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Planetenroman

 

Band 16

 

Der lange Weg der SOL

 

Unterwegs im Universum – die Geschichte des verschollenen Generationenschiffs

 

Peter Griese

 

 

 

Zwei gigantische Kugeln, durch ein Mittelstück zu einer Hantel aus Stahl und Energie verbunden – das ist die SOL, das legendäre Raumschiff der Terraner. Im Jahr 3540 startet sie zu ihrer Reise durch das Universum, anfangs unter Perry Rhodans Kommando.

Die SOL entwickelt sich über viele Jahre zum Generationenschiff, zur Heimstatt für Tausende von Menschen und Außerirdischen. Und sie wird zu einem Mythos ... auch für den Arkoniden Atlan. Im Jahr 3808 terranischer Zeitrechnung hält er sich an Bord der SOL auf. Sein Ziel ist eine ferne Galaxis namens Varnhagher-Ghynnst.

Dort sollen die Besatzungsmitglieder der SOL einen wichtigen Auftrag der Kosmokraten erfüllen. Sie sind Helfer in einem mysteriösen Plan, der Zeit und Raum umspannt. Um ihr Ziel zu erreichen, müssen sie tödliche Gefahren überwinden ...

Um kein Raumfahrzeug der Menschheit ranken sich so viele Legenden wie um das Generationenraumschiff SOL. Erbaut als Fernerkunder und fertiggestellt im Jahre 3540 alter Zeitrechnung, diente es der Menschheit lange Jahre – Jahrzehnte gar – als fliegende Basis und als Heimat.

Der Beginn des Wegs der SOL war eine Odyssee durch unbekannte Weiten des Universums, um die heimatliche Milchstraße wiederzufinden, damals, als die Erde im Ränkespiel der Superintelligenzen in den Mahlstrom der Sterne verschlagen worden war. Insgesamt sechsundvierzig Jahre lang war das Schiff unterwegs, stets in Geschehnisse von kosmischer Bedeutung verstrickt.

In dieser Zeit wuchs eine ganze Generation auf, die auf der SOL geboren worden war und keine andere Heimat kannte als die große Doppelhantel, die aus zwei Ultraschlachtschiffen der UNIVERSUM-Klasse und einem Zwischenstück erbaut worden war. Diese Angehörigen der Menschheit, die sich schon bald »Solaner« nannten, entfernten sich immer mehr von den auf Terra oder anderen Planeten geborenen Besatzungsmitgliedern. Konflikte kamen auf. Und es ergab sich letztlich, dass die Solaner ihren eigenen Weg im Universum zu gehen wünschten.

So übergab Perry Rhodan am 24. Dezember 3586 alter Zeitrechnung das mächtige Schiff an seine Bewohner. Die SOL verschwand ab diesem Tag aus der Geschichte der Menschheit und war nur noch eine ferne Legende, eine Erinnerung an einen Ort, an dem ein »mobiler« Ableger der Terraner nun wohnte.

Erst 426 Jahre später stießen die Männer und Frauen um Perry Rhodan wieder auf die Spur der SOL und konnten ein Wiedersehen mit dem legendären Fernraumschiff feiern. Vieles hatte sich verändert, und ein großer Teil der Geschehnisse seit der Trennung am Weihnachtstag blieb im Dunkeln. Nur langsam lüftete sich der Schleier, drangen die Erlebnisse der Solaner an das Licht der Öffentlichkeit.

Im kosmischen Auftrag war das Schiff unterwegs gewesen, fernab von den Wohnstätten der Menschen. Diese Ereignisse sind eng verknüpft mit den Erlebnissen des Arkoniden Atlan, der im Jahr 3587 alter Zeitrechnung den Gang hinter die Materiequellen antrat – ein Themenkomplex, der nach wie vor in großen Teilen unbeantwortete Fragen aufwirft, die auch hier nicht geklärt werden können.

