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Inhalt

Es war verboten, aber wir haben es trotzdem gemacht

Vorwort

Aktion gegen die Wahlfarce

In einer Nacht vor den Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 kleben in Berlin drei junge Leute Protestplakate.

Willis Eiland

In der Müritz improvisiert das Volk ein kleines Südseeparadies – sehr zum Ärger der Staatsmacht.

Ein ketzerisches Flugblatt

Im September 1989 folgen die Einwohner im thüringischen Arnstadt einem anonymen Aufruf zu einer illegalen Kundgebung.

Das schwarze Kreuz

Am Tag vor dem 40. Jahrestag der DDR setzen eine Frau und ein Mann in Berlin ein Zeichen der Trauer. Das ruft den Geheimdienst auf den Plan.

Der Tag der Angst

Als am 9. Oktober 1989 die Situation in Leipzig in blutige Gewalt umzuschlagen droht, verfassen sechs Leipziger Persönlichkeiten einen Appell zu Besonnenheit und friedlichem Dialog.

Von der Kolonie zur Selbstbestimmung

Im sächsischen Kurort Gohrisch erzwingen die Einwohner die Öffnung eines Gästeheims des Ministerrates und stellen eine lokale Parallelregierung auf.

Neue Räume für alternative Kunst

Junge Künstler eröffnen in den besetzten Räumen eines Mietshauses in Berlin-Prenzlauer Berg die Galerie ACUD.

Zu Besuch am Hofe eines sozialistischen Feudalherrn

Hunderte Menschen ziehen zum Jagdsitz des einstigen Regierungschefs Willi Stoph und fordern während einer Bürgerversammlung in Waren die Abschaffung der Staatsjagd.

Dorfrepublik Rüterberg

Die Bürger einer kleinen Gemeinde im nördlichen Grenzgebiet an der Elbe erklären ihren Ort zur freien Republik nach eidgenössischem Vorbild.

Gerechtigkeit für die Heilige Elisabeth

In Freyburg an der Unstrut ertrotzen sich Bürger Einlass in die seit Jahren abgeriegelte Neuenburg. Es ist der Beginn einer atemberaubenden Rettungsaktion.

Redakteursräte und Doppelherrschaft

Im staatlichen Rundfunk erzwingen die Redakteure ein Mitspracherecht und bilden eigene Kontroll- und Entscheidungsgremien.

Auf den Spuren des KoKo-Chefs

Eine junge Frau initiiert die Gründung einer unabhängigen Untersuchungskommission, um die Machenschaften des Imperiums von Devisenbeschaffer Schalck-Golodkowski aufzuklären.

Knast-Revolte

In Bautzen II, dem Gefängnis für politisch Inhaftierte, treten die Häftlinge in einen Hungerstreik und gründen einen Gefangenenrat.

Vom Info-Blatt zur unabhängigen Zeitung

Vier Aktive gründen aus dem Nichts eine Zeitung und einen Verlag, die Bürgerbewegungen erhalten eine eigene Öffentlichkeit und unabhängige Medien.

Den Geheimdienst aus dem Ort gejagt

Das Bürgerkomitee in Gosen löst die weit verzweigten Stasi-Dienststellen auf und gründet die erste lokale GmbH.

Befreiungsschlag einer Genossin

Eine Lehrerin weigert sich, vor den Karren der alten Parteikader gespannt zu werden.

Sturm auf die Stasi-Festung

In Frankfurt (Oder) organisieren zwei Frauen den Widerstand gegen die Vernichtung von Geheimdienstakten.

Von einem der auszog, Verbotenes zu tun

Der Christdemokrat Werner Henning schafft die alte Macht im Eichsfeld kurzerhand ab, öffnet Grenzübergänge und verhandelt über einen separaten Anschluss an den Westen.

Herausforderung eines Giganten

In Leipzig erzwingen zwei Bürgerinitiativen die Stilllegung des Tagebaus Cospuden. Da, wo die Bagger aufhörten zu schaufeln, ist heute das Ufer eines großen Sees.

Handel im Wandel

Der Gemüsehändler Voigt aus Erfurt setzt bereits im Januar 1990 sein Recht auf Gewerbefreiheit durch und vollzieht allein die Währungsunion.

Das Vergehen eines Ministers

Der Physiker und Oppositionelle Sebastian Pflugbeil verschafft sich Zugang zu geheimen Unterlagen über die Atomkraftwerke in der DDR.

Kalaschnikows zu Kirchenglocken

In der Bauhausstadt Dessau haben es sich fünf Männer in den Kopf gesetzt, Panzerbüchsen und Gewehre zu vernichten. Den Abgesandten der Regierung zwingen sie zur Kapitulation.

Protokoll mit kirchlichem Siegel

In dem kleinen Ort Mildensee vollzieht sich lange vor der Volkskammerwahl im März 1990 ein wahrhaft historisches Ereignis – die erste wirklich freie Wahl in der DDR.

Die Belagerung

In Prenzlau legen sich Bürger mit der allmächtigen sowjetischen Besatzungsmacht an. Sie demonstrieren vor der Kaserne und verlangen die Einlösung eines Versprechens.

Schluss mit Strammstehen

Matrosen der Volksmarine unterwandern die Befehlsgewalt und gründen den »Ersten Matrosen- und Soldatenrat«.

Der mühsame Weg zum Recht

Detlef Grabert, Mitbegründer des Neuen Forums in Strausberg, erkämpft die Rehabilitierung von zu Unrecht Verurteilten.

Vertreibung aus dem Amt

In Rostock lässt sich der Runde Tisch auf einen Machtkampf mit dem alten Regime ein – und gewinnt. Oberbürgermeister und Stadtschulrat müssen zurücktreten.

Witz kontra Betonköpfe

Ein Ingenieur des VEB Chemieanlagenbaus Leipzig-Grimma verarbeitet die Vergangenheit in einer Glosse für die Betriebszeitung.

Hungerstreik in Erfurt

Drei junge Männer wollen mit einem radikalen Protest die Überprüfung der Parlamentsabgeordneten auf eine Stasi-Mitarbeit erzwingen.

Vom Leichenwäscher zum Armeeauflöser

Der Wehrdienstverweigerer Werner Ablaß wird über Nacht zum Staatssekretär im Ministerium für Abrüstung und Verteidigung und muss ungewohnte Entscheidungen treffen.

Enthüllung eines Verbrechens

Mit der Wende deckt eine Frau eines der dunkelsten Kapitel der DDR-Geschichte auf: die Vertreibung Tausender Menschen aus den Grenzgebieten.

Aktion Lupine

Drei Berliner wollen entlang der Mauer eine blühende Landschaft erschaffen und bringen die Grenzsoldaten dazu, säend über den Schutzstreifen zu ziehen.

