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Dieter Bührig

Die verschollene Jungfrau

Historischer Roman

 

 

 

 

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Lektorat: Claudia Senghaas

Herstellung: Julia Franze

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung des Bildes »The Black Brunswicker« von

John Everett Millais: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:John_Everett_Millais_The_Black_Brunswicker.jpg

ISBN 978-3-8392-3908-7

 

 

 

 

Ein Teil der Personen sowie die Handlung des Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig. Bei der Darstellung historisch belegter Personen wurde die Realität als dichterische Vorlage verwendet.

Um unerwünschte Assoziationen zu vermeiden, wurde der Name einiger Institutionen, Dienstbezeichnungen und politischer Funktionen leicht verändert.

Zitate aus historischen Quellen wurden der heutigen Rechtschreibung vorsichtig angepasst.

Vorspiel

 

»Das sind ja nur vier Törichte Jungfrauen!«, rief Florian Thormählen, als er den Raum Nummer 7 des St. Annenmuseums, das ehemalige Klosterrefektorium, betrat. So heftig, dass der Museumswärter, der ansonsten gelangweilt auf seinem Stuhl saß und in seiner Computerzeitschrift blätterte, sich bemüßigt fühlte, den Störenfried zurechtzuweisen: »Hier ist lautes Rufen verboten. Bitte beachten Sie die Besucherordnung.«

Florian raunte etwas, das wie »’tschuldigung« klang und schlich vorsichtig, Fuß vor Fuß so leise aufsetzend, dass seine Schritte sich nicht im Widerhall der gotischen Gewölbe verfingen, auf die Gruppe der Steinfiguren zu, die man links und rechts des Durchgangs zu Raum Nummer 6 auf zwei Wandsockeln aufgestellt hatte.

Der junge Mann, der erst vor ein paar Monaten seinen Abschluss als Diplomrestaurator an der Nikolaus-Kopernikus-Universität Thorn in Polen bestanden hatte, war recht lustlos nach Lübeck gefahren, wo man ihm anbot, unter Leitung der anerkannten Spezialistin für Steinskulpturen, Frau Dr. Friederike Fahrenkamp, für die Säuberung und Pflege der mittelalterlichen Schätze im St. Annenmuseum zu sorgen.

Eigentlich interessierte sich Florian Thormählen mehr für die Marmorwerke eines Michelangelo. Aber da er am Anfang seiner Karriere stand, musste er notgedrungen den Job annehmen, den ihm sein ehemaliger Professor vermittelte.

Lübeck statt Rom, Sandstein statt Marmor, die »Klugen und Törichten Jungfrauen« statt der antiken Helden. – Und die Bezahlung war ausgesprochen bescheiden, schließlich mangelte es der Stadt Lübeck an Geld. Oder vielleicht, – sie sparte an der Pflege ihres sandsteinernen Weltkulturerbes. Schließlich verschlang die Backsteingotik schon genug Steuergelder.

So hatte sich Florian nicht besonders auf sein neues Betätigungsfeld vorbereitet. Was das biblische Gleichnis mit den Klugen und den Törichten Jungfrauen anging, kannte er es seit seiner Schulzeit. Wie heißt es doch in Matthäus 25, 1 – 13?

 

Dann wird es mit dem Himmelreich sein wie mit zehn Jungfrauen, die ihre Lampen nahmen und dem Bräutigam entgegengingen. Fünf von ihnen waren töricht und fünf waren klug. Die törichten nahmen ihre Lampen mit, aber kein Öl, die klugen aber nahmen außer den Lampen noch Öl in Krügen mit. Als nun der Bräutigam lange nicht kam, wurden sie alle müde und schliefen ein. Mitten in der Nacht aber hörte man plötzlich laute Rufe: Der Bräutigam kommt! Geht ihm entgegen! Da standen die Jungfrauen alle auf und machten ihre Lampen zurecht. Die törichten aber sagten zu den klugen: Gebt uns von eurem Öl, sonst gehen unsere Lampen aus. Die klugen erwiderten ihnen: Dann reicht es weder für uns noch für euch; geht doch zu den Händlern und kauft, was ihr braucht. Während sie noch unterwegs waren, um das Öl zu kaufen, kam der Bräutigam; die Jungfrauen, die bereit waren, gingen mit ihm in den Hochzeitssaal und die Tür wurde zugeschlossen. Später kamen auch die anderen Jungfrauen und riefen: Herr, Herr, mach uns auf! Er aber antwortete ihnen: Amen, ich sage euch: Ich kenne euch nicht. Seid also wachsam! Denn ihr wisst weder den Tag noch die Stunde.

 

Florian hatte in irgendeiner Vorlesung gehört, dass das Gleichnis bereits die frühchristlichen Künstler zur Zeit der römischen Katakombenmalerei anregte. Und er wusste auch, dass es einige berühmtere figurative Darstellungen gab als die in Lübeck, deren Restauration sicherlich spektakulärer wäre, am Portal des Magdeburger Doms beispielsweise, oder beim Straßburger Münster. Die Figuren an der Kathedrale Notre Dame d’Amiens bewunderte er sogar. – Aber Lübeck? Das war in seinen Augen nun überhaupt nicht die Welt edler Steinmetzkunst.

