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Uschi Obermaier

Anna Cavelius

Expect

nothing!

Die Geschichte einer ungezähmten Frau

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Bildnachweise:
Alle Bilder, wenn nicht anders angegeben,
© Archiv Uschi Obermaier

1. Auflage

Originalausgabe

© 2013 Riemann Verlag, München

Lektorat: Ralf Lay, Mönchengladbach

Gestaltung Innenteil: Walter Schönauer, Berlin

e-book: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, Germering

ISBN 978-3-641-11068-0

www.riemann-verlag.de

Vorwort

Expect nothing – der Titel klingt wie eine Songzeile. Das passt auch irgendwie zu meinem Leben, in dem Musik immer eine große Rolle gespielt hat. Tatsächlich ist dieser Satz eigentlich ein Zitat, das mir einmal in einem alten Haus in Topanga begegnete und im Lauf der Zeit zu einer Art Lebensmotiv für mich geworden ist.

Die erste Hälfte meines Lebens war nach »normalen« Maßstäben ziemlich unberechenbar, wild, voller Verrücktheiten, Spaß, Glamour, Exzessen, Höhepunkten, Abstürzen, ja, und manchmal auch gefährlich. Jedenfalls nie langweilig.

Nicht zu der Zeit, als ich als Model unglaublich gefragt war, als ich mit Langhans in der Kommune lebte, als ich die besten Musiker der damaligen und vielleicht auch noch heutigen Zeit traf und manche auch liebte, als ich jede Droge ausprobierte und das Leben eine Riesenparty war.

Auch nicht zu der Zeit, als ich mit meinem Lebensgefährten Dieter Bockhorn in unserem legendären Bus auf den Hippie-Trails die Welt bereiste und mit ihm schließlich Deutschland ganz den Rücken kehrte, um in Amerika zu leben. Nichts sollte uns aufhalten, unser Leben verlief ohne Plan. Ein Netz aus Freundschaften wollten wir über den Planeten spinnen. Der einzige Plan war vielleicht der, dass wir niemals einen haben wollten, und dafür jeden Tag unsere Freiheit, die Liebe und das Leben feierten.

Am 31. Dezember 1983 raste Bockhorn auf seinem Motorrad in den Tod. Damit endete nicht nur sein Leben, auch meines brach in Stücke. Von einem Moment auf den anderen veränderte sich alles. Es war, als wollte mich das Schicksal jetzt auf die Nagelprobe stellen. Schaffte ich es, allein, ohne Geld, ohne Beschützer am anderen Ende der Welt durchzukommen? Ich war nicht nur über Nacht »Witwe« geworden und musste diesen Schock bewältigen, sondern hatte das letzte, einzige, zerbrechliche Stück Sicherheit in meinem sonst so freien Leben verloren – meinen Gefährten.

Doch tatsächlich: Ich schaffte es. Obwohl ich nach allem menschlichen Ermessen am absoluten Nullpunkt angelangt war, ging es in den nächsten Jahren irgendwie weiter, nicht immer sonderlich spektakulär, aber doch ganz besonders, auf meine Weise eben – on my way. Ich lernte, machte Erfahrungen und vertraute dabei völlig meiner Intuition und dieser »Weisheit«, die auf die Tür zu meinem neuen Leben geschrieben stand, dem Platz, an dem ich nach meinen Wanderjahren sesshaft wurde: Expect nothing – »Erwarte nichts«.

Dieser Satz handelt von nichts anderem als vom Hinfallen und Immer-wieder-Aufstehen, vom Finden meines Selbst und dem Wunsch, nicht nur mir selbst, sondern auch anderen Inspirationsquelle und Glücksbringerin zu sein.

Topanga, im Sommer 2013

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Uschi Obermaier (© Peter Lindbergh)

In der Nacht zuvor …

… hat es geregnet (!). Als wir jetzt am frühen Nachmittag am Mulholland Drive aussteigen und uns mit den Hunden zum Canyon auf den Weg machen, ist die Luft fast noch ein wenig feucht. Während La Luz und Razzo begeistert im Gebüsch herumstromern, schnaufen wir den Hang hinauf und unterhalten uns über Freundinnen und Weggefährtinnen Uschis und was ihre Karrieren und Lebensläufe aktuell so machen. Während uns zwei knackige Joggerinnen in Pink und Türkis munter miteinander plaudernd überholen, philosophieren wir über das Altern und ob das tatsächlich würdevoll geht in Zeiten, in denen schon Zwanzigjährige an sich herumschnipseln lassen, um sich entweder besser zu fühlen oder nicht negativ aufzufallen. Joggen ist natürlich auch eine Alternative, auch wenn wir uns einig sind, dass gelegentliche Spaziergänge definitiv die entspanntere Variante sind. Außerdem findet Uschi, dass es für sie völlig reicht, wenn sie morgens ihre Auffahrt zum Zeitungholen runter- und wieder raufläuft. Die Auffahrt ist tatsächlich ziemlich steil. Dann geht es kurz um Mariel Hemingway, die offenbar würdevoll auf ihrer Farm in Idaho altert und immer noch gut aussieht, und auch über Jane Fonda, deren Chirurg wirklich Eindrucksvolles geleistet hat. Noch ein Schnaufer: »Ageing ungracefully, das ist es eigentlich«, meint Uschi noch, und plötzlich holen wir tief Luft und treten aus den Bäumen hervor auf ein Plateau, von dem aus sich ein spektakuläres Rundum-Panorama entfaltet. Unter uns liegt befreit vom Weichzeichner des sonst allgegenwärtigen Smogs die Stadt der Engel mit ihrer geschwungenen Küstenlinie, wie sie sich weit bis zu den jetzt schneebedeckten San-Bernardino-Bergen über die Hügel hinwegkrakt. Links die Hollywood Hills mit ihren Prachtvillen, die man von hier aus nur ahnt, und mittendrin die Wolkenkratzer von Downtown, die sich von hier oben wie ein paar vereinzelte Zahnstocher aus Edelmetall ausnehmen.