Der Mann, der Züge stoppt

Der Eisenbahner Christian Bormann erzwingt den Halt des ersten Intercity von West nach Ost in Weimar, der Stadt der deutschen Klassik.

Die Blockade

Die Schönwalder legen eine Fernverkehrsstraße lahm, um das einstige Gästehaus des Stasi-Chefs Mielke in eine sprudelnde Geldquelle für die Gemeinde zu verwandeln.

Kampf um Nationalparks

Naturschützern gelingt es, in einem schier aussichtslosen Wettlauf mit der Zeit einmalige Landschaften zu retten.

Vom kurzen Glück vollkommener Freiheit

Ein Lehrer in Berlin lässt das entmündigende Erziehungssystem der DDR hinter sich und gründet eine unabhängige Schule, die nach der Vereinigung mit den Gesetzen der Bundesrepublik kollidiert.

Einmischung als Bürgerpflicht

Mit der Besetzung von Archivräumen des MfS verhindern Bürgerrechtler im Herbst 1990, dass die Stasi-Akten im Bundesarchiv weggeschlossen werden.

Anhang

Chronik der wichtigsten Ereignisse in der DDR 1989/90

Abkürzungsverzeichnis

Angaben zu den Autoren

Christoph Links, Sybille Nitsche Antje Taffelt

Das wunderbare Jahr der Anarchie

Von der Kraft des zivilen Ungehorsams 1989/90

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1. Auflage, Mai 2012 (entspricht der 2. Druck-Auflage von März 2009)

© Christoph Links Verlag – LinksDruck GmbH, 2004

Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32–0

www.linksverlag.de; mail@linksverlag.de

Umschlaggestaltung: KahaneDesign, Berlin,

unter Verwendung eines Fotos von Andreas Schoelzel:

Protestdemonstration am 7. Oktober 1989 in Ostberlin

während der Staatsfeierlichkeiten zum 40. Jahrestag

der DDR im Palast der Republik

eISBN: 978-3-86284-176-9

Es war verboten, aber wir haben es trotzdem gemacht

Vorwort

Der Zustand der Herrschafts- und Gesetzlosigkeit ist den Deutschen eher suspekt. Statt Anarchie lieben sie klare Regelungen und genau definierte Verantwortlichkeiten, wollen wissen, was ihnen zusteht und bis wohin eine Behörde gehen darf. Und doch gibt es ein Jahr in der deutschen Geschichte, das ziemlich anarchisch verlaufen ist und an das sich die Beteiligten dennoch mit großer Begeisterung erinnern. In Gesprächen mit vielen Zeitzeugen über die Monate des Umbruchs in der DDR zwischen Herbst 1989 und Herbst 1990 hörten wir immer wieder: »Das war die aufregendste Zeit meines Lebens!« Während der Debatte um Ostalgie formulierte ein Ostdeutscher zugespitzt: »Ja, ich sehne mich zurück nach der DDR, aber nach der von 1989.«

Gerade weil es keine klare Machtverteilung im Land gab, war plötzlich sehr viel möglich. Die alte SED-Führung hatte das Vertrauen des Volkes verspielt und verfügte selbst über kein funktionierendes Kon zept zur Überwindung der verkrusteten Verhältnisse, zu einer glaubwürdigen Demokratisierung. Die Ostdeutschen wollten auch nicht länger darauf warten, sondern nahmen ihr Herz selbst in die Hand, entmachteten Bürgermeister, Schuldirektoren und Betriebsleiter, belagerten Kasernen und Gefängnisse, besetzten Geheimdienstzentralen, organisierten Soldaten-, Gefangenen- und Redakteursräte, gründeten Interessenverbände und Bürgerbewegungen. Plötzlich spürten viele ihre Kraft, fanden den Mut, bisherige Grenzen zu überschreiten und auch mal das Verbotene zu wagen. Und siehe da, der zivile Ungehorsam trug Früchte. Das Alte ließ sich nur überwinden, indem das Neue ausprobiert wurde, gegen alle Vorschriften. »Es war eine Ahnung vom freien Fliegen«, beschrieb uns eine junge Frau aus Thüringen ihr damaliges Gefühl. Über Monate gab es keine Partei oder Organisation, die einen neuen Kurs vorgab. In langen Debatten und praktischen Experimenten mussten andere Wege erst gefunden werden. Manches davon entbehrte nicht einer gewissen Komik, doch jede Idee war gefragt.

Auch wenn von den konkreten Vorstellungen aus der damaligen Zeit wenig überlebt hat, da im Herbst 1990 ein anderes, selbst dringend reformbedürftiges Gesellschaftskonzept an die Stelle des alten trat, und manch einer resigniert hat, haben viele den Geist jener Tage bewahrt. Widerspruchsgeist ist auch für eine demokratische Gesellschaft unerlässlich.

Über ein Jahr lang sind wir durch die fünf ostdeutschen Bundesländer gereist und haben Menschen getroffen, die uns von ihren Erlebnissen berichteten oder sie auch selbst aufschrieben. Ihnen allen sei herzlich gedankt. Entstanden ist ein Buch über ein ungewöhn liches Jahr deutscher Geschichte, einer Geschichte, die zeitweilig mehr auf den Straßen und in den Versammlungsräumen geschrieben wurde als in den Amtsstuben der Ministerien. Es sind Geschichten, die auch heute noch Mut machen können.

Berlin, im Juli 2004

Auch fünf Jahre nach Erscheinen des Buches und dem Fortgang der Zeit haben unseres Erachtens die Geschichten, so wie wir sie 2004 aufgeschrieben haben, nichts von ihrer Aussagekraft verloren. Das hat uns bewogen, die denkwürdigen historischen Ereignisse jüngster deutscher Geschichte im 20. Jahr des Mauerfalls mit einer 2. Auflage wieder in Erinnerung zu rufen.

Berlin, im Januar 2009

Christoph Links

Sybille Nitsche

Antje Taffelt

Aktion gegen die Wahlfarce

In einer Nacht vor den Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 kleben in Berlin drei junge Leute Protestplakate.

Kio, Johnson und Raimar, alle um die Mitte der 60er Jahre geboren, sind echte Kinder der DDR. Im Kindergarten lernten sie mit anschaulichen Farbtafeln, wie schlagkräftig die Nationale Volksarmee im Verbund mit den sowjetischen Waffenbrüdern den Sozialismus gegen Angriffe der imperialistischen Feinde verteidigen würde; in der Schule legten sie in Pioniergruppenversammlungen Rechenschaft über ihre Taten zum Wohle der sozialistischen Gesellschaft ab, als FDJ-Mitglieder trugen sie am 1. Mai Blauhemd und -bluse und demonstrierten für den Sieg der internationalen Arbeiterklasse.