Egal, Florian hatte wenigstens einen ersten Auftrag, und der Ruf seiner Chefin, Frau Dr. Friederike Fahrenkamp, versprach, auf der mühseligen Berufsleiter ein paar Stufen höher zu kommen. Wer weiß, vielleicht würde sie ihm eines Tages den Weg zum Petersdom in Rom ebnen, um sich der Pietà Michelangelos widmen zu können. Nötig hatte sie es ja, war er der felsenfesten Überzeugung, nachdem man sie seiner Meinung nach so sündhaft schlecht nach dem Hammer-Attentat eines Wahnsinnigen im Jahre 1972 wieder zusammengeflickt hatte.

Florian Thormählen entwickelte ein Gespür für leidende Skulpturen, und so war es nicht verwunderlich, dass ihm sofort auffiel, dass hier in der Lübecker Gruppe der »Törichten« eine fehlte.

»Was ist mit der fünften?«, fragte er sich. Welches Schicksal musste sie erleiden, dass sie das uralte biblische Gleichnis nicht erfüllen konnte?

In seinen Fingern kribbelte es. Ihn faszinierte viel mehr das, was nicht vorhanden war, als das, was dort etwas verstaubt auf dem Podest stand. Er spürte, dass ein unbeschreibliches Geheimnis über der unvollständigen Figurengruppe schwebte.

Er näherte sich den verbliebenen vier. Das fahle Licht des Spätnachmittags beleuchtete sie nur oberflächlich. Kaum konnte man Konturen, geschweige denn Farbreste erkennen. Die Gesichter verbargen sich im Zwielicht. Eigentlich hätte man sie besser mit gezielten Lichtspots ausleuchten müssen, fand der junge Mann.

Er ging ganz dicht an die äußerste Skulptur heran. Die abstehenden Ohren waren auffällig. Florian wollte das kaum zu erkennende Gesicht streicheln, doch der Wärter, der ihn ohnehin längst als Kulturterroristen abgestempelt hatte, durchschnitt die Ruhe der ehrwürdigen Halle entgegen seiner eigenen Maxime mit einem scharfen Ruf, als wolle er ihm mit einem Schwert die Hand abhacken: »Berühren verboten! Wenn Sie sich hier nicht der Ordnung unterwerfen wollen, rufe ich die Polizei.«

Jetzt erst bemerkte der Wärter, dass Florian eine prall gefüllte Reisetasche mit sich schleppte. »Und Taschen sind hier auch verboten. Gehen Sie zurück an den Empfang und geben Sie sie ab!«

Er lief auf den jungen Mann zu und drängte ihn zurück. Ob er eine Parallele zu dem Attentat auf die Pietà vermutete? Wohl kaum, denn den Begriff Michelangelo kannte er allenfalls als Namen einer Hamburger Pizzeria.

Verschüchtert wich Florian einen Schritt zurück. Er langte in seine Manteltasche. Statt des vom Wärter erwarteten Vorschlaghammers kam ein zerknitterter Brief zum Vorschein. »Beruhigen Sie sich, ich bin rein wissenschaftlich hier. Florian Thormählen, Restaurator, – Diplomrestaurator.«

Während er um ein paar Zentimeter wuchs, knickte der Wärter nach und nach um ein paar Zentimeter in seiner Autorität ein. Besonders das »Diplom« ließ bei ihm Hochachtung aufkommen, da musste er das Schreiben erst gar nicht lesen..

»Das ist das Empfehlungsschreiben«, ergänzte Florian, der den Wandel in seiner Haltung an seinen Augen ablas. »Aus dem geht hervor, dass ich sehr wohl berechtigt bin, die Figuren anzufassen.«

»Aber bitte ganz vorsichtig«, meinte der gute Mann abschließend kommentieren zu müssen. »Schließlich sind die sehr alt, und ich habe hier bis 18 Uhr die Aufsicht.« Er schaute auf seine Armbanduhr. Mehr als eine knappe halbe Stunde blieb ihm ohnehin nicht mehr, dann konnte er endlich ins Kino gehen. Der neue James Bond interessierte ihn sowieso mehr als die Törichten Jungfrauen. Außerdem wartete er ungeduldig auf den morgigen Tag, den museumsfreien Montag.

»Schon recht, ich weiß ja Ihre Pflichten zu würdigen«, versicherte Florian. »Aber wenn Sie so nett sein würden, bitte denken Sie, wenn sie Feierabend machen, heute ausnahmsweise daran, die Alarmanlage mit den Bewegungsmeldern nicht anzuschalten. Nachher kommt noch meine Kollegin, und wir wollen keinen unnötigen Alarm auslösen und uns mit der Polizei herumärgern.«

Der Wärter zog sich wortlos zurück, blieb jedoch sicherheitshalber in Sichtweite.

Nun konnte sich Florian die Figuren genauer anschauen, soweit das bei den ungünstigen Lichtverhältnissen überhaupt möglich war.

