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Da ich in sieben Jahren meist gleichzeitig an drei Stuttgarter Schulen in allen Klassenstufen unterrichtet habe, ist die Anonymität der Kinder gewahrt.

In fast allen Gruppen waren evangelische und katholische Schüler und Schülerinnen zusammengefasst.

Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme

Hermann, Inger:

Halt’s Maul, jetzt kommt der Segen:

Kinder auf der Schattenseite des Lebens fragen nach Gott / Inger Hermann. – Stuttgart: Calwer Verl., 1999

eBook-ISBN 978-3-7668-4239-8

eBook-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

10. Auflage 2011

© 1999 by Calwer Verlag Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten.

Wiedergabe, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlags.

Umschlaggestaltung: ES Typo-Graphic, Stuttgart

Satz: Karin Klopfer, Calwer Verlag

Druck und Verarbeitung: AZ Druck und Datentechnik, Kempten

E-mail: info@calwer.com

Internet: www.calwer.com

 

Für Almuth-Liesabell

 

Inhalt

Geleitwort

Vorüberlegungen

Da ist doch Krieg in meinem Land: Entwurzelte Kinder

Moses in der Tiefgarage

Wir Menschen können alles: Scheiß und Liebe

Eigentlich sind wir doch keine Dummenschule

Halt’s Maul, jetzt kommt der Segen

Von guten Mädchen und Kondomen

An Gott glaub’ ich nur in Portugal

Ich hab’ niemand so lieb wie mein’ Hasen

Leichen im Fluss – das ist besser

Klosterbruder im Kampfanzug

Kennt Ihr Gott eigentlich auch Ausländer?

Glücklich sein – das geht doch nicht

Die Gitarre und das Sündenböckchen

Reflexionen

Misshandelt und missbraucht

Gott ist bestimmt sauer auf mich

Nutte! – Na und?

Mitten im Matsch – die Blume

Miteinander schlafen – so’ne Sauerei

Manchmal denke ich, die Mama mag mich doch

Ich bin traurig – weil ich jetzt nicht mehr Jungfrau bin

Dann haben sie ihn verkauft

Da kommt ja unser Erzengel – verpiss dich

Wenn ich von meinem Bruder schwanger werde, dann schlägt sie mich tot

Reflexionen

Ich hab doch Angst

Aufschlitzen – das bringt Spaß

Das Chaos und der Segen

Ich hab gebetet – und bin trotzdem ein Versager

Der Engel im T-Shirt

Toll, der geile Satz von Martin Luther King

Ich bin Niemand

Was ich vom neuen Jahr erwarte? Scheiße

Null Bock auf so’n beschissnes Leben

Rambo sucht Gott

Sarah, das Stinktier

Dann verreck’ ich eben auch

Ich weine, weil sie sich früher mal geliebt haben

Lieber tot sein – als Angst haben

Ich glaube an die Liebe, auch wenn ich sie nicht sehe

Sei froh, dass du nur mit der Bratpfanne geschlagen wirst

Meine Mutter – eine Hure

Interessiert Gott Sie denn auch in der Freizeit?

»… bis uns endlich die Polizei erwischt hat«

Reflexionen

Dem Tod begegnet – und allein gelassen

Gestorben? – Verreckt ist der!

Der hat das Leben wenigstens hinter sich

Mein Vater – das Gespenst

Von der Ecke hinter dem Papierkorb

Nicht gestorben – aufgehängt hat er sich

Reflexionen

Dumme Kinder – weise Kinder

Gott umgibt mich – auch wenn die Bierflaschen fliegen

Komisch, jetzt gerade habe ich keine Angst

Ich sehe, weil ich nicht sehe

Das Kind von meiner Cousine – ein Gotteskind

Markus liest. Ein Gottesbeweis?

Warum lächelt der Mann?

Wozu hat man einen Namen?

Nietzsche und Rilke – aber doch nicht mit diesen Schülern

Reflexionen

Schlussüberlegung: »Die gottgedachte Spur, die sich erhalten … « (Goethe)

Nachwort zur dritten Auflage

 

Geleitwort

»Ich denke, Gott mag mich nun mal, ob ich Scheiß bau oder nicht, weil Gott, der kann doch gar nicht anders als lieben. Stimmt’s nicht? Nur wir Menschen können noch viel anderes, töten und so.« Das sagt Otto im Religionsunterricht (7. Schuljahr) einer Förderschule in einer süddeutschen Großstadt. Inger Hermann stellt in diesem Buch Gesprächssequenzen aus ihrem Unterricht vor. Sie versteht es meisterhaft, die Frage nach dem, »was uns unbedingt angeht« (Paul Tillich) mit diesen »entwurzelten, geschundenen und gedemütigten Großstadtkindern« zu bedenken.