Trotzdem wollte in all den Jahren keine rechte Liebe zum sozialistischen Vaterland aufkommen. Das Vaterland war träge und langweilte oder reglementierte und belehrte. Die drei wurden erwachsen, das Vaterland nicht. Sie lernten, was ging im Lande und was nicht. Beruf und Studium – Vater Staat lenkte; die Welt mit eigenen Augen anschauen – das verhinderten Grenzen und eine Mauer.

Aber die DDR bot Nischen: Als sich die drei Ende der 80er in Berlin begegnen, hat Kio einen Job bei der »Volkssolidarität« und fährt Essen für alte Leute aus, ist Johnson Kinokartenabreißerin, hat Raimar ein ungeliebtes Studium geschmissen und arbeitet schwarz auf dem Bau. Sie wollen sich nicht einrichten in diesem Staat, der »wenig Spaß versteht« (Raimar); sie sind Anfang zwanzig, feiern Feten und leben unbeschwert. Aber es bleibt das Gefühl, die Zeit stünde still – eine Grundstimmung, die sie latent unzufrieden macht.

Im Frühjahr ’89 ist klar, dass die Kommunalwahlen am 7. Mai nach dem gleichen Schema wie eh und je ablaufen werden. Wieder soll das Volk nur die Kandidaten der Einheitsliste abnicken. Unbeeindruckt vom zunehmenden Unwillen des Volkes und ungerührt von Reformen, die sich sogar im großen »Bruderland« Sowjetunion unter Gorbatschow abzeichnen. Das ist für die drei – wie für viele andere im Land auch – der Punkt, an dem es ihnen reicht. Der Frust auf die Gesamt situation ist so groß, dass sie nicht länger darauf warten wollen, dass sich etwas verändert. Ihre Motivation zu handeln ist nicht vordergründig politisch – sie sind keine Bürgerrechtler. Sie empfinden sich auch nicht als Widerständler, denken eher an: Zivilcourage zeigen. »Wir wollten einfach nicht länger still sein.« (Raimar)

Die bevorstehende Wahlfarce soll gestört werden. Es sind keine wirklichen Wahlen, wenn das Ergebnis vorher schon feststeht, finden die drei. In einer Stehbierkneipe in Prenzlauer Berg, wo sie wohnen, entstehen erste Entwürfe für ein Flugblatt. Doch ihr Protest soll auf der Straße sichtbar sein, deshalb entscheiden sie später anders: Ein Plakat muss her, wenigstens ein kleines. Aber selbst das ist schwierig; denn Kopiergeräte oder andere Vervielfältigungsmöglichkeiten gibt es nicht, oder sie sind in staatlicher Hand – aus gutem Grund.

Also müssen die drei auf Raimars alte Linolschnittausrüstung zurückgreifen, einige Reste Linoleum sind noch da, und so schneiden sie an einem Abend Ende April drauflos. Ein Miniplakat im DIN-A4-Format entsteht, ein kleiner Comic mit Figuren à la Mordillo. Im Keller eines Freundes vervielfältigen sie die Blätter mit Linolschnittfarbe und einer alten Wäschemangel. Ein mühseliges Verfahren, es dauert die halbe Nacht, bis sie 100 Stück fertig haben.

Am 27. April nachts verstauen sie die Plakate in Taschen, füllen Tapetenkleister (der musste 24 Stunden quellen) in Marmeladengläser, ziehen durch Prenzlauer Berg und Mitte und kleben die Blätter an Litfaßsäulen, Häuserwände und überall dort an, wo man sie gut sehen kann. Unterwegs treffen sie jemanden, den sie kennen und der sie begeistert auf die kleinen Plakate hinweist, auf denen statt »wählen« »kwählen« zu lesen ist. Sie können sich nicht zurückhalten und outen sich. Es bleibt aber die einzige Begegnung mit Freunden an diesem Abend.

Am nächsten Morgen wollen Raimar und Kio zur U-Bahn. Sie treten aus dem Haus am Senefelderplatz und treffen auf eine Gruppe von Männern in Zivil, dazu Polizei, mit Autos und Motorrädern. Sie haben die Litfaßsäule umstellt, und ein Mann mit Kapuze versucht, ein Blatt der nächtlichen Klebeaktion von der Säule zu kratzen, ohne es zu beschädigen. Den beiden ist sofort klar, dass die Stasi ein Beweisstück sichern will. Es klebt gleich neben einem Plakat, das den Film »Schrei nach Freiheit« ankündigt, damals in Ost und West besonders wegen Peter Gabriels Musik geschätzt. Die anzügliche Nähe zum Filmtitel war beabsichtigt.


Das Herz schlägt ihnen bis zum Hals, als sie an den Männern und den Autos vorbei müssen. Sie glauben, man müsse ihnen auf zehn Meter Entfernung ansehen, dass sie hinter der Aktion stehen.

Aber erst einmal passiert nichts. Etwa zwei Wochen vergehen, dann findet die Polizei zufällig, als sie wegen zu lauter Musik die Party eines Freundes »aushebt«, ein Exemplar des »Wahl-Comics«. Alle Anwesenden werden eingesammelt und zum Polizeiprä sidium in der Keibelstraße transportiert, wo man sie verhört und ihre Personalien aufnimmt. Keiner verrät die drei, obwohl mehrere Freunde um die Urheberschaft des Plakates wissen.

Die Angst verfliegt wieder. Aus einer Mischung aus Trotz und Naivität machen sie weiter. Das Massaker auf dem Tian’anmen-Platz in Peking am 4. Juni »verdirbt« ihnen »die gute Laune« (Kio). Mit anderen »Untergrund-Aktivisten« planen sie eine neue Aktion. Sie stellen Flugblätter her und werfen sie vom Dach eines Hauses an der großen Kreuzung Dimitroffstraße/Schönhauser Allee und entrollen selbst gemalte Laken-Transparente »Demokratie in China und hier!« Anschließend flüchten sie über die Dächer der Berliner Mietskasernen.

