Christoph Wilkes | Johannes Wilkes
Der Aldi-Äquator
4 Jungs, 20 Filialen, 660 Kilometer
Fischer e-books
Christoph Wilkes, geboren 1961, freier Redakteur, Autor und story analyst für Fernsehen, Film, Werbung, PR; Art Fotografie. Er lebt in Berlin.
Dr. Johannes Wilkes, geboren 1961, Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie; diverse Buchpublikationen (dtv, ars vivendi, Brunnen-Verlag). Er lebt in Erlangen.
Covergestaltung: grape media design
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-401828-7
Meinen Freunden,
meinen Frauen
Christoph Wilkes
Den tapferen Aldi-Verkäuferinnen
Johannes Wilkes
Alles Richtungweisende ist einfach.
Erich Limpach
»Wie heißt das Aldi-Bier?«
»Karlskrone.«
»Schon mal getrunken?«
»Nur in Notzeiten.«
Das so ungefähr der erste Wortwechsel, als wir vier uns getroffen haben. Getroffen zu einem einwöchigen Abenteuer: den »Aldi-Äquator« abzufahren. Jene Linie also, die einst die Gebrüder Albrecht, Theo und Karl, durch Deutschland gezogen hatten, um ihre geschäftlichen Wirkungsfelder voneinander abzugrenzen. Es hatte Streit gegeben: Sind Zigaretten Lebensmittel? (Was für eine Frage – klar sind sie das.) Sollen Zigaretten ins Sortiment?
Der Aldi-Äquator machte der Auseinandersetzung ein Ende. Fortan konnte jeder in seiner Hemisphäre machen, was er wollte. Das erst mal zu den Brüdern. Später mehr.
Die vier auf dem Aldi-Äquator, das sind wir: Jablonski, Ulf, Jo und ich. Vier Brüder im Geiste, wenn man so will. Seit Jahren, ja Jahrzehnten sind wir miteinander befreundet. Jo und mich, uns verbinden gar Blutsbande – Cousins sind wir.
Für ein paar Tage klinken wir uns einmal aus. Aus aus dem Alltag und aus aus dem, was uns jobmäßig so umtreibt. Und deswegen auch hier nichts davon. Nur Freundschaft, Freude, Freiheit, Sonne, Kuchen. Beziehungsweise Bier.
Losgehen soll es am ehemaligen Drei- und jetzigen Zweiländereck zwischen Bayern, Sachsen und Tschechien. Eine Reise von Ost nach West also, mitten durch Deutschland durch, immer den Äquator lang. Denn nur, was man bereist hat, erfahren, abgefahren, darüber kann man wirklich was ablassen. Etwas aus erster Hand. Alles andere ist kalter Kaffee.
So unterhaltsam eine Fahrt ins Blaue auch sein mag – wovon man überhaupt keine Kenntnis hat: das übersieht man leicht.
So studieren viele schon lange vor dem Start einer Tour ausgiebig alles, was ihnen über ihr Ziel in die Hände fällt. Ein Bekannter von Jo frisst sich bereits ein Jahr vor der geplanten Reise durch sämtliche Reiseführer, um sich dann, wenn die Fahrt endlich losgeht, auf ein schmales Taschenbuch zu beschränken. Alles andere hat er im Kopf. »Man sieht nur, was man weiß!«
Eine hübsche Illustration dieser Weisheit fand sich vor Jahren in einer Zeitung abgedruckt, ein kleiner Strip, nur vier Bilder lang: Zu sehen war ein älteres Ehepaar, das sich im Zug gegenübersitzt. Der Kölner Dom gleitet vorbei, die beiden schweigen. Das Siebengebirge mit dem Drachenfels gerät in den Blick, keine Reaktion. Ein steiler Felsen taucht auf: die Loreley! Die beiden Alten verziehen keine Miene. Auf dem vierten Bild erscheint ein tristes Gewerbegebiet mit einem Supermarkt. Da regt sich ein Lächeln auf dem Gesicht des alten Mannes. Er deutet hinaus und sagt befriedigt: »Aldi!«
»Man sieht nur, was man weiß!«
Wer uns was weismacht? Jo – er in erster Linie zeichnet für das verantwortlich, was hintergrundhalber erwähnenswert und hier als Einschub beziehungsweise Exkurs in anderer Schriftart erscheint.
Ich wiederum führe das Logbuch, kritzle nieder, was bei ’ner Sause wie der unsrigen alles so an- und abfällt. Und kann am Ende mein Gekrakel manchmal kaum noch entziffern…
Drei von vier samt Vierrad auf Parke an Grenze
Franken, äußerster Nordosten dieses nordbayrischen Landstrichs. Nachmittag. Das Wetter hält – noch. Eine Senke. Parken am Ende einer schwer abschüssigen Sackgasse auf einem dafür vorgesehenen Asphaltfeld. Aus unsrem Ford Mondeo Kombi – jeder Lord fährt ’nen Ford, jeder Popel ’nen Opel – rausfallend, finden wir eine regelrechte Idylle vor. Keiner hier außer wir.
Von ’nem Zaun oder ’nem Vorhang, ’nem eisernen, wie noch vor zwanzig Jahren, keine Spur. Lediglich eine Grenzmarkierung an einem Pfosten. Dafür Büsche, Bäume mit Baumpilzen dran, ein brüchiges Brückchen über ein versumpftes Bächlein, drinnen lässt sich kurz ein Molch blicken. Dazu Hinweise auf einen Fernwanderweg. Für Äquator-Nachfahrer: Vorsicht – loses Brett auf dem Steg! Andere Bretter morsch – Obacht!
