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Planetenroman

 

Band 9

 

Die andere Seite des Todes

 

Mord in der virtuellen Welt – in der Heimstätte des Lebens ohne Ende

 

Peter Terrid

 

 

 

Im vierten Jahrtausend: Samantha Dryton ist eine interstellare Ermittlerin. Sie wird nach Gladmar IV gerufen, einer Welt in der Nähe des galaktischen Zentrums. Damit sie dort ermitteln kann, gibt Samantha ihre Körperlichkeit auf, um als bloßes Bewusstsein weiter zu existieren.

Denn auf Gladmar hat sich unter der Leitung des gütigen Großrechners BORIS eine ganz neue Art der Zivilisation entwickelt. Diese bietet den Menschen ungeahnte Formen des Zusammenlebens – und vielleicht sogar den Sprung auf die nächste Ebene der Evolution. Träume und Wünsche werden Wahrheit, und der Geist hat Macht über den Körper.

Doch dann geschieht ein grausamer und unerklärlicher Mord im virtuellen Paradies, der allen Regeln der Gesellschaft widerspricht – und es liegt an Samantha, dem vielschichtigen Geheimnis auf die Spur zu kommen. Dazu muss sie auf die »andere Seite des Todes« gelangen, denn nur so kann sie die drohende Katastrophe verhindern ...

Vor der Betrachtung des komplexen Beziehungsgeflechts und der nicht minder komplizierten Entstehungsgeschichte von Superintelligenzen und anderer geistiger Entitäten sollen einige allgemeine Betrachtungen stehen. Diese sind gleichsam als einführender Hintergrund der Thematik zu verstehen.

Der Vorgang, dass sich Lebewesen durch Vergeistigung zu einem Kollektivwesen entwickeln, ist der Menschheit schon seit Langem vertraut. Bekannt ist auch, dass damit oft ein Sprung auf die nächsthöhere Stufe der Evolution verbunden ist. Die neue Wesenheit verfügt über Kräfte, die weitaus umfassender sind als die der Summe der früheren Einzelwesen.

Das »klassische« Beispiel aus der hier behandelten Epoche der kosmischen Geschichte ist die Entstehung des Nukleus, des Geisteswesens, das aus den früheren menschlichen Monochrom-Mutanten entstanden ist. Nicht immer aber vollzieht sich der Evolutionssprung auf so direkte Art und Weise. Bereits das Beispiel der Kaiserin von Therm hat gezeigt, dass durchaus technologische Hilfsmittel zum Einsatz kommen können, dass Techno-Entitäten gar Teil eines solchen Kollektivwesens werden mögen. Verwiesen sei hier nur auf ESCHER, dem an anderer Stelle eine ausführliche Abhandlung zu widmen sein wird.

Eine frühe Spurensuche in diesem Bereich führt uns zu einer kleinen unbedeutenden Welt namens Gladmar IV, kurz nach der Gründung der Kosmischen Hanse. Wenig ist über die seinerzeitigen Geschehnisse auf diesem Planeten bekannt, sieht man von einem fragmentarischen Bericht der »interstellaren Ermittlerin« Samantha Dryton an Perry Rhodan persönlich ab. Warum Dryton auf Gladmar IV eingesetzt wurde, ist der Datei nur in Andeutungen zu entnehmen. Wenn es noch andere Aufzeichnungen gegeben hat, sind diese nicht länger verfügbar.

Belegt ist zudem eine Quarantäneorder, die Perry Rhodan seinerzeit für den Planeten aussprechen ließ. Nichts davon ist allerdings vom Standpunkt des Chronisten aus überprüfbar, da das Gladmar-System schon seit Langem verschwunden ist, möglicherweise während der Dunklen Jahrhunderte. Was bleibt, ist eine durchaus interessante Randnotiz in der kosmischen Geschichte der Menschheit.

 

(Aus: Hoschpians unautorisierte Chronik des 14. Jahrhunderts NGZ; Kapitel 3.0.4, Frühe Vergeistigungstendenzen und andere zu erwähnende Phänomene)

Prolog

 

Die Tür öffnete sich geräuschlos, und der Bote trat in das Zimmer. Perry Rhodan sah ihm erwartungsvoll entgegen. In der rechten Hand trug der Mann ein kleines Paket, knapp handtellergroß und daumendick, dessen Hülle aus einem dunkelroten irisierenden Plastikmaterial bestand.

