Marion von Schröder ist ein Verlag
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ISBN 978-3-8437-0326-0

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1 Sie sind jetzt mal der Mann

Salsa – nicht nur ein Tanz, ein Lebensgefühl, so lockte die Überschrift. Das tanzende Paar auf dem Foto der Webseite sah wirklich elegant aus, da konnte man nicht meckern. Allein schon, wie die Frau ihren Kopf in den Nacken geworfen hatte. Das musste man erst mal nachmachen. Das konnte nicht jeder. Wanda konnte das schon gleich gar nicht, jedenfalls nicht um acht Uhr morgens. Wenn sie jetzt den Kopf in den Nacken warf wie die auf dem Foto, würde er mit einem grässlichen Knacken für den Rest des Tages da hinten bleiben oder zumindest so lange, bis sie sich irgendwie zu Dr. Mauerbach geschleppt und der ihn wieder gerade gerückt hatte.

Wanda biss von ihrem Brötchen ab und klickte sich auf der Webseite weiter. Leidenschaftlich. Geschmeidig. Temperamentvoll. Sie hielt inne. Die Leute auf den Fotos waren allesamt deprimierend jung und dünn. Und lachten so aufdringlich. Eine Schnaps­idee, dieser Salsa-Kurs. Und was für Schuhe sollte sie da überhaupt anziehen? Die einzigen Schuhe, in denen sie halbwegs ­geschmeidig auftreten konnte, waren die Schaffellstiefel, die Stefan ihr letztes Jahr aus Australien mitgebracht hatte. »Ugg Boots, Mama. Die sind der Hit.« Erstaunlicherweise waren die Stiefel wirklich bequem, auch wenn sie sich in den klobigen Dingern immer wie ein Mammut vorkam und sie nur zu Hause anzog. Jedenfalls hatte sie keine Salsa-Schuhe. Wanda schaltete den Computer aus. Sie sollte Biggi anrufen und den Unsinn absagen. Heute Abend kam ein guter Spielfilm im Ersten, dazu könnte sie sich was Leckeres kochen. In ihrem Alter musste sie nicht mehr abends mit irgendwelchem Jungvolk zu La Bamba herumhopsen.

Sie sah erneut auf die Uhr. Gerade mal zehn nach acht. Normalerweise hätte sie jetzt das Haus verlassen, um dann Punkt 9.00 Uhr ihren Teeladen aufzuschließen. Um den unvergleich­lichen Geruch nach all den Teesorten einzuatmen – geheimnisvoll, orientalisch, fruchtig. Um die bauchigen Teekannen im Regal zu begrüßen wie gute alte Bekannte und um schließlich dem ersten zögerlichen Kunden bei der Auswahl des perfekten Tees behilflich zu sein. Beruhigend, erfrischend, anregend, je nachdem, wonach die Leute sich sehnten.

Sie seufzte und stellte dann energisch das Frühstücksgeschirr zusammen. Das war vorbei, und das war gut so. Wie oft hatte sie in den letzten Jahren genau davon geträumt – im Bademantel, ungeschminkt und völlig stressfrei ein schönes Frühstück zu genießen, nicht zur Arbeit hetzen zu müssen und all die Sorgen um den Teeladen abladen zu können wie einen schweren Rucksack. Und jetzt, als es endlich so weit war, verwandelte sie sich in ein sentimentales altes Huhn. Dabei lag der ganze Tag noch vor ihr, es war gerade mal Viertel nach acht. Viertel nach acht … Wanda sprang wie elektrisiert auf. Wie hatte sie nur die Zeit verpassen können. Mit einem Satz war sie an der Haustür, riss sie auf und sprang mit zwei raschen Schritten durch den kleinen Vorgarten. Wenn sie den verdammten Hundebesitzer mit seinem Mistköter heute erwischte, würde sie ihn so was von zusammenstauchen. Da!

»Kusch!«, schrie sie wütend. Es war nicht zu fassen. Da war das Vieh und hockte an genau derselben Stelle wie gestern, wie vorgestern, wie die ganze verdammte letzte Woche lang. In ihrem kleinen Steingarten! Und sie musste den Mist – im wahrsten Sinne des Wortes – dann wieder wegräumen.

