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»Mir fehlt etwas, wenn ich keine Musik höre, und wenn ich Musik höre, fehlt mir erst recht etwas. Dies ist das Beste, was ich über Musik zu sagen weiß.« Robert Walser liebte die Musik, wenn auch in »sanfter Traurigkeit«. Sein Werk ist getragen von einer großen Affinität zu vielerlei Klangwelten und zur spielerischen Musikalität des eigenen Schreibens.

 In seinen hier versammelten Erzählungen, Gedichten und Prosatexten finden sich zahlreiche verblüffend luzide Überlegungen zur Musik, zu einzelnen Komponisten, Musikern und Werken.

 Walser wäre indes nicht Walser, wenn zu seinem Begriff der Tonkunst nicht auch die komischen Seiten des musikalischen Lebens gehörten: »Der Vater … setzt sich ans Klavier und gibt damit das Zeichen, daß Musik zu erwarten sei, die sich alsbald für den einen mehr, den andern weniger bemerkbar macht.«

 

Robert Walser (1878-1956) absolvierte eine Banklehre und arbeitete als Commis in Banken und Versicherungen in Zürich. Seine ersten Gedichte (1898) ließen ihn rasch zu einem Geheimtipp werden und verschafften ihm Zugang zu literarischen Kreisen. In rascher Folge publizierte er nun drei Romane. Infolge einer psychischen Krise geriet Walser Anfang 1929 gegen seinen Willen in die Psychiatrie, deren Rahmen er nie mehr verlassen konnte.

 Roman Brotbeck, Musikwissenschaftler und Forscher an der Hochschule der Künste Bern, ist führend im Bereich der Robert-Walser-Vertonungen und arbeitet an einer Monographie zu diesem Thema.

 Reto Sorg leitet das Robert Walser-Zentrum in Bern und unterrichtet an der Universität Lausanne.

 

 

ROBERT WALSER

»DAS BESTE, WAS ICH
ÜBER MUSIK ZU SAGEN WEISS«

Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von
Roman Brotbeck und Reto Sorg
unter Mitarbeit von Gelgia Caviezel

Insel Verlag

 

 

Mit Unterstützung durch die Hochschule der Künste Bern und in Zusammenarbeit mit der Camerata Bern

 

 

 

eBook Insel Verlag Berlin 2015

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4420.

Originalausgabe

© Insel Verlag Berlin 2015

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Textnachweise und Anmerkungen zu dieser Ausgabe am Schluss des Bandes

Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn

Umschlagabbildung: © Keystone/Robert Walser-Stiftung Bern

Umschlag: hißmann, heilmann, hamburg

 

eISBN 978-3-458-74398-9

www.insel-verlag.de

INHALT

Bangen

Bierszene

Laute

Klavier

Musik

Brentano. Eine Phantasie

Der Schuß. Eine Pantomime

Simon. Eine Liebesgeschichte

Im Mondschein

Lustspielabend

Knabenliebe

Lebendes Bild

Kuhstall

Don Juan

Paganini. Variation

Paganini

Der Handharfer

Tannenzweig, Taschentuch und Käppchen

Der Mann

Die Handharfe

Die Kapelle

Die Sonate

Maler, Dichter und Sängerin

Sommernacht

Erinnerung an »Hoffmanns Erzählungen«

Das Seestück

Der fahrende Sänger

Schneien

Chopin

Der alte Bernermarsch

Hohe Oper

Klopfen

Wenn mich meine Freundin, was sag' ich Freundin, ich muß schon Ideal sagen

Das Porzellanfigürchen

Konzert

Ich nannte mich Tannhäuser

Mozart, so hieß ein Musikus

Ein sowohl auf's Dunkelbraunste

Gerda

Ich will in diesem zunächst bescheidenen, gleichsam dünnen und kleinen Memorandum

Über eine Opernaufführung

Das Mädchen mit dem Essay

Glosse zu einer Premiere von Mozarts »Don Juan«

Ich wohnte einem Konzert bei

Die Dame am Klavier

Ich schaute den Neunte Symphonie-Dirigenten … sehr eingehend an

Sie besuchte das Konservatorium

Alles, was man sich unter Nachtigallen vorstellt

Er war zu schwach

Montag früh ist's

Noch vor einer halben Stunde

Worte über Mozarts »Zauberflöte«

Frühe schon gewöhnte man

Eben sprang aus einem Verlagshaus ein Buch heraus

Stück ohne Titel (II)

Über zwei kleine Romane

Das Konzert

Kleinstadt

Familienleben

Die schöne Nacht

 

Nachwort

Textnachweise

»DAS BESTE, WAS ICH ÜBER MUSIK ZU SAGEN WEISS«

 

BANGEN

Ich habe so lang gewartet auf süße

Töne und Grüße, nur einen Klang.