Er ist die perfekte Aldi-Einkaufskiste, zumal in der Kombi-Version. Wer baut schon größere Kofferräume als Ford? Früher hatte Jos Vater seine in die Jahre gekommenen Taunusse und Granadas, immer wenn mal wieder eine neue Familienkutsche anstand, problemlos losbringen können, weil die Türken im Ruhrgebiet ganz heiß waren auf die »Raumschiffe aus Kölle«. Das ist allerdings schon ein Weilchen her, das war in den siebziger Jahren, als viele unserer türkischen Mitbürger noch mit dem Auto in die alte Heimat schipperten, bis übers Dach bepackt mit Mitbringseln und Schnäppchen aus Deutschland. Heute hingegen, heute wird ja mehr geflogen anstatt tagelang über den staubigen Balkan zu juckeln.
Kurz hatten wir überlegt, die Tour mit Chris’ Tourenwagen, einem alten Chevy, zu machen. Doch der, wiewohl ein Viersitzer, ist keine Limousine, sondern ein Coupé, und im Fond wär’s wohl auf die Dauer arg eng geworden. Man sieht auch nicht sonderlich viel, sitzt man hinten, des Fließhecks mit der breiten, angeschrägten Dachstütze wegen. Der Kofferraum zudem ist kaum größer als das Handschuhfach. Und am Ende bleibt’s noch liegen, das Blech, das gute, oder muckt sonst irgendwie. Bei alten Autos ist man ja schon froh, überhaupt anzukommen. Und »Besser ankommen« – war das nicht mal der Slogan von Ford? Also besser keine Experimente.
Jo, er führt die Fordsche Tradition seines Vaters unverdrossen fort. Zehn Jahre alt und schwarz ist er, unser fahrbarer Untersatz, rabenschwarz. Wie sagte schon Henry Ford, der legendäre Unternehmensgründer: »Ein Auto darf jede Farbe haben, Hauptsache es ist schwarz!«
Ulf, Jablonski und ich am Äquator (von rechts nach links)
Einen Medizinballwurf vom Zweistaateneck weg ein weiträumig von einem Jägerzaun eingefasstes Grab vom Juli ’45, auf dem Holzkreuz ein Soldatenhelm. Nach dem Krieg noch umgekommen? Kriegsende verpasst? Scheußlich, die Vorstellung.
Seltsam, dass den losen Helm auf dem Grabkreuz in all den Jahren keiner geklemmt hat … Aus Pietät? Oder war der Helm vielleicht tatsächlich schon mal verschwunden – und ist dann durch einen anderen ersetzt worden? Ist der Helm da also gar nicht echt?
Fotos werden geknipst, und nicht wenige. Muss ja alles dokumentiert werden. Glaubt uns ja sonst keiner, unser Unternehmen. Jablonski, der hat ein seltsames Gerät, eine von ihm so genannte »Hybridkamera« mit.
Hybridkamera? Hybrid von was? Funktioniert jedenfalls noch mit Film, das Teil, mit Filmröllchen, in Fotofachgeschäften zu erwerben. Umständliche Prozedur, das! Wir anderen, mit Haut und Haaren der Moderne zugewandt, machen Fotos, wie es sich für Modernisten gehört: mit Digi-Dingern.
Jo, ich und Tüte (von rechts nach links)
Wir blicken hinüber nach Tschechien. Tschechien ist Aldi-freie Zone. Noch. Warum das so ist?
Nun, das Aldi-Reich nach Südosteuropa hin zu erweitern, hat die Ladenkette beträchtliche Mittel gekostet. So existieren zwar sowohl in Slowenien wie in Ungarn heute jeweils über 50 Aldi-Niederlassungen; hinzu kamen etwa drei Dutzend in Griechenland (mittlerweile aufgegeben). In jedem dieser relativ kleinen Länder war eine komplette Infrastruktur aufzubauen, inklusive Warenbeschaffungsprogramm, ausgefeilter Logistik und Informationstechnik. Investitionen, die sich – wie man inzwischen weiß – erst ab 200 Filialen rechnen. Wird der Aufwand, nach Tschechien zu expandieren, von Aldi demnach als zu hoch eingeschätzt?
Vielleicht sind die Pläne ja nicht endgültig begraben, sondern liegen nur auf Eis. Denn eine Aldi-Gesellschaft, die Aldi-Czechia, besteht längst, in Pilsen ist sie vor wenigen Jahren gegründet worden. Pilsen – der Brückenkopf für die Aldisierung des östlichen Nachbarn? Man darf gespannt sein.
»Gutes Bier jedenfalls hätten sie schon …« Jablonski lacht und macht, Finger gekrümmt, eine Trinkgeste, Kopf in den Nacken kippend. »Ahh …«, stöhnt er genüsslich und wischt sich imaginären Pilsschaum von den Lippen.
Ab hier also würde alles abgehen – von der tschechischen Grenze bis zur holländischen am anderen Ende des Äquators. Der Autoatlas wird vorgekramt, auf die Motorhaube das Ding, und aufgeschlagen! Wir beugen uns über die Deutschlandkarte – Ulf fährt die markierte Linie des Äquators mit dem Finger nach. Diese Strecke also wollen wir, werden wir machen, von A bis Z abfahren, so Gott will. Die Christophorus-Plakette nicht zerbricht. Und wir heil ankommen.
Aber wozu die Chose überhaupt, warum gerade der Äquator?
Nun, Amundsen ist auch nur zum Südpol seinerzeit, weil es den zufällig gab und vorher noch keiner da war. Reinhold Messner und seine Achttausender – dasselbe in Grau.
»Und die Erstbesteigung des Kahlen Astens im Sauerland ohne Sauerstoffmaske …?«
»Eben.«
Alles genau wie wir und der Alligator … der Aldigator … der Aldi-Äquator.
Wir schauen einander starr in die Augen. Die Welt, sie will entdeckt werden! Und nicht bloß so unentdeckt da rumliegen. Nur nicht beißen lassen!