Dass die Törichte links außen, ganz nahe am Fenster, das zu einem schmalen Hofdurchgang führte und deswegen nur spärliches Licht in den Raum durchließ, abstehende Ohren hatte, war in Folge des merkwürdigen Gegenlichts gut zu erkennen. Unverkennbar auch der Ansatz zu einem Doppelkinn. Etwas steif und ein wenig verkrampft zur Seite geneigt, stand sie, mit ihrem sich vom Fenster abwendenden Gesicht, auf einem Sockel. In der rechten Hand hielt sie die leere, mit der Öffnung nach unten gerichtete, am Rand inzwischen leicht abgestoßene Öllampe. Sie machte einen recht biederen, ja fast naiven Eindruck. Sie trug von allen vier das schlichteste Kleid.

Ganz anders die zweite Törichte. Kokett lüpfte sie ihren, durch eine auffällige Brosche zusammengehaltenen Umhang mit den grazilen Fingern der rechten Hand. Dadurch konnte man den Wechsel zwischen Stand- und Spielbein erkennen, und der modische, im Laufe der Zeit an der Spitze leicht beschädigte Schuh kam zum Vorschein. Es schien, als sei sie im Begriff, von ihrem Sockel herunterzusteigen. Sie hielt den Kopf schamhaft leicht nach unten gebeugt. Dennoch deuteten ihre listigen Augen, die lange Nase und die hohe Stirn auf eine gebildete, aber auch gleichzeitig hochmütig-ironische Frau hin.

Die dritte unterschied sich besonders durch ihre Haartracht von den anderen Törichten. Während diese ihr Haupt gemäß der burgundischen Damenmode um 1400 mit zwei echten und zwei falschen, geflochtenen Zöpfen, die wie ein Kranz oberhalb der Ohren thronten schmückten, hatte es sich diese Frau nicht verkneifen können, ihren zierlichen Kopf mit breit zu den Seiten ausladenden hörnerartigen Puffen zu markieren. So sah es aus, als würde sie einen neuzeitlichen Modehut mit breiter Krempe tragen. Ein hoch geschnürter Gürtel betonte keck ihren Busen. Weniger erotisch waren ihre Gesichtszüge. Auch wenn sie den Ansatz zu einem Lächeln zeigte und die Augenbrauen hochzog, konnte man ihre traurigen Augen nicht übersehen. Ihre Lampe wies abgestoßene Kanten auf. In der anderen Hand hielt sie einen Rosenkranz, der wegen des Medaillons eher wie eine Schmuckkette, als wie eine Zählkette für das Gebet aussah.

Die vierte Törichte schien sich leicht vor ihrem Betrachter zu verbeugen. Auf ihrem Gesicht spiegelte sich ein weises Lächeln, und trotz der markanten Pausbacken machte sie den Eindruck einer energischen Frau, die wusste, was sie wollte. Ähnlich der Zweiten gewährte sie Einblicke auf ihr mit modischen Knöpfen besetztes Leibgewand, indem sie weite Teile ihres Mantelsaums über den rechten Unterarm gelegt hatte. Mit den schlanken Fingern ihrer rechten Hand spielte sie an ihrer reich verzierten Halskette. Dabei gewann man den Eindruck, als würde sie ihren Betrachter heimlich mit den Fingern locken.

Alle vier standen paarweise leicht einander zugeneigt, so, wie man sich zu einem Menuett verbeugte. Die Musik konnte gleich beginnen. Vielleicht warteten die Damen nur noch den Einbruch der Dunkelheit ab, um sich unbeobachtet ihrem törichten Tanz hinzugeben.

Die fünfte Steinfigur in der Reihe, das wusste Florian Thormählen, gehörte im engeren Sinne nicht zu den Törichten, sondern war eher ein Fremdkörper in der Gruppe. Die sogenannte »Synagoge« diente gewissermaßen als Anführerin. Seit dem Mittelalter hatte man das Gleichnis von den Jungfrauen umgedeutet. Die Törichten standen für den Alten Bund, für das »heidnische« Judentum, die Klugen symbolisierten den neuen Glauben, das Christentum. Dementsprechend war die Synagoge mit einem gebrochenem Fahnenstab und einer herabgleitenden Krone ausgestattet. Die Augenbinde und der Bockskopf, den sie mit ihrer linken Hand trug, sollten die Blindheit ihres Glaubens ausdrücken.

Es war nicht die Symbolik in der Darstellung der Figuren, die Florian faszinierte. Vielmehr hatte er sich in die natürliche, menschlich-individuelle Gestaltung verliebt. Die Frauen erschienen ihm wie wirkliche Menschen, die ein reales Schicksal erlitten hätten. Er ahnte, dass sie ihm eine Geschichte erzählen könnten, aber aus welchem Grund auch immer versteinert wurden. Als ob die Filmrolle ihrer Geschichte auf Standbild gestellt war, als ob für einen Moment der Atem der Zeit anhielte.