Als aber Atlan im Jahr 3791 alter Zeitrechnung wieder in das Normaluniversum zurückkehrte, tat er dies mit einem konkreten Auftrag der Kosmokraten – zu dessen Erledigung er die SOL benötigte. Seine Erlebnisse ab diesem Moment sind in Nebenquellen ausreichend belegt, auf die die nachstehenden Hyperlinks verweisen – HIDDEN-X, Anti-ES, Friedenszellen, all dies ist bekannt, wenn auch nicht gut öffentlich dokumentiert. Diese Quellen aber brechen abrupt ab, bevor die SOL das Ziel der großen Reise, den Raumsektor Varnhagher-Ghynnst nach der Galaxis Vayquost, erreicht hat. Es fehlen Dateien, Fragen bleiben offen.

Ab der Auflösung der Namenlosen Zone wird die Datenlage fragmentarisch. Erst lange Zeit nach der Auswertung der ursprünglichen Dokumente tauchte eine Datei auf, die zumindest einige der offenen Fragen abarbeitete; auch sie rührt wieder an kosmischen Geheimnissen, die Geschehnisse aus der frühesten Verstrickung der Menschheit in die Auseinandersetzungen zwischen Superintelligenzen beleuchten ...

 

(Aus: Hoschpians unautorisierte Chronik des 14. Jahrhunderts NGZ; Kapitel 3.0.1, Langzeitfaktoren in der Entwicklung der Menschheit: die SOL)

Prolog

 

Die grünen Ziffern des Bordchronometers der SOL zeigen das aktuelle Datum, den 7. Oktober des Jahres 3808.

Meine Gedanken gehen den Weg zurück zum 4. März des Jahres 3791, jenem Tag, an dem mich die Solaner im Leerraum entdeckt und an Bord ihres Generationenschiffs gebracht hatten. Sie durcheilen die Jahre bis zum gestrigen Tag, der eine wichtige Entscheidung in meinem Leben gebracht hat. Die Gedanken zerren an einer verblassenden Erinnerung, die ich festhalten will und doch nicht an mich klammern kann.

Gestern. Ich muss es noch einmal aufrollen, das Gestern, um ein paar vage Gedanken der schwindenden Erinnerung zu erhalten ...

 

Wir saßen in der Messe im Mittelteil der SOL. Auch Parzelle war präsent, aber er war nur noch ein flüchtiger Schatten. Ich hörte mir an, was Breckcrown Hayes zu berichten hatte. Er sah übel aus, der Solaner, aber ich dachte mir, dass er noch ein paar Jahre durchhalten würde.

SENECA verfügte auch wieder über die Koordinaten von Varnhagher-Ghynnst. Ich hatte sie ihm nicht mitteilen müssen. Das Wissen darum war urplötzlich wieder in ihm gewesen. Er behauptete, er wisse, dass er die Koordinaten lange Zeit nicht besessen hatte, aber dennoch aus seinen Speichern erkennen konnte, dass er sie nie hergegeben hatte.

Chybrain hatte auf meine Fragen hierzu keine Erklärung abgegeben.

Die Raumschiffe der tausend Pagen der Namenlosen Zone waren vernichtet worden. Sie hatten den Kampf und den Tod gesucht. Die SOL hatte keine nennenswerten Verluste erlitten.

Über Bildfunk waren wir mit den Vulnurern verbunden. An Bord ihrer drei Schiffe befanden sich auch schon Zyrtonier, um die endgültige Versöhnung mit den Vulnurern zu bekräftigen.

Lichtquelle-Jacta teilte uns mit, worin sie ihre neue Aufgabe sah. Es galt, für die vielen Völker der ehemaligen Namenlosen Zone die Weichen für die Zukunft zu stellen. Es würde noch genügend Reibereien geben, bis sich diese Völker an ihr neues Dasein gewöhnt hatten und die verbliebenen Aggressionen verweht waren.

Unser Abschied von den Vulnurern stand bevor, denn das Ziel der SOL hieß Varnhagher-Ghynnst. Und Varnhagher-Ghynnst war auch mein ganz persönliches Ziel.