Ulf murmelt, verschwörerisch klingt es: »Wir werden die Ersten sein.«
Er grinst, der Kamerad, seine Äuglein funkeln, listig sieht’s aus, lustig auch. Wir grienen zurück – reiselustig, abenteuerlustig, zum Äußersten entschlossen.
Abenteuer ab also!
Wir steigen ein. Satt sacken Türen ans Polster. Rückwärts geht’s raus aus der Parkbucht. Beim Wiedervorwärtsbrummen erhaschen wir ein Motorradpärchen, das inzwischen angeknattert gekommen war, haltzumachen an diesem lauschigen Plätzchen. Ist ja Pfingsten, und an solchen Tagen neigen Kraftmobile schließlich seit Urzeiten dazu, Landstraßen und Zielpunkte zu bevölkern.
Sollen sie halt. Wir jedenfalls frohgemut fortgerumpelt, den steilen Hang hoch, oben rechts schwenkend …
Auf nach Rehau, zum ersten Aldi Süd! Der Feiertag, dass der Aldi geschlossen haben wird – all das kratzt uns nicht. Im Gegenteil. Wie ruhig, stellen wir uns vor, der Aldi-Parkplatz sein wird, ruhig und verträumt daliegend in den Strahlen einer nachmittäglich mild glimmenden Sonne, lässig vor sich hin schimmernd, jungfräulich unberührt …
Blaue und rote Klebepunkte in einem Deutschlandatlas: Sie markieren die Aldi-Niederlassungen und weisen uns den Weg. Doch wie um alles in der Welt kam dieser seltsame Äquatorverlauf zustande?
Die ehemalige innerdeutsche Grenze, die Grenze zwischen Sachsen/Thüringen und Bayern, das ist noch nachvollziehbar. Aber der Rest? Kein System ist erkennbar, kein Verlauf entlang eines bestimmten Breitengrades, wie bei gewissen US-Bundesstaaten, keine Orientierung an Kreisgrenzen, auch nicht an geographischen Besonderheiten, an Flussläufen etwa, Gebirgskämmen, Wasserscheiden. Ein wirres Hakenschlagen durch Hessen, durchs Siegerland, hinauf ins Bergische, durchs einstmals raue Ruhrgebiet und schließlich durch die liebliche Münsterländer Parklandschaft. Wie kam nur dieser zerklüftete, bizarr anmutende Äquatorverlauf zustande?
Vielleicht so: Wir schreiben das Jahr 1961. Die beiden Brüder, Theo und Karl, stehen vor einer großen Deutschlandkarte, die auf eine Wandtafel gezogen ist, daneben ein Tisch mit zwei Tellern. Auf dem einen liegen Stecknadeln mit blauen Fähnchen, auf dem anderen ebensolche in Gelb. Keine Käsewürfel, in denen die Fähnchen stecken, keine Gürkchen gibt’s, keine Silberzwiebeln – Konzentration ist gefragt. Geht es doch um die Zukunft. Noch ist die Deutschlandkarte unangetastet – lediglich im Zentrum befindet sich eine leuchtend rote Nadel: im geographischen Mittelpunkt Deutschlands, knapp nördlich von Fulda. Die Spielregel lautet: Im Wechsel darf jeder eine Nadel in Deutschland pieksen, ausgehend von der roten Markierung in der Mitte. Und los!
Ein wildes Hauen und Stechen in Städte und Städtchen beginnt, schnell wächst der Aldi-Äquator in beide Richtungen, hin und her geht es dabei, in einem irrwitzigen Tempo, keiner soll einen Vorteil haben, wie beim Schnellschach geht’s zu, ein Packen und Picken von Fähnlein bis zur DDR-Grenze rechts, bis zur niederländischen links oben. Erschöpft, aber glücklich, betrachten die Brüder nach vollbrachtem Werk das Ergebnis: Deutschland ist geteilt. Mit leuchtenden Augen schütteln sich die zwei Hobbyfeldherrn die Hände. An die Arbeit! Es darf gebaut werden! Eine Aldi-Filiale nach der anderen.
Ulf auf dem Beifahrersitz übernimmt die Eingabe der Ziele ins Navigationsgerät. Auf der Mittelkonsole kommt die Autokarte mit den markierten Aldi-Filialen zu liegen. Die zwischen diesen Punkten verlaufende Linie erscheint geknickt. Berücksichtigt man die Lage der Firmenzentralen Mülheim an der Ruhr und Herten (später: Essen), west-östlich also positioniert, ergibt sich im nordrhein-westfälischen Bereich ein äquatorialer Nord-Süd-Verlauf – irritierend, aber letztlich logisch. In Ergänzung zur Karte habe ich immer mal wieder das Konvolut mit den Adressen all der Aldis auf den Knien: um Ulf die Orte, gegebenenfalls die Postleitzahlen, sowie die Straßennamen und Hausnummern durchzugeben.
Und Kamerad Numero 4, Jablonski? Was macht er so?
Er, nun, er hat kein besonderes Betätigungsfeld, er ist mehr so der Mann für … na, fürs Allgemeine halt. Auch ohne spezielle Tätigkeitszuweisung glücklich und zufrieden, ja gerade ohne, ist er unser Maskottchen, wenn man so will – unser Glücksbringer. Dass das Ganze auch gut ausgeht. Ist er, der Bonvivant, unser »klein Sonnenschein« – ein Sonnenschein, der mit Adlerblick sofort jede Kneipe beleuchtet, die offen hat. Auf dass wir unverzüglich einkehren. »Liebe und Besoffensein, des kleinen Mannes Sonnenschein« – so denn auch seine Rede, seine stehende, fallende, lallende … (Neinnein, so schlimm ist’s natürlich nicht. »Kein Bier vor vier«, sagt Jablonski immer.)
Ach so, klar, fünfter Mann an Bord ist natürlich das Navigationsgerät, eingeklemmt im sogenannten »Penisring« unten an der Windschutzscheibe, auch »Penishalter« genannt.
