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  Uwe Buß– Letzte Rettung für Gan– SCM Kläxbox

 SCM– Stiftung Christliche Medien

ISBN 978-3-417-22682-9 (E-Book)

Datenkonvertierung E-Book:

© 2013 SCM Kläxbox im SCM-Verlag GmbH & Co. KG

Die Bibelverse sind folgender Ausgabe entnommen: Elberfelder Bibel 2006,
© 2006 by SCM R.Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten.

Umschlaggestaltung: Marc Robitzky, ZKY-Design, www.zky-design.de

Für Aaron und Finn

Ich will in der Wüste Quellen entspringen lassen,
damit mein auserwähltes Volk
sich erfrischen kann.

Jesaja 43,20

INHALT

Kapitel 1
Die Welt in Aufruhr

Kapitel 2
Alles anders

Kapitel 3
Schloss Birah

Kapitel 4
Der Auftrag

Kapitel 5
Eine unerwartete Begegnung

Kapitel 6
Bergmännchen in Not

Kapitel 7
Auf dem Weg zur goldsilbernen Stadt

Kapitel 8
Im Gefängnis

Kapitel 9
Verborgene Wege

Kapitel 10
Unterwegs zur Quelle des Lebens

Kapitel 11
Die Mine der Finsternis

Kapitel 12
Neue Wege

Kapitel 13
Das Feuer speiende Krokodil

Kapitel 14
Schließt ihn weg!

Kapitel 15
Der Abschied

Kapitel 1

Die Welt in Aufruhr

Finn Petersen saß zwischen seine Eltern gepfercht auf der Couch und lauschte gebannt der Nachrichtensprecherin. Früher hatte Finn sich nie für die Nachrichtensendungen interessiert, die sich seine Eltern jeden Abend anschauten, aber seit einigen Monaten gab es wohl niemanden auf der ganzen Erde, der nicht so oft wie möglich den Fernseher anschaltete, um die neuesten Schreckensmeldungen zu hören. Alles schien außer Kontrolle geraten zu sein. Vor einigen Tagen hatte die Moderatorin, während sie von den neuesten Katastrophen erzählte, zu weinen begonnen. So etwas hatte es noch nie gegeben. Es gab wohl kein Land, das nicht irgendein Unglück erlebte. In einigen Gegenden war die Trockenheit so groß, dass die Menschen in Massen das Land verlassen mussten. Die Versorgung mit Trinkwasser konnte nicht garantiert werden. Andere Länder wurden überschwemmt. Ganze Landstriche standen unter Wasser und die Bewohner mussten von Hilfswerken und Militär evakuiert werden. Die Fachleute rätselten, ob diese Katastrophen mit der Erderwärmung zusammenhingen, aber die Geschwindigkeit, mit der solche Unwetter jetzt auftraten, ließ sie ratlos verstummen. Es geschah alles wie im Zeitraffer. Wenn nicht das Klima oder ein Erdbeben ein Land erschütterte, war es seine Wirtschaft, die infolge der Katastrophen zusammenbrach. Menschen bekamen keinen Lohn mehr für ihre Arbeit. Nahrungsmittel, Kleidung und andere lebensnotwendige Dinge wie Medizin wurden knapp. Selbst hier in Frankfurt am Main war Chaos ausgebrochen. Finns Vater ging seit Tagen nicht mehr zur Arbeit. Die Hitze war derart schlimm, dass in dem großen Bürogebäude alle Klimaanlagen ihren Geist aufgegeben hatten. Auch die Schule war geschlossen worden. Zum einen wegen der Hitze und zum andern, weil der Schulweg zu gefährlich war. Jeden Tag wurden Geschäfte überfallen. Die Menschen sahen keinen anderen Ausweg, um an Lebensmittel heranzukommen. Die Straßen waren alles andere als sicher.

Am schlimmsten war für Finn, dass er den Kontakt zu den anderen Amulettträgern nicht halten konnte. Das Internet funktionierte nur sporadisch und in zahlreichen Ländern war es ganz zusammengebrochen. Wie mochte es Pendo, Chika und Joe wohl gehen? Die letzten Nachrichten, die er über Japan gehört hatte, wo Chika lebte, berichteten von schrecklichen Überschwemmungen. Millionen Menschen seien ins Bergland geflohen. Joe, der Hopiindianer aus Nordamerika, der eigentlich Chochuschuvio hieß, hatte schon vor Wochen das Reservat verlassen müssen, in dem sein Stamm lebte. Die ohnehin karge Wüstenlandschaft war nun so ausgetrocknet, dass ein Leben dort einfach nicht mehr möglich war. Von der Südafrikanerin Pendo hatte er am längsten nichts mehr gehört. Es gebe große Unruhen und blutige Auseinandersetzungen im Land, schrieben die Zeitungen.

Finns Mutter drückte auf die Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus: »Ich kann das nicht mehr sehen. Die armen Menschen. Da geht es uns im Vergleich ja noch richtig gut.«

»Allerdings«, sagte Finns Großvater, der in diesem Moment das Wohnzimmer betrat. Seit einer Woche wohnten die Großeltern bei Finns Familie in Frankfurt. Normalerweise lebten sie auf einem alten Bauernhof in der Nähe von Husum, direkt hinter dem Deich. Ihre Stadtbehörde aber hatte ihnen geraten, den Hof zu verlassen. Die Gefahr einer richtig schlimmen Springflut sei zu groß, um so nah am Wasser zu leben. Der Umzug fiel ihnen nicht leicht. Seit fast zwei Jahren hatten sie kaum noch Kontakt zu Finns Eltern gehabt. Finns Vater hatte sich maßlos darüber aufgeregt, dass der Großvater seinem Enkel von dem geheimisvollen Land Gan erzählt hatte, das er für reinen Humbug hielt. Finn hatte manchmal, mit Wissen seiner Mutter, mit den Großeltern telefoniert, doch als die Großeltern anriefen und erzählten, dass sie aus ihrem Haus ausziehen müssten, hatte ihr Sohn ihnen sofort angeboten, sie zu sich zu holen.