 

Nun ist mir bang; nicht Töne und Klingen,

nur Nebel dringen im Überschwang.

 

Was heimlich sang auf dunkler Lauer:

Versüße mir, Trauer, jetzt schweren Gang.

 

(1899)

BIERSZENE

Einer scherzte mit der Kellnerin.

Einer stützte müde seinen Kopf.

Einer spielte seelenvoll Klavier.

Einem brach das Lachen aus dem Mund.

Einem schoß das Dunkel durch den Traum.

Einem gab die harte Taste nach.

Einmal lief das schlanke Mädchen fort.

Einmal fuhr der blöde Träumer auf.

Einmal war das Spiel ein englisch Lied.

Ein verbuhlter Schwätzer, Tabakrauch,

ein erwachter Träumer, und ein Traum,

ein ermüdeter Klaviervirtuos.

 

(unveröffentlicht, bis spätestens 1900)

LAUTE

Ich spiele auf der Laute Erinnerung. Sie ist ein geringfügiges Instrument mit nur immer einem und demselben Klang. Dieser Klang ist bald lang, bald kurz, bald träge, bald hurtig. Er atmet in ruhigen Zügen, oder er setzt in einem hastigen Sprung über sich selber hinweg. Er ist traurig und lustig. Das Sonderbare ist nur, daß, wenn er schwermütig klingt, er mich lachen macht, daß, wenn er lustig ist und springt, ich dabei weinen muß. Gab es jemals solchen Ton? Wurde jemals auf so wunderlichem Instrument gespielt? Es ist kaum in die Hand zu nehmen, das Instrument; die Hände, selbst die weichsten und feinstgebildeten, sind zu rauh dafür. Es hat unaussprechlich dünne, zarte Saiten. Haare sind Halftern dagegen. Es gibt einen Knaben, der darauf zu spielen weiß; und ich, der ich Zeit habe, auf der Lauer zu liegen, ich horche ihm zu. Er spielt Tag und Nacht, ohne an Essen und Trinken zu denken, in die Nacht und in den Tag hinein. Vom Tag in die Nacht und von der Nacht in den Tag hinein. Die Zeit muß ihm nur dazu da sein, sie wie einen Ton an sich vorbeiwehen zu lassen. So wie ich auf ihn horche, den Spielenden, so horcht er, der Spieler, die ganze Zeit lang auf seine Geliebte, den Klang seines Instruments. Noch nie lag ein Verliebter so treu, so beständig auf der Lauer. Wie süß ist es, dem Lauernden aufzulauern, den Verliebten zu sehen, den Vergessenen an seiner Seite zu fühlen. Der Knabe ist Künstler, die Erinnerung sein Instrument, die Nacht sein Raum, der Traum seine Zeit; und die Töne, denen er das Leben gibt, sind seine eifrigen Diener, die von ihm reden in der Welt begierige Ohren. Ich bin nur noch Ohr, unsäglich ergriffenes Ohr.

(1901)

KLAVIER

Ich weiß nicht, wie der Bursche heißt, der das Glück hat, von einer so schönen und hoheitsvollen Klavierlehrerin Unterricht auf dem Flügel zu genießen. Jetzt eben ist er daran, sich von den schönsten Händen der Erde die Behendigkeit auf den Tasten beibringen zu lassen. Die Hände der Dame gleiten über die Tasten wie weiße Schwäne auf dem dunklen Wasser. Sie sprechen sehr anmutig schon aus, was hinterher die Lippen sagen. Der Knabe ist von einer Zerstreutheit umfangen, welche die Lehrerin nicht beachten zu wollen scheint. »Spielen Sie das«; aber er spielt es unbeschreiblich schlecht. »Spielen Sie es noch einmal«; aber er spielt es noch schlechter als zuvor. Nun, es muß noch einmal gespielt werden; aber er spielt es schlecht. »Sie sind träge.« Er weint, dem dies gesagt wird. Sie lächelt, die dies sagt. Er liegt mit dem Kopf auf dem Klavier, der sich das muß sagen lassen. Sie streichelt ihm das braune weiche Haar, die ihm dies hat sagen müssen. Nun küßt der Bursche, der unter der Liebkosung aus seiner Scham erwacht, die zärtliche Hand, die sehr vornehm und weiß ist. Nun umschlingt die Dame den Hals des Knaben mit ihren herrlichen Armen, die sehr weich und zu einer Umarmung die rechten Zangen sind. Nun läßt sich die Dame küssen und nun erliegen die Lippen des lieben Burschen einem Kuß der freundlichen Dame. Nun haben die Knie des Geküßten nichts Eiligeres zu tun, als wie umfallende Grashalme zusammenzusinken, und die Arme des Knienden nichts Einfachers, als wieder die Knie der Dame zu umarmen. Der Dame Knie schwanken ebenfalls und nun sind beide, die gütige, schöne Dame, und der einfache arme Knabe, eine Umarmung, ein Kuß, ein Zusammensturz, eine Träne – und was mehr ist: eine unerwartete schreckliche Überraschung für jemanden, der in diesem Augenblick die Türe des Zimmers öffnet, was sowohl der Süßigkeit von der beiden vergessener Liebe, als der Erzählung davon ein Ende bereitet.