»Penishalter?«, wundert sich Ulf.
»Penishalter … wie Büstenhalter.«
»Penishalter – Unsinn. Der Penis, der hält von selbst.«
Jedenfalls, dieser fünfte Mann unten ohne, dafür aber mit Halter, spricht nicht mit kastratenhaft hellem, vielmehr mit dunkel getöntem Timbre zu uns. Das liegt daran, dass des Autoeigners bessere Hälfte das ursprünglich einmal weiblich plappernde Gerät umgeswitcht hat. Sie hatte die Männerstimme eingestellt, denn sie vertraue orientierungsmäßig mehr Männern, so sie – so Jo.
»Na und ich – ich krieg die Frauenstimme jetzt nicht wieder reingefuckelt …«
Ist ja egal. Ist vielleicht sogar besser so: Bleibt halt so alles unter Männern auf unsrer Tour. Keine weiblichen Abbiegekommandos, die nur ablenken, dafür männliche, die man bedenkenlos überstimmen kann, weil, ein Mann weiß es einem anderen gegenüber ja immer besser. Erst recht einem gegenüber, der in einem kleinen Teil hockt, aber große Töne spuckt.
Wir diskutieren eine Weile, ob es »Reh-au« oder »Re-hau« heißt. Die Mehrheit votiert für die erste Variante, des hübscheren lyrischen Beiklangs wegen. Ein Reh, das auf einer Au äst. Welch’ märchenhaft-zartes, welch’ friedlich’ Bild!
Nachdem das Navi uns um Rehau herum- und zu guter Letzt sogar zum Aldi geführt hat – obzwar uns kurzzeitig alle Hoffnung flöten- und, das Ortungsgerät verfluchend, die Orientierung verschüttgegangen wär beinah beziehungsweise das Gesäß auf Grundeis –, biegen wir zielgenau in den mit Buschwerk und Bäumchen bepflanzten Parkplatz ein. Dort überrascht ein grün-weißes, vom Flughafen her bekanntes, sogenanntes »Treffpunktschild« an einem Mast:
Treffpunkt Aldi
Na ja, verlaufen kann sich eigentlich nur »ein Blindfisch« hier, auf der übersichtlichen Parke an Hügelkuppe und Siedlungsrand, »wo Fuchs und Has sich ›Gut Nacht‹ sagen«; verlaufen – um sich dann beim Treffpunktschild glücklich wiederzufinden. Symbolisieren die gesichtslosen vier des Piktogramms gar uns vier, waren wir vier gemeint? Man hätte es fast meinen können …
Ziemlich schick jedenfalls, jetsettig fast, dieser Aldi-Vorplatz in der fränkischen Provinz, im Grenzland.
Eine Stunde. Maximal. Länger ist das Parken auf vielen Aldi-Parkplätzen nicht erlaubt. Wer es dennoch länger versucht, speziell in belebten, parkplatzarmen Gegenden, dem drohen Konsequenzen.
Eine kleinliche Regelung? Wer möchte sich denn schon vorschreiben lassen, wie lange sein Einkauf dauern soll? Wem danach ist, soll der nicht das Recht haben, wenn’s sein muss, auch zwei Stunden lang einzukaufen, wonach das Herz vielleicht förmlich schreit?
Nun, wir als erfahrene Aldi-Kunden bekunden: Der Mensch, der für seinen Aldi-Einkauf länger als eine Stunde benötigt, der ist noch nicht geklont worden. Denn das ist ja gerade einer der entscheidenden Vorteile von Aldi, dass man seine Zeit nicht mit unnötiger Suche zwischen den Regalen verplempern muss. Erstens befindet sich in jeder Aldi-Filiale alles an der immergleichen Stelle, und zweitens findet sich von jeder Warengruppe in vielen Fällen nur ein Artikel. Alternativen gibt es zwar, aber meist lediglich zwei, maximal drei – also keineswegs so viele, dass die Entscheidung schwerfiele und einen aufhielte. Denn Aldi trifft die Vorauswahl für seine Klientel. Hier hat man nie das Gefühl, etwas Falsches zu kaufen. Der Discounter vereinfacht das Leben. Ich muss mir keine Gedanken machen. Den ständigen Preisvergleich, ich kann ihn mir sparen. Hier ist »grenzenlos billig«. Bei Aldi muss niemand zehn verschiedene Spaghettisorten vergleichen, muss man nicht mühsam studieren, welche Stangennudeln mit Hartweizen, aber ohne Ei hergestellt wurden, braucht man keinen Gewichtsvergleich anzustellen. Einfach hinein in den Einkaufswagen damit und weitergeschoben, auf zum nächsten Grundnahrungsmittel. Kurzum: Wer mehr als eine Stunde bei Aldi zubringt, der muss zum Personal gehören.
Gräulich-silbrig verkleidet, der Giebel des Aldi in breitem, ja überbreitem, disproportioniertem Hüttenformat – und, über Eck, die Einkaufswägelchen schützend und bedachend, noch einmal eine Giebelkonstruktion. Zwei Giebel für einen Aldi – wow! Eine Hohlform übrigens, die wir auf unsrem Trip noch öfter zu sehen bekommen. Giebliges kennt man zur Genüge inzwischen, nicht nur von Aldi, auch von der Kaufladenkettenkonkurrenz her: Heimatstil – nein, nicht nazimäßig, 1935, vielmehr: Heimatstil, mäßig modern, 2005. Beziehungsweise postmodern. Retro-Style.
Zwerchhäuser, sanft geneigte Dachschrägen – Formbekanntes soll für Vertrauen bei der Kundschaft sorgen, dieses untermauern. Hier ist’s, wie’s sein soll: solide, einfach, überschaubar. Eine Formensprache, die sich auf einen allseits bekannten Formenkanon stützt. Gerade deswegen unterschwellig besonders wirksam. Wirkend mittels gezielter Reduktion. Einer Reduziertheit, die gerade durch ihre offensichtliche Unübersehbarkeit wie ein Vexierbild sogleich ins Unsichtbare kippt, ins Zutrauen schaffende Gefühlige.