»Schrullige Ansichten hin oder her«, hatte er gesagt. »In der Not geht die Familie über alles.« Damit war der Streit offiziell für beendet erklärt. Zumindest oberflächlich. Finns Vater und der Großvater vermieden es nach wie vor, zu zweit in einem Raum zu sein, und das Thema »Gan« war natürlich tabu. Die Großmutter versuchte, die gute Stimmung zu bewahren, und warf ihrem Mann warnende Blicke zu, wenn dieser Anspielungen auf Gan oder Finns steinernes Amulett machte. Die Einzige, die mit allen gut zurechtkam, war Finns Mutter. Sie hielt sich aus dem Streit einfach raus und versuchte, den Familienalltag, so gut es ging, aufrechtzuerhalten.

»Ich kann die Nachrichten nicht mehr ertragen«, meinte nun Finns Großmutter, die ebenfalls das Wohnzimmer betrat. Sie setzte sich neben Finn auf die Couch und drückte den Jungen, der mittlerweile fast zwei Köpfe größer war als sie, an sich.

»Die ganze Welt ist aus den Fugen geraten«, sagte der Vater, der immer noch auf den schwarzen Fernsehbildschirm starrte. »Früher waren die Katastrophen immer weit weg, sie hatten nie etwas mit uns zu tun. Aber jetzt …?«

Alle schwiegen. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach.

Finn hatte in der letzten Zeit viel darüber nachgedacht, warum die Menschen auf der ganzen Erde so sehr litten. Natürlich hatte er alles, was er über Gan wusste, in seine Überlegungen miteinbezogen. Vor allem ein Satz von Nebijah, der Hüterin der Lebensströme in Gan, den er bei seinem ersten Abenteuer gehört hatte, ging ihm immer wieder durch den Kopf. Selbst in seinen Träumen verfolgte er ihn: »Wenn die Ströme nicht wieder zu fließen beginnen«, hatte sie damals gesagt, »wird die Erde, so wie wir sie kennen und lieben, vergehen. Das Böse wird die Herrschaft übernehmen und sein einziges Ziel ist die totale Unterwerfung allen Lebens.«

Damals war die Quelle des Lebens tatsächlich versiegt und Finn und seine Freunde Chika, Pendo und Joe hatten den Auftrag bekommen, sie wieder zum Fließen zu bringen. Am Ende dieses ersten Abenteuers in Gan war ihnen das gelungen. Genau genommen hatte der geheimnisvolle silberne Pelikan Äbrah die Quelle wieder zum Fließen gebracht. Gan blühte auf und die ganze Welt schien gerettet zu sein. Wenn Finn aber jetzt diese furchtbaren Bilder von Überschwemmungen, hungernden Menschen und Kriegen in den Nachrichten sah, musste er immer wieder an Nebijahs Warnung denken. Genau das musste eingetroffen sein. Was, wenn die Quelle wieder ausgetrocknet war? Wenn Gan in größerer Not wäre als je zuvor, und die bösen Mächte die endgültige Herrschaft über das Land, ja, die ganze Erde antraten? Alles schien darauf hinzudeuten.

»Das ist wie …«, rutschte es Finn raus. Schnell hielt er inne. Er hatte keine Lust auf einen Streit mit seinem Vater. Es war ohnehin schon alles kompliziert genug.

Fragend schauten alle zu ihm.

»Was ist wie?«, fragte seine Mutter.

»Ach nichts«, winkte Finn ab. »Ich war nur so in Gedanken.«

»Du denkst doch irgendwas Bestimmtes, Finn. Sag es ruhig«, hakte der Vater nach. Er schaute neugierig zu seinem Sohn, über den er viel zu wenig wusste, wie ihm in Momenten wie diesem bewusst wurde.

»Ach, das interessiert dich eh nicht«, raunzte der und stand auf.

»Woher willst du das wissen?«, fragte Finns Vater und hielt den Jungen am Arm fest. »Hat es etwas mit diesem komischen Land zu tun, von dem dir Opa erzählt hat?« Er warf dem Großvater einen ärgerlichen Blick zu.

»Ja«, antwortete Finn, »und genau deshalb werde ich dir davon nichts erzählen.« Mit einem Ruck befreite er seinen Arm aus dem Griff des Vaters und ging aus dem Zimmer. Mit einem kurzen Blick forderte er den Großvater auf, ihm zu folgen.

Kurze Zeit später klopfte es an Finns Tür. Herein trat aber nicht der Großvater, sondern sein Vater.

»Was willst du denn?«, fragte Finn mürrisch.

»Mit dir reden«, erwiderte sein Vater leise.

»Aha«, meinte Finn. »Das fällt dir aber früh ein.«

»Finn, bitte!«

»Na gut. Über was willst du reden?« Finn legte betont lässig das Buch aus der Hand, in dem er gerade gelesen hatte.

»Was wir da jeden Tag in den Nachrichten sehen und in der Zeitung lesen, überhaupt alles, was da draußen in der Stadt passiert, das macht mir große Sorgen. Das ist nicht normal.«

»Allerdings.«

»Die Experten scheinen keinen blassen Schimmer zu haben, was da gerade passiert. Jeder Wissenschaftler, der im Fernsehen interviewt wird, stammelt nur rum. Sie haben keine Antworten. Ich mache mir große Sorgen: um dich, um Mama, Oma und Opa, um unsere Zukunft. Und mich interessiert, was du denkst.«

Verwundert schaute Finn in die blauen Augen seines Vaters. So kannte er ihn gar nicht. Normalerweise vermittelte er den Eindruck, alles im Griff und immer die richtige Antwort zu haben. Der Meinung anderer schenkte er kaum Beachtung. Sein Vater musste sich also wirklich große Sorgen machen, wenn er so mit ihm sprach.

»Du liegst ganz richtig. Ich sehe tatsächlich einen Zusammenhang zwischen dem, was hier passiert, und dem, was vielleicht gerade in Gan geschieht. Da du aber nicht an die Existenz von Gan glaubst, brauchen wir das Gespräch nicht weiterzuführen.« Finn griff nach seinem Buch.