»Echt gut gemacht, Uschi, keine Wolke.«

»Reine Wunschkraft«, lacht sie.

Kennengelernt haben wir uns vor vier Jahren. Unser Verleger brachte uns zusammen, er wünschte sich ein Buch mit Uschi Obermaier, und die schlug vor, etwas über das »Altern ohne Anmut – ageing ungracefully« zu machen. Der Verlag stellte sich damals etwas anderes vor, eher in Richtung »Im Bett mit der Kommune 1, Mick und Jimi«, und Uschi winkte dankend ab. Sie hatte genug von ihrer sogenannten Groupie-Historie, die einerseits ihren Ruf als best bad girl befeuerte und die sie andererseits jahrelang erfolgreich ignorierte. Die atemlosen Storys über sie, ihr Leben und ihre Männer trugen ebenso bei zum Obermaier-Wahn der sechziger und siebziger Jahre wie ihre animalischen Flirts mit der Kamera und die Berichte über ihr wildes, zügelloses Leben. Für die Elterngeneration wurde sie zum Fanal für das Ende der zivilisierten Welt. Gleichzeitig wurde sie zur Mega-Projektion unerfüllter Wunschträume einer verkopften Generation, die sich nicht das traute, was Uschi lebte. Denn sie machte immer nur das, was Uschi wollte, und scherte sich nicht um Ideologien. Deshalb interessierte es Uschi auch eher selten, was man über sie schrieb. Für sie war der Hype um ihre Person immer ein bemerkenswerter, manchmal auch sehr schmeichelhafter Nebeneffekt ihres Berufs. Heute reagiert sie auf alte Klischees und Schubladen genervt, wenn nicht gar empört. Da fühlt sie sich eingeengt und missverstanden. Es ist für sie an der Zeit, Images und Storys zu korrigieren und aus den Jahren zu erzählen, die auf den großen Hype folgten, als sie, wie sie sagt, »immer mal wieder am Arsch war, um danach wieder aufzustehen und weiterzumachen«.

Wir blieben trotz unseres im Ansatz gescheiterten Buchprojekts in Kontakt, schrieben uns gelegentlich. Ich erfuhr von ihrer Trennung von ihrem langjährigen Freund, die sie fast am Boden zerstört zurückließ, und versuchte, sie aus der Ferne und mit allem Respekt – wie coacht man ein Idol? – zu trösten. Ich erfuhr von ihrer Therapie, die sie begonnen hatte, um den Schmerz besser zu bewältigen, und von der Hoffnung, die wieder aufschimmerte, als sie die Fenster in ihre Vergangenheit und den Blick auf lange unsichtbare Facetten ihrer Persönlichkeit zu öffnen lernte. Es waren die Facetten, die sie in harten Zeiten nicht nur überleben ließen, sondern ihr auch eine unglaubliche Stärke verliehen. Irgendwann stand das neue Buchthema im Raum. Expect nothing – »Erwarte nichts«. Im Winter ging ich nach Los Angeles, und wir begannen an dem Buch zu arbeiten.

Immer noch stehen wir auf dem Plateau und versuchen mit zusammengekniffenen Augen, die Ausdehnung dieser zersiedelten Riesenstadt zu ermessen. Unmöglich. Dann gehen wir ein paar Schritte weiter und kommen zu einer aus Steinen angeordneten Spirale. Wir betreten sie, und dann enthüllen sich auf dem Weg bis zum Mittelpunkt wahre Schätze. Eine kleine Schale und eine Kette darin und daneben auf den Stein geschrieben »Love«, ein kleines Blumenarrangement und daneben ein Name, ein Tongefäß und bunte Steine. Eine leicht verwitterte Botschaft ans Universum, ein in Plastikfolie eingepacktes Notizbuch. Die Wunschspirale wird offenbar aber nicht nur von spirituellen Geistern besucht.

Uschi schimpft: »Meine Muschel ist gar nicht mehr da.«

»Ich dachte: Expect nothing?«, frage ich.

»Klar, aber wünschen ist immer erlaubt«, lacht sie.

»Aim high, jeden Tag! Dann geht’s auch weiter.«

Wenn ich morgens aufwache, …

… muss ich noch nicht mal den Kopf heben, um die Berge und den Himmel zu sehen. Ich genieße den Luxus, dazuliegen und in aller Ruhe zu überlegen, was ich mit meinem Tag mache, bis mich meine Hunde sanft anstupsen. Zeit zum Aufstehen. Ich gucke erst mal in die Runde, gehe auf meine Terrasse und begrüße ganz freundlich den Tag mit Verbeugungen in alle vier Himmelsrichtungen. Das schadet nie und fördert die Beweglichkeit. Dann geht’s los.

Eine Sache, die mir in der letzten Zeit viel Spaß macht, ist das Filmen. Es fing ganz bescheiden an. Ich bin mit meiner Kamera einfach ums Haus gegangen und habe damit begonnen, alles festzuhalten, was hier so kreucht und fleucht. Ja, meine kleinen Dokus über das Leben hier sind mir mittlerweile zur Herzenssache geworden. Das scheinbar Unsichtbare, Unscheinbare, Selbstverständliche zu filmen und zu zeigen, wie schön, wie sonderbar und wie besonders das Leben ist, auch wenn vordergründig gar nicht so viel Action ist.