Wiedersehen macht Freude. Hach – Giebelzier und Satteldach, ziegelbelegt zumal … Vertrautheit mit positiv besetzten Formen und Baustoffen, Bestandteilen des eigenen: des Eigenheims, öffnet und macht geneigt, stimmt ein, stimmt günstig. Auf dass der Käufer im Kaufmarkt kaufe.
Rein funktional gesehen jedenfalls tät’s auch ein Flachdach. Doch nackter Funktionalismus ist eben out und von gestern. Ist zu kühl, zu kalt, versetzt nicht in Kauflaune. Ein bisschen Gemütlichkeit und Wohlfühl-Ambiente, und sei’s noch so aufgesetzt und kalkuliert: Giebeldreiecke auf schnöder Kiste – ein bisschen Heimat darf’s schon sein.
All-time-Klassiker: die Hütte
In der Mitte des Tympanons prangt dick das orangerothellblaudunkelblauweiße Aldi-Süd-Logo. Mal abgesehen vom Klimpern auf der Heimatklaviatur – braucht man die Giebelfläche vor allem, um an dieser weithin sichtbar das Markenzeichen dranzuhängen?
Hinter dem Ladenfenster ein Hinweis mit der Aufschrift: »Wir nehmen alle«. Wie das? Die Zeile drunter macht’s klar. Alle »PET-Einwegpfandflaschen zurück. Egal, wo Sie diese gekauft haben.« Das ist doch mal was, das ist doch mal nett. Dinge nehmen sie zurück, auch wenn man diese woanders erstanden.
»Fragt sich nur, was ›PET‹ bedeutet …«
»Pets – sind das nicht diese Kleintiere, also die Kuscheltiere, die Schmuselappen? Für so ins Bettchen, oder für auf die Couch mit …«
Na, ob da nicht jemand heftig was durcheinanderbringt?
»Verantwortung heißt, fair miteinander umzugehen«, ist auf einem weiteren Schild hinter Glas zu lesen. Darüber ein Foto mit fröhlich winkenden Aldi-Mitarbeiter(inne)n. »Verantwortung hat einen festen Platz bei ALDI SÜD …«, geht das Geschwafel weiter. Wir haben es uns erspart. Die Wirklichkeit, wissen wir, sieht anders aus.
Fast kein Betriebsrat bei Aldi Süd. Massive Behinderung von Betriebsratswahlen in München. Als die Süddeutsche Zeitung über den Skandal berichtet, werden sofort keine Anzeigen mehr von Aldi im Blatt geschaltet. Jüngst dokumentiert: bedenkliche Vorgänge beziehungsweise einschüchternde Maßnahmen im Zusammenhang mit Betriebsratswahlen im Rhein-Main-Gebiet; wo es nun zwar einen Betriebsrat gibt, bestehend freilich nicht aus den Initiatoren, drei Kassierern, sondern besetzt mit drei Filialleitern.
Bei Aldi Nord scheint’s besser auszusehen, mitarbeitermitbestimmungsmäßig. Dort gibt es eine Anzahl Betriebsräte. Aber können es unabhängige Interessenvertreter der Arbeitnehmer sein – in Anbetracht dessen, dass Aldi Nord einen Referenten des arbeitgebernahen Berufsverbands AUB, von dem Aldi-Betriebsratseinheiten geschult worden sind, mit mehreren hunderttausend Euro jahrelang verdeckt finanziert hat?
Wegen Verdachts auf Verstöße gegen das Betriebsverfassungsgesetz strengte die Gewerkschaft ver.di ein Ermittlungsverfahren an. Gegen 50000 Euro Geldauflage, vom verantwortlichen ehemaligen Aldi-Nord-Verwaltungsratschef gezahlt an die Staatsanwaltschaft Essen, wurde das Verfahren eingestellt. Wie der Konzern darüber hinaus lästiges Dreinreden der Mitarbeiter verhindert?
Aldi Nord und Aldi Süd sind in diverse Regionalgesellschaften gesplittet. Diese gelten als rechtlich selbstständige Unternehmen. Arbeitnehmer können also weder in einem Konzernaufsichtsrat noch in einem Gesamtbetriebsrat mitbestimmen. Werden diese Einzelfirmen mit maximal tausend Angestellten größer, so dass nach dem Gesetz mehr Mitbestimmung gewährt werden müsste, dann spaltet man die Filialkonglomerate einfach weiter auf.
Wenn auch keinen Betriebsrat, so besaß dieser Aldi da vor uns zumindest einen Backofen. Was natürlich kein Ersatz ist. Gern hätten wir uns was backen lassen – der Pfingstmontag indes hinderte uns dran. Und auch später gab’s keinen Back-Aldi mehr, so viel sei schon jetzt verraten. Schade. Aber, wie sang schon Herr Jagger: »You can’t always get what you want.«
»Einkaufswagen für Babysafe« gab’s auch. Babysafe? Nun, es handelt sich hierbei nicht um einen Tresor, in den man Babys sperrt, vielmehr um speziell für Babys beziehungsweise Babyrumkutschierer konstruierte Einkaufswägelchen mit einer breiten Babyablagefläche vorn nahe der Lenkstange. Von wo aus man bei Bedarf das hauseigene Baby tätscheln kann. Damit das Baby sich sauwohl fühlt.