»Was passiert vielleicht in Gan? Bitte erzähle es mir. Ich will es wirklich wissen.«

»Seit zwei Jahren rastest du total aus, wenn mir irgendetwas über Gan rausrutscht, und jetzt willst du, dass ich dir davon erzähle? Das ist nicht dein Ernst, oder?«

»Ich bin Wissenschaftler durch und durch. Deshalb kann ich auch nicht glauben, dass ein Land wie Gan wirklich existiert. Aber zurzeit …«, der Vater stockte, »… zurzeit weiß ich nicht mehr, was ich glauben soll. Deshalb will ich zumindest alles gehört haben. Ich werde auch nicht ausrasten, versprochen.«

Finn atmete tief durch und dachte eine Weile nach. Schließlich gab er sich einen Ruck. »Opa hat dir ja einiges über Gan erzählt. Früher, meine ich.«

Der Oberlippenbart des Vaters zuckte, aber er beherrschte sich. »Ja, hat er. Als ich so alt war wie du jetzt, gab es kein anderes Thema bei ihm.«

»Dann weißt du also von der Quelle des Lebens?«

»Ja.«

»Als ich vor zwei Jahren zum ersten Mal in Gan war …«

Der Vater unterbrach ihn: »Zum ersten Mal? Gibt es auch ein zweites Mal?«

Finn schluckte. Sollte er sich seinem Vater wirklich anvertrauen? Kritisch beäugte er ihn, fuhr dann aber fort: »Ja. Letztes Jahr war ich wieder dort. Du warst zum Glück bei der Arbeit und hast nichts mitbekommen.« Finn fixierte den Oberlippenbart. Keine Reaktion.

»Vor zwei Jahren war die Quelle des Lebens versiegt. Wir Träger der Amulette hatten den Auftrag, sie wieder zum Fließen zu bringen, was uns auch gelungen ist. Damals wurde uns erklärt, was mit der Erde geschehen würde, wenn wir das nicht schafften. Nun ja, das, was uns damals erzählt wurde, passiert jetzt gerade. Das Durcheinander im Klima, die hungernden Menschen, die Kriege.«

»Und jetzt glaubst du, dass die Quelle wieder versiegt ist?«

Finn nickte. Sein Vater begriff erstaunlich schnell.

»Was sagen deine Freunde dazu, mit denen du dieses Spiel … äh, die auch behaupten, sie seien in Gan gewesen?«

Finn war schon klar, was sein Vater eigentlich hatte sagen wollen. Er antwortete trotzdem. »Ich kann sie nicht erreichen. Das Internet funktioniert nicht überall.«

»Hast du ihre Handynummern?«

Finn überlegte: »Ja, ich denke schon. Aber es ist teuer, dorthin zu telefonieren. Seit die Welt kopfsteht, ist alles furchtbar teuer geworden. Das kann kein Mensch bezahlen.«

Der Oberlippenbart tänzelte nervös hin und her. »Hier hast du mein Diensthandy. Damit kannst du auch ins Ausland telefonieren. Probier dein Glück.«

Ungläubig schaute Finn zwischen dem Handy, das nun vor ihm auf dem Bett lag, und seinem Vater hin und her.

»Nun telefonier schon!«, forderte der Vater ihn auf. »Falls, und ich betone dieses Falls ganz deutlich, falls es wirklich stimmen sollte, was du vermutest, könntest du vielleicht irgendwie helfen.«

Finn ging zu seinem Schreibtisch, holte die Telefonnummern von Chika, Joe und Pendo und schaute dann wieder zu seinem Vater. »Vielen Dank, Papa, aber beim Telefonieren wäre ich lieber alleine.«

»Wieso?« Zum ersten Mal in diesem Gespräch hörte Finn einen ärgerlichen Unterton in der Stimme seines Vaters.

»Weil ich keine Lust habe, auf Englisch zu reden, während du neben mir stehst.«

»Aber du bist doch mittlerweile ziemlich gut in Englisch.«

»Trotzdem!«

»Mmh. Na gut.« Der Vater nickte kurz und ging zur Tür.

Finn schüttelte verwirrt den Kopf. Er verstand seinen Vater überhaupt nicht mehr. Er musste sich jedoch eingestehen, dass er auf die Idee, ein Handy seiner Eltern oder Großeltern zu gebrauchen, um die drei anderen anzurufen, nicht gekommen war. Da sie immer nur über das Internet Kontakt hielten, war ihm das nicht eingefallen. Unfassbar! Und das, obwohl er ständig mit allen möglichen Leuten telefonierte.

Er legte den Zettel mit den Telefonnummern vor sich auf das Bett und nahm das Handy in die Hand. Die Namen waren alphabetisch geordnet, so wählte er als Erstes die Nummer von Chika. Nach zwei Signaltönen hörte er jemanden etwas Japanisches sagen. Es war aber nicht Chikas Stimme und hörte sich auch nicht wie eine Mailbox an. Er drückte die rote Taste und nahm sich die Nummer von Joe vor, aber die Verbindung in die USA kam gar nicht erst zustande. Es knackte ein paarmal und dann war nichts mehr zu hören. Finn atmete entnervt aus. Da hatte er sich wohl zu früh gefreut.

Bevor er Pendos Nummer wählte, schloss er die Augen und flehte zu Äbrah, dem silbernen Pelikan aus Gan, der ihnen bei ihrem ersten Abenteuer in letzter Sekunde geholfen hatte. »Bitte, bitte!«, flüsterte Finn.

Konzentriert tippte er die Nummer ein. Zunächst geschah gar nichts, dann kam das ersehnte Freizeichen. Keine südafrikanische Mailbox. Finn atmete tief durch. Fünf Sekunden, zehn Sekunden, fünfzehn Sekunden. Finn schluckte.

»Hello?«

Finn schluckte. Englisch reden am Telefon – er hasste es: »Pendo, bist du’s?«

»Finn? Bist du das?«

»Ja.«

»Das ist ja der Wahnsinn. Ich hatte die letzten Tage schon mehrmals probiert, dich zu erreichen, aber es hat nie geklappt. Das Internet funktioniert gar nicht mehr und das Telefon nur selten. Es ist schrecklich.«

»Hier geht auch alles drunter und drüber«, sagte Finn. »Weißt du etwas von Joe und Chika?«

»Von Chika habe ich schon länger nichts gehört, und Joe hatte in seiner letzten Mail geschrieben, dass seine Familie vermutlich das Reservat verlassen muss. Er meinte, alle Wasserquellen seien vertrocknet. Menschen und Tiere werden in andere Gebiete gebracht. Es muss furchtbar sein.« Einige Sekunden schwiegen beide. Die Ereignisse der letzten Wochen waren zu schrecklich, als dass es möglich gewesen wäre, sie mit wenigen Worten am Telefon auszudrücken.