»Der Kurier ist gerade gekommen«, erklärte der Bote. Er streckte die rechte Hand aus, hielt dabei aber die Finger fest auf dem Material der Hülle.

Rhodan griff ebenfalls zu. Die Kontrolle dauerte knapp eine Zehntelsekunde, danach konnte der Bote die Sendung loslassen. Er grüßte kurz und zog sich dann schweigend zurück.

Der Terraner legte das Päckchen auf den Tisch. Er runzelte gedankenverloren die Stirn. Es gab nirgendwo in den bekannten Galaxien einen Krisenherd, der den Einsatz dieses Nachrichtensystems nötig und erklärlich gemacht hätte.

Ein Päckchen dieser Art enthielt eine Botschaft, die nur besonders autorisierten Personen zugänglich gemacht werden durfte. Sensoren im Innern der Hülle maßen fortlaufend die Individualschwingungen des jeweiligen Trägers an – die Sendung konnte nur im Rahmen einer genau definierten Botenkette transportiert werden, in der Regel übernahmen Kuriere diese Aufgabe.

Unterbrach jemand die Nachrichtenkette oder versuchte eine andere Person als der ausdrücklich autorisierte Empfänger, die Sendung zu öffnen, wurde der Inhalt augenblicklich vernichtet. Es verstand sich, dass dieser leicht antiquierte, aber hochgradig sichere Weg des Nachrichtentransports nur in besonderen Fällen angewendet wurde.

»Wir werden sehen ...«, murmelte Rhodan; er rieb sich den rechten Nasenflügel, eine persönliche Angewohnheit, die sich durch die Jahrhunderte reflexhaft gehalten hatte. Das Körpersignal zeigte Aufregung oder innere Spannung an.

Er legte die rechte Handfläche auf das Tastfeld. Einen Herzschlag später klappte die Sendung auf, ein flacher Bildschirm wurde sichtbar, und eine Sekunde nach dem Öffnen wusste Perry Rhodan, wer ihn auf so spektakuläre Weise alarmiert hatte.

»Samantha Dryton an Perry Rhodan ...«

Die Darstellung war technisch hervorragend, in brillanten Farben, und sehr lebensecht. Perry Rhodan erkannte die Sprecherin sofort wieder. Samantha »Sam« Dryton war eine interstellare Ermittlerin für besondere Fälle, und Rhodan selbst hatte ihr den Auftrag gegeben, auf Gladmar IV nach dem Rechten zu sehen. Ein alter Freund Rhodans, Karoly Gladmar, hatte Perry um diesen Gefallen gebeten.

Vor knapp sechs Monaten war Samantha Dryton nach Gladmar IV aufgebrochen, und dies war der erste Bericht, den Rhodan in dieser Angelegenheit erhielt.

Der Terraner löste seine Hand von dem Tastfeld, die Wiedergabe der Botschaft wurde automatisch abgebrochen.

»Sam Dryton«, murmelte Rhodan nachdenklich.

Er vergegenwärtigte sich das Aussehen der interstellaren Ermittlerin; eine Frau von knapp fünfzig Jahren, schlank und hoch gewachsen, mit Bewegungen, die Kraft, Geschmeidigkeit und ein bestechend exaktes Körpergefühl verrieten. Sam Dryton war blond, sie trug die Haare nach der augenblicklich herrschenden Mode sehr kurz geschnitten, sie lagen wie eine helle Pelzkappe am Kopf; jedenfalls war sie so frisiert gewesen, als Rhodan ihr den Auftrag gegeben hatte.

Aber das lag ein gutes halbes Jahr zurück.

Augenscheinlich hatte sich Samantha Dryton verändert, nicht nur äußerlich, wie der Bildschirm zeigte. Die Gesichtszüge waren unverkennbar die von Sam Dryton; im Übrigen war die Nachrichtensendung selbst der Beweis dafür, dass die Sprecherin mit ihr identisch war. Eine andere Person hätte keinen Text auf dieses Aufzeichnungsgerät sprechen können.