»Vielleicht kann man das Baby darauf auch wickeln …«
»Vielleicht …« Ulf verzieht die Nase. »Vielleicht unterlässt man das aber lieber.«
Dem nicht einmal besonders auffälligen Treffpunktschild übrigens schien nichtsdestoweniger eine magische Anziehungskraft innezuwohnen. Denn tatsächlich trafen sich zwei auf der Aldi-Parkfläche. Zwei Menschen, Mann und Frau. Ein fernöstlicher blauer Kleinwagen Typ Straßenwanze stand quer zu den markierten Parkfeldern (Verbundpflaster in Knochenform). Davor ein silbrig glänzendes Audi-Cabrio. Hinterm Steuer das Weib, daneben Männe. Ein Rendezvous vor der Aldi-Kaufe. Ziemlich gesittet, talken die zwei.
Wagenpark und ominöses Pärchen
Handelte es sich um zwei Verheiratete auf Abwegen? Warum sonst sollten sie sich hier verabredet haben? Warum nicht in ’ner Pizzeria? Oder ’ner Eisdiele? Etwa weil der Aldi-Parkplatz so besonders romantisch ist? Wohl kaum, so viel sagt einem schon der Grips. Bei Aldi geht’s um Kohle, um nichts als um Kohle – um Liebe oder Romantik jedenfalls nicht. Nicht einmal um sexuelle Erfüllung. Nein, nichts dergleichen.
Weil die beiden nicht zusammen gesehen werden wollten, deswegen das Treffen vorm Aldi. Weil sie etwas verheimlichen, die zwei. Ein heimliches Verhältnis – das des Pudels Kern. Und weil die zwei wohl annahmen, auf die Aldi-Parke kommt feiertags eh kein Schwein, das schwiemelige Geheimnis aufzudecken, deswegen haben sie sich genau dort getroffen eben. Womit sie sich allerdings geschnitten hatten. Wir waren da. Wir sind immer da. Wie der Hase und der Igel.
»Aber dass sie uns gar nicht beachten, dass wir ihnen so total am Arsch vorbeigehn …?«
In der Tat, die zwei haben nur Augen füreinander. Seltsam.
»Muss Liebe sein …«
»Gefährlich, gefährlich«, meint Jablo und hebt den Zeigefinger. »Man sollte sie warnen.«
»Genau – was, wenn wir nun von ›der Sitte‹ wärn?«
Was uns lange beschäftigte: Gehörte der Brünetten die bombige Schleuder? Und dem Kerl die Mickerkiste?
»Die Mikrobe …«
Oder hatte er sie hinters Steuer seines Schlittens, des silbrigen, des schicken, gelassen? Wollte sie es so? Und wollte er sich gentlemanlike erweisen? Um, im Gegenzug, anderes von ihr zu erlangen? Doch was nur?
»Na was wohl?«
Die Tour immerhin ließ sich, was die Geschlechterdynamik anging, ziemlich gut an. Wenn auch von »jungfräulich unberührtem Aldi« nach diesem Erlebnis naturgemäß keine Rede mehr sein konnte. Schienen auch die zwei da vor uns lediglich zu quatschen – was sich unten, vom Türblech verdeckt, abspielte: Wer weiß? Und überhaupt soll ja auch Laber-Laber zur Erotik gehören. Zumindest denken Frauen sich das ja wohl so.
Interessant für Fans: Dieser Aldi besitzt sogar eine eigene Bushaltestelle. Man könnte also das Auto ruhig einmal in der heimischen Garage lassen und mit dem Omnibus hertrudeln. Via »Rufbus« nämlich. Hierbei bestellt man fernmündlich ein Gefährt zur gewünschten Haltestelle, das einen dann beim Aldi anliefert. Montags bis freitags erhältlich. Wer Einkaufsanfahrtsvarianten mag – hier kann er sich einmal so richtig austoben. Oder sie.
Im Übrigen ein sogenannter »Rechtsdreher«, der Laden. Das heißt, vom Eingang aus geht man im Uhrzeigersinn, rechts herum also, zur Kasse.
Gebongt? Okay, dann weiter im Text. Wir nach Rehau rein, ins Zentrum, wenn man bei ’ner Ortschaft wie dieser überhaupt von so was reden kann. Niederlassen draußen vor einem Lokal mit freundlich informierender junger Wirtin. Wirtinnen-Kind kommt auch bald angekrabbelt. Europafahne am Mast vorm Rathaus, wehend im Wind. Hauptplatz rausgeputzt, neu angelegt – ein längliches Rechteck, das auf uns jedoch reichlich überdimensioniert wirkt. Bäume in Würfelform gestutzt. Große Linde mittenmang. Moderner Brunnen mit scheibenartiger menschlicher Figur als Blickfang. Nach genauerem Hinsehen erkennt der Kunstkritiker freilich: in die Hose gegangen, die Chose. Was man auf dem Land hier halt so für ’nen tollen modernen Brunnen hält.
»Toll, liebe Leut, is was gaanz anders …«
Museum gleich nebenan von wo wir hocken. Was wohl drin sein mochte? 0,0 Interesse. Gut, dass zu ist. Entspannen bei Bier und Limo, Abhängen vom Nichtstun. Hinten dunkel abgeklebter Sport-Spoiler lässt seinen Auspuff beim Platzumrunden röhren … Was soll die Jugend auch sonst tun, an ’nem Feiertag wie diesem in ’nem Nest wie Rehau? Eben – Gas geben, rumröhren.
»Rumröhren, dass’ auch jeder hört.«
Hoch die schlappen Ärsche! Raus aus Rehau und weiter, nach Norden diesmal. Denn es soll munter hin und her gehen über den Äquator, immer eine Aldi-Nord-Zweigstelle abwechselnd mit einer von Aldi Süd. So zumindest unser Plan.