Mein Erstling ist zwar nicht abendfüllend, aber, wie meine Freunde finden, schon unterhaltsam. Mit ungewöhnlichen Geschöpfen, überraschenden Wendungen, einem Höhepunkt und keinem richtigen Schluss (weil, Fortsetzung folgt). Alles mehr aus dem Bauch raus, aber definitely mit einem gewissen wissenschaftlichen Elan. Denn für diesen Film habe ich Tausende (!) Momente aus dem Leben um mich herum im Bild festgehalten: Augenblicke, Anblicke, Begegnungen, die direkt vor meiner Haustür, vor meiner Nase stattfanden. Sie sind schön oder gruselig, bereichern mein Leben, wundern mich, machen mich manchmal sogar heil, wenn es mir nicht so gut geht. Sie machen mich neugierig auf mehr und bringen mich manchmal auch einfach nur zum Lachen. Stundenlang habe ich diese Momente gesichtet und alles zu einem Ganzen zusammenkomponiert. Dann habe ich mich mit einem Bekannten verabredet, der bei Disney arbeitet und mir dabei geholfen hat, das Material professionell zusammenzuschneiden. Dann kam noch die Auswahl der richtigen Musik dran, meine Musik: Blues, ein bisschen Reggae, Ethno. Rock ’n’ Roll passte nicht so zum Thema …

Beim ersten Mal, …

… als Uschi das Hotel in Santa Monica betritt, in dem ich in der Lobby auf sie warte, erklingt »Jumpin’ Jack Flash«. »Netter Zufall«, denke ich. Uschi runzelt kurz die Brauen und lacht schallend. Zwei Tage später holt sie mich zu den Klängen von »It’s just a gas« ab. Es ist nur Spaß? Schauen wir mal. Als ich nachfrage, ob das Hotel für sie spezielle Begrüßungsmelodien spielt, beteuert sie, dass sie hier wirklich keiner kennt. Doch, was soll ich sagen, die Stones sind in den nächsten Tagen allgegenwärtig, dabei werden sie erst ein paar Monate später in Kalifornien touren.

Die Ober-Stones Mick Jagger und Keith Richards waren fasziniert von Uschi. Beide suchten ihre Nähe, mit beiden hatte sie ein Verhältnis. Doch mit Keith Richards sollte sie später eine sehr besondere Liebe verbinden, von der auch er in seiner Biografie Life schreibt. Sie begleitet ihn einige Zeit immer wieder auf Tourneen. Selbst ihr langjähriger Lebens- und Reisegefährte Dieter Bockhorn, ihre zweite große Liebe, konnte sie von dieser Amour fou, die im Grunde weit mehr war als nur das, nicht abhalten. Trotzdem entschied sich Uschi für den Hamburger Galeriecafé-Erfinder und Weltensucher, der mit ihr zusammen eine fulminante Indienreise in einem Glamour-Hippie-Bus vorbereitete, und gegen ein Leben im Gefolge der Stones. Als Brautgeschenk erhielt sie einen mit ausgefallensten Details ausgestatteten Mercedes-Bus für zwei Luxus-Freibeuter.

Uschi verließ Keith Richards bei Nacht und Nebel in Chicago und läutete eine neue Lebensphase für sich ein, ein Ereignis, über das Richards zunächst schier verzweifelte. Derweil ist Uschi schon unterwegs auf ihrer abenteuerlichen Weltensuche, die sie auf dem Landweg von Hamburg aus nach Indien führt. Das alles begleitet von einem großen medialen Echo in Deutschland. Richards, dem man später zutrug, dass Uschi auf ihrer Indienreise verstorben war, glaubte sie danach acht Jahre tot …

Mein Film trägt nun den schönen Namen »Topanga Wildlife«

Über Monate habe ich alles, was ich liebe und was mir hier, in meiner zweiten Heimat, an Zauberigem, Schrägem, Witzigem und Erstaunlichem vor die Linse kam, festgehalten: Im Hintergrund »meine« Landschaft in ihren verschiedenen Lichtern und Stimmungen, den Grün-, Blau- und Brauntönen, den Nebelfeldern, die morgens manchmal wie ein großer See unter mir liegen, aus dem vereinzelt ein paar Bergspitzen emporragen. Je nach Jahres- und Tageszeit kommen andere Farbnuancen und -spiele dazu. Dazu diese auch nach all den Jahren, die ich hier lebe, für mich immer noch unglaubliche kalifornische Sonne. Wie sie da zwischen den Blättern meiner Eukalyptus- und Pfefferbäume herumspielt und in den Falten der Canyons tanzt, als wollte sie jeden Tag aufs Neue eine Riesenparty für das Leben – und nur das – feiern.

Eher selten kommt Regen vor, sehr selten. Das ist hier wirklich ein Dauerthema, das sehr ernsthaft diskutiert wird, ähnlich den Präsidentschaftswahlen oder wenn ein schwarzer Junge von einem Rassisten erschossen wird. Doch zurück zum Regen: Wenn es dann mal tröpfelt oder sogar aus Eimern schüttet, dann ist das ein Großereignis, vergleichbar einer Sintflut oder zumindest eines rainstorms. Tatsächlich heißt es dann in den Nachrichten ganz bedeutungsvoll »Sturmwarnung«, wenn der Moderator mit ernster Miene einen stinknormalen Regen ankündigt. Meine europäischen Freunde, die hier leben, und ich lachen zwar darüber, aber insgeheim nehmen wir diese »Stürme« natürlich auch sehr ernst. Erstens sind wir ja mittlerweile hier alle angekommen. Und dann sind sie ein echtes Ereignis in diesem von Sonne gesegneten Land, nicht nur in meinem über alles geliebten Wunschort Topanga, in dessen Hügeln übrigens viele Kreative, Musiker, Leute vom Film oder aus den schönen Künsten leben. Das Hinterland von Los Angeles ist nach wie vor eine Art magischer Anziehungspunkt für viele Neo-Hippies, getreu der Tradition, dass hier in den sechziger Jahren die »Ur«-Hippies in Holzhäusern und Caravans im Canyon lebten. Wobei das für mich nie eine Rolle spielte; ich bin hier einfach eines schönes Tages gelandet. Es war Bockhorn, der Topanga damals »entdeckte«, wie so vieles andere in unseren gemeinsamen Jahren auch …

Tatsächlich braut sich …

… an unserem dritten Tag am Himmel etwas zusammen. Uschi wird richtig nervös. Wir sind für heute fertig und vereinbaren einen Termin für den nächsten Tag. Ich frage, was los ist.