Sam Dryton trug ihre Haare jetzt schulterlang, einen Teil hatte sie zu einem dicken Zopf zusammengebunden. Ihre Haut war sonnengebräunt, das Gesicht war ein wenig schmal geworden, und der Glanz der grünlichen Augen hatte sich verflüchtigt.

Von der eigentlichen Botschaft hatte Perry Rhodan noch kein Wort gehört oder gesehen, aber er wusste schon jetzt, dass die Ermittlerin eine Zeit äußerster seelischer und körperlicher Strapazen überstanden hatte. Bei einer Frau wie Samantha Dryton, die eine jahrelange Schulung hinter sich gebracht hatte, hieß das einiges.

Rhodan ließ das Gerät wieder anlaufen.

»Ich grüße dich, Perry Rhodan«, fuhr Sam Dryton in ihrem Bericht fort. »In gewisser Weise ist dies ein Bericht aus dem Grab, denn ich bin tot. Auf der anderen Seite habe ich mich niemals lebendiger gefühlt als in den letzten Monaten. Es klingt verwirrend, das weiß ich. Es hat mich einiges Hirnschmalz gekostet, die Zusammenhänge zu begreifen, und warum solltest du nicht auch ein paar Anstrengungen und Stunden des Nachdenkens opfern. Es lohnt sich, dafür kann ich garantieren.«

Perry Rhodan sah, wie Sam Dryton auf dem Bildschirm ein raues sarkastisches Lächeln zeigte, und unwillkürlich lächelte Rhodan zurück.

»Fangen wir also an ...«

1.

 

Sam sah hinauf zu den Zinnen der Burg, wo ihre Fahne wehte, ein Stander mit einem abstrakten Muster in ihren Lieblingsfarben Bronze, Gold, Silber und Braun. Die Flagge bewegte sich heftig im Wind, der an dem Tuch zerrte. Wenige Meter unter dem Tuch, auf dem grabsteinigen Dach des schroffen Burgturms, war von dem Wind nichts zu spüren.

An Details wie diesen kuriosen Windverhältnissen konnte Sam erkennen, in was für einer Welt sie lebte.

Ihre Bewohner nannten sie Proto-Eden, sahen in ihr gewissermaßen eine Vorstufe zum Paradies. Wohlweislich hüteten sie sich davor, darüber zu diskutieren, wie real diese Welt Proto-Eden wohl sein mochte.

Denn Proto-Eden bestand nur in den Schaltkreisen und Speicherbänken einer gigantischen Positronik – und in den Gehirnen der Menschen, die alle zusammen diese Welt bildeten, verbunden mit dem Computer.

Sam Dryton lächelte.

Proto-Eden, die perfekte Synthese aus menschlichem Denken und positronischer Logik, hatte seine ganz eigenen Spielregeln und Gewohnheiten. Auch die Menschen verhielten sich anders, als sie es beispielsweise auf Terra taten.

Dort jedenfalls hätte sich ein junger Mann, der seiner Geliebten einen Besuch abzustatten wünschte, keine goldene Karosse beschafft, sie mit acht Schimmeln bespannt und wäre damit über staubige Feldwege herangefahren wie ein Prinz im siebzehnten Jahrhundert. Sam, die bei aller Intelligenz und Logik eine Schwäche für solch romantische Spielereien hatte, lächelte unwillkürlich.

Von dem, was sie sah, hörte, roch, schmeckte, fühlte oder auf andere Weise mit ihren Sinnen wahrnahm, war nichts im herkömmlichen Sinn real. All diese Bilder und Sinneseindrücke entstammten einer Zusammenarbeit zwischen Sams Gehirn, das in einer Nährlösung, an Lebenserhaltungssysteme angeschlossen, einen ewigen, traumerfüllten Schlaf schlief, und der Fähigkeit der Hochleistungspositronik namens BORIS.

Das Zusammenspiel – Sam hatte zwei Monate Zeit gehabt, ihre diesbezüglichen Fertigkeiten zu trainieren – klappte inzwischen vorzüglich. Ein winziger Gedanke reichte aus: Auf den Zinnen der Burg tauchten phantastisch kostümierte Menschen auf und hießen den Besucher in der staubwirbelnden Kutsche mit weithin hallenden Klängen von Fanfaren willkommen.