Der Wald, er wird plötzlich von einem Streifen mit Niedrigbewuchs durchschnitten. Auf einer Anhöhe ein alter Wachturm – es geht über die ehemalige deutsch-deutsche Grenze. Zum ersten Mal fahren wir über ihn drüber, über den Aldi-Äquator! Bewusst drüber, nicht, wie früher, irgendwie. Ein unbeschreibliches Gefühl – beziehungsweise, um bei der Wahrheit zu bleiben, halten sich unser aller Emotionen doch ziemlich in Grenzen …
1989, der Volksaufstand im Osten forderte auch dem zweigeteilten Aldi-Reich neue Entscheidungen ab. Nicht, dass nun, im allgemeinen Vereinigungsüberschwang, auch Aldi Nord und Aldi Süd zusammenschmeißen und wiedervereint auftreten hätten wollen, das nicht. Aber spätestens 1990, als die deutsche Einheit durch war, dürften sich die Aldi-Brüder erneut zusammengesetzt haben. Einziger Tagesordnungspunkt: der Äquator. Um es kurz zu machen: Man ging nach dem Alles-oder-Nichts-Prinzip vor. In der Tat ein weiser Entschluss, die neuen deutschen Länder nicht aldimäßig gleich wieder zu zerschneiden. Wer aber sollte künftig seine Filialen im Osten pflanzen dürfen? Theo oder Karl? Aldi Nord oder Aldi Süd?
Nun, die gesamten neuen deutschen Länder wurden, es ist kein Geheimnis, Aldi Nord zugeschlagen. Wodurch sich Theos Reich, wiewohl zunächst kleiner als das Karls, auf einen Schlag vergrößerte. Ob man darum gewürfelt hat oder gelost, ob Karl in einem Anflug brüderlicher Gefühle Theo alles freiwillig überlassen hat oder ob der Hinweis auf das von Aldi Süd dominierte übrige deutsche Sprachgebiet – Österreich, Schweiz – Karl zum Einlenken bewegte, wir wissen es nicht. Theo hielt auf jeden Fall einen entscheidenden Trumpf in der Hand: hielt er doch bereits Berlin West besetzt.
Man stelle sich vor, in Ostberlin hätte sich Aldi Süd breitgemacht – damit wäre dann die Teilung dieser leidgeprüften Stadt auf unabsehbare Zeit neu zementiert worden. Man male sich einmal die ganze Ungeheuerlichkeit einer solchen Entscheidung aus: Ob Ossi oder ob Wessi – das hätte man sofort und unfehlbar an der Farbkombi in Verbindung mit dem Logo der jeweiligen Aldi-Tüte erkannt!
Eigentlich müssten wir hier am Aldi-Äquator anhalten und uns nass machen. »Äquatortaufe«, so nennt sich das Ritual, ein rauer, berüchtigter, ja ein widerwärtiger Seemannsbrauch. Eingeführt von den Portugiesen anno dunnemals für Erstäquatorüberquerer. So berichtet Hans Peter Jürgens, als Schiffsjunge 1939 über den Äquator segelnd, von diversen Quälereien: Er sei brutal geprügelt, mit neun anderen in einen zweieinhalb Quadratmeter engen, nicht ausgemisteten Schweinestall gesperrt worden, um anschließend, bis ihm das Kotzen kam, mit Teer eingerieben zu werden; Tabletten aus Petroleum und anderem Ungenießbaren seien zu schlucken gewesen und weiteres Sadistische mehr … Tiefpunkt der erniedrigenden Tortur: Die Täuflinge wurden bis kurz vorm Ertrinken unter Wasser getaucht. Noch heute wird die Äquatortaufe – meist in weichgespülter Version – praktiziert.
Wir hingegen, wir entziehen uns diesem Ritus. Erstens glauben wir uns schon mit allen Wassern gewaschen, zweitens haben wir unsren Äquator ja schon zigmal gekreuzt und drittens trage ich ’ne Sehhilfe, und die könnt Tropfen abkriegen. Dumm rumspritzen – nicht mit uns! Wo’s doch sowieso schon am Himmel dräut …
Einsetzender Prasselregen kurz vor Oelsnitz in Sachsen, dem nächsten Aldi. In ’ner Baumarktgegend gelegen, der Discounter. Wieder ein Rechtsdreher, wieder zweigieblig, diese Billig- beziehungsweise Grundnahrungsmittel- beziehungsweise Vorratsnahrungsversorgungsstätte unsrer Billig- beziehungsweise Grundnahrungsmittel- beziehungsweise Vorratsnahrungsversorgungsstättenkette. In der Mitte des breiten, grau »verblechten« Giebelfelds das im Vergleich zu Aldi Süd dürftigere Aldi-Nord-Emblem: weiß, dunkel- und hellblau, schmaler roter Rand. Skurril fast, das Lämpchen am Stil, um das Logo zu beleuchten. Um die Ladenfenster herum Blendziegelvermauerung. Parkplatz – dem kargeren Aldi-Nord-Prinzip verpflichtet – ohne Grün, asphaltiert, nicht gepflastert. Öde ist gar kein Wort: Bonjour tristesse!
Aldi Oelsnitz trist
Krümmung der Wägelchen
»Einer aus Wanne (Wanne-Eickel) fragt ’nen Türken: ›Ey, wo geht’s ’n hier nach Aldi?‹
zu
Schaufensterdekoration Oelsnitz
crazy
»Der Arbeiterführer, assistiert vom Assistenten.«
Sodann viermal Soljanka in altdeutscher Bierstube. Darin Stadtgeschichte, an die Wand gepinselt. Für Ahnungslose – solche zumindest, die lesen können. Fußballverein namens »Traktor Oelsnitz« – Antwort auf Lok Leipzig. Herrentoilette ohne Kloschüssel. Männer, die mehr müssen, müssen aufs Frauenklo. So ist das hier. Ziemliches Ost-Ambiente – trotz Schwarzwälder Kuckucksuhr. Oder grade wegen.