»Ich muss dringend heim. Es regnet gleich.«

»Hast du die Fenster offen gelassen oder machst du dir wegen der Hunde Sorgen?«, frage ich.

»Nein«, winkt sie ab und stürmt davon, ihr Auto zu holen, »das Geräusch von Regen auf meinem Dach ist so toll. Das muss ich hören …«

Und weg ist sie, auf dem Weg in ihr Eulennest oben in den Canyons. Hier fühlt sie sich also geborgen, vor allem wenn der Regen laut und monoton gegen den metallenen Kamin prasselt und sie auf ihrem Sofa gemütlich eine Pfeife raucht. Uschi im Wunderland.

Mein Film

Vor dem sich immer wieder neu zusammensetzenden Canyon-und-Berge-Setting aus Formen, Farben und Lichtern kommen dann endlich meine Haupt- und Nebendarsteller ins Bild: Das sind in the order of appearance Vögel, Eidechsen, Kojoten, Rehe und andere Wesen mit vier Beinen oder auch ohne, meine Pepis (Sammelname für meine Eidechsen), manchmal ich als Pepi-Dompteuse (mit selbst entwickelter Dressur) und natürlich Pfefferbäume, oder je nachdem auch in anderer Reihenfolge.

Ich muss manchmal echt lachen: Wenn meine Mutter wüsste, dass ihre Tochter heute ausgerechnet in einem Land lebt, in dem der Pfeffer wächst. Wie oft hat sie ihrer widerborstigen, trotzigen »Ursula«, die abends Türen schlagend aus dem Haus stürmte, um auf die Piste zu gehen und sich in den Schwabinger Clubs unter Diskokugeln auszutoben, mehr als einmal wütend und frustriert nachgerufen, sie solle doch gefälligst dahin gehen, wo der Pfeffer wächst …

Was soll man auch tun mit einem Kind, dem es egal ist, wenn es mit seinen Freundinnen in der Trambahn als Nutte beschimpft wird, nur weil sie Miniröcke tragen? Dazu kamen die wilden Jungs und Musiker der Bands, die Lust auf mich bekamen, wenn sie mich beim Tanzen sahen, und mit denen ich dann nachts weiterzog … Meine arme Mutter schwitzte sicher mehr als einmal Blut und Wasser und schämte sich für mich. Sie musste sich noch so viel mehr schämen in den nächsten Jahren …

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Ein Pepi

Mit meinem unstillbaren Hunger …

… nach Leben, nach Bewegung, Freiheit und Musik konnte sie leider nichts anfangen. Er widerstand ihr, machte sie wütend. Was nahm ich mir da eigentlich heraus? Was ich denn glaubte, wer ich bin …? Sie verstand nicht, wie mich das Leben bei uns daheim, in der Schule, der Lehre bedrückte. Wie es mich würgte und mit seiner Dumpfheit, Langeweile und Grobheit abstieß. Warum war ich zum Teufel nicht so wie die anderen Mädchen, die nichts anderes im Kopf hatten als eine ordentliche Ausbildung zur zukünftigen Mutter und Hausfrau und dann als Krönung einen anständigen Mann zu heiraten, der sie versorgte und dafür bestimmen durfte, wo es Tag für Tag langging?

Warum ich das nicht wollte? So ein reizvolles Leben? Instinkt, würde ich sagen, Überlebensinstinkt. Nein, ich weiß nur, was ich damals gefühlt habe: raus aus dieser Enge und diesen engen Vorstellungen, sobald es ging und so schnell wie möglich. Dass es ausgerechnet über meine Entdeckung als Fotomodell lief und dann über meinen skan-da-lö-sen Lifestyle in den Kommunen in Berlin und München, gab dann meiner Mama wie auch dem Großteil der übrigen Familie den Rest. Es war nicht nur zu viel, es war viel zu viel. What a shame!

Erst viel, viel später konnte meine Mutter mich, meinen Beruf und meine Entwicklung anerkennen. Das war fast zwanzig Jahre nachdem ich als ziemlich erfolgreiches Model Deutschland verlassen hatte. Nachdem ich Indien und Amerika in einem Hippie-Bus bereist und nachdem ich am Ende meinen Lebens- und Reisegefährten Dieter Bockhorn verloren hatte. Als ich vor dem Nichts stand, kein Geld mehr hatte, nur noch wenige Jobs. Nicht nur in den Augen meiner Mutter, sondern auch in denen der Öffentlichkeit war ihre Tochter völlig am Ende nach jenem Silvester, als Bockhorn seinen tödlichen Unfall hatte. An diesem Tag, als mein ganzes buntes Leben, ein Happening voller unvergesslicher Eindrücke, Begegnungen mit unglaublichen Menschen, Reisen, Bildern, Liebe, Spaß und Musik, von einem Tag auf den anderen beendet schien. Kaum einer glaubte damals daran, dass ich danach wieder aufstehen konnte …

Es sollten weitere Jahre vergehen, in denen ich mich aufrappelte, mir eine neue Existenz aufbaute und meinen Platz hier in den Bergen von Los Angeles fand. Im Spätherbst 1988 war es dann endlich so weit: Meine Mutter besuchte mich – die verlorene Tochter – mit ihrem zweiten Mann Hans hier, und ich konnte ihnen »mein« schönes Land zeigen. Das war der Zeitpunkt, an dem sie endlich ein bisschen stolz auf mich war und das, was ich in der Zwischenzeit erreicht hatte. Ein unabhängiges Leben führen an einem Ort, der für mich das Paradies ist, mit meinen Tieren und guten Freunden. Nun, es war eben alles anders gekommen. Ich bin nicht untergegangen, war nicht verloren. Offensichtlich verfüge ich über die Fähigkeit, mich auch aus ausweglos scheinenden Situationen wieder herauszuziehen (sagt mein Therapeut). Deshalb ist meine Geschichte nach der vom wilden Leben eine vom Hinfallen und Wiederaufstehen. Vielleicht ist es auch eine vom Abstürzen, vom Nichts und vom Sich-neu-Erfinden.