Wirkliche Angst kommt erst nach dem Besuch einer Fete in der Fachschule für Erzieher in Hohenprießnitz bei Delitzsch in Sachsen auf, wo ein Freund studiert. Johnson schreibt mit Kreide einen flammenden Aufruf für Glasnost und Perestroika an die schöne große Wandtafel eines Unterrichtsraums. Und das in Hohenprießnitz, wo die künftigen Volksbildungskader herangebildet werden! Wieder in Berlin, erreicht die Freunde am nächsten Tag ein aufgeregter Anruf von dort. »Die Stasi ist da. Wir kriegen alle acht Jahre!« brüllt die, die dort studiert, durchs Telefon. Und die Stasi greift durch, hängt die Tafel ab, lässt alle Ausbilder und Studenten Schriftproben abgeben, prüft das Besucherbuch und zitiert sämtliche Gäste von Rostock bis Jena auf die örtlichen Polizeidienststellen »zur Klärung eines Sachverhalts«, auch Raimar muss eine Schriftprobe anfertigen und Fingerabdrücke machen lassen. Er fürchtet, seine Fingerabdrücke könnten von der Plakataktion bereits bekannt sein und die Stasi in die Lage versetzen, Zusammenhänge herzustellen. Aber er hat Glück. Johnson auch, sie entwischt ihren Jägern, weil sie sich nicht ins Gäste buch eingetragen hat. Und weil niemand der Stasi einen Hinweis gibt.

Kathrin Berger, genannt Johnson, damals Kinokartenabreißerin, machte eine Schriftsetzerlehre und ist heute Webdesign-& Systemadministratorin.

Annette Wilhelm, genannt Kio, damals bei der »Volkssolidarität«, studierte Europäische Ethnologie in Berlin und ist heute Gewerberaumbörsenfee bei einer Berliner Wohnungsbaugesellschaft.

Raimar Fritsch brach in der DDR sein Informatikstudium ab, studierte nach der Wende Kultur- und Theaterwissenschaften und arbeitet heute freiberuflich unter anderem als Fotograf, Grafiker und Projektmanager.

Antje Taffelt

Willis Eiland

In der Müritz improvisiert das Volk ein kleines Südseeparadies – sehr zum Ärger der Staatsmacht.

Der Sommer 1989 war reich an Ereignissen. Für die Wassersportler der Müritz hatte er sich sogar etwas ganz Besonderes ausgedacht. Der See bekam in jenen Tagen Zuwachs. Am Ostufer hatte sich in der Müritz eine circa 1000 Quadratmeter große Insel gebildet.

Sonst waren die Staatsorgane der DDR von geradezu »prophetischer Voraussicht«. Hier versagten sie kläglich. Der Ministerpräsident der DDR, Willi Stoph, hatte sich in der Kernzone des Naturschutzgebietes recht komfortabel eingenistet. Um nun mit seinem Boot auch auf die Müritz fahren zu können, ließ er den Herrmannsgraben, eine Verbindung zwischen der Müritz und dem Specker See, an dem sein Anwesen lag, tiefer spülen. Natürlich auf Staatskosten, und, da es ein »Arbeiter-und-Bauern-Staat« war, auf unsere Kosten.

Der Sand aus dem Graben wurde in der Müritz aufgespült, und so entstand diese Insel. Im Volksmund »Willis Eiland« genannt.

Wenn man am Morgen im Bolter Kanal fragte: »Wohin segelt ihr heute?«, bekam man fast immer in diesen Tagen des Sommers ’89 die Antwort: »Zu Willis Eiland.« Aber »Willis Eiland« war in einem Gebiet entstanden, das zum Jagdsitz des Ministerpräsidenten gehörte. Diese Zone zu betreten, war dem Volk strengstens verboten, und das wusste es auch. Doch in diesem Sommer kümmerte es sich nicht darum.

Irgendwann hatte ein Spaßvogel etwas aufgestellt, was entfernt an eine Palme erinnerte. Ein prächtiger Ort, um Ball zu spielen, sich zu sonnen und die Staatsmacht zu lobpreisen, die für ihr Volk mit so viel Aufwand einen kleinen Südseetraum geschaffen hatte.

Die Zahl der Boote nahm von Tag zu Tag zu, und das blieb natürlich der wachsamen Mannschaft von »Horch und Guck« nicht verborgen. Am nahen Ufer tauchten Trabant-Kübelwagen auf. Man schaute durch teure Ferngläser, und es wurden viele Filme belichtet. Eines Tages dümpelte ein Angelkahn in der Nähe der Insel, und die »Angler« an Bord begannen eifrig zu angeln.

Die meisten der Inselbesucher waren auch erfahrene Angler und wussten: So angelt man nicht, und hier angelt man auch nicht. Es sei denn, man will wie Petrus Menschen fischen. So war es schließlich auch. Nachdem einige der Segler übermütig geworden waren und auf der Insel übernachteten, schien die Sicherheit des teuren Ministerpräsidenten doch aufs Höchste gefährdet zu sein. Als noch ein harmloser Paddler eines Tages sein Zelt auf dieser Insel aufbaute, war das Maß voll.

Am letzten Sonntag im August 1989 tauchte am Nachmittag ein Boot der Wasserschutzpolizei auf. Mit dem Megafon wurden die »Inselbesetzer« aufgefordert, sofort das Sperrgebiet zu verlassen. Der »Staatsmacht« musste man weichen. Die »Genossen der Wasserschutzpolizei« gaben erst Ruhe, nachdem auch das letzte Boot Kurs auf die Außenmüritz genommen hatte. Das Volk war an diesem Ort unerwünscht.

Ein paar Wochen konnte man »Willis Eiland« noch im Fernglas sehen. Dann kamen die Herbststürme. Sie beseitigten in wenigen Tagen die Insel und einige Wochen später auch den gesamten Spuk der »Roten Korsaren«.

Franz Poppe

Ein ketzerisches Flugblatt

Im September 1989 folgen die Einwohner im thüringischen Arnstadt einem anonymen Aufruf zu einer illegalen Kundgebung.

Günther Sattler ist das jüngste von sechs Geschwistern. Das Nesthäkchen. Der Vater säuft. Als kleiner Junge war er einmal stolz auf ihn, aber das ist lange her. Jetzt hasst er ihn nur noch. Viel später wird er auf die Frage, ob sein Vater noch lebt, sagen: »Der ist, Gott sei Dank, vor Jahren gestorben.«

Oft hat sich der Junge gewünscht, dass die Mutter den Vater verlassen würde. Doch sie bleibt. Als er 18 wird, macht er sich auf die Suche nach einer Wohnung. Bei der Kommunalen Wohnungsverwaltung in Arnstadt winkt man ab. Da heißt es nur: »Nicht anspruchsberechtigt«, die elterliche Wohnung sei zu groß. Er schleppt sein Bett in die Waschküche des Hauses, um die immer rascher aufeinander folgenden Delirien des Vaters nicht mehr erleben zu müssen.