Die geistige Anregung kam von Sam, der schnelle und leichte Wunsch, Yothan Grenard mit diesem Fanfarenkorps zu begrüßen. BORIS, allgegenwärtig und – beinahe – allmächtig, hatte die Gedankenimpulse in Sams Gehirn registriert, auch die Informationen, die ihr gar nicht erst ins Bewusstsein gestiegen waren, nur halb bewusste Wünsche und Vorlieben bezüglich der Kostüme und der Musik.

BORIS hatte dann nur ein paar Millisekunden benötigt, um Sams Wünsche anhand seines Datenmaterials in die Realität von Proto-Eden zu übersetzen; während diese Szene ablief, die man schlicht auch als Computersimulation hätte bezeichnen können, speiste er die Daten des Musiker-Auftritts in die Gehirnströme der Beteiligten ein: die Gestalten, die Instrumente, Kostüme, die Musik. Sie klang nach Barock, ein wenig verfremdet, aber dennoch großartig, pompös und beeindruckend. Die von BORIS geschaffene Illusion war so perfekt, dass er auch nicht vergaß, diesem Klang in Sams und Yothans geistigen Ohren das illusionäre Echo der illusionären Musik an den illusionären Wänden von Sams Wohnburg beizumischen.

Aus der gleichen, schier unerschöpflichen Quelle war die Kutsche entstanden, in der Yothan vorfuhr, begleitet von einer Schar livrierter Diener. An ihnen, wie an den Musikern auf Sams Burg, wurde eines der Lebensprinzipien von Proto-Eden deutlich: Obwohl es für BORIS ein Leichtes gewesen wäre, den Musikern und den Dienern individuelle Gesichtszüge zu geben, hatte er sie nur mit vergleichsweise stumpfen, nichtssagenden Maskengesichtern ausgestattet. Auf diese Weise wurde erreicht, dass sich jeder Bewohner der Welt stets darüber im Klaren sein konnte, ob er Kontakt mit einem Intelligenzwesen oder nur mit einem Illusionsgeschöpf hatte.

Die Kutsche hielt an, aus den Toren der Burg sprang eine Schar Diener und rollte einen langen roten Teppich aus, vom Portal bis zum gerade geöffneten Wagenschlag.

Yothan stieg aus, grüßte huldvoll das versammelte Volk und schritt dann mit feierlichem Gepräge zum Portal der Burg.

Dass Sam durch einen einzigen Gedanken unmittelbar unter dem roten Teppich ein großes, mit Wasser gefülltes Loch entstehen ließ, war ein ziemlich grober Spaß; aber Yothan reagierte blitzschnell – gedankenschnell, buchstäblich – und ließ den durchgesackten Teppich wie das Netzwerk eines Trampolins reagieren. In elegantem Schwung stieg er in die Höhe, flog an der Burgwand hoch, viel höher, als es nach den Gesetzen der Natur eigentlich möglich gewesen wäre. Auf dem Höhepunkt seiner Bahn beschrieb er einen eleganten Salto und landete dann sanft auf den Füßen, unmittelbar neben Sam.

»Schön, dass du gekommen bist«, sagte die Frau leise und schloss Yothan in die Arme. Der hielt sich dabei ein wenig steifrückig. Er war in einer Zeit geboren worden, in der die Geschlechterrollen – wieder einmal – wechselten. Frauen wie Sam, die sich nur äußerst selten die Initiative aus der Hand nehmen ließen, flößten ihm noch immer ein wenig Respekt und Beklommenheit ein.

»Ist er schon da?«, erkundigte sich Yothan, nachdem er sich hatte küssen lassen. Er starrte ein wenig verlegen, was Sam im Stillen entzückte.

»Keine Ahnung. Wahrscheinlich wird er bald kommen.«

Er, das war Karoly Gladmar, einer der großen Wissenschaftler seiner Zeit, eine lebende Legende. Seine Zeit lag indes Jahrhunderte zurück. Gladmar hatte sich das Projekt Proto-Eden einfallen lassen, und sein Gehirn war das erste gewesen, das man dem sterbenden Körper entnommen und konserviert hatte. Und er hatte auch als Erster die ungeheuren Möglichkeiten erkundet, die die eigentümliche Symbiose zwischen einem menschlichen Gehirn und der Kapazität einer großen Positronik bot.