Feiern wollte niemand so recht, denn letztlich waren wir uns alle darüber im Klaren, dass wir zwar viel Positives in unserem Sinn erreicht hatten, aber zahlreiche Opfer dafür hatten bringen müssen.

Ich verließ die Versammlung und bat selbst Tyari, mir nicht zu folgen. In meiner Kabine wartete Chybrain. Er hatte mich um ein Gespräch gebeten.

Er leuchtete noch immer sehr matt, als ich eintrat.

»Wir sind allein«, begrüßte er mich auf normalem akustischen Weg. »Das ist gut. Ich habe dir zu danken. Wenn ich die Jenseitsmaterie nicht bekommen hätte, wäre ich verendet. Wenn du nicht nach Zyrton gekommen wärst, wäre ich in der Gefangenschaft Null-Pages gestorben.«

Ich nahm auf einem Hocker Platz und betrachtete das seltsame Ei, dem ich eigentlich mehr zu verdanken hatte als es mir.

Er verdankt dir in jeder Hinsicht seine Existenz, merkte der Extrasinn an.

»Ich dachte, er verdankt sie dir«, antwortete ich lächelnd.

Ich bin du. Und du bist ich.

»Wenn ihr fertig seid«, kam es von Chybrain, »dann möchte ich noch etwas sagen.«

»Sprich!«

»Es ist traurig, aber wahr. Ich habe versucht, die Anerkennung der Kosmokraten zu gewinnen. Ohne mich wäre die Namenlose Zone noch jetzt ein Ort des Schreckens und der immerwährenden Gefahr für alle Völker. Aber die Kosmokraten haben sich nicht bei mir gemeldet. Der Makel eines Bastards klebt weiter an mir. Ich habe versagt. Ich habe alles falsch gemacht. Ich gehe fort. Was ich brauche, ist die Einsamkeit.«

»Jetzt sind doch alle Probleme beseitigt«, widersprach ich vorsichtig. »Und da willst du uns verlassen?«

»Ja.« Er schwebte in die Höhe und kam auf mich zu. »Ich muss weiter reifen. Es gibt irgendwo eine Sonne namens Gumb, um die ein Planet kreist, der Jukka genannt wird. Das ist der Ort, an dem ich Katzulla traf, der mich besiegte. Der alte Kennery lebt sicher noch. Er wird sich über meine Rückkehr freuen, und ich werde das Gejaule der Kauzunde genießen und an euch denken.«

Er ließ mir keine Möglichkeit des Einwands.

Und so blieb mir nur noch eine Frage: »Sehe ich dich wieder, Chybrain?«

»Nein, das glaube ich nicht.«

Er verschwand durch die Wand. Ich hockte eine Weile da und sinnierte über alles nach, was ich gerade gehört hatte. Dann berührte mich etwas. Parzelle stand neben mir.

»Er ist von den Wassern der ewigen Zeiten an neue Ufer gespült worden«, sagte der Durchsichtige. »Meine Existenz ist zu Ende. Ohne Termentier und Lichtquelle kann ich nicht länger bestehen. Lebe wohl!«

»Warum verlasst ihr mich alle?« Ich schüttelte den Kopf.

»Die Wasser der Zeiten, Atlan.« Parzelles Gesicht nahm noch einmal feste Formen an. »Sie spülen alles weg, aber sicherlich nicht dich. Ich habe erfahren, dass die Kosmokraten dich noch brauchen. Du bist ein Auserwählter der Mächte von jenseits der Materiequellen. Chybrains Visionen werden in dir verblassen, weil sie dich nur belasten würden. Der Kleine hat das so gewollt. Und daran hat er recht getan. Auf dich wartet in Varnhagher-Ghynnst eine neue Aufgabe. Aber das ist nicht alles! Für ein eigentlich untätiges und unbewegliches Orakel bist du den Kosmokraten sicher zu schade. Ich denke, dein Weg ist noch weit.«

»Du hast mit den Kosmokraten gesprochen?« Ich staunte.