»Ich habe nachgedacht«, sagte Pendo. »Die Quelle des Lebens in Gan muss wieder versiegt sein.«

»Ja, diesen Gedanken hatte ich auch.«

»Wir müssen irgendwie nach Gan kommen!«, meinte Pendo mit fester Stimme.

»Was? Wie soll das gehen? Wir haben keinen Kontakt zu Joe und Chika, die Steine machen keinen Mucks, sie leuchten nicht, sie vibrieren nicht, und Besuch aus Gan, wie im letzten Jahr, haben wir auch nicht …« Finn konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie die Reise nach Gan gelingen sollte.

»Ach Finn.« Pendos Stimme klang unwillig wie die einer Lehrerin, die von einem Schüler wiederholt die falsche Antwort bekommt.

Finn konnte diesen Ton überhaupt nicht leiden. »Ach Finn«, äffte er sie nach.

Pendo begriff sofort: »Entschuldige«, sagte sie mit einem Lächeln in der Stimme. »Ich musste nur daran denken, dass du und Alfrigg letztes Jahr gesagt hattet, wir würden bestimmt nach Gan kommen, wenn der Schöpfer der Lebensströme uns dort haben will.«

»Aber denkst du denn, er will uns dort haben? Niemand hat uns gerufen. Beim ersten Mal hat Nebijah uns geholt, beim zweiten Mal kamen Alfrigg, Alon, Elbachur und Daniel, aber jetzt ist niemand gekommen.«

Pendo entgegnete: »Wie soll ich es dir erklären? Mein Herz redet gerade lauter, als es jede Stimme könnte. Deines etwa nicht?«

Finn horchte in sich hinein. Tief in seinem Inneren spürte er eine Sehnsucht, ein großes Verlangen, nach Gan zu reisen und die Quelle zum Fließen zu bringen. »Doch Pendo, du hast recht. Mein Herz sagt es auch.«

»Also …« Es knackte. Leise konnte Finn Pendo noch hören, aber er verstand die Worte nicht mehr. Ärgerlich schüttelte er das Handy, aber es half nichts. Die Verbindung brach zusammen und ein lang gezogenes Signal ertönte.

»Mist!«, schimpfte er.

Es klopfte an der Tür. Hatte sein Vater etwa die ganze Zeit davorgestanden und gelauscht? Ärgerlich rief er: »Herein.« Die Tür öffnete sich und seine Eltern und Großeltern kamen ins Zimmer. »Meine Güte«, sagte Finn. »Was wollt ihr denn alle hier? So einen Auflauf bin ich in meinem Zimmer nicht gewohnt.« Er musste grinsen. Irgendwie war es witzig, wie die Familie in dieser schrecklichen Zeit zusammenrückte. Noch vor wenigen Monaten konnte er nur heimlich, ohne das Wissen des Vaters, mit den Großeltern telefonieren, und jetzt das.

»Papa hat uns erzählt, was ihr besprochen habt, und jetzt sind wir einfach gespannt«, erklärte seine Mutter. Finn schaute in die Runde. Die Augen des Großvaters blitzten.

Finn berichtete in knappen Worten, worüber er und Pendo geredet hatten: »… und dann war die Verbindung unterbrochen. Ich habe keinen blassen Schimmer, wie wir das jetzt hinkriegen sollen.«

»Wie habt ihr es denn im letzten Jahr gemacht?«, erkundigte sich der Großvater. Der Schnäuzer des Vaters zuckte verdächtig. Ihm dämmerte, dass Finn und der Großvater gegen seinen Willen Kontakt gehalten hatten. Aber er sagte nichts.

»Letztes Jahr hatten wir eine bestimmte Uhrzeit verabredet und dann alle gleichzeitig versucht, nach Gan zu gelangen.«

»Ich schlage vor, dass du es einfach wieder probierst. Da ihr keine Zeit vereinbart habt, musst du im Zweifelsfall einfach etwas länger warten. Ansonsten können wir sowieso nur hoffen.« Der Großvater schien zuversichtlich.

Finns Mutter hatte vor Aufregung rote Wangen bekommen. Ihr ging das alles etwas zu schnell: »Aber wenn das alles stimmt, was ihr da sagt, ist das nicht gefährlich, wenn Finn in dieser schwierigen Lage nach Gan kommt?«

Finn war froh darüber, dass seine Mutter nicht so viel über die Gefahren wusste, die ihm in den letzten beiden Jahren in Gan begegnet waren. Von Schwarzalben oder finsteren Leuten wie Thainavel hatte sie noch nichts gehört. Deshalb antwortete er vorsichtig: »Ich weiß natürlich nicht, was mich dort erwartet, aber die letzten Male wurde immer gut auf uns aufgepasst.«

»Wer hat auf euch aufgepasst?«

Finn konnte die Tonlage seines Vaters nicht so genau einschätzen. »Unsere Freunde dort, und natürlich Äbrah, der silberne Pelikan.« Er zeigte auf das Bild, das Chika ihm gemalt hatte.

»Ein Pelikan? Und wie bitte schön soll der auf euch aufpassen?«

Jetzt mischte sich Finns Großmutter ins Gespräch ein. »Ich denke nicht, dass wir so ins Detail gehen müssen. Opa hat bisher immer nur schöne Sachen von Gan erzählt.«

»Damals stand die Welt auch nicht kopf«, entgegnete der Vater. »Wie auch immer. Ich möchte hier nicht als uneinsichtig dastehen. Deshalb würde ich sagen, du probierst es einfach aus. Genau so, wie Opa es vorgeschlagen hat.« Er ging zu einem Sitzkissen und ließ sich darauf nieder.

