Die Briefe an Lucilius über Ethik sind das reifste und eingängigste Werk des großen römischen Philosophen Lucius Annaeus Seneca. Im allerbesten Sinne des Wortes populärphilosophisch, präsentieren sie sich dem Leser als kurze und kompakte Lebensratgeber. Jeder einzelne Brief ist voll der Weisheit, des lebenspraktischen Rates, der ermutigenden Worte und an den fruchtbarsten Stellen mit prägnanten Merksätzen, sogenannten Sentenzen, versehen. Dieser Band enthält das 2. Buch der Briefe in deutscher Übersetzung. Anders als die meisten Ausgaben Senecascher Werke bedient sich diese allerdings nicht der hundert Jahre alten Übertragung des Otto Apelt, sondern bringt eine Neuübersetzung, in welcher der klassische literarische Geist, die rhetorische Kraft des Urtextes sowie der wörtliche Sinn möglichst bewahrt sind. Ein Anhang am Ende des Buches bietet Anmerkungen zu philosophischen, historischen und literarischen Details. Wer die tiefen praktischen Einsichten der Briefe nicht nur oberflächlich erfassen, sondern gänzlich durchdringen will, wird so an die Materie unmittelbar herangeführt.

Lucius Annaeus Senecio, geboren 1973, hat Altertumswissenschaften und Kunstgeschichte studiert. Er ist klassischer Humanist und Moralphilosoph sowie ein scharfer Zeit- und Gesellschaftskritiker. Als Verfechter der klassischen Ethik, Ästhetik und Bildung ist er insbesondere ein entschiedener Gegner des modernen Schul- und Universitätssystems, welchem gegenüber er das antike Humanitätsideal eines Cicero, Seneca und Erasmus vertritt. Durch die erneute Zusammenführung der römischen, griechischen und biblischen Weisheit schuf er eine in heutiger Zeit einzigartige ethische Lebenslehre, welche er ohne akademischen Dünkel auch in Seminaren und Vorträgen vermittelt. Darüber hinaus lehrt er die klassischen Sprachen Latein und Altgriechisch an seinem Sprachinstitut in Berlin.

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2. Auflage

© 2015 Ad Fontes Klassikerverlag

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Umschlagmotiv: Claude Lorrain (1600 – 1682), Küste mit Apollon und der Sibylle von Cumae (1645 – 49)

Layout & Satz, Covergestaltung: Hypatia Senecio

www.adfontes-klassikerverlag.de

ISBN 978-3-9459-2418-1

INHALT

PROOEMIUM

Philosophie ist die Lehrmeisterin des Lebens. Keine Wissenschaft, kein Handwerk, überhaupt keine Tätigkeit vermag ohne sie fruchtbar zu sein, denn was auch immer nicht beiträgt zu des Menschen wahrem Glück, kann dem Menschen nicht nützlich werden. Lucius Annaeus Seneca (1 – 65) ist der trefflichste Lehrer dieser Königin aller Wissenschaften. Auch im zweiten Buch seines unschätzbaren Hauptwerkes Moralische Briefe an Lucilius, seinen Freund und Schüler, bietet er in neun kurzen Episteln erbaulichste Stücke seiner unvergleichlichen Lebenslehre. Ganz dem hehren Geiste edler Humanität verpflichtet, unterscheidet sich seine Botschaft vollends vom intellektuellen Klimmziehen der Gegenwartsphilosophie. Nichts der logischen Turnereien, nichts der pseudomathematischen Verrenkungen, nichts der wissenschaftstheoretischen Verstandeshudeleien vorbei an jedwedem höheren menschlichen Gedanken langweilt den Leser ohne irgend Gewinn. Vielmehr tritt uns aus jeder Zeile, ja aus jedem Wort sogar reinste Menschlichkeit entgegen, einem jeden von uns offenbarend, wer ein jeder von uns sei. Der Meister führt uns als ein wahrer Paidagogos vor jene Dinge, welche uns großartig dünken, und korrigiert im Angesichte derselben unsere falschen Vorstellungen von Glück, Reichtum, Macht, Ansehen, Ruhm, Freundschaft, Pflicht, Beruf, Erfolg, Erstrebenswertem und Meidenswertem, indem er uns deutlich aufzeigt, inwiefern diese Dinge erstrebenswert, inwiefern aber meidenswert sind.

So unverständlich die modernen Intellektualisten sind, so verständlich ist Seneca. Er nämlich spricht an den Geist, nicht das Hirn. Ganz ohne intellektuellen Aufwand ist aber natürlich auch er nicht faßbar. Seine Sprache ist von großer Schönheit und Virtuosität, sein Ausdruck überaus reich an Bildern, sein Gedanke sehr subjektiv, aphoristisch und sprunghaft, seine Sentenzen zuweilen ebenso prägnant und kraftvoll wie satt an Zeit- und Lokalkolorit. Hier und dort vermag der Leser den ganzen Sinn einer Aussage nicht zu erfassen, ohne genaueste Kenntnis des philosophischen, historischen oder biographischen Details. Während aber bei Platon oder gar Aristoteles das Verlieren des Fadens weitere Lektüre reichlich unfruchtbar macht, da man ohne Übung denselben, einmal verloren, kaum mehr zu haschen vermag, erlaubt gerade der teilweise rhapsodische Charakter der Briefe Senecas das Überlesen schwer verständlicher Stellen; man nimmt eben den Faden wieder auf dort, wo er wieder bald zum Vorschein tritt.