Schon vor vielen Jahrhunderten hatte es Versuche gegeben, eine möglichst unmittelbare Verbindung zwischen Computern und der menschlichen Wahrnehmung herzustellen. Versehen mit Spezialbrillen und -handschuhen, hatten Interessierte sich mit einem Computer verbinden lassen und waren in einer computersimulierten Welt Bewohner geworden. Aber dieser Welt war jederzeit anzusehen gewesen, dass sie eine grobsinnliche Imitation einer wirklichen Welt war.

 

Bei Proto-Eden war das anders; diese Illusion war perfekt, und so sie es nicht war, hatte man aus wohlerwogenen Gründen auf Perfektion verzichtet. Die Schwachstelle in diesem symbiotischen System war der Mensch, nicht etwa die Technik.

Karoly Gladmar respektierte die Gebräuche auf Proto-Eden. Er materialisierte nicht einfach in Sams Wohnraum – dergleichen Eindringen in die Intimsphäre eines anderen galt als unschicklich –, aber er machte sich auch nicht die Mühe, einen Auftritt zu gestalten, Blumen mitzubringen oder seiner Erscheinung Glanz zu geben.

Eine Stimme meldete sich in der Luft, geschäftsmäßig, neutral und ohne Wärme. »Karoly Gladmar wünscht Sam Dryton zu sprechen ...«

»Ich bin bereit«, antwortete Sam. Sie ließ ein paar bequeme Sessel entstehen und setzte sich in eines der Möbelstücke. In einem anderen Sessel nahm Yothan Platz. Sam grinste, als er geziert die Beine übereinanderschlug.

Karoly Gladmar erschien. Beim ersten Zusammentreffen mit dem Patriarchen von Gladmar IV hatte er noch eines der wenigen hochperfekten Robotdoubles gesteuert, eine Art Zwischenleben, angesiedelt zwischen der Welt draußen und Proto-Eden. Dann hatte sie ihn vornehmlich in einer Darstellung seines alten, greisenhaft würdevollen Körpers gesehen.

Jetzt hielt Gladmar den Zeitpunkt wohl für gekommen, auf überflüssige Höflichkeiten zu verzichten.

Was in Sams Wohnbereich auftauchte, war eine dreidimensionale, wirklichkeitsechte Darstellung seines derzeitigen Zustands; eine weiße, rot durchäderte Gehirnmasse in einer neutralen Nährflüssigkeit, angeschlossen an ein System von Sensoren und Wartungsschläuchen.

Diese Gehirnkonserve war die tatsächliche, reale Lebensform von Karoly Gladmar, aber dieses Original war für niemanden erreichbar, außer für ein paar Wartungsroboter.

»Willkommen«, sagte Sam freundlich. »Kann ich dir etwas anbieten?«

»Sehe ich so aus, als würde ich etwas zu mir nehmen wollen?«, fragte Gladmar schroff; es war der Stimme anzuhören, dass sich einiger Ärger in dem Mann angesammelt hatte. Sam hatte einige Jahre Training darauf verwandt, solche und andere Körpersignale wahrzunehmen und richtig zu interpretieren.

Sie lächelte versonnen. Es war ein Zeichen von Schwäche, dass der Patriarch sich in dieser Erscheinungsform präsentierte. Wäre er als Mensch gekommen, hätten seine unwillkürlichen Bewegungen, der Klang seiner Stimme, ein Zögern oder Räuspern oder andere Signale viel über ihn ausgesagt, vor allem bei einem Beobachter wie Sam Dryton. Offensichtlich wollte Karoly Gladmar vermeiden, sich diese Blöße zu geben.