Zum Stichwort Kinderphilosophie sind in den letzten Jahren einige Bücher entstanden, die staunen lassen, wie Schülerinnen und Schüler der Grundschule schwierigste philosophische Fragestellungen erörtern. In den Schülerbeiträgen dieses Buches kommt eine Kindertheologie zur Sprache, die nicht nur durch hohes Reflexionsniveau, sondern vor allem auch durch existentielle Tiefe überzeugt. Es ist faszinierend zu sehen, wie sehr gerade klassisch theologische Themen wie die Gottesfrage im Lebenshorizont der Kinder Bedeutung haben. Dies kann Mut machen, diesen Themen mehr zuzutrauen als es oft geschieht, und ihnen im Religionsunterricht einen gebührenden Platz einzuräumen.

Manche Leserin und manchen Leser mag die unverblümte Sprache der Kinder erschrecken. Doch die Erkenntnis stellt sich schnell ein: Nur so können sie sich äußern. Nur so können sie ihr schreckliches Leid und die tiefen Verletzungen aussprechen.

Mir ist es beim Lesen so ergangen: Einmal begonnen konnte ich das Buch nicht mehr aus der Hand legen. Die Unterrichtsgespräche sind geradezu eine Aufforderung, sich im Religionsunterricht viel stärker als bisher auf das einzulassen, was die Schülerinnen und Schüler an Fragen, Problemen und Erkenntnissen einbringen.

Jörg Thierfelder

 

Vorüberlegungen

»Vater unser, der du bist im Himmel … «

»Wo ist der Himmel?«

»Der Himmel? Überall. Gott ist überall.«

»Ist er dann auch im Drei-Farben-Haus?«

»Drei-Farben-Haus? Was ist denn das?«

»Naja, wo die Nutten … Sie wissen schon. Wo die Männer immer reingehen. Ich will nur wissen, ist Gott auch da drin?«

Und ich antworte: »Ja.«

Ich kann von Gott nur sprechen, kann nur Religionsunterricht halten, wenn ich ihm zumute, überall zu sein. Der Gott, der in Klöstern und Kirchen beheimatet ist, an den ich mich in Gebet und Meditation wende, den ich unter dem Sternenhimmel erfahren kann, diesem Gott sind meine Schüler nie begegnet.

Verschiedene Wege mag es geben, religiöse Erfahrungen zu vermitteln. Mit diesen Kindern – Großstadtkindern, entwurzelt, geschunden, gedemütigt – bleibt für mich nur der eine: mit ihnen in die Tiefe auch ihrer dunkelsten Alltagserfahrungen hineinzugehen und zu vertrauen: »Der Name dieser unauslotbaren Tiefe ist Gott« (Tillich).

Wenn eine Frage und damit oft ein Abgrund sich auftut, bereit sein, mich abzuseilen in ihre Dunkelheit, das heißt für mich Religionsunterricht.

Manchmal scheint mir, dass diese Schüler mehr noch als behütete Gleichaltrige, nur an wirklich existentiellen Fragen interessiert sind: Wo ist Gott, wenn ich geschlagen werde? Oder: Wenn mein Vater säuft, mag ihn Gott dann immer noch? – Warum reden wir von Gott, wenn es ihn doch gar nicht gibt, gar nicht geben kann, in so einer beschissenen Welt?

Wie kann Christus Herr der Religionslosen werden? Was bedeutet »religionsloses Christentum«? Diese Frage Bonhoeffers wird zur zentralen Frage. Dass die meisten heutigen Stadtkinder »Religionslose« in der ganzen Tragweite dieses Wortes sind, dass sie in einer religionslosen Gesellschaft leben und in eine religionslose Zukunft hineinwachsen, dessen sind wir uns eher zu wenig bewusst. Zugleich gilt für jedes dieser Kinder, ob sie nun getauft sind oder nicht: »Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein«. Und – so erstaunlich es klingen mag – dieses unbewusste Wissen um ihre Gotteskindschaft ist nicht verschüttet; verschüttet vielleicht, und unbewusst bestimmt, aber doch ein Funken, der sich entfachen lässt.