Aber welches war ihr Schicksal? Und wie mag wohl die verschwundene, die fünfte Törichte ausgesehen haben? In welchem Verhältnis standen die Figuren zueinander? – Florian beschloss, sich in den Stadt- und Kirchenarchiven auf die Spurensuche zu machen, um diesen Fragen nachzugehen. Er wollte nicht nur ihr Restaurator werden, er wollte sie wieder zum Leben erwecken.

 

*

 

Der Wärter hatte Florian längst sich selbst überlassen. Für den guten Mann kam jetzt die Zeit für den wohlverdienten Feierabend. Er zog sich unauffällig zurück und hatte nur noch James Bond im Sinn. Der junge Restaurator würde schon selber zurechtkommen, dachte er. Die Bewegungsmelder blieben abgestellt.

Florian öffnete die Reisetasche, holte sein Notebook heraus und stellte es vorsichtig auf eine Vitrine. Dann kramte er prüfend in der Tasche, ob er nichts vergessen hatte. Bücher, ein Aktenordner, Handwerkszeug für den Restaurator. Ja, sogar an ein paar belegte Brötchen und an Kerzen hatte er gedacht.

Im Refektorium des ehemaligen Augustinerinnenklosters dämmerte es bereits. Die Gruppe der fünf Klugen Jungfrauen verhüllte sich in dem fahlen Abendlicht noch mehr als die der Törichten, weil sie noch weiter von der Backsteinfront mit den beiden Milchglasfenstern stand. Der gesamte Raum tauchte in eine unbestimmbare Atmosphäre von Halbschatten ein. Überall posierten Steinfiguren auf Podesten vor den Wänden und auf Sockeln mitten im Raum. Ein paar Flügelaltäre ragten aus dem diffusen Licht hervor. Nichts rührte sich, alles verharrte in einer melancholischen Starrheit. Von draußen drangen dünn die weit entfernten Geräusche der sich verabschiedenden Mitarbeiter des Museums herüber.

In einer Ecke des Raumes stand ein Steinway C-Flügel. Gestern Abend fand hier ein Kammermusikabend statt, und nun wartete er, eingehüllt in eine schwarze Schutzdecke, auf sein nächstes Konzert. Das Schild »Berühren verboten« konnte man im trüben Licht der Abenddämmerung nicht entziffern.

Florian überlegte, ob er sich nicht besser zurückziehen sollte. Aber einerseits erwartete er den Besuch seiner Chefin, andererseits wollte er die Törichten, zu denen er eine gewisse Zuneigung entwickelt hatte, nicht allein lassen.

Vielleicht fingen sie ja bald mit ihrem Menuett an. Er hatte nichts dagegen, ihr Tanzpartner zu werden.

Dann aber brach Frau Dr. Friederike Fahrenkamp wie ein Gewitter über ihn und die Steinfiguren herein. Sie hatte gleich einen Tross an Helfern mitgeschleppt, die lautstark eine ganze LKW-Ladung an Scheinwerfern, Trennwänden, Röntgenapparaten, Fotoausrüstungen, Bücherregalen und Werkzeugkisten in den Raum schoben. Sogar an eine Feldpritsche hatte sie gedacht, falls man sich während der Arbeit einmal ausruhen wollte.

Eine feine Parfumwolke von Bulgari Jasmin Noir brachte die gediegene mittelalterliche Atmosphäre des ehemaligen Nonnenklosters in Verlegenheit.

»Gut, dass Sie schon hier sind», rief sie Florian mit der Stimme eines Menschen, der es gewohnt war zu kommandieren, von weitem zu. »Sie werden sich ja wohl bereits mit den Objekten unserer Arbeit vertraut gemacht haben.«

Florian missfiel der Begriff »Objekte«, schließlich hatte er eben gerade damit begonnen, die Steinfiguren als lebensfähige Wesen kennenzulernen.

Frau Fahrenkamp bemerkte seinen skeptischen Gesichtsausdruck nicht und fuhr erbarmungslos fort: »Und ich bin sicher, Sie werden bereits eine Bestandsaufnahme der Materie gemacht haben, oder?«

Zuerst prüfte sie die Figuren, dann wandte sie sich abrupt dem schüchtern dastehenden jungen Mann zu und blickte ihm in die Augen. Sie hatte eigentlich einen servilen müden Kollegen erwartet, doch sie stutze. Ihre Kollegen, mit denen sie es bislang zu tun hatte, waren ausnahmslos eingebildete und rechthaberische Skeptiker.

Eigentlich ein hübscher Kerl, dieser Volontär. Romantische Augen hat er, ging es ihr durch den Kopf. Noch so jugendlich und begeisterungsfähig. Widerspenstige, lange Haare und ein weiches, sinnliches Kinn. Da wird die Arbeit doppelt so angenehm werden. Sie hatte eine Schwäche für jugendliche Männer, auch wenn sie versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen.