»Nein, Atlan.« Parzelle schüttelte den Kopf. »Sie haben mich etwas wissen lassen, aber ich verstehe es selbst nicht.«

»Was haben sie dich wissen lassen?« Meine Neugier war erwacht.

»Du hast alle Bewährungsproben bestanden. Du bist reif für eine Aufgabe, die den Kosmokraten mehr Kummer bereitet, als sie vertragen. Das Universum ist voller Wunder. Und der ewige Kampf der Mächte des Chaos mit denen der Ordnung wird so lange andauern, wie die Wasser der Zeiten fließen. Sie werden dich an ein Ufer spülen, an dem du noch nie gewesen bist. Und du wirst die Gefahr erleben, die jede Vorstellung übertrifft.«

Parzelle löste sich vor meinen Augen auf.

Ich wusste nicht, was ich von seinen Worten halten sollte.

»Varnhagher-Ghynnst«, sagte ich. »Wir kommen!«

 

Chybrains Visionen werden in dir verblassen, weil sie dich nur belasten würden.

Das ist einer der entscheidenden Sätze. Ich weiß noch, dass Parzelle damit auf die Visionen angespielt hat, die ich in den letzten Wochen hatte erleben müssen. Ich weiß noch, dass mich diese Visionen auf die Spur Chybrains gebracht hatten, aber ich kenne den Inhalt der Visionen nicht mehr. Das Wissen darum ist vergangen. Auch der Extrasinn kann mir da nicht helfen.

Mich verunsichern diese neuen Wissenslücken, denn sie erscheinen mir irgendwie unlogisch. Oder, so sage ich mir, ich kann den Sinn dieses Erinnerungsschwunds nicht verstehen. Es handelt sich mit Sicherheit nur um ein bruchstückhaftes Wissen, das mit der riesigen Erinnerungslücke aus meiner Zeit jenseits der Materiequellen nicht konkurrieren kann.

Aus dieser Lebensphase besteht ein geistiges Loch von rund 186 Jahren.

Eine neue Belastung ist jedenfalls da. Sie beeinträchtigt mich, und ich habe keine Ahnung, wie lange dieser Zustand andauern soll.

Die Gefahren, von denen Parzelle gesprochen hat, schrecken mich weit weniger. Mein Leben war nie gefahrlos gewesen. Und meiner Aufgabe im Sinn der Kosmokraten war ich mir voll bewusst, auch wenn ich sie nicht in den Einzelheiten zu formulieren vermochte.

Varnhagher-Ghynnst wartete auf die SOL und mich. Und aus der letzten Vision war der Begriff »Orakel« in meinem Bewusstsein hängen geblieben. Aber die Leere in einigen Bereichen meiner Erinnerungen stört mich doch.

Du solltest dich an das halten, was du weißt und was du besitzt, rät mir mein Logiksektor. Grübeleien über Vergangenes und Vergessenes bringen dich nicht weiter.

Nun gut. Ich habe Tyari, eine wunderbare Lebensgefährtin. Ich habe die SOL, ein Raumschiff von nahezu unbegrenztem Potenzial. Ich kenne den grundsätzlichen Inhalt meines Auftrags. Ich habe den festen Willen, nach den Vorstellungen der Unbegreiflichen von jenseits der Materiequellen diesen Auftrag mit Leben und Taten zu füllen.

Aber das alles täuscht nicht darüber hinweg, dass ich Verluste erlitten habe, die an meiner Seele nagen. Chybrain, Hage Nockemann, Blödel, Parzelle, Chart Deccon und viele rechtschaffene Solaner ...

Ich ahne etwas Böses, das mit dem entwendeten Wissen aus den Visionen zu tun haben muss. Die Reihe der Verluste, die ich hinnehmen musste, ist noch nicht zu Ende. Die Bewährungen, die mir die Kosmokraten immer wieder auferlegen, können noch andauern.