Viele Kinder und Jugendliche erleben sich als unerwünscht und überflüssig auf dieser Welt: den Eltern, den Wohnungsnachbarn, der Gesellschaft eher lästig. Diese Wunde ihres Unerwünschtseins lässt sie in ihrem Menschsein verkümmern. Sie fühlen sich ungeborgen auf der Dunkelseite einer Wegschau-Gesellschaft, die sich ihre Nöte, ihre Fragen und Herzschmerzen nicht zumuten will.

»Dein Ort ist, wo Augen dich ansehen.

Wo sich die Augen treffen, entstehst du …

Du fielest, aber du fällst nicht.

Augen fangen dich auf.« (Hilde Domin)

Damit fängt für mich Religionsunterricht an: Mit den Augen fang ich dich auf. Ich nehme dich wahr. Deine Wahrheit ist unser Ausgangspunkt, nicht meine.

Dass mit diesem problem- und beziehungsorientierten Religionsunterricht der Übergang zur Seelsorge fließend geworden ist, nehme ich nicht nur in Kauf, sondern sehe gerade darin eine Chance.

Es bedeutet, dass Glaubensinformationen – ob es sich um biblische Texte, Gebete und Psalmen oder kirchliche Traditionen handelt – nicht um ihrer selbst willen unterrichtet werden, sondern nur soweit sie durchlässig werden für heilende Erfahrung. Kinder dort abzuholen, wo sie sich nicht befinden, außerhalb ihrer Ängste und Probleme, ist Zeitverschwendung. Solange ich die oft grausige Wirklichkeit ihres Alltags vor der Schultüre lasse, bedroht sie uns wie ein wütender Köter. Erst wenn ich sie mit ins Klassenzimmer hereinnehme, lässt sie sich zähmen.

Zwei Voraussetzungen gibt es für heilsamen Religionsunterricht: Die Wahrheit des Kindes und die Wahrhaftigkeit des Lehrers. Der oft erschreckenden Realität des Alltags halte ich nur stand, wenn ich ihr mit meiner Realität, das heißt, mit meinem ganzen Menschsein begegne. Authentizität als Notwendigkeit. Jede religiöse Floskel fällt ab. Nur was ich selber glauben kann, was als Erfahrung in mir lebt, ist wichtig.

Dazu gehört auch, dass ich oft keine Antwort habe, sondern ihnen vermittle: nicht im Antworten bin ich euch voraus, aber im Suchen. Wenn es dann gelingt, dass wir uns gemeinsam auf die Suche machen, weil unsere Angst, Fragen zu stellen, allmählich abfällt, dann wird Religionsunterricht wesentlich und macht oft sogar Spaß.

Inzwischen vergeude ich auch keine Zeit mehr damit, die Kinder sprachlich umzuerziehen. Ihre Sprache ist nicht prüde. Meine sprachliche Schock- und Schmerzgrenze wurde anfangs ständig überschritten, bis ich erkannte, dass hinter den unflätigsten Formulierungen entweder besonders schlimme Leiderfahrung oder tiefe existentielle Fragen stecken. Danach konnte ich darauf verzichten, auf gepflegter Ausdrucksweise zu bestehen und mit dieser Überforderung manch gequälte Frage zum Verstummen zu bringen. So interessiert mich jetzt nur noch der Aufschrei, die Not, die sich darin ausdrücken will.

Das heißt nicht, dass es keine verbindlichen Formen gibt. Ich verstehe sie auch als »Geborgenheitsrituale«. Zum festen Rahmen gehört das gemeinsame Sprechen von Gebet oder Psalm am Anfang und der Segen am Schluss der Stunde.

Kinder, deren Familienleben von pädagogischer Beliebigkeit und einem durchsäkularisierten Alltag geprägt ist, spüren, dass es zum Beispiel im Segen nicht nur um bestimmte Worte, sondern wirklich um die Nähe Gottes geht. In den ängstigenden Abgrund von Orientierungslosigkeit und fehlendem Urvertrauen scheint für Sekunden ein heilender Strahl.

Während alle Schüler, die Kleinen und die Großen, meist schnell spüren, dass sich bei Segen und Gebet Faxen und Störungen von selbst verbieten, bleibt dazwischen genug Raum für Grobheiten und Rempeleien, bis hin zu verbaler und körperlicher Gewalt. Diese manchmal gemeine Rohheit gegeneinander macht mich ratloser als alle kleineren oder größeren Schweinigeleien.