Ihrem Ehemann, dem erfolgreichen Direktor einer renommierten Kunstgalerie, hatte sie sich nach all den vielen Jahren entfremdet. Für sie war er eine ausgetrocknete, bittere Zitrone. Sie sehnte sich mit ihren knapp über fünfzig Jahren nach frischer Luft, doch das konnte sie sich auf Grund ihrer Stellung natürlich nicht öffentlich leisten. Erst recht keine Skandale. So blieb es denn bei Träumen. Sie begann, ihren jungen Kollegen mit träumerischem Blick zu mustern.

Florian bemerkte sehr wohl den Wandel in ihrem Gesichtsausdruck. Vorsichtig verteidigte er sich: »Tut mir leid, für eine Bestandsaufnahme waren die Lichtverhältnisse noch nicht geeignet. Jetzt, wo Sie die Scheinwerfer mitgebracht haben, wird es meine Arbeit erleichtern.«

»Das freut mich«, lenkte die resolute Frau ein. »Wie ist denn Ihr bisheriger Eindruck von dem Fall?«

»Nun, die Sandsteinfiguren scheinen auf den ersten Blick in einem soliden Zustand zu sein. Ich denke, dass tiefere Eingriffe nicht von Nöten sein werden.«

Von Nöten. – Merkwürdig geschraubte Ausdrucksweise, sinnierte die Frau Doktor, aber die vorsichtige Bedächtigkeit ihres jungen Kollegen gefiel ihr. »Da werden wir wohl ganz einer Meinung sein. Ich halte nicht viel von Retuschierungen oder gar materialergänzenden Operationen. Unsere Aufgabe ist es, zu erhalten, zur Geltung zu bringen, aber nicht zu erneuern. Ich denke, wir werden es einerseits bei der Bestandsaufnahme und beim Säubern belassen. Andererseits sollten wir Ultraschallmessungen und Röntgenaufnahmen vornehmen, um mehr über den Zustand des Materials und sein Innenleben zu erfahren. Was meinen Sie?«

»Ja«, erwiderte Florian. »Auch ich bin ganz Ihrer Meinung. Aber ich würde gerne versuchen, die Geschichte der Steinfiguren, besonders die der fehlenden, zu erhellen.«

»Ich sehe, Sie sind ein verantwortungsbewusster Fachmann. Ein sensibler Mensch. Das gefällt mir, denn die meisten Kollegen, mit denen ich bisher zusammengearbeitet habe, neigten dazu, ihre Kunstfertigkeit als Restaurator, ja sogar ihren eigenen Geschmack, in den Vordergrund zu stellen. Sie modellierten Gipsergänzungen, bohrten Schächte, um Versteifungen anzubringen, verkitteten Risse und bemalten nach eigenem Gutdünken was das Zeug hielt. Sie schufen wahre neue Kunstwerke, – aber sie zerstörten damit das Original.«

Die Helfer hatten inzwischen alle Kisten und Geräte abgestellt und die beiden Figurenreihen links und rechts des Durchgangs mit großen Stellwänden so abgeschirmt, dass die Restauratoren auch während der Besucherzeiten ungestört arbeiten konnten. Außerdem stellten sie zwei kleine Arbeitstische und Stühle auf. Zum Schluss installierten sie Scheinwerfer, die die beiden Figurengruppen in ein erbarmungslos kaltes Licht tauchten.

Um den Leuten bei ihrer Arbeit nicht im Weg zu stehen, hakte sich die Chefrestauratorin bei Florian ein und führte ihn zur gegenüberliegenden Wand, wo der steinerne Zyklus der zwölf Apostel seinen Platz gefunden hatte.

»Das Entscheidende für mich und meine Arbeit ist das Kriterium der Echtheit«, fuhr sie fort. »Jeder unnötige Eingriff birgt die Gefahr einer unwiderruflichen Zerstörung der Authentizität. Nehmen wir beispielsweise hier diesen Apostel mit den fein herausgearbeiteten spiralförmigen Bartlocken. Ein wunderschönes Werk, aber ihm wurde der rechte Arm abgebrochen. Sollen wir ihm nun einen neuen verpassen? Technisch und stilistisch wäre das kein Problem. Aber dann wäre es ein völlig anderer Apostel, einer aus unserem Jahrhundert. Die Spuren einer sechshundertjährigen Geschichte dürfen wir nicht vertuschen und so tun, als sei nichts geschehen. – Es ist in meinen Augen so ähnlich wie bei uns Menschen. Wer sich selber gegenüber ehrlich ist, verheimlicht die Spuren seiner Geschichte nicht. Wem es wichtig ist, authentisch zu sein, für den werden Schönheitsoperationen nicht infrage kommen.«

Ob sie bei diesen Worten an ihr eigenes Älterwerden dachte, konnte man ihr nicht ansehen.

Die beiden kehrten zu den Steinfiguren der Jungfrauen zurück. Die Arbeiter waren inzwischen verschwunden, und man hörte wieder das ruhige Atmen des Klostergebäudes. Durch die Fenster drang nun kein natürliches Licht mehr herein, und die beiden Scheinwerfer, die jetzt von den Stellwänden abgeschirmt waren, teilten den Raum in zwei scharf abgegrenzte Zonen. Während bei den Aposteln eine mystische Dunkelheit herrschte, waren die Jungfrauen in grell metallisches Licht getaucht, als würden sie nackt im Rampenlicht einer frivolen Bühnenshow stehen. An der Wand bildeten sich skurrile Schatten wie bei einem verzerrten indonesischen Schattentheater.