»So eine Sauerei«, rief sie laut. »Sie können Ihren Hund doch nicht einfach in fremde Gärten machen lassen!« Noch im Bademantel rannte sie auf die Straße. Wo war diese verantwortungslose Person? Der Hund, ein Dackel, lief jetzt schwanzwedelnd und ohne Eile zum Fußweg und sah sie aus braunen Hundeaugen freundlich an.

»Hau ab!«, rief Wanda. Der Hund setzte sich zögernd in Bewegung. Auf der Straße war niemand zu sehen. Keiner, der »Fiffi, komm!« rief oder pfiff oder geistesabwesend eine Hundeleine hinter sich herschleifte und dabei Zeitung las. War dieser Köter etwa alleine unterwegs? Das wäre ja ungeheuerlich. Einen Moment lang zog sie in Erwägung, den Hund zu verfolgen, doch dann fiel ihr wieder ein, dass sie noch nicht mal angezogen war. Überdies ging jetzt auch noch bei ihrem Nachbarn die Tür auf. Der alte Herr Gilder kam heraus, mit Steppweste und Gummistiefeln bekleidet und mit einer Harke bewaffnet.

Wanda raffte den Bademantel vorne zu und schenkte dem alten Mann ein schwaches Lächeln. »Morgen!«, rief sie. »Wie geht’s?«

Der alte Gilder sah auf seine Armbanduhr. »Halb neun«, rief er zurück.

Wanda zwang sich zu einem freundlichen Nicken und trat den Rückzug ins Haus an. Halb neun. Als ob sie ihr schwerhöriger Nachbar daran erinnern musste, wie ewig lang dieser Tag noch war. Ein Tag, der ihr schon die erste schmähliche Niederlage eingebracht hatte, bevor er überhaupt richtig angefangen hatte. Ein Tag, der genauso ereignislos verlaufen würde wie die letzten vierzig Tage. Seit sie ihren Teeladen verkauft und sich selbst mit dreiundsechzig ins Rentnerdasein befördert hatte. Irgendwie hatte sie sich das alles anders vorgestellt. Befreiender. Aufregender. Voller Kunstausstellungen, Konzerte, Reisen. Voller alleinstehender, niveauvoller Männer in ihrem Alter … Stattdessen fühlte sie sich seit vierzig Tagen wie von einer unerklärlichen Lähmung befallen und hatte es gerade mal geschafft, ihren Badezimmerschrank zu entmisten. Wenn ihre Freundinnen Biggi und Marianne sie in den letzten Wochen nicht immer wieder gezwungen hätten, irgendwas zu unternehmen, wäre sie völlig versauert. Was war nur mit ihr los? Sie war doch gesund, sie sah noch attraktiv aus – kurze dunkle Haare mit ein paar grauen Strähnchen, voller Mund, dunkle Augenbrauen. Jemand hatte ihr vor einiger Zeit gesagt, dass sie Isabella Rosselini ähnelte, allerdings offenbar erst im Alter, denn über sechzig Jahre lang war das keiner Menschenseele aufgefallen. Abgesehen von etwas Hüftspeck war Wanda noch relativ schlank, sie hatte Geschmack, die Andeutung eines Grübchens, wenn sie lachte, eine Menge Fältchen um Augen und Mund, aber wenigstens keine bizarren Warzen, aus denen Haare wuchsen, oder nervöse Ticks und Macken. Das hoffte sie jedenfalls stark. Und dennoch – nach all den Sorgen um den Teeladen der letzten Jahre fühlte sie sich wie ein Ballon, aus dem man die Luft herausgelassen hatte. Leer, schlaff und irgendwie unmotiviert. Würde das etwa so bleiben? Würde sie jeden Tag aufs Neue morgens in der Hoffnung aufstehen, dass vielleicht an diesem Tag etwas Grandioses, Aufregendes passierte, nur um abends wieder resigniert festzustellen, dass ihre besten Jahre offenbar hinter ihr lagen und »Lebensabend« einfach nur bedeutete, dass einen die moderne Welt irgendwann nicht mehr vermisste, selbst wenn man noch am Leben war?

Nein, verdammt noch mal. Sie schraubte die Marmelade zu. Rentnerin – wie das klang. Nach Apotheke, nach beigefarbenen Sandalen, nach Haarnetzen. Wanda holte tief Luft.