Fragte ich mich anfangs, warum diese oft selbst so verletzten Kinder und Jugendlichen kaum Hemmungen haben, andere zu verletzen, so weiß ich inzwischen nur zu gut, dass sie prügeln, eben weil sie Geprügelte sind. Schlagende Kinder sind geschlagene Kinder. Im eigenen Leiden ist ihnen die Fähigkeit zum Mitleid verloren gegangen. Ein Kind, das in seinem Fühlen jahrelang ignoriert oder beschämt wurde, kann nicht mehr mitfühlen.

»In jeder Faust steckt ein wimmerndes Herz«. Dieser Satz kann zum Schlüssel werden. Kann Religionsunterricht die Gewaltbereitschaft der Kinder verändern? Das ist eine immer wiederkehrende Frage. Ich bin überzeugt, dass wir das Problem der Fäuste nur lösen können, wenn wir uns den wimmernden Herzen zuwenden. Denn der Satz gilt auch in seiner Umkehrung: Jedes wimmernde Herz kann zur Faust werden, wenn wir es nicht hören.

Wenden wir uns also den wimmernden Herzen zu – das scheint mir der wichtigste Auftrag heutigen Religionsunterrichts. Hier gibt es den Raum, über schmerzliche Erfahrungen, Ängste und Hoffnungslosigkeit zu sprechen.

Kann man mit diesen Beziehungsinvaliden, vollverkabelt und spracharm, wie sie sind, überhaupt ins Gespräch kommen? Ja: Über die Wahrnehmung ihrer seelischen Verstümmelung. Und hier schließt sich der Kreis. Wenn es mir gelingt, auch und gerade das gewalttätige Kind achtsam und – wenn ich die Kraft aufbringe – liebevoll wahrzunehmen, kann Erstaunliches entstehen.

Ich kann eine Prügelei unterbrechen und versuchen, die Schuldfrage zu klären, von der Tugend der Gewaltlosigkeit und Fairness sprechen – wenn ich mir von der Rolle des moralischen Dompteurs Erfolg verspreche. Ich kann aber auch den Oberprügler herausziehen und in den Arm nehmen, seine Schultern, den Nacken oder die Boxhand streicheln. Oft weicht die Aggressivität sofort und spürbar aus dem Raum. Bei größeren Schülern ist das so äußerlich nicht möglich, aber auch bei ihnen kann ich durch ein sanftes Berühren, durch eine Frage herausfinden: Was macht dich so kaputt, was tut so weh, dass du jemand anderen verletzen musst? »Es sind die Schwachen, die grausam sind; Güte kann man nur von den Starken erwarten« (Leo Rosten).

Wenn festgestellt wird, dass den christlichen Kirchen der Wind ins Gesicht blase, und dies auf eine zunehmende Entkoppelung von kirchlichem Christentum und gesellschaftlichen Werten zurückzuführen sei (Wolfgang Huber), dann wirkt sich das bis in den Religionsunterricht aus. Die Rahmenbedingungen – etwa durch die Stellung des Faches im Stundenplan, die Zusammenlegung von Gruppen u. a. – sind die eine Seite der Sache. Schwerer noch wiegt die Entwertung durch die Eltern. Wenn eine Schülerin traurig erzählt, der Papa habe gesagt Reli zählt nicht und ihr für die Eins keine Mark geschenkt hat, die gäbe es nur für wichtige Fächer wie Mathe, dann wird mir auch als Lehrerin klar, dass ich mit diesem Fach auf einer anderen Werteskala angesiedelt bin.

Ich kann die zunehmende Säkularisierung betrauern oder meine Antennen ausfahren, um gerade in dieser materialistischen und konsumorientierten Zeit die ebenfalls zunehmende Sehnsucht nach religiöser Erfahrung aufzuspüren. Damit komme ich um den »Zeugnischarakter« des Religionsunterrichts nicht herum. Diese unbehausten jungen Menschen erleben sich in einer Zeit des Niedergangs, und die angstvolle Vorwegnahme einer bedrohlichen Zukunft nimmt ihnen oft den Atem zum Leben und Lernen.

Und was setze ich dagegen? Eine Glaubensgewissheit? Einen Wertekanon, der doch auch brüchig genug ist?