Florian ärgerte sich insgeheim über diese unsensible Beleuchtung. Die Gesichter wirkten, obwohl man jetzt jedes Detail messerscharf unterscheiden konnte, merkwürdig flach und leblos. Die Figuren hatten ihren ganzen Charme, der vorhin in der Dämmerung zu spüren war, verloren.

Die beiden Restauratoren setzten sich an einen der Arbeitstische. In den dezenten Duft von Jasmin Noir hatte sich nun etwas Schweißgeruch der Arbeiter gemischt. Florian störte das nicht. Im Gegenteil, es verlieh dem Parfum eine Spur von erotischer Körperlichkeit.

Frau Fahrenkamp entledigte sich ihrer Anzugjacke und hängte sie sorgfältig über die Stuhllehne. Dann schob sie mit den Fußspitzen einen Korb heran, zog daraus ein paar Gegenstände hervor und stellte sie auf den Tisch. »Hier, etwas Rotwein, ein Öffner und zwei Gläser. – Rotspon, das passt ja wohl ganz gut zu Lübeck. Damit wir auf den Beginn einer wunderbaren Zusammenarbeit anstoßen können. – Und hier, etwas zu naschen. Marzipan. – Ich mag süße Verführungen«.

Florian überhörte die versteckte Anspielung. Er öffnete die Flasche und schenkte beiden ein. Brav entgegnete er: »Auf Ihr Wohl, Frau Doktor Fahrenkamp. Ich freue mich, einer so anerkannten Expertin assistieren zu können.«

»Ach was, lassen wir diese Schmeicheleien. Sie sind nicht mein Assistent, Sie sind mein Partner, und ich würde mich freuen, wenn Sie mich einfach Friederike nennen und ich zu Ihnen Florian sagen darf.«

Sie stießen kurz an und genehmigten sich einen Schluck. Endlich mal ein guter Rotspon, urteilte Florian, der genau wusste, dass es hier deutliche Unterschiede gab. Die meisten Touristen begnügten sich mit dem billigen Supermarkt-Rotspon, der wie saurer Rosinensaft schmeckte. Er aber hatte eine Vorliebe für den Cuvée Exceptionelle, einem Vin de Pays d’Oc. In letzter Zeit begeisterte er sich für den Wittspon. Das war ein Weißwein, der lange Zeit im Schatten seines berühmten Bruders stand, aber ähnlichen Bedingungen unterlag und ebenfalls eine hohe Qualität beinhaltete.

Der junge Mann kam nicht dazu, höflich zu antworten, denn Frau Fahrenkamp bückte sich erneut und zog aus ihrer Aktentasche einen Laptop, den sie umständlich in Gang setzte. Florian nutze die Gelegenheit, seine Chefin zu mustern.

Ein wenig erinnerte sie ihn an ein Gemälde von Amadeo Modigliani, das er im letzten Jahr während einer Reise nach Japan in einer Galerie in Tokio gesehen hatte. Er liebte die geheimnisvollen, verführerischen Porträts des italienischen Malers. Und so kam er nicht umhin, die elegante Schönheit seines Gegenübers zu bewundern.

Das ovale, etwas blasse Gesicht wurde von einer langen, schmalen Nase, deren Nasenflügel kaum ausgebildet waren, beherrscht. Sie nahm über ein Drittel ihres Antlitzes ein. Unter ihr schwebte ein mandelförmiger, kaminrot geschminkter Mund, der wie eine Tulpenblüte aussah, die gerade im Begriff war, sich dem Frühling zu öffnen, und der viel Platz für das längliche Kinn ließ, was ihrem Wesen einen Schuss Entschlossenheit verlieh.

Das schwarze, streng nach hinten zusammengebundene lange Haar betonte ihre hohe Stirn. Ein paar Haarsträhnen hatten sich aus dem Verbund gelöst und lagen verspielt über den hochliegenden Augenbrauen.

Ihre Augen hatten fast die gleiche Größe und Form wie ihr Mund. Sie bildeten den emotionalen Mittelpunkt ihrer Ausstrahlung. Täuschte Florian sich, oder waren sie jasmingrün? Er konnte das in dem grellen Scheinwerferlicht, das den gesamten Arbeitsplatz mit gleichmacherischer Intensität überflutete, nicht unterscheiden. Jedenfalls spürte er in ihnen eine merkwürdige Mischung von sinnlicher Anziehungskraft, melancholischer Einsamkeit und stahlharter Berechnung. Infolge der brutalen Beleuchtung fielen die Augenfalten besonders auf. Florian schätze die Frau auf etwa 50, also etwa 20 Jahre älter er selbst. Aber seltsamerweise störten ihn diese Altersspuren nicht. Im Gegenteil, gerade sie waren es, die ihr Gesicht lebendig und liebenswert machten. Ohne sie wäre Friederike Fahrenkamp eine austauschbare Allerweltsfigur aus irgendeiner Zeitschrift für die reife Frau gewesen.