In der Schule ist er das »Bullensöhnchen«. Immer wenn er Mist baut, bekommt er zu hören, dass sein Vater Polizist sei und er so wie sein Vater ein Vorbild sein müsse. Günther Sattler versteht nicht, warum sein Vater ein Vorbild sein soll, obwohl er die Mutter »wie Dreck« behandelt. Es ist die Zeit, als er seinen Vater zu hassen beginnt. Er schwänzt die Schule. Seine Zensuren sind miserabel, nur in Geschichte nicht. Die neunte Klasse muss er wiederholen, danach verlässt er die Schule. Alle prophezeien ihm, dass er nie eine Lehrstelle bekommen wird. Um es der Familie zu beweisen, besorgt er sich selbst eine. Fernsehmechaniker zu werden, sein großer Wunsch, ist mit dem Zeugnis nicht möglich, das weiß er auch. Er lernt Fleischer.

Mit 23 Jahren wird er eingezogen, Armeedienst bei der Bereitschaftspolizei in Erfurt. Sein Vater arbeitet in Erfurt bei der Bezirksverwaltung der Polizei, erst im aktiven Dienst, später dann aus gesundheitlichen Gründen in der Verwaltung. Der junge Sattler geht durch die Hölle: Saufende Offiziere, die sich während ihrer Gelage auf den Tischen entleeren. Dann die Nachricht: Sein Vater hatte sich verpflichtet, seinen Sohn zur Bereitschaftspolizei zu schicken, und nach der »Asche« sei für ihn bei der »BePo« in Erfurt schon eine Stelle eingeplant als Koch. Günther Sattler ist wie vom Donner gerührt. Vom eigenen Vater verkauft, der ein Kopfgeld kassiert. Schlimmer aber ist das Gefühl: »Ich werde gelebt.« Vom verhassten Vater, vom Staat, von allen, die mächtiger sind als er.

Günther Sattler muckt auf, widerspricht. Kurz vor Ende der Dienstzeit will er nicht mehr, will hinschmeißen. Auch weigert er sich, schon Wochen vor der Kommunalwahl am 7. Mai 1989 seine Stimme abzugeben, wie es von den Soldaten verlangt wird. Doch sie »kriegen« ihn mit der Drohung NVA-Knast Schwedt: Vorfristig macht er sein Kreuzchen, und er dient bis zum Ende. Die anderen sind stärker. In seinem Leben geben sie die Befehle.

Im April 1989 wird Sattler entlassen. Er fühlt sich, wie er sagt, »innerlich zerlegt«, bricht mit seinem Vater, für den er sich nur noch schämt. Erleichterung bringt das nicht. Aber er ist getrieben von diesem einen Gedanken: »Wenn ich nichts tue, werde ich weiter gelebt.« Von allen, mit denen er spricht – Freunden, Bekannten, Geschwistern –, hört er nur: »Du Spinner, du kannst gar nichts tun.«

Am 17. September setzt er sich hin, beginnt zu schreiben. Erst will er Plakate zeichnen, die Missstände im Land mit »schwarzem Humor« aufs Korn nehmen – die Wohnungsnot und die verlogenen 1.-Mai-Demonstrationen, die ganzen Lügen, von denen er sich seit seiner Kindheit umzingelt fühlt. Das misslingt.

Drei Tage später ist eine Art Flugblatt fertig. Sein »Hilfeschrei«. Er schreibt: »was für ein leben? wo alte männer regieren, wo noch menschen an grenzen krepieren. was für ein leben? wo die angst den alltag bestimmt (…) was für ein leben? wo man nicht sein kann, der man ist, wo man so schnell vergißt. (…) was für ein leben? wo liebe nicht existiert, wo man langsam erfriert.« Er ruft die Arnstädter auf, sich am 30. September um 14 Uhr auf dem Holzmarkt zu versammeln. Sie sollen sich nicht mehr einschüchtern lassen. Er fordert Meinungsfreiheit und Reformen. Wenn keiner kommt, denkt er, dann haben die anderen Recht. Dann bin ich ein Spinner, dann kann ich nichts tun. Was er aufgeschrieben hat, ist eigentlich nur die einfache Wahrheit über das Leben in der DDR. Die aber ist in dem Land im September 1989 noch immer verboten.


Am Abend des 20. September besucht ihn seine Freundin. Er zeigt ihr, was er geschrieben hat. Sie versucht, ihn umzustimmen, dann wirft sie ihm die Haustürschlüssel hin: »Wenn du so was machst, ist alles vorbei.«

Wenn alles vorbei ist, kann ich auch kleben, denkt er trotzig. Packt Leim und einen Stapel Flugblätter in eine Tasche und radelt los – zum Bahnhof, zur Sparkasse, zur Post, zum Museum, zur EOS. Als er zur Sparkasse zurückkommt, sind die ersten Flugblätter abgefetzt. Polizei ist da. Er fährt nach Hause, hackt weitere Flugblätter in die geborgte Schreibmaschine, am ganzen Leib zitternd. Geht wieder hinaus in die Nacht, überklebt die abgerissenen mit neuen Aufrufen – trotz Polizisten überall. Früh um fünf sitzt er zu Hause und wartet, dass er abgeholt wird. Nichts geschieht. Er will mit jemandem reden, klingelt bei seinem besten Freund. Der will davon nichts hören, fragt vorwurfsvoll: »Da kommst du zu mir?«

Fieberhaft suchen Polizei und Stasi in den nächsten Tagen nach einer Schreibmaschine, Typ Mercedes. In allen öffentlichen Institutionen der Stadt werden Schriftproben genommen. Ergebnislos.

Bekannte beschwören ihn, die Sachen zu vernichten. Günther Sattler bleibt stur. »Wenn ich jetzt nichts tue, werde ich weiter gelebt.« Er tippt mehr Flugblätter, lässt sie in öffentlichen Gebäuden wie der Post und in der Diskothek »Völkerfreundschaft« »liegen«. Als dort ein junger Mann hinter ihm her ruft und ihn durch die Diskothek verfolgt, glaubt Sattler, dass sie ihn haben. Der reicht ihm arglos ein paar Blätter und sagt: »Eh, du hast etwas verloren.« Sattler spürt, dass er die Flugblätter nicht gelesen hat. Und die Stasi hat noch immer keine Ahnung.

Am 30. September steht in jedem Hauseingang am Holzmarkt die Stasi – Männer mit roten Schlipsen und Kameras vor dem Bauch. Langsam schlendern aus allen Richtungen der Stadt Menschen auf den Markt. Als niemand eine Rede hält, beginnen sie, miteinander zu reden. Günther Sattler ist unter ihnen, aber er gibt sich nicht zu erkennen. Er wollte das, was er aufgeschrieben hatte, herausschreien. Jetzt hat er Angst.