»Gut«, antwortete sie und deutete auf die Gehirnmasse. »Da du dich so zeigst, vermute ich, dass du sofort zum Kern des Problems vorstoßen willst.«

»Ich ... ja, du hast recht. Ich werde langsam ungeduldig. Auf dem Planeten stagniert alles, und das macht mich rasend. Und wir haben dich gerufen, um das Problem endlich zu lösen.«

»Ich danke für das Vertrauen.« Sam lächelte und deutete im Sitzen eine höfliche Verbeugung an; Gladmar in seiner derzeitigen Erscheinungsform hatte keine Möglichkeit, auf dieses Spiel gleichwertig zu reagieren. Eine kleine Niederlage mehr in einer spannenden Auseinandersetzung zweier starker Geister.

»Fassen wir die Tatsachen zusammen«, schlug Yothan vor. »Es hat damit angefangen, dass einer der Bewohner unserer Welt ermordet worden ist, ein gewisser Apollo Orsini. Jemand ist in den Raum eingedrungen, in dem sein Gehirn aufbewahrt wird, und hat mit einem Gegenstand das Gehirn des Mannes buchstäblich zu Brei ...«

Er brach ab und schüttelte sich vor Ekel und Entsetzen.

»... zu Brei geschlagen«, vollendete Sam den Satz, ohne Yothan dabei anzusehen. »Über den Täter sind folgende Fakten bekannt: Es handelt sich um eine schwangere Frau. Ihre Blutmerkmale und andere Indizien beweisen, dass es sich dabei um Yeradha Y'varez handeln muss. Auch ein Motiv ist gefunden – Orsini hatte eine von der Frau gewünschte sexuelle Begegnung gegen alle Gepflogenheiten rundweg abgelehnt.«

»Nur steht aus anderen Gründen fest, dass Yeradha Y'varez unmöglich die Täterin gewesen sein kann«, ergänze Yothan, nun etwas fester in der Stimme.

»Niemand weiß oder hat auch nur den Ansatz einer Erklärung dafür, wie die Mörderin in den streng abgeschirmten Gehirn-Schutzraum von Orsini gelangen konnte.« Sam bemerkte, dass ihre Stimme ein wenig zu zittern begann. »So wenig, wie man weiß, wie ein anderer Mörder in die Medosektion eindringen konnte, in der mein Körper während des Einsatzes auf Gladmar IV untergebracht war.«

Großes Zodiakallicht, dachte Sam Dryton, ich rede, als hätte ich schon für immer von meiner Körperlichkeit in der realen Welt Abschied genommen.

Schauder durchrieselten ihren Körper, als sie sich ein paar Herzschläge lang an ihr Entsetzen erinnerte, als ein Wahnsinniger ihren Körper ermordet hatte – während ihr Geist sich an einem Gespräch in der Proto-Eden-Ebene beteiligte. In einer Notoperation hatte man ihr Gehirn retten und an das System von Gladmar IV anschließen können. Sam Dryton lebte also trotz ihrer Ermordung noch, aber nur dank Proto-Eden. Eine Rückkehr in die restliche Galaxis war für sie nicht mehr möglich.

Als Körperliche, als normale Terranerin, hatte sie den Planeten betreten. Den Tod im Paradies hatte sie untersuchen sollen. Gelungen war ihr dies nicht. Noch nicht. Teilerfolge hatte sie erzielt, aber das eigentliche Problem, der Tod von Apollo Orsini, blieb ungeklärt. Und nun war auch sie ein körperloses Gehirn, das in einer virtuellen Welt existierte. Ob es jemals einen Weg zurück in die Welt außerhalb von Proto-Eden für sie geben würde, war nicht abzusehen. Sie konnte sich also ebenso gut auf das Leben in Proto-Eden einstellen und hoffen, das Geheimnis zu lösen.

»Dies war nicht der einzige Fall dieser Art«, erinnerte Gladmar knurrig. »Spukgestalten hatten wir schon, bevor Orsini ermordet wurde. Aber von da an tauchten sie häufiger auf, und vor allem wurden sie gewalttätig.«

Er legte eine kurze Pause ein.