Ich gehe zu Tyari und suche Trost und Frieden bei ihr. Ich weiß aber, dass sie mir nur sehr bedingt helfen kann.

Ich muss damit leben.

Heute starten wir in Richtung Varnhagher-Ghynnst. Für den Flug sind zwölf Tage vorgesehen. Breckcrown Hayes und SENECA haben für jeden Tag einen Zwischenstopp eingeplant.

In zwölf Tagen werde ich mehr wissen.

Erstes Zwischenspiel

 

ER raste wie ein Besessener durch den Leerraum, angetrieben von einer fixen Idee. ER wollte nicht aufgeben. ER war noch da, und alle sollten ihn zu spüren bekommen. Die Zeit war reif für eine entscheidende Tat.

Aber wo sollte ER SIE finden? Gab es SIE überhaupt noch?

Oder war alles nur eine hypothetische Annahme, die einfach in ihm entstanden war? ER wusste es nicht genau, aber ER glaubte an sich.

SIE konnten nicht zur Gänze verschwunden sein. Dafür waren SIE zu stark gewesen, zu absonderlich, ja manchmal fast wie eine Superintelligenz. ER wusste nichts über die wahre Vergangenheit derer, deren Reste ER suchte. ER glaubte ganz einfach daran, dass es diese Fragmente des früheren Daseins noch geben musste. SIE wären das ideale Instrument, um alles in Bewegung zu bringen.

Auch den Mächten jenseits der Materiequellen würden SIE nicht verborgen bleiben, wenn SIE plötzlich wieder handeln würden.

Allein war jeder zu schwach. Vielleicht ruhte jeder in einem hoffnungslosen Dämmerzustand irgendwo zwischen den Dimensionen. Aber ER war sicher, dass SIE noch existierten.

SIE mussten existieren, denn SIE konnten nicht einfach verschwunden sein. SIE waren nicht wirklich sterblich. Dafür standen SIE zu hoch.

SIE mussten hier irgendwo sein, denn den Ort, an dem SIE so lange gelebt hatten, gab es nicht mehr.

ER streckte seine geistigen Fühler aus und lauschte. Die Echos des Universums waren sehr vielfältig und meist unbegreiflich. SIE würde ER aber erkennen, denn ihre Ausstrahlung war charakteristisch. ER besaß das Muster dieser Ausstrahlung.

Sicher, SIE würden sich bestimmt verändert haben, nein, mehr noch, SIE mussten sich verändert haben, denn SIE hatten unsägliches Leid ertragen müssen, aber etwas von den ursprünglichen Impulsen sollte noch existieren.

ER brauchte SIE für die Aufgabe, die ER sich gestellt hatte. SIE würden ihn verstehen und akzeptieren, denn SIE mussten sich in einer größeren Notlage befinden als ER. Daran gab es keinen Zweifel.

ER sondierte die Störimpulse aus, die in diesem neuen Raumgebiet noch vorherrschten. ER war auf der richtigen Spur. Hier hatten SIE zwischen Diesseits und Jenseits existiert. Hier mussten sich ihre Fragmente finden lassen.

Die Suche hatte schließlich Erfolg.

ER jubelte, als ER den ersten Impuls erkannte. Das Signal war matt. Es steckte kaum noch Leben in ihm, aber er bewies auch, dass dies nicht der Tod war.

ER steuerte das Raumgebiet an, aus dem der Impuls kam. Hier herrschte Leere. Die nächsten Sterne waren sehr weit entfernt. Also hatten SIE sich in die Einsamkeit ihrer Hoffnungslosigkeit zurückgezogen.

ER dachte, dass SIE ein würdigeres Schicksal verdient hatten. Welches, das sollten SIE selbst bestimmen.

Die genaue Lokalisierung des Ersten war problematisch, denn dieses Wesen besaß nichts Körperliches mehr. ER hatte das eigentlich erwartet.

Das Fragment nahm ihn mit Neugier wahr.