(1901)

MUSIK

Musik ist mir das Süßeste auf der Welt. Ich liebe Töne unaussprechlich. Ich kann, um einen Ton zu hören, tausend Schritte springen. Oft, wenn ich im Sommer durch die heißen Straßen gehe und aus einem unbekannten Hause ein Klavier tönt, stehe ich still und meine, an dieser Stelle sterben zu sollen. Ich möchte im Anhören eines Musikstückes sterben. Ich stelle mir das so leicht vor, so natürlich, und doch ist es natürlich wieder unmöglich. Töne sind zu zarte Dolchstiche. Die Wunden von solchen Stichen brennen wohl, aber es ist kein Eiter in ihnen. Wehmut und Schmerz träufeln statt des Blutes hervor. Wie die Töne aufhören, ist alles wieder ruhig in mir. Ich gehe dann an meine Schulaufgaben, zum Essen, zum Spiel und vergesse es. Klavier gibt mir den zauberischesten Ton. Mag auch eine Stümperhand spielen. Ich höre nicht das Spiel, nur den Ton. Ich kann nie ein Musiker werden. Denn ich würde es nie süß und trunken genug finden, Musik zu machen. Musik anhören ist viel heiliger. Musik stimmt mich immer traurig, aber so wie ein trauriges Lächeln ist. Ich möchte sagen: freundlich-traurig. Die lustigste Musik vermag ich nicht lustig zu finden und die schwermütigste Musik ist für mich keineswegs besonders schwermütig und entmutigend. Vor der Musik habe ich nur immer die eine Empfindung: mir fehlt etwas. Nie werde ich den Grund dieser sanften Traurigkeit erfahren, nie darnach forschen wollen. Ich wünsche es nicht zu wissen. Ich wünsche nicht alles zu wissen. Ich besitze überhaupt, so sehr ich mir intelligent vorkomme, wenig Wissensdrang. Ich glaube deshalb, weil ich von Natur das Gegenteil von neugierig bin. Ich lasse gern vieles um mich geschehen, ohne mich zu bekümmern, wie es geschieht. Das ist gewiß tadelnswert und wenig geeignet, mir im Leben zu einer Laufbahn zu helfen. Mag sein. Ich fürchte mich nicht vor dem Tode, also auch nicht vor dem Leben. Ich merke, ich gerate ins Philosophieren. Musik ist die gedankenloseste und deshalb süßeste Kunst. Rein verständige Menschen werden sie nie schätzen, aber sie wird gerade ihnen in Augenblicken, wo sie sie hören, am innigsten wohl tun. Man darf eine Kunst nicht begreifen und nicht schätzen wollen. Kunst will sich uns anschmiegen. Sie ist ein so überaus reines und selbstzufriedenes Wesen, daß es sie kränkt, wenn man sich um sie bemüht. Sie straft den, der ihr, indem er sie fassen will, entgegenkommt. Künstler erfahren das. Sie sind es, die ihren Beruf darin sehen, sich mit ihr zu befassen, die durchaus nicht angefaßt werden will. Deshalb möchte ich nie Musiker werden. Ich fürchte mich vor der Strafe eines so holden Wesens. Man darf eine Kunst lieben, aber man muß sich hüten, es sich zu gestehen. Man liebt am innigsten, wenn man nicht weiß, daß man liebt. – Mich schmerzt die Musik. Ich weiß nicht, ob ich sie wirklich liebe. Sie trifft mich, wo sie mich eben antrifft. Ich suche sie nicht. Ich lasse mich von ihr schmeicheln. Aber dieses Schmeicheln verwundet. Wie soll ich es sagen? Musik ist ein Weinen in Melodien, ein Erinnern in Tönen, ein Gemälde in Klängen. Ich kann es schlecht sagen. Die Worte über die Kunst da oben muß man nur nicht ernst nehmen. Sie treffen so gewiß nicht zu, als mich heute noch kein Ton getroffen hat. Mir fehlt etwas, wenn ich keine Musik höre, und wenn ich Musik höre, fehlt mir erst recht etwas. Dies ist das Beste, was ich über Musik zu sagen weiß.

(1902)