Sie würde heute Abend mit Biggi zum Salsakurs gehen. Und dort würde sie geschmeidig, temperamentvoll und leidenschaftlich tanzen, denn sie würde sich heute die passenden Schuhe dafür kaufen. Wenn noch Zeit war, würde sie gleich mal im Tee­laden nach dem Rechten sehen. Vielleicht brauchte Martin ja noch ein paar gute Ratschläge.

Etwas, das sie dem neuen Besitzer bei ihren fast täglichen Besuchen in den letzten Wochen vergessen hatte mitzuteilen.

Entgegen den vollmundigen Versprechungen der Webseite war Salsa kein Lebensgefühl, sondern eine Zumutung, das erkannte Wanda sofort. Ihre neuen Schuhe brannten und drückten, und sie hatte sich viel zu sehr aufgedonnert mit ihrer türkisfarbenen Tunika. Biggi sah allerdings auch nicht viel besser aus. Sie platzte bald aus dem unvorteilhaften Kleid aus rotbraunem Knittersamt heraus. Seit ihrer Scheidung vor einem Jahr zog Biggi nur noch so mondänes Zeug an, egal, ob es zu ihr passte oder nicht. Sie wollte keine Motte mehr sein, sondern ein Schmetterling, hatte sie Wanda erklärt. Ein Schmetterling mit zweiundsechzig … Na ja. Auf Wanda machte sie heute mehr den Eindruck eines Mehlkäfers in Feinstrumpfhosen, aber andererseits war Wanda ja froh, dass sie Biggi hatte. In der spartanischen Turnhalle wirkten sie jedenfalls beide völlig fehl am Platz. Biggis schweres Parfüm vermischte sich mit dem Geruch nach Medizinbällen und pubertärem Schweiß, der diesem Ort anhaftete, und Wanda bekam kaum noch Luft. Sie wäre am liebsten sofort wieder gegangen. Aber was hatte sie eigentlich erwartet? Vielleicht ein Café oder elegantes Tanzstudio … Stattdessen ­saßen sie in der Turnhalle der Wagnerschule auf Holzbänken, die wahrscheinlich untendrunter mit Kinderpopeln beschmiert waren, und warteten gemeinsam mit sechs anderen Frauen auf einen gewissen Ernesto. Nur mit anderen Frauen. Männer waren noch keine gekommen.

Wanda sah sich unauffällig um. Drei stämmige Freundinnen in Sportkleidung saßen wie eine Gebirgsformation nebeneinander und tuschelten leise. Sie waren in Wandas Alter. Zwei andere Frauen waren noch ganz jung und starrten ununterbrochen auf ihre Handys. Die letzte Frau war um die fünfzig und offenbar ganz alleine hergekommen. Wanda fand das ziemlich mutig. In dem Alter wäre sie nie alleine irgendwohin gegangen. Allerdings war sie da auch Teil eines Ehepaares gewesen, und da ging man nicht alleine weg. Auch dann nicht, wenn diese Ehe quasi nur noch auf dem Papier existierte.

»Wollen wir wieder abhauen?«, flüsterte sie Biggi zu.

»Wart’s doch erst mal ab«, flüsterte Biggi zurück. Sie sah mit hungrigen Augen zum Eingang, genau wie alle anderen im Raum. Dort öffnete sich jetzt die Tür, und jemand sah herein. Ein Mann!

Verstört blickte er in die Halle. Die Köpfe der jungen Frauen klappten sofort wieder gleichgültig nach unten. Der Mann hatte seine Hosen in der Art alter Männer bis fast unter die Achseln hochgezogen, dabei war er vielleicht gerade mal sechzig und auch nicht alleine. Eine Frau schob ihn von hinten, und Wanda konnte hören, wie sie leise »Nun geh doch nur mal rein, Holger« sagte. Die Frauen in Sportsachen wandten sich enttäuscht ab. Die Tür öffnete sich wieder, und diesmal kam ein sportlicher, schlanker Typ um die dreißig herein. Er trug ein weißes Hemd unter einer schwarzen Weste und hielt sich aus­gesprochen gerade.