In allen Klassen lernen wir den 23. Psalm: »… und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück, denn Du bist bei mir, Dein Stecken und Stab trösten mich.« Keine Zusage, dass das finstere Tal erhellt oder man ihm enthoben werde: »Du bist bei mir.« Das ist alles, was ich ihnen – stellvertretend sozusagen – anbiete, jede Stunde neu: Ich bin bereit, mit dir in deine dunklen Erfahrungen zu gehen, ich halte die Hilflosigkeit aus, auch wenn ich nicht helfen kann. Ich wende den Blick nicht vom Entsetzlichen ab, auch wenn es mich entsetzt. Neben dein fehlendes Urvertrauen setze ich mein Vertrauen in deine Einmaligkeit und Kostbarkeit. Neben die Realität deiner Verzweiflung halte ich die Realität von Gottes Liebe. Ich weiß, das erklärt gar nichts, das nützt dir gar nichts – aber spürst du, dass sich etwas verändert, in dir, in mir, in uns? Ich weiß auch keinen Namen dafür. Wir wollen es namenlos lassen. Das unergründbare Geheimnis, das nicht hilft und doch verändert. »Kommunikation von Hoffnung« (W. Huber) – könnte die so aussehen?

Theologen mögen verzeihen, dass ich mich häufig auf theologisch ungesichertem Terrain befinde. Selten ist die Möglichkeit nachzuschlagen oder nachzufragen. Die Theologie aus dem Herzen mag manchmal anfechtbar sein, aber sie ist wirksamer und wärmender als manch abgesicherte Lehrmeinung.

Wenn ich einmal glaubte, der Weg ginge über Wissensvermittlung zur Erziehung und nur ausnahmsweise zur Beziehung mit den Schülern, so sehe ich den Weg des heutigen Religionsunterrichtes eher umgekehrt: Von der Beziehung allmählich zur Erziehung und dann durchaus auch zur Wissensvermittlung. Heilsgeschichte ohne Heilung geht völlig an den Bedürfnissen der Kinder und damit auch der Schule und der Gesellschaft vorbei.

In diesem Religionsunterricht geht es um die Beheimatung des Heiligen im Groben, in der Weihnachtszeit würde ich formulieren: Es geht um die Geburt Gottes im Stall.

Höchstes Gebot

Hab Achtung vor dem Menschenbild,

Und denke, dass, wie auch verborgen,

Darin für irgend einen Morgen

Der Keim zu allem Höchsten schwillt.

Hab Achtung vor dem Menschenbild,

Und denke, dass, wie tief er sinke,

Ein Hauch des Lebens, der ihn wecke,

Vielleicht aus deiner Seele quillt!

(F. Hebbel)

 

Da ist doch Krieg in meinem Land: Entwurzelte Kinder

Moses in der Tiefgarage

Medine sitzt vor ihrem Klassenzimmer am Boden. Ich habe eine Hohlstunde und gehe schnell etwas kopieren. Als ich zurückkomme, sitzt sie immer noch da, in der gleichen Haltung, das Gesicht weiß, fast starr. Ich frage: »Du, was ist denn?« Medine, die mich sonst mit stürmischer Umarmung begrüßt, verzieht keine Miene. Ich hocke mich zu ihr hin, bin erschrocken von ihrem Ausdruck: Hass, Wut und Trauer, eingemeißelt in ein Kindergesicht. Meine Hand auf ihrer Schulter schüttelt sie weg. »Lehrer sind eine Scheiße« zischt sie böse. »Schule ist eine Scheiße. Alles ist Scheiße.« Medine ist eine eifrige kleine Schülerin, ihr Schmerz reicht ganz offensichtlich tiefer als der Ärger mit dem Klassenlehrer. »War deine Mama heute böse mit dir?« frage ich. Medine nickt stumm. »Gehauen?« Medine schweigt.

Dann leise: »Sie hat geschlagt und mit Fuß getreten und Haare gereißt und geschreit und geschreit.«

»Warum ist die Mama so böse mit dir?«

»Ich weiß es nicht. Sie schreit, ich bin eine Hure.«

Mir wird irgendwie flau. »Und dein Papa«, frage ich trotzdem, »haut er dich auch?« Sie schüttelt den Kopf. »Der ist immer lieb zu mir.«

»Und wenn Mama dich haut?«

»Dann ist er schon bei der Arbeit.«

Es läutet. Religionsstunde. Medine kommt gleich mit rauf. Peter und Sabine sind auch schon da. Olli, der Klassenwinzling, kommt gerannt, schmeißt den Schulranzen hin, geht zur Tafel und schmiert sie blitzschnell voll mit wilden Linien, Knäueln und Pfeilen. Ach Olli, denke ich, wie hältst du dein Kinderleben aus, wie kommt’s, dass du immer noch lachst, Spaß hast am Spielen, manchmal – ganz selten – auch einer Geschichte zuhören kannst?

