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Vorwort

Batteriesäure, Farbverdünner, Abflussreiniger – kaum ein vernünftiger Mensch würde diese Substanzen freiwillig zu sich nehmen. Doch sie sind typische Grundstoffe einer Droge, die in großen Schritten Deutschland erobert: Crystal Meth, auch bekannt als Crystal Speed, Ice, Crank oder einfach nur Crystal.

Die namensgebenden Kristalle aus Methamphetamin haben bereits Bundesländer wie Sachsen, Thüringen und Teile Bayerns fest im Griff und breiten sich von dort weiter aus, ohne dass die Öffentlichkeit von dem Problem überhaupt Notiz nimmt. Dabei ist Crystal gefährlicher als der überwiegende Teil der bekannten Drogen – weil es anders ist.

Wer Crystal konsumiert, der sucht nicht die betäubende Wirkung, die etwa Cannabis oder auch Heroin zugeschrieben wird. Der neue »Stoff« ist ein Produkt einer anderen, einer modernen Zeit: Crystal wird genommen, weil es aufputscht, weil sich die Konsumenten davon mehr Leistungsfähigkeit, einen klareren Verstand und manchmal auch besseren Sex versprechen. Das bedeutet aber auch, dass Crystal eine andere und weit größere Zielgruppe anspricht als die klassischen betäubenden Mittel. Der Geschäftsmann nimmt es, weil er länger arbeiten will, die Hausfrau, weil sie abnehmen möchte, schließlich dämmt Crystal auch das Hungergefühl.

Nur: Crystal hält keines der Versprechen ein. Wer leistungsfähig sein will, arbeitet mit der Droge zwar Nächte durch, ohne auch nur einmal zu gähnen, doch er bringt nichts mehr auf die Reihe. Die Hausfrau verliert zwar reichlich Pfunde – außerdem aber auch ihre Zähne und ihre Gesundheit.

Das größte Problem jedoch besteht darin, dass ein Crystal-Konsument kaum mehr die Möglichkeit hat, solche Probleme überhaupt zu erkennen. Die Macht der Kristalle beruht nämlich vor allem darauf, dass sie im Gehirn Glücksgefühle erzeugen, die den Verstand die nachteiligen Wirkungen überhaupt nicht mehr realisieren lassen.

Außerdem gibt es kaum eine andere Droge, die so schnell abhängig macht wie eben Crystal Meth. Zwar führt im Endeffekt jede Droge zur Sucht, bei Crystal aber gibt es kaum einen Ausweg. Das hängt vor allem damit zusammen, dass es reiner ist als andere Suchtmittel. Wobei »rein« bei einer chemischen Mixtur aus Batteriesäure, Farbverdünner und anderen Substanzen natürlich ein relativer Begriff ist. Gemeint ist nicht eine Reinheit, die sich auf die körperliche Verträglichkeit bezieht. Es geht vielmehr um die Reinheit im Hinblick auf die sogenannten Wirkstoffe – also jenen Anteil des Inhalts, der die Wirksamkeit einer Droge ausmacht.

Bei einem bekannten Suchtmittel wie Kokain wird in der Regel von einem Reinheitsgrad um die 25 Prozent ausgegangen. Zieht ein Süchtiger eine »Linie« durch die Nase, dann ist also nur ein Viertel des Pulvers wirklich Kokain, der Rest setzt sich aus unterschiedlichsten Streckmitteln zusammen.

Bei Crystal Meth dagegen liegt der Reinheitsgrad meistens bei über 70, nicht selten sogar 90 Prozent. Nimmt ein Konsument also eine von Kokain bekannte Menge zu sich, ist der Rausch deutlich intensiver und anhaltender, was ohnehin schon ein weiteres Merkmal ist.

Zusätzlich führt die größere Menge an Wirkstoff auch dazu, dass die Sucht viel schneller eintritt und den Menschen kaum wieder loslässt.

Häufig setzt schon der erste Konsum von Crystal Meth einen kaum mehr aufzuhaltenden Kreislauf in Gang. Der Mensch spürt ein Glücksgefühl, gleichzeitig beginnt Crystal aber bereits mit der Zerstörung des Körpers. Im Laufe der Zeit empfindet der Nutzer sich als immer leerer und braucht Crystal, um dieses Gefühl zu überspielen. Die Realität gerät dabei immer weiter in den Hintergrund, sodass auch körperliche Probleme wie etwa Zahnausfall und eitrige Wunden gar nicht mehr wahrgenommen werden. Die Wirkung des Crystal hat den Nutzer so sehr im Griff, dass er keinen anderen Ausweg mehr sieht, als immer mehr von der Droge zu sich zu nehmen.

Die Zahl derer, die erstmals Crystal probierten, stieg in Deutschland binnen eines Jahres um 51 Prozent: Laut dem Bundeskriminalamt und der Drogenbeauftragten der Bundesregierung lag die Zahl der Erstkonsumenten im Jahr 2011 bei 1693, im Jahr 2012 schon bei 2556, Tendenz steigend. Damit hat Crystal bei den Einsteigern Heroin als beliebteste harte Droge bereits abgehängt. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs – längst nicht jeder wird erwischt und gerät so in die Statistik, die Dunkelziffer ist groß.

Dieses Buch beschreibt die verheerende Wirkung des Crystal, gibt Einblick in die Arbeit von Suchtmedizinern, Streetworkern und informiert auch über die aktuelle Lage in Deutschland.

Außerdem berichten ehemalige Süchtige von ihren Erlebnissen. Diese Menschen befanden sich zum Zeitpunkt der Gespräche überwiegend in einer Langzeittherapie, was bedeutet, dass sie ein halbes Jahr lang mit der Hilfe von Ärzten und Therapeuten auf ein Leben ohne Drogenkonsum und außerhalb der Drogenszene vorbereitet werden. All diese Menschen sind auf ihre Weise vom Crystal-Konsum gezeichnet, meist seelisch und nicht selten auch äußerlich. Sie alle plagen sich mit Ängsten und tun ihr Bestes, um ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen.

Die geführten Gespräche über ihre eigenen Suchterfahrungen bedeuteten für diese Patienten während ihrer Therapiephase eine zusätzliche Belastung. Denn keinem fiel es leicht, in Erinnerungen an die schwerste Zeit seines Lebens zu kramen.

Es wurde dabei auch schnell deutlich, dass die Betroffenen mehr Schutz benötigen als eine Person ohne Suchthintergrund, die sich im Rahmen eines Buchprojektes äußert. Daher wurden umfangreiche Maßnahmen abgestimmt, die dem Schutz dieser Menschen dienen – damit ihnen ihre Berichte nicht bei der Rückkehr in das normale Leben Probleme bereiten. Alle Interviewpartner wurden daher so weit anonymisiert, dass es keine Möglichkeit gibt, ihre wahre Identität zu erkennen. Das gilt auch und vor allem für Mara S., die besonders ausführlich über ihre 15 Jahre andauernde Crystal-Sucht spricht. Niemand kann heute sagen, ob Mara S. dauerhaft den Kampf gegen die Sucht gewinnen wird. Denn Crystal lässt niemanden so leicht wieder los. Dieses Buch soll ihr jedoch keinesfalls bei den ersten Schritten in eine neue Zukunft im Wege stehen.