ER filterte die geistigen Bänder heraus, die SIE alle miteinander verbanden. Als das geschehen war, konnte ER sprechen.

SIE hörten schweigend zu und zollten ihm dann uneingeschränkte Zustimmung.

ER baute SIE zu einer Leiter aus zehn Sprossen zusammen, wobei ER eine willkürliche Reihenfolge wählte.

Als SIE bereit waren, zog ER sich wieder zurück, um zu warten.

ER hatte Zeit.

Zweites Zwischenspiel

 

Ich wachte irgendwann in der Nacht auf. Mir war, als wäre ein fremdes Geräusch an meine Ohren gedrungen. Ein undefinierbares Summen lag in der Luft. Ich schwitzte.

Als ich den Kopf zur Seite drehen wollte, um nach Tyari zu sehen, spürte ich trägen Widerstand. Ich brauchte alle Kraft, um die einfache Bewegung durchführen zu können.

In einer Ecke meiner Kabine brannte das schwache rötliche Nachtlicht. Jetzt kam es mir fast gespenstisch und unwirklich vor. Die müden Lichtstrahlen schienen zu zittern. Ich wollte mir mit einer Hand über die Augen wischen, aber meine Arme ließen sich nicht bewegen. Eine unsichtbare Kraft presste sie auf die Liege.

»Ein Albtraum, Extrasinn?«, presste ich über die trockenen Lippen.

Aber ich erhielt keine Antwort von meinem zweiten Ich.

Ticker, der Adlerähnliche vom Arsenalplaneten, ruhte in einem Nebenraum. Er müsste doch mit seinen psionischen Fähigkeiten meine Not spüren und mir zu Hilfe kommen! Aber dort rührte sich nichts.

Endlich hatte ich den Kopf in eine Position gebracht, in der ich Tyari sehen konnte. Aber ihr Bett war leer! Das verstand ich nun überhaupt nicht.

»Ganz ruhig bleiben«, wollte ich mir zuflüstern, aber nun ließen sich auch meine Lippen nicht mehr bewegen.

Das fremdartige Summen peinigte meine Ohren und marterte mein Gehirn. Die Nachtbeleuchtung flackerte noch stärker. Oder waren das alles nur Halluzinationen eines bösen Traumes? Die Nachwehen der Ereignisse der letzten Monate in der Namenlose Zone?

Namen, die der Vergangenheit angehörten, drängten sich in mein Bewusstsein: Anti-ES, die zehn Zounts oder Zähler, KING, HIDDEN-X, Twoxl ...

Das Summen erstarb ganz plötzlich. Auch hörte das Flackern der Beleuchtung auf. Aber bewegen konnte ich mich noch immer nicht.

Plötzlich hörte ich eine fremde Stimme. »Du bist wach?« Die Stimme klang weder männlich noch weiblich. Sie schien mitten in meiner Kabine zu entstehen, aber dort sah ich nichts.

Eine Antwort konnte ich nicht geben, denn außer den automatischen Bewegungen meines Brustkorbs war ich zu keiner Regung mehr fähig.

»Du bist wach«, stellte die Stimme fest. »Dann höre, Atlan! Du glaubst, dass du in zwölf Tagen Varnhagher-Ghynnst erreichen kannst. Du glaubst, dass die Zeiten der Prüfungen vorüber sind. Parzelle, der Unwirkliche, hat dir eingeredet, dass du dich ausreichend bewährt hast. Es gibt aber noch viel zu tun. Du hast die Geister deiner Vergangenheit geweckt. Und die scheren sich nicht darum, was die Kosmokraten wollen. Sie haben selbst unter ihnen gelitten. Du bist dafür verantwortlich, dass die Namenlose Zone nicht mehr existiert. Das mag für dich richtig sein, aber nicht für uns. Du kannst uns nicht einfach verlassen. Du hast uns vergessen, aber wir dich nicht. Varnhagher-Ghynnst kann warten. Die Kosmokraten können warten. Für sie ist es gleichgültig, ob du dein Ziel in zwölf Tagen oder in zwölf Monaten erreichst.«

Ich wollte etwas schreien, aber die Lähmung und der Druck hielten unvermindert an.