Dieser ersten, wenn auch noch schüchternen Demonstration folgt am 7. Oktober eine zweite. Diesmal aber werden die 300 Menschen brutal auseinander getrieben. Bereitschaftspolizei hat sich formiert, marschiert auf die Demonstranten zu. In bedrohlichem Gleichklang schlagen Gummiknüppel erst auf die Schilde, dann sausen die Schlagstöcke auf Köpfe und Rücken nieder, Hunde schnappen zu. Günther Sattler ist schockiert. Das hat er nicht gewollt, »aber ich hätte es wissen müssen«, denkt er wieder und wieder. Er kennt doch den Ablauf solcher Einsätze, weiß, was wann in welcher Situation geplant ist. Günther Sattler gibt sich die Schuld für die Verletzten und will nach diesem 7. Oktober von seinem Flugblatt nichts mehr wissen. Er flüchtet sich in Arbeit.

Die allmächtige Stasi versagt kläglich. Sie erfährt nie, wer die Zettel klebte. Und erst ein Jahr später wird in Arnstadt bekannt, wer der Verfasser war.

Günther Sattler wird nun zum Helden der Wende im thüringischen Arnstadt. Eine Ehrung, die er heute noch immer kategorisch ablehnt: »Ich war nicht mutig, ich war einfach nur am Ende. Ich wollte wissen, ob andere auch so denken – oder ob ich verrückt bin.«

Sybille Nitsche

Das schwarze Kreuz

Am Tag vor dem 40. Jahrestag der DDR setzen eine Frau und ein Mann in Berlin ein Zeichen der Trauer. Das ruft den Geheimdienst auf den Plan.

Notiz in meinem Tagebuch vom 6. Oktober 1989, Berlin: »Schwarzes Kreuz vor unserem Haus …«:

Es war an dem Tag, an dem wir – trotz der Ereignisse im Land – ein wenig feiern wollten. Den Geburtstag, der den Jubilar im Allgemeinen mit Wehmut erfüllt: Die Jugend, selbst die reifere, ist vorbei. Beim nächsten schon hat man sich daran gewöhnt, man sieht wieder Möglichkeiten. Aber diesen, den 50.!, den muss man stilvoll begehen, um seiner Bedeutung gerecht zu werden.

Daran also werkelte ich herum, bis an die Handgelenke beschmiert mit Salatsaucen, Marinaden und Bratenfond, als auf der Betonfläche vor unserem Haus zwei junge Leute sich mühten, lange schwarze Tücher auszulegen. Ich hatte nur das Fenster öffnen wollen, doch nun beugte ich mich weit hinaus, bemüht zu erkennen, was die da unten trieben. Denn es schien nicht einfach zu sein, der Wind zerrte den dünnen Stoff immer wieder hoch. Der Mann stellte schließlich seinen Fuß auf das eine Ende des Tuches, das andere beschwerte er mit einer dicken Kerze. Die Füße des Mannes steckten in Hausschuhen, sein Hemdkragen stand offen. Es sah aus, als sei er nur heruntergekommen, um seine Zeitung aus dem Briefkasten zu nehmen oder seinen Mülleimer zu entleeren. Die Frau trug in der Hand Blumen, eine Vase, eine zweite Kerze.

Es war schon spät, ich hatte noch eine Menge zu tun, ich wollte das Fenster schließen. Denn ich hatte keine Zeit herauszufinden, was da unten auf der Straße vor sich ging. Ich musste es nicht mehr herausfinden – es sprang mich an in dem Augenblick, da ich den Fensterriegel festmachte: Sie hatten ein Kreuz gelegt, ein schwarzes Kreuz auf grauem Beton, mit Blumen und Kerzen geschmückt.

Von Kreuzen in Straßenkurven, an Stellen, an denen tödliche Unfälle passiert waren, hatte ich gehört. Aber hier? Das Kreuz hier vor meinem Haus war unsinnig. Hier wurde nur kurz geparkt, um Einkäufe aus- oder Urlaubsgepäck einzuladen. Man fuhr hier im Schritt, wendete vorsichtig, der Kinder und der Katzen wegen, die oft im Sonnenschein spielten.

Das Kreuz aber bezeugte Trauer.

Warum? Mit wem?

Es hatte kein Unglück gegeben vor unserem Haus! Ich hätte davon gehört. Was also wurde hier betrauert?

Plötzlich wusste ich es.

Wir hatten Staatsfeiertag. Morgen.

40 Jahre DDR.

40 Jahre Trauer?

Ich stellte den Rotkäppchensekt kalt, richtete Häppchen auf Platten an, schnitt den Braten auf und kramte Kassetten hervor, nach denen es sich gut tanzen ließ.

Starrte die eine lange, gelbe Rose an, die ein Freund mir schon früh am Morgen vorbeigebracht hatte.

Ich ging hinunter vors Haus, zündete die im Wind erloschenen Kerzen wieder an und legte meine schöne Gelbe auf das Tuch.

Ich schwitzte, als ich wieder in der Wohnung war.

Es dauerte genau 43 Minuten, bis ein Funkwagen vorfuhr, der sich quer zum Haus vor die schwarze Provokation stellte.

Fünf Minuten später kam ein unauffälliger Trabant, dem vier auffällig Unauffällige entstiegen. Sie hielten, sich zu den heruntergekurbelten Fenstern niederbeugend, eine längere Beratung mit der Funkwagenbesatzung. Später saßen sie zu sechst im Funkwagen, rauchten, redeten. Sie berieten sich – einer Vase, zweier Kerzen und eines schwarzen Kreuzes wegen.

Ich klebte – zitternd hinter der Gardine – in meinen Kleidern, die feucht waren vom Schweiß, fuhr zusammen unter einem panischen Schrecken, als die Männer bis auf den Fahrer aus dem Funkwagen ausstiegen. Doch es holte nur einer eine Kamera hervor und fing an zu fotografieren. Er stieg vorsichtig um das Kreuz herum, den Apparat vor dem Gesicht, für eine Aufnahme musste er sogar auf dem Straßenpflaster niederknien.

Die beiden Uniformierten verglichen Listen mit den Namensschildern an den Haustüren. Sie schrieben nichts auf, sahen nicht zu den Fenstern hoch, versuchten nicht, in die Häuser einzudringen.

Suchten sie den Verursacher, indem sie Namen an Türen mit Namen auf Listen verglichen?

Oder suchten sie den, der sie angerufen hatte? Denn angerufen haben musste einer, wie sonst hätten sie wohl so schnell hierher, in unsere stille Straße eilen können, um die Provokation zu observieren.

Dann endlich schaute doch einer an der Fassade unseres Hauses hoch. Er musterte jedes Fenster. An manchen wurden jetzt schnell die Gardinen vorgezogen. Ich hörte Fensterriegel schließen. Ich trat behände in die Nische zwischen Schrank und Fenster.