Finn griff an sein Amulett und schaute irritiert zu seiner Familie. Gedehnt sagte er: »Okay, dann will ich es mal versuchen.« Er wartete darauf, dass sich seine Großeltern und Eltern regten, um den Raum zu verlassen. »Wollt ihr etwa hierbleiben und zugucken?«

»Ja, was hast du denn gedacht?«, sagte sein Vater. »Seit zwei Jahren streiten wir uns wegen dieser Geschichte. Da will ich doch wenigstens sehen, wie das ist, wenn du zwischen den Welten hin-und herreist.

»A-aber das geht nicht«, stotterte Finn.

»Wieso nicht?«

»Weil ich, ich mich dann gar nicht konzentrieren kann. Wirklich nicht.« Finn schaute flehend zu seinem Großvater. »Opa, du weißt doch, wie das ist.«

»Äh, ja, natürlich. Also ich hätte das bestimmt auch nicht mit Zuschauern machen wollen.«

Skeptisch schaltete sich Finns Mutter in das Gespräch ein: »Wenn wir schon alle anfangen, an diese verrückte Angelegenheit zu glauben, dann sollten wir Finn auch die nötige Ruhe geben.« Mit einer Handbewegung komplimentierte sie ihren Mann und ihre Schwiegereltern aus dem Zimmer. Kurz bevor die Tür ins Schloss fiel, hörte Finn noch, wie sie eindringlich zu ihrem Mann sagte: »Das ist doch nicht dein Ernst, oder?«

Kapitel 2

Alles anders

In den folgenden Stunden ließ Finn nichts unversucht, um nach Gan zu gelangen. Er legte sich auf sein Bett, drückte das Amulett auf sein Herz und konzentrierte sich. Er flehte zu Äbrah, er kniete sich vor sein Bett und betete. Nichts geschah. Mehrmals versuchte er, Pendo, Chika und Joe telefonisch zu erreichen. Aber diesmal kam überhaupt keine Verbindung zustande. Um sich ein wenig abzulenken, schaltete er das Radio ein. Aber außer Katastrophenmeldungen war nichts zu hören. Er machte es entnervt wieder aus. Als er zwischendurch in die Küche ging, um sich eine Apfelschorle zu holen und einen Happen zu essen, schauten seine Eltern und Großeltern neugierig zu ihm hin. Er schüttelte nur den Kopf. Frustriert zog er sich in sein Zimmer zurück und warf sich aufs Bett. Kurz darauf schlief er erschöpft ein.

Wilde Träume verfolgten ihn. Schwarzalben flogen am Himmel. Lichtalben in langen glitzernden Gewändern schossen mit ihren mit Perlmutt besetzten Bögen auf die finsteren Kreaturen. Kurz darauf sah Finn Bergmännchen, die sich in ihre unterirdischen Höhlen verkrochen und nicht an die Erdoberfläche trauten. Dazwischen tauchten immer wieder die sorgenvollen Gesichter seiner Familie und seiner Freunde auf. Die Bilder drehten sich in seinem Kopf und ihm stockte vor Anspannung der Atem. Dazu kam ein brennender Schmerz in der Brust. Als hätte jemand eine glühende Kohle direkt über seinem Herzen platziert. Die Bilder wechselten immer schneller, der Schmerz wurde immer stärker, bis Finn endlich aufschreckte. Schweißgebadet saß er in seinem Bett. Er brauchte einige Sekunden, bis er sich orientiert hatte. Allmählich verflüchtigten sich die Schreckensbilder. Der Schmerz über seinem Herz aber blieb.

»Autsch, was ist denn das?« Bestürzt schaute er an sich runter. Da baumelte das Amulett direkt vor seiner Brust und schien zu glühen. Hastig zog Finn das lederne Band mit dem Anhänger über den Kopf und hielt es vor sich. Er hatte das Amulett schon leuchtend gesehen, manchmal hatte es vibriert, aber noch nie hatte es geglüht wie ein Stück Kohle. Natürlich war es nicht genauso heiß wie Kohle, dann hätte Finn sich wohl schlimme Brandverletzungen zugezogen, aber der Vergleich drängte sich trotzdem auf, so orange und rot wie der Stein schimmerte. »Wow! Was ist das denn?« Fasziniert betrachtete er den Gegenstand.

In diesem Moment wurde die Zimmertür aufgerissen. Vermutlich hatten seine Eltern und Großeltern seinen überraschten Ausruf gehört und waren hergeeilt. Das Ganze dauerte nur eine Sekunde, aber es ist erstaunlich, was alles in einer Sekunde geschehen kann. Der Vater, die Mutter und auch die Großmutter standen wie versteinert mit weit aufgerissenen Augen da und starrten wie gebannt auf das Amulett, das vor Finns Gesicht hing. Ihre Gesichter waren kreidebleich. Der Großvater wirkte nicht weniger erstaunt, auch er hatte das Amulett wohl noch nie in diesem Zustand gesehen. Im Gegensatz zu den anderen aber stand er nicht unter Schock. Er rief nur: »Mensch, Junge!«

Finn wollte gerade erklären, dass das Amulett noch nie zuvor auf diese Weise geglüht habe, als es auf einmal wie ein Herz zu pulsieren begann. Er wusste sofort, was nun geschehen würde. Sein Zimmer war in gleißend helles Licht getaucht, sein Bett fing an zu zittern, ein Wirbelsturm fegte durch den Raum. Die Eltern und Großeltern schrien vor Schreck auf und griffen sich an den Kopf. Dann gab es einen lauten Knall und Finn wurde wie von Zauberhand aus seinem Zimmer herausgezogen.

In den Jahren zuvor hatte er den Übergang von seiner Welt nach Gan, einem der Gärten Gottes, immer genossen. Schwerelos war er durch eine wohltuende Stille geschwebt, bis er mit einem erneuten Knall in Gan gelandet war. Diesmal war es anders. Von einem furchterregenden Sturm wurde er durch die Luft gewirbelt, Blitze zuckten um ihn. Finn wusste überhaupt nicht mehr, wo oben und unten war. Alles drehte sich, sodass im übel wurde. Schwarze Nebelschlingen wanden sich wie Fesseln um ihn, er fühlte Panik in sich aufsteigen. Die Nebel zogen ihn in eine falsche Richtung und brannten auf seiner Haut.

»Nein!«, brüllte Finn. »Äbrah, hilf!« Unter sich erblickte er das Haus Nebijahs, in dem er immer in Gan angekommen war. Nur die Amulettträger hatten hier Zutritt, deshalb hoffte Finn, dass die dunklen Nebelschlingen ihn hier loslassen mussten. Er flehte nur noch: »Bitte, Nebijah. Lass den Schutz um dein Haus auch von oben funktionieren.« Wie durch ein Wunder lösten sich im nächsten Moment die Fesseln auf und Finn schwebte unbehelligt in das Haus hinein. Es gab den vertrauten Knall und er landete, diesmal mit einem kräftigen Schubs, auf dem Bett.

Finn musste erst einmal durchatmen. So unbequem und vor allem furchterregend war seine Reise zwischen den Welten noch nie gewesen. Offensichtlich hatte sich einiges seit seiner Abreise vor einem Jahr geändert. Sein Magen war so flau, als sei er mehrmals hintereinander auf dem Jahrmarkt Achterbahn gefahren. Da fiel ihm sein Amulett ein. Er griff nach der Schnur und zog den Stein hoch. Verblüfft stellte er fest, dass er wieder normal aussah.Von Licht und Hitze war nichts mehr zu sehen und zu spüren. Ein grauer Stein mit drei Ecken, zwei geraden Seiten und einer abgerundeten, wie bei einem Kuchenstück. Mit leiser Stimme las Finn die Worte, die auf der abgerundeten Seite standen: »Leben und Kraft«. Nichts wünschte er sich jetzt mehr für seine Welt und natürlich auch für Gan. Leben und Kraft sollten zurückkehren.

Eilige Schritte rissen ihn aus den Gedanken. Er sprang auf und schaute zur Tür, da betrat Pendo den Raum. Sie hatte schon die weißen Gewänder angezogen, die die Amulettträger in Gan immer trugen. Diese von Lichtalben gefertigten Kleidungsstücke hatten besondere Eigenschaften, die ihnen das Leben in Gan erleichterten. Sie passten sich den Temperaturverhältnissen an, sodass man in ihnen nie fror oder schwitzte. Außerdem nahmen sie die Farbe ihrer Umgebung an, sobald sie sich die Kapuzen überzogen. Dazu gab es Taschen, aus denen sie immer das herausholen konnten, was sie gerade brauchten, sei es Nahrung, Kerzen oder andere nützliche Dinge.

»Du bist schon da!«, rief Pendo erleichtert. »Wie gut!« Sie stürzte sich auf den verdatterten Finn und umarmte ihn herzlich. »Wurdest du auch von diesem schwarzen Nebel bedroht? Das war so grauenhaft. Ich habe richtig Panik gekriegt. Aber der Schutz Nebijahs über dem Haus war wohl größer. Meine Güte, es ist alles so anders geworden. Schau dich nur um.«

Jetzt erst nahm Finn den Raum um sich wahr. Nichts von der Pracht war geblieben. Bei ihrem ersten Besuch strahlte die Seidentapete in wunderschönen Farben und aufgestickte silberne Federn schienen auf ihr zu schweben. Im Jahr darauf war sie einfarbig, aber immerhin in Gold gehalten. Doch jetzt hing die Tapete in Fetzen von den Wänden, als wäre ein Wirbelsturm darübergefegt. »Was ist denn hier passiert?«

»Das wüsste ich auch gerne. In meinem Zimmer sieht es genauso aus«, sagte Pendo. »Wenn wir aber länger hier herumsitzen, werden wir das nie herausfinden.«

»Vielleicht waren das diese dunklen Nebelschlingen? Einen Wirbelsturm zu erzeugen, traue ich denen allemal zu.« Finn schaute immer noch etwas orientierungslos im Raum umher, während Pendo eifrig seine Kleider und das Schwert mit dem dazugehörenden Gürtel vom Boden auflas und ihm vor die Nase hielt.

»Ob die noch passen?«, fragte Finn. »Ich bin mindestens einen Kopf gewachsen.«

»Meine sitzen perfekt. Wahrscheinlich passen sie sich unserer Größe an«, meinte die Südafrikanerin. »Ich trau diesen Klamotten alles zu.« Finn zog sich den Pulli über den Kopf und wollte gerade die Hose öffnen, als er innehielt. Pendo verstand sofort und lächelte verlegen: »Ich warte dann draußen.«

Eilig zog Finn sich um und band den Schwertgürtel um die Hüfte. Dann probierte er aus, ob die Tarnung seines Umhangs noch funktionierte. Er zog die Kapuze über den Kopf und sofort spiegelte der Stoff die zerfetzte Tapete wider. Etwas fehlte aber noch. »Wo ist meine Tasche?«, durchfuhr es ihn. Ihm war klar, wie wichtig diese Tasche war, und vor allem, was er alles darin verstaut hatte: die Dokumente und das Siegel mit dem Feuer speienden Krokodil, die sie in der Hütte des Bösen gefunden hatten. Eilig dreht er sich um und suchte den ganzen Raum ab. Er riss die Bettdecke hoch und schaute hinter das Bett. Nichts. »So ein Mist!«, rief er aufgebracht. Als Nächstes kniete er sich hin und schaute unter das Bett. Da lag sie. Erleichtert schnaufte er und zog sie hervor. Der Sturm, oder was auch immer es war, hatte sie unter das Bett gepustet. Schnell schaute er nach, ob alles da war. Als Erstes entdeckte er die Papiere mit der unverkennbaren, schwungvollen Handschrift Thainavels, des früheren Erzministers Gans, der sich mit bösen Mächten verbündet hatte. Ihn hatten sie im letzten Jahr in einem heftigen Kampf besiegt. Als Nächstes fiel Finn das schwere Siegel in die Hände. Er spürte die dunkle Kraft, die von ihm ausging. Zugleich konnte er sich nicht gegen den Gedanken wehren, dass der Gegenstand unglaublich schön aussah. An einem schwarzen Holzgriff war die silberne Siegelscheibe befestigt. Auf der Unterseite war spiegelverkehrt das Feuer speiende Krokodil eingraviert. Es war ein wirklich kunstvoll gestalteter Gegenstand.

»Bist du endlich so weit?«, hörte er Pendos Stimme.

»Ja, bin ich.« Eilig stopfte er alles in die Tasche zurück und eilte aus dem Zimmer.

Pendo wartete in der großen Halle, die sich in der Mitte des Hauses befand. Sie bestand ganz aus Gold und Silber und hatte sich kaum verändert. Lediglich die vier goldenen Stühle waren umgekippt, die sonst um den goldenen Tisch in der Mitte des Raumes standen. Pendo und Finn stellten sie wieder auf. Sie hatten noch nicht einmal einen Kratzer abgekriegt. »Hast du schon nachgeschaut, ob die anderen angekommen sind?«, fragte Finn seine südafrikanische Freundin.

»Nein, so weit hatte ich noch gar nicht gedacht.«

Gemeinsam liefen sie zu Joes Zimmer. Dort sah es genauso aus wie bei Finn. Die einst so schöne Tapete, auf der bei ihrem ersten Besuch leuchtende Kerzen gestickt waren, hing in goldfarbenen Fetzen herunter. »Die Kleidung ist weg«, sagte Finn. »Die Tasche auch.«

»Meinst du, er ist schon hier?«

»Hoffen wir’s. Komm, wir schauen noch bei Chika nach.«

Die beiden rannten zu Chikas Zimmer, das früher im Licht von unzähligen Spiegeln glitzerte. Jetzt gab es auch hier nur die zerrissene Seidentapete. »Hier ist auch niemand, und die Kleidung ist auch weg«, stellte Pendo fest.

Die beiden gingen in die Halle zurück und setzten sich auf ihre goldenen Stühle. Sie wussten nicht so recht, wie sie jetzt weitermachen sollten. »Komm, wir legen unsere Amulette in den Tisch«, forderte Finn die Freundin auf. »Wir sind zwar nur zu zweit, aber wer weiß? Gan ist immer für Überraschungen gut.« Sie zogen die Lederbänder mit den Amuletten über den Kopf und legten sie in die dafür vorgesehene Mulde auf dem Tisch. Eine traurige Stimmung legte sich auf sie, als sie das unvollständige Bild vor sich sahen. Nichts geschah. Nebijah kam nicht zum Vorschein und auch nicht, wie beim letzten Mal, das dreidimensionale Bild von ihr. »Das war eigentlich nicht anders zu erwarten.«

»Und jetzt?«, fragte Pendo und hob ratlos ihre Hände.

Finn überlegte: »Welche Möglichkeiten gibt es denn? Joe und Chika könnten noch zu Hause in Nordamerika und Japan sein. Wobei das keinen Sinn ergibt. Schließlich sind ihre Tarnkleider nicht mehr in den Zimmern. Ich vermute, dass sie schon hier sind, und da sie nichts von uns gehört haben, einfach losgezogen sind. Was sonst sollten sie tun?«

»Kann sein, aber meinst du nicht, dass sie uns dann irgendeine Nachricht hinterlassen hätten? Also ich zumindest hätte eine Nachricht auf den Tisch gelegt, und Chika würde das garantiert genauso machen.«

»Mmh, stimmt.« Finn begann zu suchen. »Vielleicht ist das Chaos in diesem Raum erst entstanden, nachdem sie hier waren, und die Nachricht ist heruntergefallen?« Pendo folgte ihm. In der großen Halle fanden sie nichts. Als Pendo den Flur betrat, der zum Ausgang führte, entdeckte sie ein Stück Papier, das an einer Fußbodenleiste festgeklemmt war. Schnell griff sie danach und rannte zurück zu Finn. Als sie den Zettel glatt strich, sahen sie, dass es ein Brief war, allerdings war er mitten entzweigerissen und eine Hälfte fehlte. »Wir müssen weitersuchen!«

Sie kontrollierten noch einmal alle Zimmer. Unter jedes Bett schauten sie und unter jeden Stuhl. Aber die zweite Hälfte des Briefes blieb spurlos verschwunden.

Enttäuscht kehrten sie zum goldenen Tisch zurück und beugten sich über das Stück Papier.

Liebe Pendo, lieber Finn! Da wir von euch nichts mehr gehört hatten, … nach Gan zu kommen. Das ist uns tatsächlich … Auf den ersten Blick sieht alles aus, als ob … vermuten, dass die Katastrophen in uns … zu tun haben. Wir haben lange überlegt, was wir jetzt ohne … Ich (Chika) meinte, wir sollten unbedingt … gehen, da ihr bestimmt auch dorthin … Joe will aber unbedingt zuerst … Er meint, dass wir dort am ehesten er … Nun ja, wir haben uns entschlossen … Falls ihr auch noch kommt, hoffe … Wir vermissen euch ganz doll … Chika und Joe

»So ein Käse!«, schimpfte Finn. »Ohne die zweite Hälfte nützt uns das gar nichts. Wir wissen nicht mal, wohin sie gegangen sind. Wenn ich das richtig verstehe, wollte Chika zu einem Ort und Joe zu einem anderen. Und was heißt das jetzt?« Ärgerlich fegte er den Zettel vom Tisch.

Pendo hob ihn wieder auf und studierte ihn in Ruhe. »So wie ich Chika einschätze, will sie bestimmt zuerst Hilfe holen. Von unseren Freunden wohnt Alon am nächsten. Er ist nach der Geschichte im letzten Jahr wahrscheinlich wieder in sein hübsches kleines Haus im Wald gezogen. Ganz sicher will sie als allererstes zu ihm.«

»Das kann ich mir gut vorstellen. Und Joe will wohl gleich in die Vollen und direkt zu Schloss Apelah gehen, um vor den neuen Ratsmitgliedern Rabatz zu machen.«

»Ach Quatsch«, winkte Pendo ab. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Schloss immer noch benutzt wird. Nicht nach all dem, was wir dort letztes Jahr entdeckt haben.«

»Dann bleiben eigentlich nur Schloss Birah oder Untererde oder die Quelle des Lebens oder der Zauberwald oder welcher Ort auch immer übrig. Es gibt total viele Möglichkeiten.«

»Lass uns zuerst zu Alon gehen. Von dort aus reisen wir zu den Lichtalben, so wie bei unserem ersten Aufenthalt hier«, schlug Pendo vor.

»Okay. So machen wir es. Vielleicht treffen wir ja unterwegs jemanden, der uns weiterhelfen kann.«

Sie zogen los. Vögel mit bunten Federkleidern flogen aufgeregt über ihnen und zwitscherten in den schönsten Melodien. Es war jedes Mal wie in einem Traum, von diesen wunderschönen Tieren begrüßt zu werden. »Wie letztes Jahr«, dachten sie wehmütig. Erst allmählich bemerkten sie, dass etwas anders war.

»Schau dir die Pflanzen an, Finn«, forderte die Südafrikanerin ihren Freund auf.

Die Blütenpracht in Nebijahs Garten war immer noch eindrucksvoll schön. Sie leuchtete in satten Farben. Aber die prächtigsten Blumen waren abgeknickt. »Als ob der Wirbelsturm auch über den Garten hinweggefegt wäre. Und zwar vor Kurzem erst«, stellte Finn fest, nachdem er sich einige Pflanzen genauer angeschaut hatte.

»Finn, ich habe das Gefühl, wir sollten sehr vorsichtig sein. Zuerst diese Nebelschlingen, die uns von Nebijahs Haus wegziehen wollten, dann die Verwüstung im Haus und jetzt das hier. Da stimmt was nicht.«

»Komm, wir ziehen uns die Kapuzen über und gehen so schnell wie möglich in den Wald.«

Im nächsten Augenblick nahm ihre Kleidung die Farben des Blütenmeeres an. Pendo und Joe waren kaum noch zu erkennen, als sie durch den Garten huschten. Wären sie nicht schon vorher von ihren Feinden beobachtet worden, hätten diese vermutlich keine Chance gehabt, sie zu entdecken. So aber kam es, wie es kommen musste. Pendo nahm den dunklen Speer, der auf sie zuzischte, in letzter Sekunde wahr und machte einen Schritt zur Seite. Die Waffe fand ihr Ziel in einem uralten Baum neben ihr. Pendo und Finn hatten noch nicht mal Zeit, zu erschrecken. Sie konnten nur reagieren, denn dem Speer folgte sogleich ein Schwarzalb, der direkt vor ihnen landete. Im Nu hatten Pendo und Chika ihre Schwerter gezogen und wollten sich auf die unbewaffnete Kreatur stürzen, als zwei weitere Schwarzalben herbeigeflogen kamen. Die drei Finsterlinge schauten hasserfüllt zu ihnen herüber.

»Tzzztzzz, das Spiel ist aus, Menschenkinder. Tzzztzzz«, zischte der erste Schwarzalb.

»Tzzztzzz, aus, aus aus, tzzz«, freute sich sein Kumpan.

»Tzzztzzz, der Meister wird glücklich sein, tzzztzzz!«

»Das werden wir ja sehen!«, rief Pendo und stürmte ohne Angst auf die drei los. Finn sprang ihr hinterher. Mit solchem Mut hatten die Schwarzalben wohl nicht gerechnet. Nur zwei von ihnen waren noch bewaffnet und ihre Speere waren den Schwertern unterlegen. Sofort eilten den Jugendlichen die Vögel aus Nebijahs Garten zu Hilfe und stürzten sich mit großem Geschrei auf die Schwarzalben, sodass diese mit ihren Speeren nicht mehr zielen konnten. Finn und Pendo hieben mit kräftigen Schlägen auf ihre Feinde ein. Hätten sie Zeit zum Nachdenken gehabt, wären ihnen Mut und Entschlossenheit vermutlich abhandengekommen, so aber galt es einfach nur zu überleben. Ihren Wunsch, der Welt neues Leben und Kraft zu bringen, wollten sie nicht zu Beginn dieses Abenteuers begraben.

Der Kampf dauerte nur wenige Minuten, dann lagen drei Schwarzalben reglos auf dem Waldboden. Pendo und Finn wussten nicht, ob die schwarzen Kreaturen nur bewusstlos oder gar tot waren. Das war ihnen auch egal. Sie wollten nur weg von diesem schrecklichen Ort. Die bunten Vögel dachten wohl das Gleiche, denn sie flüchteten schnell in die sichere Umfriedung ihres Gartens.

»Wir müssen sofort weg von hier! Wer weiß, wo noch mehr von diesen Dingern sind«, rief Finn und hastete voraus. Die beiden rannten, immer in Richtung der aufgehenden Sonne, wie damals bei ihrem ersten Besuch, bis sie schließlich vor Erschöpfung nicht mehr konnten. Sie versteckten sich unter einem Busch abseits des Weges und rangen nach Luft. Nun erst, wo sie wieder durchatmen konnten, drang in ihr Bewusstsein, was sie gerade Schreckliches erlebt hatten. Sowohl Pendo als auch Finn schossen die Tränen in die Augen. Sie konnten selber nicht sagen, warum sie weinen mussten. Diese dunklen Kreaturen, die Mächte der Finsternis, taten ihnen bestimmt nicht leid. Das Entsetzen aber hatte die Amulettträger eingeholt. Offensichtlich war die Situation in Gan weitaus brenzliger, als sie gedacht hatten. Wenn die Schwarzalben schon Nebijahs Haus bewachten, einen Ort des Lebens, dessen Nähe sie bestimmt nicht freiwillig suchten, wie viel mehr von ihnen mussten sich dann im Land herumtreiben. Sie ahnten das Schlimmste.

Als sie sich halbwegs wieder beruhigt hatten, sagte Pendo: »Schau mal! Wie schrecklich der Wald aussieht. Völlig vertrocknet.«

Finn nahm die Bäume in Augenschein: »Wie vor zwei Jahren, als die Quelle vertrocknet war.«

»Mich erinnert das eher an den Wald, der die Hütte des Bösen umgibt«, sagte Pendo. »Gan leidet genauso wie die vier Enden der Erde.«

»Wir müssen rausfinden, was hier los ist. Komm, lass uns