Eine Kollegin hatte mich angerufen, vor einer Woche, als Ollis Mutter im Alkohol-Koma gestorben war. Sein Vater, betrunken, ist aus dem Fenster gestürzt und liegt mit vielen Brüchen im Krankenhaus. Noch am gleichen Tag kamen die vier Kinder ins Heim.

»Olli schmiert die ganze Tafel voll«, kreischt Vera anklagend, »darf er das?«

»Ja, er darf.«

Inzwischen sind alle acht Schüler oben im Religionszimmer.

»Mir ist heiß.«

»Ich mag heute kein Religion.«

»Ich bin müde.«

»Ich will trinken.«

»Ich hab auch Hunger.«

Sechste Stunde! Unerträglich heiß ist es auch noch. Wie werde ich mit diesen Rahmenbedingungen auch nur einen Funken Interesse für Moses Schicksal losschlagen können? Melanie weint.

»Was ist los?« frage ich, inzwischen auch genervt.

»Ich habe so Hunger. Ich hab noch gar nichts gegessen.«

Eigentlich reicht es mir. Am liebsten würde ich sie alle heimschicken. Das geht nicht. Da fällt mir ein, ich habe unten im Auto eine Schachtel Knäckebrot.

Eine Minute später schleichen wir auf Zehenspitzen durch das Treppenhaus, mäuschenstill. Ich schließe die Tür zum Parkhaus auf.

»Kein Licht anmachen, wir wollen im Dunkeln runtergehen«, schlägt eines der Kinder vor.

»Gut«, sage ich. Zwar geht es zwei Treppen tief, aber sie werden schon nicht fallen. Immer dunkler wird’s und schön kühl. Sie sind ganz still, zwei haben mich an der Hand genommen. Jetzt ist es wirklich stockfinster. Plötzlich fängt einer an zu kreischen – einfach so, nichts passiert – und jetzt kreischen, brüllen und schreien sie alle. Ohrenbetäubend. Gellender Schmerz und wilde Freude, beides. Urgeschrei. – Dann drücke ich den Schalter. Licht. Sie hören sofort auf. Olli möchte die schwere Tür zum Parkdeck aufschließen.

»Welches ist Ihr Auto?« Sie stürmen los.

Ich könnte jetzt das Knäckebrot nehmen und damit nach oben gehen. Aber hier ist es kühl und still. Ja, sie wollen es versuchen, ohne schubsen und treten – dann passen wir alle neun ins Auto. Es geht wirklich, ganz eng und ganz gemütlich. Ich verteile das Brot, jedem zwei Scheiben. Das Licht in der Tiefgarage ist inzwischen ausgegangen. Wir sitzen im Dunkeln und essen. Dies ist mehr als ein Auto in der Tiefgarage: Urhöhle von Geborgenheit. Und noch anderes wird gestillt als nur der Mittagshunger.

Es reicht nochmal für jedes Kind eine Brotscheibe. Von Moses hatte ich heute erzählen wollen, von der Not der Mutter mit dem Befehl des Pharao, die Knaben zu töten, von der Sorge, ihn im Körbchen dem Fluss zu überlassen, von dieser gefährdeten und zugleich von Gott selbst behüteten Kindheit. – Und so beginne ich zu erzählen, im Dunkeln, fast flüsternd – und sie hören zu, entspannt und aufmerksam, wie im ganzen Schuljahr noch nicht. Ich bin zu Ende. »So, und jetzt gehen wir rauf, ihr holt eure Schulranzen und dürft nach Hause.«

»Und der Segen?« fragt Tonio.

»Du hast recht.« Sie falten die Hände: »Gott segne uns und behüte uns … und gib uns deinen Frieden.«

Sie quellen aus der Autoenge, laufen übers Parkdeck. Mein Gott, denke ich, einmal eine gute Religionsstunde. Du hast uns von Deinem Frieden gegeben, danke.