Zum Schluss war meine Mama sicher sogar mehr als ein bisschen stolz auf mich. Wenn sie noch leben würde, dürfte sie sogar richtig froh darüber sein, dass ihr ungezähmtes Kind auch noch relativ weich in ihrem ganz persönlichen, pfefferbaumgesäumten Paradies gelandet ist.

Uschi und wie sie die Welt sieht

Das Kleine, Alltägliche beobachten und festhalten. In dieser Lebenshälfte geht es ihr gar nicht um Älterwerden in Würde oder Anmut, nun, vielleicht ein wenig. Es geht um den Lebensbogen einer Frau, die von Sternen geküsst wurde, und zwar nicht von den hellen, strahlenden, sondern den irisierenden, dunklen. Die, welche die dunkle, sich immer wieder entziehende Lilith der sanften, gezähmten Eva vorzogen – oder zumindest eine gewisse Zeit lang. Eine Frau, die in ihrer Schönheit, ihrer Unabhängigkeit, ihrer selbstbestimmten Sexualität und ihrem Ausdruck so einzigartig war (und ist), dass sie für eine ganze Generation von Männern und Frauen zum Sehnsuchtsobjekt und zur Identifikationsfigur wurde. Solche Züge eines starken Charakters ziehen andere starke, intensive Typen an und machen schwächeren Gemütern Angst (obwohl das schwer zu verstehen ist, wenn man sie lachen hört und mit ihren Hunden herumtollen sieht).

Uschi brach nach einer Kindheit in einem der damaligen Glasscherbenviertel Münchens bei ihrer alleinerziehenden Mutter und der schillernden Familie des lebenslustigen, egozentrischen Vaters auf in die Welt. Vorher hatte sie gezwungenermaßen noch eine Lehre als Fotoretuscheurin absolviert. Jetzt blätterte sich wie im Märchen die Geschichte vom schönen Mädchen aus einfachen Verhältnissen und mit einer fast unersättlichen Liebe auf Leben, Liebe und auf Rock ’n’ Roll auf. Noch als Jugendliche und mitten in der ungeliebten Lehre steckend, wird sie im Münchner Stadtteil Schwabing als Model entdeckt. Fortan gehört sie zu den schönsten Gesichtern (und Körpern) der Welt. Fotokünstler wie Werner Bokelberg, Hans Feurer, Helmut Newton, Richard Avedon oder Peter Lindbergh porträtieren sie. Sie reist viel, lebt einige Zeit in der Musikkommune Amon Düül, die berühmt war für ihren für deutsche Verhältnisse abgefahrenen psychedelischen Sound. Wenn sie nicht vor der Kamera steht, schwingt sie für die Amon Düüls die Maracas und erlebt, wie sich in Deutschland neue Ausdrucksstile entwickeln, welche die Politik, die Kunst, die Musik und das soziale Miteinander durchdringen. Drogen gehören dazu, sind eine Selbstverständlichkeit.

Legendär ist schließlich der Titel »Das schönste Gesicht der 68er-Revolution«, der ihr in der Zeit der Beziehung mit Rainer Langhans in der Kommune 1 verliehen wird. Ihn hat sie 1968 auf den Essener Songtagen kennengelernt und ist begeistert davon, dass die Kommunarden nicht nur wie eine Rockgruppe aussehen (gut, nicht alle), sondern auf schräge, ironische Art Antipolitik machen. Das Puddingattentat auf den amerikanischen Präsidenten Humphrey in Berlin geht durch die Presse ebenso wie die ironische Replik des Urkommunarden Fritz Teufel »Wenn’s der Wahrheitsfindung dient«, als er bei einer Gerichtsverhandlung aufgefordert wird, sich zu erheben.

Nach einem Studiobesuch mit Amon Düül in Berlin bleibt sie bei Langhans, in dessen Lockenpracht, Intelligenz und Liebenswürdigkeit sie sich verliebt. Mit ihm lebt sie in der Kommune und mischt hier mit den anderen Genossen das Nachkriegskleinbürgertum in Deutschland auf. Dabei tut sie nicht viel, und wenn, dann wenig mit Absicht.

Sie ist kein Model, das um Honorare feilscht, sondern sagt einem Job nur zu, wenn er ihr gefällt. Sie »lässt sich fotografieren« in dieser ihrer Haltung, einer Mischung aus Bardot und Raubtier, beim Jointdrehen, bei all den Sachen, bei denen sich normalen Menschen die Nackenhaare aufstellen. Und so nahbar sie sich gibt und ihre nackte Haut zeigt, so unberührbar, verführerisch und geheimnisvoll lässt sie ihre Betrachter zurück. Seit Ende der sechziger Jahre schmückt sie die Cover der wichtigsten internationalen Modemagazine und gehörte neben Veruschka von Lehndorff zu den ersten Topmodels aus Nachkriegsdeutschland. Zugleich wird sie zum Symbol von Jugend und Aufbruch: Uschi war und ist ein einzigartiger Mix aus Superstar, Wunschbild, Sexsymbol, Rebellin, Kommunardin, Geliebte von Musiker-Ikonen, selbst Ikone, Inspiration und Neidobjekt. Bis heute ist sie eine Reisende, Suchende und das Leben Liebende.

Glück, was ist das schon? Mit Geld hat es nicht so viel zu tun, auch wenn es hilfreich ist und das Leben manchmal einfacher macht. Aber eine Umgebung, die zu einem passt, die Struktur hat, und ein Alltag und ein Leben mit einer Struktur, das ist ein echter Glücksbaustein. Und natürlich Menschen und Tiere, die man liebt und die einen zurücklieben, zumindest wenn man zuverlässig ihre Futternäpfe vollmacht.

Meine kleine Pepis-&-Friends-Doku gefällt …

… auf jeden Fall Freunden und Bekannten. Und das sagen sie nicht, weil sie mich mögen. Nein, meine Freundin Antje nannte mich neulich liebevoll scherzhaft Mrs. Grzimek von Topanga. Das schmeichelt mir selbstverständlich, auch wenn ich definitiv eine tiefere Stimme habe als der gute Herr Professor und er auch kein Bayerisch konnte, soviel ich weiß. Außerdem bin ich mir nicht sicher, ob Mr. Grzimek auch so ein Faible für Eidechsen hatte.

Nein, im Ernst, es ist einfach so, dass mich das Verhalten auch von angeblich unansehnlichen und unheimlichen Tieren wie Reptilien oder Insekten ebenso packt, anrührt und die Neugierde in mir weckt wie das von wilden Tieren. Ich komme ja väterlicherseits aus einer Familie, die zwar nicht besonders warmherzig war, dafür aber kreativ und bildnerisch begabt. Schon als Kind war ich regelrecht aufs Zeichnen versessen. Da konnte ich still sitzen. Beim Zeichnen und Malen muss man zuerst beobachten, lange und gründlich hinschauen. Dann formt sich vor dem inneren Auge ein Bild und manchmal auch eine Wunschvorstellung. Zu meinen Lieblingsmotiven gehörten damals neben Palmen, Meer und exotischen Menschen aus fremden Ländern auch Wildkatzen. Ganze Serien von Tigern, Löwen und Leoparden habe ich mit Bleistift auf Papier gebracht. Ich erinnere mich an einen selbst gemachten Raubtierkalender. Vielleicht gerade die Sorte Wesen, die die Portion Wildheit verkörpert, an der das Leben in den fünfziger Jahren im stickigen, grauen Einerlei im Münchner Stadtteil Sendling so arm war. Alles Ungezähmte, Unberechenbare, Exotische war faszinierend für mich und wurde mir in meinen Träumen zu einem Fenster zu einer Welt, die ich später auch im echten Leben entdecken wollte.

Auch als ich knapp vier Jahrzehnte danach begann, meinen Schmuck zu entwerfen, standen Insekten, Reptilien und andere Naturschönheiten Pate für ganz besondere Stücke. Die verkaufte ich übrigens auch mit Erfolg, obwohl diese beauties im richtigen Leben wirklich nicht jedermanns Sache sind. Ich dagegen liebe sie, weil sie so ungewöhnlich schön und frei sind und so konsequent ihr Leben leben. Freiheit ist (neben Liebe und Neugier und Schönheit und Natur) ein so großes Thema für mich, und der bedingungslose Anspruch darauf zieht sich wie ein roter Faden durch mein Leben.

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Schmuckstücke (© Peter Lindbergh)

Freiheit war für die Menschen …

… in meiner Kindheit ein rotes Tuch. Mein Vater nahm sich zwar alle erdenklichen Freiheiten heraus, für mich war das aber nicht vorgesehen, genauso wenig wie für meine Mutter. Trotzdem entwickelte sie manchmal eine regelrechte Wut, ja, einen Hass auf meine Freiheit, die ich mir für ihre Begriffe so einfach nahm. Das war etwas, was ihr nicht zustand, warum dann mir? Ich sollte lieber durchschnittlich werden, nicht auffallen, mir ja nichts einbilden und bloß nichts vom Leben wünschen, was ich nicht verdient hätte. Den Kopf brav senken, lieb sein, dankbar sein für das Leben, das einem der liebe Herrgott inklusive Schicksal und Erbsünde bestimmt hat.

Nein, das war nicht meines. Nicht, dass ich glaubte, ich wäre viel besser als die anderen Mädchen in meinem Alter oder meine Freundinnen. Aber bei dieser Ansage bekam ich regelrechte Erstickungsanfälle. Wer wollte über mich bestimmen und warum? Warum sollte ich so ein kleines enges Leben führen? Für wen? Warum? Also nahm ich mir genau das Gegenteil davon, was für meine Mama und die anderen einfach undenkbar, wild und gefährlich war. Und vor allem: So auffällig! So ausgschamt. Und später auch noch: So nackt! Was würden dazu bloß die Nachbarn sagen? Und die Nachbarn von den Nachbarn? (Ich gehe mal davon aus, dass die sich wie die anderen auch heimlich den Playboy gekauft haben.)

Heute denke ich, weiß ich, dass sie wahrscheinlich Angst um mich hatte. Vielleicht wollte sie mich vor Enttäuschungen bewahren und konnte mir dies nicht anders beibringen als durch Verbote und noch mehr Verbote. Denn sie selbst war in ihren jungen Jahren ja schon sehr, sehr enttäuscht worden. Leider habe ich bei ihr auch etwas anderes gespürt, eine Ablehnung, eine Kälte. Sie konnte mich nicht richtig lieben, das spürte ich. Doch warum?

Natürlich war es für sie schwierig, wie für alle aus dieser Elterngeneration, die als Kinder in einen Krieg geboren worden waren und nur Unfreiheit, Gewalt, Knappheit, Lüge und falsche Helden kannten. Diesen Menschen war in den Fünfzigern dann wichtig, dass ja alles gut nach außen ausschaut und die Nachbarn nichts zum Lästern und Luren haben. Man sprach nicht über Ängste und Gefühle. Man packte alles irgendwie, Zähne zusammenbeißen, und dann geht’s schon. Das Leben war kein Fest, sondern ein Kampf. Außerdem hatte meine Mutter schon ihren Makel, oder zumindest empfand sie es wahrscheinlich so. Richtig gesprochen haben wir nie über diese Zeit, meine Kindheit und Jugend mit ihr und wie es uns miteinander ging in unserer Sprachlosigkeit, auch nicht, als wir uns in ihren letzten Lebensjahren wieder ausgesöhnt haben. Denn es sollte zu einem schlimmen Bruch zwischen uns kommen.

Wenn ich mir die alten Fotos von ihr ansehe, dann sehe ich eine elegante dunkle, sinnliche Schönheit, eine Dame mit traurigen Augen und einem schönen Mund und offenbar Prinzipien, trotz ihrer Jugendsünde, der Liebe zu Max Obermaier. Ja, sie hatte eine Wahnsinnsdisziplin, wie sie mit allem umgegangen ist, die hat sie auch von mir erwartet. Leichtigkeit hat sie sich verboten – wie mir ja auch. Trotzdem bin ich heute stolz auf das, was ich von ihr geerbt habe. Ohne diese Disziplin hätte ich nie so erfolgreich sein können. Und meine Ordentlichkeit ist legendär … Ich war ja lange davon überzeugt, dass ich eher meinem Vater nachgeschlagen bin als meiner Mutter. Erst in späteren Jahren habe ich entdeckt, dass ich in manchen Dingen auch viel von ihr hatte. Das konnte und wollte ich lange nicht akzeptieren. Heute bin froh darüber und finde es zum Beispiel sehr nützlich und gut, dass ich jetzt so auf meine Dinge achte und eine Struktur habe. Ordnung: Das war ja ein Wort, das ich als Kind und als junge Frau regelrecht gehasst habe. Vor allem wenn es aus dem Mund meiner Mama kam. Aber jetzt sehe ich es als value, als etwas Wertvolles, Gutes. Viele Leute sind so zerfleddert, so verloren in ihrem Leben. Mir ist aber wichtig, dass ich den Überblick behalte, meine Sachen ansehe und das, was mir wichtig ist. Ich will Kontrolle über mein Leben haben, nichts einfach nur laufen lassen, dabei aber offen für Neues bleiben. Diese Strukturen helfen mir dabei. Dabei sind das alles Züge, die waren mir früher so egal. Das war alles, bloß nichts Erstrebenswertes. Heute hilft es mir, mein Leben und meinen Alltag schöner zu machen.

Immer wieder: die Geschichte meiner Mutter

Wie wirken die Leben unserer Eltern auf uns, selbst wenn wir schon älter sind? Sie wirken in jede Beziehung, die wir im Leben eingehen. Das weiß ich heute: Vor einigen Jahren, als ich die sehr schmerzhafte Trennung von meinem langjährigen Lover zu verkraften hatte, der ohne ein Wort von einem Tag auf den anderen aus meinem Leben verschwand, begann ich eine Gesprächstherapie. Durch sie lernte ich, mir diese Muster anzuschauen und wie sie in meine Beziehungen hineinwirken. Dabei war diese Beziehung von Anfang an anders, da wir nie zusammenlebten. Er war beruflich immer ziemlich eingespannt und steckte außerdem in einer Ehe. Trotzdem gehört die Zeit mit zu dem Kostbarsten in meinem Leben, und ich habe kaum einen Mann so sehr geliebt und begehrt wie ihn; doch auch dieser Mann ließ mich letztlich alleine. Genau so, wie mich mein Vater verlassen hatte – immer wieder.

Mein Lover lebt in einer festen Beziehung und möchte aus Rücksicht auf seine Familie nicht genannt werden. Das respektiere ich, auch wenn es mich schmerzt. Ich habe lange überlegt, wie ich mit ihm als »Thema« in diesem Buch umgehen soll, ob ich ihn nicht einfach »weglassen« soll. Da er aber einer der wichtigsten und auch inspirierendsten Menschen in meinem Leben war und es irgendwie auch noch ist, bleibt er einfach namenlos und »mein geliebter Feigling«.

Die Therapie war ein Riesenschritt für mich. Ich hatte mein ganzes Leben lang die Dinge, die schwierig oder hart für mich waren, mit mir selbst und meinen Freunden ausgemacht. Mein Therapeut Doug zeigte mir, wie ich die Fenster in die Vergangenheit öffnen kann. Das ist zwar nicht immer angenehm und tut auch manchmal richtig weh, aber ich lerne viel über meine Verletzungen und Grenzen. Er zeigt mir, wie ich darüber sprechen kann, wie ich über Gefühle sprechen kann, die ich lieber in mir versperrt habe. Mit einem fremden Menschen über Gefühle zu sprechen ist sehr schwierig für mich, da ich das nie richtig gelernt habe. Erst in der Kommune mit Rainer ging das ein bisschen los. Da habe ich gelernt, Empfindungen zu benennen. Wobei es mir bis heute viel leichter fällt, meine Emotionen körperlich oder auch kreativ auszudrücken, beim Tanzen, beim Sex, beim Zeichnen, beim Filmen. Das trifft es oft viel genauer als Worte.

Doug zeigt mir auch, warum ich nie hundertprozentig in eine Beziehung hineingehen kann, obwohl ich tausendprozentig liebe.

Meine Mama also: eine schöne Frau, gelernte Sekretärin. Zurückhaltend, diszipliniert, mit einer großen Fähigkeit, sich zusammenzureißen, dabei aber ausgestattet mit üppigen Formen und einem sinnlichen Mund und wahrscheinlich doch einer großen Portion Leidenschaft. Sie verliebt sich Hals über Kopf in einen drei Jahre Jüngeren, damals Achtzehnjährigen. Ein sexy Typ mit schicken Klamotten, tollen Autos, blitzenden Augen und aus einer »besseren« Familie. Jetzt, nach dem Krieg, da ging endlich wieder etwas los für diese Generation, die um ihre Jugend betrogen worden war. Sie hörten amerikanische Musik, was ja endlich erlaubt war, gingen zum Tanzen, hatten Sex.

Dann ist plötzlich Schluss mit der Party, weil sie schwanger ist mit einem Kind der Liebe, mir. Es folgt die Mussheirat, weil es damals auch in weniger katholischen Haushalten einfach undenkbar war, ein uneheliches Kind auf die Welt zu bringen. Das verlangte die Obermaier-Familie ebenso wie die meiner Mama. Tatsächlich heirateten sie, als sie schon im dritten Monat schwanger war, und ich kam fünf Monate später auf die Welt.

Das war es dann für sie mit der großen Liebe – zumindest erst einmal, denn Jahre später sollte da noch ein anderer des Wegs kommen, den ich am Anfang ganz furchtbar fand. Und wie verliebt sie anfangs gewesen sein muss in diesen tollen Max Obermaier. Wie hätte sich die Brave sonst Hals über Kopf in eine Affäre gestürzt, die für sie eine große Liebesgeschichte war und für ihn wahrscheinlich nur eine heiße Nummer? Die Zeit mit ihm gab ihrem Leben Schillern, Farbe und Leidenschaft inklusive bittere Folgen. Denn sie war und blieb in der neuen Familie nur die Eingeheiratete, eine, die nicht dazugehörte. Meine Obermaier-Verwandtschaft bildete sich einiges auf ihre Herkunft ein, und meine Mama stammte »nur« aus einfacheren Verhältnissen. Dabei besaß sie unglaublich viel Stil und noch mehr Disziplin. In letzter Hinsicht jedenfalls mehr als mein damals von mir heiß geliebter Vater.

Und sie war auch für mich da, selbst wenn ich das damals ziemlich ignorierte, so besetzt war ich von meiner Sehnsucht nach meinem Vater. Aber eben auf eine Weise, die sehr kühl war. Ich kann mich nicht erinnern, dass mich meine Mama mal in den Arm oder auf den Schoß genommen oder mir irgend so ein endearment thing gezeigt hätte. Ich kann mich einfach nicht daran erinnern. Aber vielleicht hat sie es auch getan …

Sie sorgte auf ihre Art und Weise für mich, indem sie zum Beispiel sehr darauf achtete, dass ich immer gut gekleidet war, obwohl wir kaum Geld hatten. Als ich noch klein war kurz nach dem Krieg, als es ja nichts gab, hat sie mir zum Beispiel aus irgendeinem alten Pullover mit dem bayerischen Karomuster Kniestrümpfe gemacht. Dass sie mich nett anzog, war ihr wichtig und ein Zeichen ihrer Liebe. Dann bekamen wir auch Komplimente von den Leuten in der Straßenbahn. Wo ich diese schönen Sachen herhabe und so. Überhaupt hat sie mir viel genäht und schöne Kleider gemacht. Dass ich nur auf »Mein Papa, mein Papa, mein Papa …« aus war, das war schon ungerecht von mir, aber ich habe so vieles damals noch nicht durchschaut. Wie auch?

Er war der Held, und dieses Muster, dass ich einen Mann umso mehr liebe, je weniger ich ihn um mich habe und je öfter ich ihn entbehren muss, das ist bis heute so. Mein Vater hat mir zum Beispiel nie etwas zum Geburtstag geschenkt, weil er den immer vergessen hatte. Ich musste ihn richtig bearbeiten, damit er mir mal etwas Schönes mitbrachte. Aber dann hieß es immer: »Ich kann jetzt nicht, weil, ich habe gerade meine Steuern zahlen müssen …« Aber seinen Freundinnen hat er immer große Geschenke gemacht, das sah ich schon. Irgendwann einmal hat er mir ein rotes Kleid gekauft. Eigentlich war das gar nicht so mein Fall, weil das so einen weißen, braven Bubi-Kragen hatte. Aber es war von meinem Papa. Also war es das allerschönste Kleid überhaupt. Dass meine Mama da saß und abends nach ihrer Arbeit die Kleider für mich genäht hat, das hatte ich da ganz schnell vergessen.

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Mama

Dass er mich schon als Kind ignoriert hat, selbst das habe ich ihm später verziehen. Ach, Mann, der war neunzehn. Als ich ihm das vergeben hatte, war ich schon längst über das Alter raus. Ich habe mir gesagt: »Guck doch dich an, wärst du jetzt eine gute Mutter gewesen mit neunzehn?« Wohl kaum. Da ist ja noch die Sturm-und-Drang-Zeit, da will man ja alles und kreist ja nur um sich selbst.

Und ich habe meinen Vater auch schon früher in Schutz genommen. Das waren die Zeiten, als im Dezember der Nikolaus gekommen ist und ich noch ernsthaft daran geglaubt hatte. In Bayern kommt der Nikolaus ja immer mit dem Krampus. Das ist echter Terror. Der stand dann da mit der Kette an der Tür, bis du innerlich zu Eis erstarrt bist und nur gehofft hast, dass du nicht in den Sack kommst, weil du ein böses Kind bist. Ein böses Kind. Wann ist ein kleines Kind böse? Aber mein Vater, der hätte wirklich in den Sack gehört vom Krampus. Das habe ich irgendwie gespürt. Irgendwie war das etwas an ihm, das nicht gut war, auch wenn ich mir das damals nie offen eingestanden hätte. Also habe ich den ganzen Abend, solange Nikolaus und der Krampus da waren, nur Angst um meinen Vater gehabt.