Als genug Aufnahmen gemacht worden waren, näherte sich einer mit äußerster Vorsicht der Vase. Er tippte sie mit seinem Schlagstock an. Sie kippte um. Es war nur Wasser darin. Und Blumen. Das restliche Wasser goss er sorglich aus, die Blumen, die Vase, die zwei Kerzen und die beiden Stoffbahnen – zusammengeknüllt nicht mehr als eine Hand voll Schwarzes – verschwanden, einzeln in Plastiktüten verpackt, im Kofferraum des Trabants.

Ich sah auf die Uhr. Es waren zwölf Minuten vergangen. Nach zwölf Minuten war alles wie immer. Jemand hatte ein Zeichen gesetzt; zwei oder drei andere hatten es gesehen; einer hatte angerufen.

Unmittelbar hatte das Ereignis keine Folgen.

Von den mittelbaren war da noch nicht die Rede.

Abends wurden meine Canapés ungelobt verspeist. Wir tranken den Sekt, doch wir stießen nicht an miteinander. Sie ließen mich nicht hochleben wie sonst üblich. Es wurde noch weniger getanzt als sonst bei Geburtstagsfeiern. Wir fragten uns, was alles noch passieren musste, damit etwas geschieht. Wir gingen auseinander und ahnten es dunkel.

Annemarie Franke

(Aus dem Manuskript

»Das Paradies im Schatten«)

Der Tag der Angst

Als am 9. Oktober 1989 die Situation in Leipzig in blutige Gewalt umzuschlagen droht, verfassen sechs Leipziger Persönlichkeiten einen Appell zu Besonnenheit und friedlichem Dialog.

»Ich habe Angst, dass der 9. Oktober ’89 ein Tag wird, wie vor kurzer Zeit die niedergeschlagene Demo in China. Und dass der Rest der Jugend noch ihr Blut für diesen sinnlosen Staat verliert. Ich, wir haben Angst.«

Gästeeintragung auf der Gebetswand in der
Leipziger Thomaskirche am 8. Oktober 1989

»Ich habe einfach keine Ruhe, zu Hause zu bleiben. Mein Gewissen kämpft gegen meine Angst und treibt mich hinaus, komme, was da wolle. Nein, ich muss! Ich muss das zeigen, gerade jetzt! Ich muss auf die Straße!«

Gisela Merkel, Studentin,
am Mittag des 9. Oktober 1989

September/Oktober ’89. In diesen Wochen gerät die DDR ins Rampenlicht der Weltöffentlichkeit. Aufbegehren der Massen gegen die erstarrte Staatsmacht. Ausreisewelle. Polizeigewalt. Montagsdemonstrationen. Die Ereignisse überschlagen sich. In Leipzig gibt es die stärksten Proteste. Bereits seit 1982 versammeln sich in St. Nikolai Bürger zu Friedensgebeten, immer montags 17 Uhr. Und seit dem 4. September ’89 ist diese Kirche der Ausgangspunkt von Demonstrationen.

Der Pfarrer im maßgeschneiderten Anzug, die Bügelfalte spielt mit dem blanken Schuh, steht wie ein Manager am Pult der Nikolaikirche und spricht von Angst. Die lässige Haltung verdeckt die eigene Furcht. Hinter den himmelwärts strebenden Fenstern zucken aufblitzende Lichter. Vom Kirchhof dringen Rufe und Schreie herein. Mit vibrierender Stimme spricht der Priester: »Angst muss erkannt und ausgesprochen werden. Schon verliert sie einen Teil ihres Schreckens … Die Hoffnung muss unter die Angst fahren. Nie ist die Hoffnung wichtiger als mitten in der Angst.« Und ein Mann mit verschmutzter Brille ruft über ein paar Bankreihen hinweg: »Die Angst muss konvertieren in Widerstand!«

Die sechs von Leipzig – der Dirigent Kurt Masur, der Kabarettist Bernd-Lutz Lange, der Theologe Peter Zimmermann, die SED-Bezirksleitungssekretäre Roland Wötzel, Kurt Meyer und Jochen Pommert – haben in ihrem Leben mehrfach Ängste ausgestanden, sie überwunden und gehandelt.

Der Kabarettist Bernd-Lutz Lange, parteilos, erinnert sich an den Mai ’68: Einige SED-Funktionäre, darunter Walter Ulbricht, veranlassten die Sprengung der Leipziger Universitätskirche – eine Glaubensburg könne nicht am zukunftsweisenden Karl-Marx-Platz stehen. »Nach dem letzten Gottesdienst in dieser Kirche rempelte mich draußen ein Stasi-Mann an und befahl: ›Schneller gehen!‹ Erst war ich schockiert, aber dann habe ich meinen ganzen Mut zusammengenommen: ›Wieso soll ich schneller gehen, Sie sehen doch, dass hier so viele Menschen sind, und außerdem gehe ich noch immer so, wie ich es will.‹« Das reichte schon, er wurde zur Seite gedrängt und aufgeschrieben.

Ein weiterer der sechs, Peter Zimmermann, CDU, wurde ebenfalls im Mai ’68 wie alle anderen Studenten und Lehrer der Theologie in Leipzig wegen ihres Protestes gegen die Kirchensprengung vor eine Untersuchungskommission gezerrt. Anklage: Die Theologen seien der innere von außen gesteuerte Feind, der Urheber der Leipziger Unruhen.

Kurt Masur, parteilos, schrieb an Erich Honecker, als die DDR-Oberen meinten, durch einen Kulturboykott die USA wegen ihrer Raketenstationierung in Westeuropa bestrafen zu können. Später, am 10. Juni ’89, als die Polizei bei einem nicht genehmigten Festival der Straßenmusi kanten in der Messestadt die Teilnehmer massiv bedroht, viele verhaftet und zu hohen Geldstrafen verurteilt hatte, organisierte Kurt Masur etwas in Leipzig noch nie Dagewesenes: Im Gewandhaus führte er mit dem für Kultur zuständigen SED-Bezirksleitungssekretär Kurt Meyer die Geschädigten und die Polizeikräfte zu einem Gespräch zusammen. Die Premiere eines Dialogs!

Neben Masur und Meyer kennen sich von den sechs der Kabarettist Bernd-Lutz Lange und der SED-Bezirksleitungssekretär Roland Wötzel am längsten. Hin und wieder trafen sie sich nach einer Vorstellung im Kabarett und sprachen über die Situation im Land. Lange und Wötzel fanden trotz unterschiedlicher weltanschaulicher und tagespolitischer Auffassungen immer eine gute menschliche Basis für ein Gespräch. Lange schätzt Wötzels reformerische Ideen, die aber von den »Betonköpfen« in der Bezirksleitung stets abgeschmettert worden waren, bis sich Wötzel gelähmt der Parteidisziplin unterworfen hatte. Wötzel kennt Lange als jemanden, der eine Diskussion immer scheinbar harmlos beginnt, um ihm dann umso deutlicher die Wahrheit über die herrschende Politik vor die Füße zu knallen. Lange wirkte auf Wötzel als produktiver Provokateur.

Nicht nur die sechs, alle Leipziger haben ihre zunehmend bitteren Erfahrungen mit der gesellschaftlichen Misere. Die taubstumme Stadt verschafft sich im Herbst ’89 endlich Gehör: Auf der Straße! Polizei und Staats sicherheit halten dagegen.

Montag, 4. September: Demonstration vor der Nikolaikirche. Zimmermann und Lange sind dabei, ohne sich zu begegnen. Eines der Transparente: »Reisefreiheit statt Massenflucht.« Plötzlich stürzt ein Stasi-Mann in die Menge und reißt das Spruchband nieder. Lange fragt bei Wötzel an, ob die Sicherheitsorgane unseres Landes für eine Massenflucht seien.

Montag, 2. Oktober: Auf der Demo brüllt ein Jugendlicher in Zimmer manns Nähe einen Schutzpolizisten an: »Du Verräter!« Den Umstehenden erklärt er: »Mit dem habe ich gespielt, seit ich laufen kann, wir sind zusammen in die Schule gegangen, wir haben im Betrieb den gleichen Beruf gelernt. Und jetzt steht der dort, und ich steh’ hier!«

Szenen, die Zimmermann schon vor Wochen beobachtet hat, wiederholen sich. Ein junger Polizist schert aus einer vorrückenden Linie aus, streift verzweifelt seine Ausrüstung ab. »Ich kann das nicht! Ich will das nicht!« Der Konflikt steckt auch in der Uniform.

Die regelmäßige, überstarke Präsenz der Polizei und der Stasi-Trupps lockt jeden Montag auch viele Nicht-Leipziger an. Die gerüstete Macht provoziert den Zorn der Massen.

Freitag, 6. Oktober: Der nervös gewordene Staatsapparat baut einen immensen psychologischen Druck auf. Ein von der SED lancierter Leserbrief eines Betriebskampfgruppenkommandeurs erscheint in der Leipziger Volkszeitung: »Werktätige des Bezirkes fordern: Staatsfeindlichkeit nicht länger dulden! (…) Wir sind bereit und willens, das mit unserer Hände Arbeit Geschaffene wirksam zu schützen, um diese konterrevolutionären Aktionen endgültig und wirksam zu unterbinden. Wenn es sein muss, mit der Waffe in der Hand.«

Samstag, 7. Oktober: Die Leipziger kochen vor Wut. Für einen Nicht-Sachsen klingt ihre Reaktion merkwürdig, vielleicht sogar komisch, ist aber todernst gemeint: »Also, sooo nich! Awer nu grade!« Die barocke Tortenbilanz und die inszenierte Jubelfeier zum 40. DDR-Jahrestag erbittern sie. Der Zorn drängt viele auf die Straße. Wasserwerfer und Knüppel treiben die »staatsfeindliche Zusammenrottung« auseinander.

»Also, sooo nich! Awer nu grade!!!« Für den folgenden Montag wird bei der traditionellen Demonstration mit dem Schlimmsten gerechnet. Über Leipzig ballt sich die Last einer Entscheidung zusammen: Wird es hier eine chinesische Lösung geben wie am 4. Juni ’89 auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking, oder kann das Demonstrationsrecht erstritten werden? Die Spannung wird unerträglich.

Der Theologe Zimmermann ruft verzweifelt Kollegen und Freunde an, darunter auch Marxisten. Er setzt sich noch am selben Tag an die Maschine und schreibt an Erich Honecker: »Als gesellschaftlich engagierter Christ sehe ich in der veröffentlichten Drohung die Aufkündigung und den endgültigen Bruch der Zusammenarbeit zwischen Genossen und Gläubigen, die gemeinsam das Land voranbringen wollten.« Seine Verdienstmedaille, deren Urkunde Honecker unterzeichnet hatte, gibt er auf diesem Wege zurück. Ein Schreiben mit der Abschrift seines Briefes richtet er an den Redaktionssekretär der Leipziger Volkszeitung. Von dort geht das als brisant eingestufte Schreiben sofort zur SED-Bezirksleitung, wo es Jochen Pommert, der für Agitation und Propaganda zuständige Sekretär, der Letzte der sechs, erhält.

Sonntag, 8. Oktober: Wötzel ruft Lange an, fragt, wie es ihm gehe. Beide sind höchst beunruhigt. Wötzel: »Vielleicht sollten wir zusammen in die Kirchen reingehen und mit den Menschen reden?« Lange: »Auch die Leute auf dem Platz müssten angesprochen werden.« Wötzel: »Ruf mich morgen 14 Uhr an.«

Montag, 9. Oktober, 13 Uhr: Der amtierende Chef der Polizeibehörde des Bezirks Leipzig, Oberst Sinagowitz, zu einbestellten Journalisten: »Wir gehen davon aus, dass wir diese Ansammlungen um die Nikolaikirche bereits dort auflösen. Über den Karl-Marx-Platz [heute Augustusplatz] wird keiner kommen.«

Gewöhnlich hält Kurt Masur vor Konzerten Mittagsruhe. Doch heute kann er es nicht, er ist aufgewühlt. Bei der bevorstehenden Demonstration – so hat er erfahren – soll »mit diesem Rowdytum radikal aufgeräumt werden«. Der Humanist will alles Menschenmögliche versuchen, um »ein Niederschlagen der Massen zu verhindern«. Er versucht, mit jenen in Kontakt zu kommen, von denen er glaubt, »dass sie Machtmittel in den Händen halten«.

14 Uhr: Masur ruft Meyer an: »Ich bin in großer Sorge. Lassen Sie uns doch gemeinsam darüber nachdenken, was man tun kann, um Schlimmeres für Leipzig, vielleicht sogar für unser Land, zu verhindern.« Meyer empfiehlt zusammenzukommen, berät sich mit Pommert und Wötzel. Letzterer will Lange und Zimmermann hinzuziehen. Meyer ruft Masur an, der inzwischen zu Hause ist, und fragt, ob er zu einem Gespräch mit ein paar Personen zu ihm kommen könne. Masur bejaht sofort. Wötzel benachrichtigt Zimmermann und holt Lange ab. Im Auto sagt Wötzel zum Kabarettisten: »Wir sollten einen Aufruf an die Leipziger formulieren.«