»Ich weiß, dass du uns eine Erklärung für diese Phänomene angeboten hast«, fuhr er dann fort. »Es hängt angeblich mit unseren Forschungen zusammen ...«

»Angeblich?«, gab Sam zurück; sie schüttelte den Kopf. »Soweit ich über die ganz besonderen Forschungen im Rahmen von Proto-Eden informiert worden bin, geht es dabei um die Suche nach einem zeitfreien subatomaren Teilchen ...«

Yothan mischte sich offensichtlich mit leisem Unwillen in die Unterhaltung ein; er hatte es bei solchen Gesprächen immer sehr schwer. Zum einen galt seine Loyalität dem Patriarchen von Proto-Eden in Gestalt von Karoly Gladmar. Zum anderen versuchte Yothan Grenard nach Kräften, Sam Dryton zu unterstützen, wo es nur ging. Da er es bei beiden mit sehr ausgeprägten und auch durchsetzungskräftigen Charakteren zu tun hatte, war er um dieses Leben zwischen zwei Mühlsteinen nicht zu beneiden.

»Jedenfalls haben diese Forschungen bisher Ergebnisse gezeitigt«, stellte er klar. »Brauchbare Ergebnisse, möchte ich hinzufügen. Außerdem ist Proto-Eden zu ebendiesem Zweck geschaffen worden; wenn wir unsere Forschungen nicht vorantreiben, haben Proto-Eden und wir praktisch unsere Existenzberechtigung verloren.«

Sam sah ihn ruhig an. »Was willst du damit erklären oder rechtfertigen?«

Yothan leckte sich die Lippen, warf einen schrägen Blick auf das Bild, das Karoly Gladmar von sich lieferte. »Wir haben uns dafür entschieden, die Forschungen wieder in vollem Umfang aufzunehmen«, gab er zögernd bekannt.

Samantha Dryton nickte langsam. Sie hatte mit dieser Entwicklung der Dinge gerechnet.

Ihre Erklärung der unheimlichen Phänomene war die gewesen, dass die geistige Energie, die während der Experimente in den Versuch mit den zeitfreien Teilchen hineinfloss, sich in Gestalt magischer Figuren manifestierte, dass es zwischen den Experimenten und den geheimnisvollen Geistern auf Gladmar IV einen unmittelbaren kausalen, wenn auch nicht gänzlich erklärbaren Zusammenhang gab.

Immer mehr dieser »Spukgestalten« waren gleichsam aus dem Nichts aufgetaucht. Viele erinnerten an Bewohner Proto-Edens, waren aber in der Regel einfach gekleidet – um nicht zu sagen: primitiv – und verhielten sich nicht so, wie man es von Angehörigen einer technologisch orientierten Zivilisation erwartet hätte.

Dann hatten sie die Maschinen angegriffen, die die Gehirne der Bewohner der virtuellen Welt am Leben erhielten. Die Lage war kritisch geworden.

Und in der Tat hatte der lebensgefährliche Spuk erst dann aufgehört, als auf Sams Anraten hin die wichtigen Anlagen mit magischen Symbolen – mit Pentragrammen – geschützt und die Forschungen am zeitfreien Elementarteilchen vollständig eingestellt worden waren.

Dieser Beweis für Sams Theorie war sicherlich recht überzeugend gewesen, aber sie hatte es sofort geahnt: Da sich dieser Zusammenhang aus dem bekannten Wissen der Forscher auf Proto-Eden heraus nicht naturwissenschaftlich exakt ableiten und beweisen ließ, war er für die Koryphäen der Paradieswelt immer ein wenig anrüchig gewesen.

Sam zuckte die Achseln. »Ihr braucht meine Erlaubnis nicht«, sagte sie gelassen. »Wozu also diese Konferenz?«

Karoly Gladmar ließ ein Schnauben hören. Obwohl er keine Nase mehr besaß, formte er unbewusst diesen Laut. Sam lächelte dazu verhalten.

»Wir wollten dir nur Bescheid sagen«, ließ sich Gladmar mit grollender Stimme vernehmen. Hatte er die beeindruckende Kraft und Tiefe dieser Stimme schon früher gehabt oder hatte er seine natürlichen Fähigkeiten diskret vom allgegenwärtigen BORIS unterstützen lassen? Mit welcher Geschwindigkeit, Perfektion und Einfühlung BORIS zu Werke ging, konnte Sam feststellen, als sie einen flüchtigen Blick aus dem Fenster warf.