»Kein Licht machen!« Sie wollen im Treppenhaus wieder im Dunkeln sein. Meinetwegen. Lachen und Quietschen. Da geht das Licht an und innerhalb einer Sekunde fallen sie schlagend, tretend, boxend über Diego her. Er hat den Lichtschalter gedrückt. Jetzt liegt er mit entsetzensweiten Augen auf dem Boden: »Feiger Hund, Spielverderber.« Sie treten ihn. Mit zwei Sätzen springe ich die Stufen zurück, schiebe, schleudre sie auf die Seite: »Schluss!« »Der ist ein feiger Hund, ein Feigling ist der! Hat Angst im Dunkeln. So’n Baby. Feigling.« Johlen und Höhnen. Jetzt bin ich wütend, verletzt. Diese Horde kleiner Bestien. Was haben sie mit dem Frieden gemacht, den wir eben noch hatten und an dem ich mich so gerne noch ein Weilchen gelabt hätte?

Ich ziehe Diego vom Boden hoch. Diego ist noch nicht lange bei uns. Ein ganz ungewöhnlich begabter Zeichner, aber seine Stummheit ist mir manchmal fast unheimlich.

»Diego ist nicht feige, er ist klug. Er weiß, dass im Dunkeln Schlimmes passieren kann,« donnere ich die Kinder an, ohne mir zu überlegen, ob es Sinn macht, was ich sage. Seine Nase blutet, er hält mein Taschentuch davor. Wir gehen den anderen voran die Treppe hinauf.

»Sag mal Diego, was passiert denn Schlimmes, wenn es dunkel ist?« frage ich ihn.

»In der Nacht – dann kommen Männer – die machen die Leute tot – manchmal auch Kinder.« Er stottert. Diego kommt aus Lateinamerika. Ob etwas darüber in seiner Akte steht?

Im Schulhaus kommt uns der Schulleiter entgegen. »Wo kommt ihr denn her?« fragt er, »Religionsstunde in der Tiefgarage?«

»Ja, ganz toll«, gibt Melanie Auskunft.

»Und was habt ihr da gelernt?« erkundigt er sich weiter.

»Dass der böse Pharao-König auch keine Ausländer leiden kann. Nur weil Moses nicht sein Volk ist: Sogar getötet hat er die Ausländer!«

Tonio gehört sicher zu den wachsten Kindern der Klasse. Von »Ausländern« hatte ich nichts gesagt, aber was Fremdenhass bedeutet, das weiß Tonio offenbar schon sehr genau.

Alle haben ihre Ranzen geholt und sind nach Hause gegangen. Ich kann auch gehen. Ich bin erschöpft. Wann werde ich lernen, dass Gelungenes sich nicht halten und horten lässt wie ein Schatz? Geborgenheit und Frieden im Auto in der Tiefgarage, wir haben es erfahren – hört es deshalb auf, heilende Erfahrung zu sein, weil der Alltag mit Gewalt und Angst wieder über uns zusammenschlägt? Und die schlimme Erfahrung, als die kleinen Bestien Diego zusammenschlugen – ist sie nur schlimm? Hat er nicht zum ersten Mal über seine Angst sprechen können?

Unsere Bewertung: gut und schlecht, heilsam und heillos – der Religionsunterricht mit diesen Kindern gibt ganz neue Antworten. Jede Stunde andere. Zeilen von Rilke fallen mir in die Hand:

»Die Menschen schauen immer von Gott fort. Sie suchen ihn im Licht, … oben. – Und Gott wartet anderswo – wartet – ganz am Grund von Allem. Tief. Wo Wurzeln sind. Wo es warm ist und dunkel.« Ob Rilke Tiefgaragen kannte?

Wir Menschen können alles: Scheiß und Liebe

Heute ist Sportfest. Ich habe nur die drei Nicht-Turner in der Religionsstunde. Wir sind noch dabei, die Stühle von den Tischen zu räumen, da kommt Sven hereingeschossen. Sporttasche und Schirmmütze lässt er gleich an der Tür fallen.

»Frau Hermann, können Sie schnell den Segen sagen?«

»Ich denke, du gehörst zu den Turnern?«

»Ja, gerade! Ein Segen davor kann doch nicht schaden. Oder?«

Noch während des ›Amen‹ schnappt er sich seine Sachen und rennt den anderen nach.

Der dicke Otto schüttelt den Kopf über so viel Hektik. Er beißt nochmal vom Brötchen unter seiner Bank ab und fragt dann – mit vollen Kinderbacken, aber den Augen eines Weisen: