«

»Von wem redest du?«

»Von Biscuter.«

»Wieso sollte er sich einen runterholen?«

Mit einer Handbewegung fegte er das Gesagte beiseite und gab Charo mit einem Blick zu verstehen, daß sie sich beeilen solle. Er ahnte, daß sie ihn gerne nach Vallvidrera begleiten würde, und wußte nicht, wie er ihre Absicht vereiteln könnte. Charo schlang mit drei, vier Happen ihr Eis hinunter und hängte sich bei Carvalho ein. Sie stiegen in sein Auto, wo Bleda sie mit gebellten Beschimpfungen empfing und dann alles ableckte, was sie nicht in Sicherheit bringen konnten. Sie fuhren schweigend. In einem ebenfalls schweigenden Ritual leerte er seinen Briefkasten, stieg die Treppe zur Haustür empor und schaltete die Lichter ein, die von der Vegetation des Gartens verdunkelt wurden und Schatten über den Kies warfen. Carvalho atmete durch, blickte in die ferne Tiefe des Vallés und lauschte lustlos dem Geplapper von Charo, das von drinnen kam.

»Meine Wohnung ist schön warm. Bei dir dagegen … Heute wirst du wohl Feuer machen. Du bist ja so verrückt und machst nur im Sommer Feuer.«

Carvalho ging in sein Zimmer und zog die Stiefel aus. Er blieb auf dem Bett sitzen, die Hände zwischen den Knien und den Blick starr auf eine Socke gerichtet, die unbewohnt und bizarr verdreht dalag.

»Was ist mit dir? Geht ’s dir nicht gut?«

Carvalho setzte sich in Bewegung. Er versuchte Zeit zu gewinnen, indem er ein paar vage Runden um sein Bett drehte. Dann verließ er das Zimmer. Charo versuchte mit allen Nummern der Vanguardia, die im Haus zu finden waren, das Kaminfeuer anzuzünden. Carvalho ging in die Küche und schnappte sich eine der zehn Flaschen Blanc de Blancs aus dem Kühlschrank, wo sie ihn hell erleuchtet und im Gewand von Winzersektflaschen erwarteten. Wer weiß, vielleicht ist der Wein gar nicht so gut, wie er mir vorkommt, sagte sich Carvalho, aber wer die Besessenheit hat, dem schadet sie nicht.

»Noch mehr Wein? Du ruinierst dir die Leber.«

Charo trank auch, während Carvalho ihre vergeblichen Bemühungen am Kamin berichtigte und ein eindrucksvolles Feuer entfachte, mit Hilfe eines Buches, das er in seiner schon lückenhaften Bibliothek dazu auserkoren hatte: Maurice von Forster.

»Ist es schlecht?«

»Es ist außergewöhnlich.«

»Warum verbrennst du es dann?«

»Weil es ein Haufen Unsinn ist, wie alle Bücher.«

Die Flammen verliehen Charos Gesicht einen rötlichen Schimmer. Sie sagte, sie wolle es sich bequem machen, und kehrte in der weiten chinesischen Jacke zurück, die ihr Carvalho aus Amsterdam mitgebracht hatte. Carvalho blieb mit einem Glas Wein in der Hand am Boden sitzen, den Rücken gegen das Sofa gelehnt.

»Wenn man Lust hat, hat man Lust.«

Charos Hand streichelte sein Haar. Zuerst griff Carvalho nach ihr, um sie abzuwehren, dann aber behielt er sie und drückte sie zärtlich.

»Was ist los mit dir?«

Carvalho zuckte die Schultern. Plötzlich sprang er auf und eilte zur Tür. Er öffnete sie, und Bleda stürmte herein.

»Ich hatte das arme Tier ganz vergessen.«

Charo vergrub ihre Enttäuschung im Sofa, und ihr Mund fiel über das Weinglas her, als wollte er es zerbeißen. Carvalho nahm seine ursprüngliche Stellung wieder ein und begann Bledas Nacken und Charos Wade zu streicheln.

»Entweder – oder! Die Hündin oder ich!«

Charo lachte. Er richtete sich auf, setzte sich zu ihr, öffnete ihre Jacke und faßte nach ihren beiden Brüsten, die unter dem Infrarotgrill des Solariums und auf ihrer Terrasse gebräunt worden waren. Charos Hand glitt unter sein blaues Hemd, kniff seine Brustwarzen und folgte den Pfaden durch das Dickicht auf seiner Brust. Aber Carvalho stand auf, schürte das Feuer und wandte sich um, wie überrascht von ihrer Unentschlossenheit.

»Was machst du noch hier? Komm!«

»Wohin?«

»Ins Bett.«

»Ich mag es gerne hier!«

Die Hand von Charo legte sich wie eine Muschel über Carvalhos Hosenschlitz. Dem Anreiz zum Wachstum folgend, begann sich der Hosenschlitz zu wölben, bis er die Muschel ausfüllte. Carvalho bückte sich nach Bleda, trug sie ins Schlafzimmer und legte sie aufs Bett. Als er zum Feuer zurückkehrte, war Charo bereits nackt. Das vom Feuer erhellte Halbdunkel betonte ihre Gesichtszüge eines Mädchens ohne Blüte.

Er wurde von einer Sekretärin im Kostüm einer ehemaligen Nonnenschülerin empfangen, die im Begriff steht, den Jungen zu heiraten, mit dem sie seit zwölf Jahren ein festes Verhältnis hat.

»Señora Stuart Pedrell hat mir Ihren Besuch angekündigt.«

Sie befanden sich im Heiligtum des Toten. Das private Büro, das er aufsuchte, um zu meditieren, das Büro, das er den fünfzehn anderen Büros vorzog, die ihn in zahlreichen anderen Firmen erwarteten. Ein sanfter nordischer Stil, der Mitte der sechziger Jahre in Mode gekommen war, verbessert durch Mauerwerkimitationen auf einer Wandbespannung aus dunkelbeigem Tuch. Lampen aus gewachstem Papier mit orientalischem Einschlag, beigefarbener Flokati, im Hintergrund eine seltsame Ampel an der Tür zu einem Büro. Sie hing dort mit erloschenen Lichtern, ein toter, geflügelter Roboter, an die Wand gepinnt wie ein gefangener Schmetterling. Als sie Carvalhos fragende Miene bemerkte, erklärte die ehemalige Klosterschülerin:

»Señor Stuart Pedrell benutzte sie, um uns Angestellten und ebenso den Besuchern Zutritt zu gewähren oder zu verwehren.«