»Die Geister der Vergangenheit kreuzen deine Lebensleiter«, fuhr die unsichtbare Stimme gnadenlos fort. »Zehn Sprossen musst du erklimmen, wenn du an dein Ziel gelangen willst. Die Kosmokraten werden dir nicht helfen. Und wenn du die zehn Stufen nicht erkennst und meisterst, wirst du nicht einmal als Leichnam nach Varnhagher-Ghynnst gelangen. Nun kennst du einen Teil deiner wahren Aufgabe, die wir dir stellen. Du kannst ihr nicht ausweichen.«

Ich brachte unter unsäglichen Mühen die linke Hand in die Nähe des Alarmknopfs, aber ich besaß nicht die Kraft, diesen zu berühren.

»Du kannst an die vergangenen Jahre auf der SOL denken.« Die Stimme wurde etwas leiser. »Aber du sollst wissen, dass er noch nicht zu Ende ist – der lange Weg der SOL!«

Ich bäumte mich auf, und plötzlich war der unerklärliche Druck verschwunden. Ich schnellte in die Höhe. Sofort schaltete sich automatisch die Beleuchtung in der Kabine ein.

Ich saß kerzengerade im Bett und blickte mich um.

Alles war ganz normal. Neben mir lag Tyari. Ihre Atemzüge waren ruhig und gleichmäßig.

Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn. Der Zellaktivator pulsierte etwas stärker als gewöhnlich, und das war ein sicheres Zeichen dafür, dass ich einer besonderen Stresssituation ausgesetzt gewesen war.

Sollte ich Alarm schlagen? Ich würde mich womöglich lächerlich machen, denn hier war nichts Verdächtiges zu entdecken.

Ich tastete mir ein Erfrischungsgetränk aus dem Automaten. Während ich das kühle Nass über die Zunge laufen ließ, versuchte ich, wieder zu mir selbst zu finden. Das heftigere Pulsieren des Aktivators ließ schnell wieder nach. Ich starrte auf die schlafende Tyari und schüttelte irritiert den Kopf.

Ein Blick in den Nebenraum genügte mir, um zu sehen, dass auch Ticker seine Nachtruhe nicht unterbrochen hatte. Er hatte seinen Kopf ins Gefieder gesteckt, und er rührte sich auch jetzt nicht.

Die Minuten verstrichen. Und mit jeder gewann ich mehr das Gefühl, alles nur geträumt zu haben.

Das war Wirklichkeit, meldete sich der Extrasinn. Versuche nicht, das Erlebte zum Traum oder zur Halluzination abzustempeln. Das könnte ein böser Fehler sein.

»Und wenn es Wirklichkeit war?«, fragte ich zurück. »Was hat es zu bedeuten? Von welchen Geistern der Vergangenheit hat der Unbekannte gesprochen?«

Ich weiß es nicht. Aber ich zweifle nicht daran, dass du es über kurz oder lang erfahren wirst. Du bist noch nicht in Varnhagher-Ghynnst. Und ich sehe die Sache so, dass du auch nicht so bald an dieses Ziel gelangen wirst. Du solltest SENECA informieren und auch Breckcrown Hayes warnen.

»Ich brauche noch eine Stunde Schlaf«, antwortete ich unzufrieden. Dann legte mich wieder ins Bett.

Der lange Weg der SOL ist noch nicht zu Ende, dachte ich. Und: Mögen die angeblichen Geister der Vergangenheit doch kommen!

Die erste Sprosse

 

Trotz der gestörten Nachtruhe fühlte ich mich am nächsten Morgen frisch. Die Impulse meines Zellaktivators hatten alle Spuren des Wachtraums ausradiert.

Ich fragte Tyari, ob sie in dieser Nacht etwas geträumt habe.