Raus aus dem muffigen Altmännerschweiß-Lokal – rauf auf die Burg! Jenes traute Gemäuer, welches vom Ende der Straße her schon grüßte und lockte geradezu. Renaissance-Burg, mit ’ner Menge Kleinholz wieder auf Vordermann getrimmt. Ein Mittelalterfest mit Markt hatte an den zwei Pfingsttagen zuvor stattgefunden, wie wir erfahren. Jetzt hängen die letzten Standbetreiber an zwei Biergartentischen im düsteren Eingangsbereich hinterm Tor herum, die Festivität feucht ausklingen lassend. Jo, in den Hof stolpernd, entfährt das Wort »Burgfräulein« … Eine rotblonde junge Einheimische bezieht’s sogleich auf sich und scheint geschmeichelt – endlich mal neue Kerle! Ob wir Bier wollen, wendet sich ein Typ auf der Biergartenbank an uns.
Noch einmal das Angebot: Freibier. Das lassen wir uns natürlich nicht dreimal sagen. Gezapft wird am letzten noch offenen Stand. Die Brauerei würde das Bier eh wegschütten, heißt es.
Ulf erzielt einen Lacherfolg, als er den versammelten Einheimischen verrät: »Ich fahr gern in den Osten, weil’s hier so billig ist.«
Immer mehr Eingeborene verlassen die dunkle Eingangsecke am Hoftor und gesellen sich zu uns herüber, wo die Luzzi abgeht.
»›Wie heißt du?‹ – ›50 Mark.‹«
»Du, Opa, warst du nicht ’n Nazi damals? – Nee, das war so. Der Goebbels hält seine Rede im Sportpalast: ›Wollt ihr den totalen Krieg?!‹ Ich steh auf (Arm wird zum ›römischen Gruß‹ erhoben – Handfläche aber bleibt senkrecht, eindeutig abwehrend!): ›Moooment mal!‹«
nicht
SäMola
»Wie sagt der Sachse nach ’m Sex? – Fertich.«
Nach der Wende waren die Oelsnitzer einmal in Hof, im »Westen« also, gewesen, so diese zu uns – danach nimmermehr. Das zum Thema »Es wächst zusammen, was zusammengehört« …
Wie meinte Manni: »Wir sind keine Sachsen – wir sind Vogtländer. Und wir Vogtländer sind ein kleines zänkisches Bergvolk.« Das natürlich alles auf Sächsisch vorgebracht – oder nennt man das hier Vogtländisch?
»Holland wird nie Weltmeister«, rufen wir ihnen zum Abschied zu.
»Schreibt lieber ’n Puff-Führer!«
Wie sprach Eckhard, einer der Oelsnitzer, beim Aufbruch: »Wir sind das Teneriffa des Vogtlands.«
Die Oelsnitzer – eigentlich sind’s Sperken. Eine haarsträubende Geschichte ist’s, und die geht so: Lang, lang ist’s her, da kam ein seltsamer Kerl nach Oelsnitz. Er war hager, aufgeschossen, bleich, struppig sein blauschwarzes Haar. Man munkelte, dass er die dunklen Künste beherrsche. Die Leute bekamen es mit der Angst, der Rat steckte ihn ins Gefängnis und verurteilte ihn wegen Zauberei zum Tode. Als man jedoch den Scheiterhaufen anzünden wollte, erstickte die Flamme unter dem meckernden Gelächter des Mannes sofort wieder. Also beschloss man, ihn aufzuhängen. Die aufgebrachte Menge beschimpfte ihn wüst, während er die Leiter zum Galgen emporstieg. Da drehte er sich um und sah die Leute mit einem solch furchterregenden Blick an, dass sie auf der Stelle verstummten. »Auf einmal so still, ihr Sperken?«, rief er mit dröhnender Stimme und schleuderte seinen Hut in die Menge, und im selben Augenblick verwandelten sich die Oelsnitzer Bürger in ängstliche Sperken. Die Schaulustigen aber, die aus dem nahen Plauen gekommen waren, verzauberte er mit einer Handbewegung in einen stürmischen Wind, der mächtig in die verschreckten Sperken fuhr. Heillose Verwirrung herrschte nun am Galgenberg, und die Ratsherren baten den Fremden verzweifelt, den Zauber zu beenden, sie würden ihm zum Dank auch das Leben schenken. Doch der Fremde stieß nur ein höhnisches Lachen aus und löste sich in einer Luftspirale auf. Panisch versuchten sich die Sperken vor dem Plauener Sturm zu retten, und die Ratsherren hielten krampfhaft ihre Hüte fest. Nach einer schrecklich langen Viertelstunde landete ein blauschwarzer Rabe auf dem Galgen und krächzte: »Sperken und Wind, ward’s und seid’s bis Kindeskind!« Da war der Spuk wieder vorbei, und der Rabe flog in einem weiten Bogen in den Abendhimmel davon.
Was Sperken sind? Sperlinge natürlich.
Eine vorab reservierte Ferienwohnung wartet auf uns. Der Pensionswirt, ein Portugiese, hatte schon nicht mehr mit dem Team gerechnet und sich zurückgezogen. Ist aber über Handy noch zu erreichen. Und schließt uns nun auf. Wirkt froh, dass wir, wenn auch spät, noch erschienen sind – indes kein Frühstück nicht wollen. Will er doch selber bald abdüsen ins heimatliche Atlantikland. Lange Kerls – Kopf einziehen im Treppenhaus!
Von Jablonski vorsichtshalber von zu Hause mitgebrachter Biervorrat wird in fröhlicher Runde am Küchentisch geleert. Die Stimmung könnte aufgeräumter kaum sein. Jaja, die Oelsnitzer und ihre Witze, das sind schon welche …
Jablo natürlich, er lacht. Und prostet uns zu. Auch wir stoßen an. Schade, dass Bierdosen nicht klingen.
»Ich mich fühlen wie Flasche leer …«
»Wie meinen?«
»Wie Batterie von Flaschen leer, genau …«