Bemerkenswert auch ihr langer, schmaler Hals, der von dem breiten Kragen ihrer weißen Bluse beschützt wurde. Der oberste Knopf stand offen, und ein lässig gebundener, etwas gelockerter Knoten einer schwarzen Krawatte verschloss züchtig ihren Oberkörper.

Während Frau Fahrenkamp auf den Monitor ihres Laptops schaute, rollten die Augen gleißend hin und her. Sie schien voll in ihrer Arbeit aufzugehen. »Hier haben wir’s!«, rief sie und genehmigte sich einen kräftigen Schluck Rotwein. »Die Gruppe der Klugen und Törichten Jungfrauen entstand um 1400. Sandstein, vermutlich aus Westfalen. Der Bildhauer blieb unbekannt. Nicht so der Stifter, ein gewisser Petrus Huk, der sich damit sein Seelenheil beim Neubau der Dominikanerkirche St. Maria Magdalene erkaufen wollte.«

Sie blickte kurz auf. Da bemerkte sie, dass der junge Mann sie intensiv musterte. In seinem Blick lag etwas, das sie irritierte. Komisch, dachte sie, so hat mich mein Mann schon seit Jahrzehnten nicht mehr angeschaut. Seine Augen sind sympathisch, und der Zweitagebart steht ihm. Er hat etwas von Novalis, dem Dichter, den sie sehr verehrte. Am liebsten wäre sie ihm zärtlich mit den Fingern über die Stirn gestrichen. Aber als hätte sie Angst, zu viel von ihren eigenen Träumen preiszugeben, fuhr sie in festem, akademischem Ton mit ihrer Litanei fort.

»Das ist die ehemalige Kirche im Burgkloster, sollten Sie wissen, mein lieber Florian. Sie musste 1818 wegen Baufälligkeit abgerissen werden. Die Sandsteinfiguren konnten nebst anderen Kunstschätzen dank der Initiative eines Zeichenlehrers des Katharineums, einem gewissen Carl Julius Milde, gerettet werden. Seitdem wiedersprechen sich die Angaben über den Verbleib der heute nun fehlenden Törichten Jungfrau.«

»Was wohl aus ihr geworden sein mag?«, ließ sich Florian etwas geistesabwesend vernehmen. Offenbar interessierte er sich für die fachmännisch vorgetragenen Fakten seiner Chefin nicht besonders. Diese Fehlende ging ihm nicht aus dem Kopf.

Frau Dr. Friederike Fahrenkamp hörte ihm gar nicht zu. Zu sehr war sie mit ihren Steinfiguren beschäftigt. Sie dozierte noch eine Weile über die Geschichte und die Bedeutung der Bildhauerkunst in Lübeck um 1400, über das Problem der Steinbeschaffung, über den Abriss der Burgkirche, über die Museumspolitik der Stadt seinerzeit, über die Auslagerung vieler Skulpturen in den Hochchor der Katharinenkirche, über die epochale Wirkung des Herrn Milde, und so weiter und so fort.

Gerade wollte sie auf eine wissenschaftliche Stilkritik des Zyklus der Lübecker Jungfrauen zu sprechen kommen, als sie ihr junger Kollege, dessen Gedanken längst ganz woanders weilten, völlig zusammenhangslos fragte:

»Warum sind die Törichten Jungfrauen eigentlich töricht und warum bezeichnet man die anderen als klug?«

Das brachte die Doktorin für einen Augenblick aus dem Konzept. Blöde Frage, dachte sie zunächst und vergewisserte sich: »Sie kennen doch wohl das biblische Gleichnis von den Jungfrauen, oder?«

Natürlich kannte er es. Aber Florian wollte offenbar auf etwas anderes hinaus. »Mich irritiert etwas, das ich nicht zusammenbringen kann, wenn ich mir diese Darstellung hier anschaue. Nach dem Bibeltext müsste man doch erwarten, dass ein gottesfürchtiger Bildhauer die Klugen ganz anders darstellt als die Törichten. So, wie man in einem Western die Guten und die Bösen sofort an ihrem Gesichtsausdruck, an ihren Gesten, an ihrer Kleidung erkennt. Bei den berühmten Reliefs am Magdeburger Dom ist das auch so. Da liegen Welten zwischen den beiden Gruppen. Hier aber sehen für mich die Törichten nicht viel anders aus als die Klugen. Gut, man kann sie durch die Haltung der Öllampen unterscheiden. Die Törichten halten sie mit der Öffnung nach unten, die Klugen nach oben, damit nichts ausläuft.«

Florian stand auf und schritt die Figurenreihe langsam von links nach rechts ab, als würde er wie ein Staatsmann die Parade bei seinen Soldaten abnehmen. Im Gehen fuhr er mit seinen Überlegungen fort. »Hier aber sehen alle recht ähnlich aus. Alle sind gut und elegant gekleidet, alle stehen in würdevoller Geste, alle haben ein bezauberndes, natürliches Gesicht. Lediglich in der Haartracht unterschied der Bildhauer die beiden Parteien. Während die Törichten ihre Haarpracht zusammengesteckt halten, tragen die Klugen das Haar offen.«