Ihre Antwort war kryptisch: »Ja, mein Lieber. Ein Unsichtbarer hatte mich entführt. Aber du hast mich aus seinen Klauen gerettet und wieder an Bord der SOL geholt.«

Sie lachte dabei schelmisch, sodass ich nicht wusste, ob sie scherzte. Ich zog es vor, sie nicht weiter zu fragen und ihr auch nichts von meinem nächtlichen Erlebnis zu erzählen.

Nach dem ausgiebigen Frühstück begaben wir uns in die Hauptzentrale. Hier erkannte ich mit einem Blick aus den Anzeigen, dass die erste Flugetappe noch andauerte. Die Dimesexta-Triebwerke der drei SOL-Zellen arbeiteten im Verbund mit achtzig Prozent Schub.

Breckcrown Hayes hatte das Kommando an Brooklyn übergeben, die eigentlich Solania von Terra hieß. Beim Anblick der dreiundsechzigjährigen Exmagnidin beschlich mich ein seltsames Gefühl. Eine Erinnerung wollte sich aufdrängen, aber ich verwischte sie, denn sie war bruchstückhaft und unlogisch.

Sie besagte, dass Solania längst nicht mehr am Leben war. Sie stand aber in ihrer vollen Größe nur wenige Meter von mir entfernt. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr oder mit mir.

Breckcrown Hayes ließ sich sicher in einem Medocenter behandeln. Es war sehr fraglich, ob er sein Leiden je ganz auskurieren können würde.

Das muss mit den vergessenen Visionen zusammenhängen, half mir der Logiksektor, womit er auf meine Gedanken zu Solania anspielte. Aber Grübeleien darüber helfen dir nicht.

Das mochte stimmen, aber dennoch war meine Frühstückslaune schnell wieder verflogen.

Ich wechselte hier und dort ein paar Worte mit den Solanern. Uster Brick, der in den vergangenen Wochen meine MJAILAM, den Kreuzer MT-1, gesteuert hatte, war sehr redselig. Er vermittelte den Eindruck einer positiven Stimmung an Bord.

Die Abenteuer der Namenlosen Zone waren überstanden. Jetzt ging es zu neuen Ufern. Und wohl auch zu friedlicheren.

Zumindest schien dies die vorherrschende Meinung bei den meisten Solanern zu sein. Eine Ausnahme bildete die neue Cheftechnikerin der SOL, Jessica Urlot. Sie hatte nach dem Tod der Exmagnidin Ursula Grown deren Posten als Stabsspezialistin angenommen. Jessica galt als Allround-Genie, nicht nur, was technische Belange betraf. Auch als Führungskraft hatte sie sich schon einen Namen gemacht.

Mit Breckcrown Hayes verband sie etwas. Der High Sideryt hatte sie schon mehrmals als persönliche Beraterin zu Wort kommen lassen oder als seine Vertreterin eingeteilt.

Man munkelte an Bord, dass sie vielleicht seine Nachfolgerin im höchsten Führungsposten der SOL werden könne, wenn Hayes nicht wieder seine volle Gesundheit zurückgewinnen konnte.

Insofern wunderte ich mich jetzt etwas, weil Solania von Terra das Kommando führte. Sie gehörte ja eigentlich auf die SOL-Zelle-2.

Jessica Urlot war vierundsechzig Jahre alt und eigentlich eine ganz durchschnittliche Solanerin. Ihre brünetten Haare waren kurz geschnitten, und das entsprach den augenblicklichen modischen Vorstellungen an Bord des Generationenschiffs. Sie wirkte leicht maskulin und hart, insbesondere, wenn sie sprach.

Aus unserer kurzen Unterhaltung ging nicht viel hervor, aber ich gewann doch den Eindruck, dass sie nicht vorbehaltlos mit dem Flug nach Varnhagher-Ghynnst einverstanden war.

Es hatte in der Vergangenheit mehrfach Bestrebungen aus verschiedenen Gruppen der Solaner gegeben, denen mein Einfluss auf den High Sideryt zu stark war.