Meine Übersetzung der Briefe des Meisters ist dem Geiste und der Sprache des großen Johann Heinrich Voß (1751 – 1826) verpflichtet. Wörtlichkeit so weit, wie nur irgend möglich, ist ebenso selbstverständlich wie kunstgerechte Nachbildung des Satzbaus und fließende Gestaltung des deutschen Prosarhythmus. Dabei habe ich jene Grenzen, welche Voß gezogen, nicht überschritten, um weder den Eindruck zu erwecken, klüger sein zu wollen als der unerreichbare Deutsche, noch den Novizen in der Philosophie heiligen Hallen, welcher an dieser Sprache ja wachsen, nicht scheitern soll, zu überfordern. Die vorliegende Übersetzung führt den Leser an Seneca heran und Seneca an den Leser, sei es, daß er etwa als Schüler des Lateinischen eben dieses gerade durch den deutschen Text verstehen lernen will, sei es, daß er bevorzugt, im deutschen Texte fast ganz wie im lateinischen zu lesen. Konzessionen an den Modegeist habe ich – dies hinzuzufügen, erübrigt sich eigentlich – keineswegs gemacht, da es mir als Jünger des Seneca eben nicht darum geht, bei allen x-Beliebigen beliebt, sondern bei allen wahrhaft Interessierten nützlich zu sein. Außerdem erträgt ja mit Leichtigkeit unsere so sehr tolerante und fortschrittliche Gesellschaft, daß nach hundert Jahren des immer gleichen Prosa-Tones endlich einmal etwas anderes erklinge.

Seneca ist großartig in jedem Wort. Ans Ende einzelner Abschnitte pflegt er allerdings raffende Sentenzen zu setzen, welche im besten Sinne geradezu überreich sind an wahrer Fülle der Weisheit. Diese Sentenzen, kurze, prägnante Sätze großer Einprägsamkeit, sind durch kursiven Satz hervorgehoben. Wer auch immer diese Kronjuwelen für sich sammelt und in sich birgt, hat einen unschätzbaren Schatz gewonnen.

Auch dieser Band bietet wieder einen kleinen Appendix mit Anmerkungen, welche dem ersten Zwecke des Büchleins entsprechend natürlich kaum mittels philologischen Ballastes vom Wesentlichen ablenken, sondern vielmehr die präsentierten philosophischen Gegenstände näher erläutern.

Im übrigen betrachte die weibliche Leserschaft den hier angesprochenen „Leser“ als generisches Maskulinum. Wie ich mich nämlich weder zu Mensch und Menschin werde hinreißen lassen, so auch nicht zu Leser und Leserin. Diese beiden unterscheide ich an ihrem natürlichen Geschlecht, nicht an ihrem grammatischen. Nichtsdestominder dürfte dies Büchlein wohl doch mehr für Leserinnen denn für Leser übersetzt sein, da zumindest mir kein Geheimnis, daß die Herren der Schöpfung in unsren Tagen dem holden Geschlechte deutlich nachstehen an Bildungswillen. Das mag nun liegen, woran es wolle, gibt aber jedenfalls Anlaß zu fragen, ob man sich etwa einbilden dürfe, daß darin ein besonderer Vorzug des Männlichen sich offenbare.

Berlin, am 12. April 2014

Lucius Annaeus Senecio

BRIEFE

FÜRCHTE DICH NICHT VOR KÜNFTIGEM

Seneca seinem Lucilius Gruß

Viel dir eigne des Mutes, weiß ich; denn auch bevor du unterwiesest dich mit heilsamen Lehren und Mißliches bezwingenden, warst du in Hinblick auf das Geschick hinreichend mit dir zufrieden, und um vieles mehr, nachdem mit jenem du handgemein geworden und deine Kräfte erprobt hattest, welche niemals sicheres Selbstvertrauen wirken können außer dann, wenn viele Beschwerlichkeiten hier und dort erschienen, bisweilen sogar auch näher herangerückt sind. So wird erwiesen jener wahre Sinn, nach fremdem Willen zu gehen nicht geneigt; dies ist dessen Prüfstein.

Nicht vermag ein Athlet frischen Mut nach der Kampfstatt1 zu führen, welcher niemals grün und blau geschlagen worden ist: Jener, welcher sein Blut geschaut, dessen Zähne geknirscht unter nervichter2 Faust, jener, welcher, zu Fall gebracht, den Gegner getragen mit ganzem Leibe und, niedergeworfen, nicht den Mut doch niedergeworfen hat, welcher so oft, wie oft3 er gefallen, trotziger sich wieder erhoben, steigt mit großer Hoffnung hinab zum Kampf.4

Also, auf daß ich diesen Vergleich weiter verfolge, oft schon ist das Geschick über dir gewesen, dennoch aber hast du dich nicht ergeben, sondern bist emporgesprungen und hast gar kühner Stellung bezogen; reichlich nämlich mehret sich die Tugend, wenn sie herausgefordert ist. Dennoch, falls es dir gut scheint, empfange von mir Hilfsmittel, mit welchen du dich zu bewehren5 vermagst.

Mehr existiert, Lucilius, welches uns erschreckt, als solches, welches uns bedrängt, und häufiger leiden wir aufgrund unserer Vorstellung als aufgrund einer Tatsache. Nicht spreche ich mit dir in stoischer Zunge67