Er kehrte zum Tisch zurück und blieb lächelnd stehend. »Das finde ich ziemlich modern. In vielen Popsongs heißt es noch heute: »Let your hair down«, wenn man eine Frau auffordert, sich einem Liebhaber hinzugeben.«

Frau Fahrenkamp fand diesen Vergleich nicht besonders passend, aber immerhin kontrollierte sie mit einer fahrigen Bewegung, ob ihr nach oben zusammengesteckter Zopf noch in der vorschriftsmäßigen Form verharrte. Dann, um auch auf diesem Gebiet ihr Fachwissen zu demonstrieren, erwiderte sie: »Mit dem Begriff »modern« haben Sie – wohl eher intuitiv – etwas Richtiges getroffen. Schon um 1400 hatten sich sowohl die Bedeutung des Gleichnisses, als auch ihre künstlerische Reflektion stark gewandelt. Dem inzwischen aus der Anonymität herausgewachsenen Künstler ging es längst nicht mehr um eine ideologisch einwandfreie Darstellung. Er wollte vielmehr zeigen, was er konnte, vor allem, dass er es verstand, seine Figuren eigenständig, individuell zu erschaffen. Ihm lag an der unverwechselbaren Aura des Kunstwerks, nicht an dem religiösen Kontext.«

Sie schenkte beiden Rotwein nach. Florian setzte sich wieder, nahm sein volles Glas und studierte gedankenversunken die Lichtreflexe darin. Die Figuren der Törichten sahen in der etwas bewegten Flüssigkeit aus wie eine auf dem Kopf stehende Schar von verführerisch tanzenden Jungfrauen. Aber es lag etwas Geheimnisvolles in der roten Farbe. Es schien, als ob sie sich in einem rituellen Blutbad reinigten. Es erinnerte ihn an eine Aufführung von Strawinskys »Sacre du printemps«, die er neulich in Berlin gesehen hatte.

Florians Chefin achtete nicht auf die Spiegelungen im Glas. Sie trank mit vollem Zug und blickte zum mittelalterlichen Deckengewölbe. Sie fuhr mit ihrem Referat fort. »Die Törichten und die Klugen unterscheiden sich zwar ikonographisch, nicht aber stilistisch. Nur noch die konträre Darstellung der beiden Gruppenführer, der Synagoge und der Ekklesia, reichen aus, um dem Kirchenbesucher zu verdeutlichen, wer wer ist. Aber auch hier im Wesentlichen anhand ihrer Requisiten, nicht in der Lieblichkeit und Eleganz ihrer fraulichen Erscheinung.«

Nun meinte Florian, sich einmischen zu dürfen. »Dann sind die Törichten also eine ganz schöne Portion klug, und die Klugen neigen zum Törichten?«

»Das wäre allerdings etwas überspitzt ausgedrückt. Aber irgendwie gebe ich Ihnen recht. Interessanterweise hat eine der Klugen ihren Mantel abgestreift und wendet sich in Richtung der Törichten, als wolle sie ihr Podest verlassen und zu den Gegner übergehen. Und ihre Kollegin rechts daneben ist mit der Zurschaustellung ihrer weiblichen Reize nicht zu übertreffen, so raffiniert weiß sie, ihren Umhang zu öffnen. In der Tat fällt es mir schwer – abgesehen von einigen oberflächlichen Symbolen, zwischen den Törichten und den Klugen zu unterscheiden.«

Frau Doktor Fahrenkamp blickte jetzt ihrerseits in ihr inzwischen abgestelltes Glas. Dort reflektierte sich Florians Gesicht. Die Linsenwirkung der Flüssigkeit vergrößerte sein Gesicht und verzerrte es beträchtlich. »Eigentlich ein sympathischer Bursche, dieser Florian. Aufregend, dass er es mit einfachen Fragen vermag, mich in Verlegenheit zu bringen. Irgendwie berührt er mich.«

Als ob der junge Mann ihre Gedanken gelesen hätte, sagte er in einem warmen aber bestimmten Ton: »Sie haben meine Ausgangsfrage noch nicht beantwortet. – Und mir läge daran, Ihre Meinung zu hören. Warum sind die Törichten Jungfrauen eigentlich töricht?«

Seine Kollegin brauchte eine ganze Weile, bis sie zögerlich antwortete, so wie jemand, der etwas erklären muss, was für ihn eigentlich schon so klar ist, dass man es nicht mehr zu hinterfragen braucht. Am schwierigsten ist es, die Selbstverständlichkeiten des Lebens zu erklären, sinnierte sie.

»Nun, der allgemeinen Lesart zufolge sind die Törichten dumm und blind, weil sie sich nicht auf das letzte Ziel ihres Lebens vorbereitet haben. Sie haben nur das Diesseitige im Blick, nicht das Jenseitige.«