»Señoras y señores!«, rief er ausgelassen und verwandelte damit auf magische Weise selbst den Mann mit den hochgezogenen Hosen in einen glutäugigen Kubaner. »Ich bin Ernesto. Fangen wir an!«

Er machte sich ohne weitere Umstände an einer schwarzen Musikbox zu schaffen, und auf einmal schallten lateinamerikanische Rhythmen durch die miefige Turnhalle, als befänden sie sich alle in einer Nachtbar in Havanna, Mojito in der Hand und Blumen im Haar. Die anderen Frauen standen zögernd auf, Wanda machte es ihnen nach.

»Sie können alle keinen Salsa, nein?«, rief Ernesto. Er trippelte ein paar Tanzschritte, schüttelte den Kopf und lachte ungläubig bei der Vorstellung, dass ein Mensch tatsächlich sein bisheriges Leben verbracht haben konnte, ohne täglich Salsa zu tanzen. »Anita wird euch die Grundschritte für die Frau zeigen.«

Anita? Die Enttäuschung war geradezu körperlich im Raum zu spüren, als Ernestos flotte Tanzpartnerin quasi aus dem Nichts hinter ihm auftauchte.

»Ich stell mich mal mit dem Rücken zu euch hin, damit ihr das besser sehen könnt«, begann sie. »So. Und dann gehen wir mit dem rechten Fuß nach hinten, das ist die eins, auf zwei gehen wir links vor und auf drei rechts vor, anhalten, auf der fünf gehen wir vor, auf sechs rechts zurück, auf sieben …«

»Was?«, fragte Wanda verwirrt. Sie hatte bereits den Faden verloren. Und was war mit der vier? Wo war Schritt Nummer vier abgeblieben?

»… und eins, zwei, drei und fünf, sechs, sieben …«

Wanda sah sich um. Die beiden jungen Frauen hatten den Schritt schon drauf, es war nicht zu fassen. Die Musik schien immer schneller zu werden, Bongos und Congas hetzten Wanda durch den Raum, immer einen Schritt zu spät oder zu falsch. Sie fing an zu schwitzen. Was zum Teufel hatte sie hier verloren? Warum saß sie nicht auf ihrer gemütlichen Couch und guckte sich den Film mit Ulrich Tukur an, den sie heute brachten?

»Meinst du, es kommt noch jemand?«, schnaufte Biggi neben ihr. Eine Haarsträhne hatte sich gelöst und hing ihr wirr ins Gesicht.

Wanda antwortete nicht. Sie versuchte, sich zu konzentrieren, denn jetzt zeigte Ernesto den Männerschritt.

»Hacke nicht ganz absetzen, gerade bleiben, immer leicht in den Knien …« Er scharwenzelte mit Anita durch die Halle, was das Zeug hielt, verfolgt von den schmachtenden Blicken der drei Frauen im Sportlook.

»Und jetzt machen wir das mal als Paar.« Zu Wandas Entsetzen kam Ernesto genau auf sie zu. Er griff nach ihrer und nach Biggis Hand. »Wir bieten unsere Hände an, also die Frauen legen ihre Hände da so rein, keine Daumen benutzen.« Damit hakelte er Biggis widerstrebende Finger in Wandas hinein. »Sie sind jetzt mal der Mann«, sagte er zu Wanda. »Und Augenkontakt nicht vergessen und eins, zwei, drei und fünf, sechs, sieben!«

Die Musik dröhnte wieder los und scheuchte Wanda erneut durch den Raum, diesmal mit der schweren, ächzenden Biggi im Schlepptau. Ihre Finger hielten sich krampfhaft aneinander fest, wie bei Ertrinkenden. Ständig traten sie sich auf die Füße.

»Aufpassen, du bist doch der Mann«, sagte Biggi. Sie kicherte albern. »Wir können ja mal wechseln.«

Nie wieder, dachte Wanda. Nie wieder. Ihre gequälten Zehen wollten nichts mehr, als aus diesen Schuhen raus und in ihre weichen Wollsocken zu Hause rein. Gab es etwas Peinlicheres, als mitteleuropäische Rentnerinnen, die an einem kalten Oktoberabend zwischen Sprossenwand und Basketballkorb mit dem Hintern wackelten wie Fidel Castros Fernsehballett? Lächerlich, total lächerlich. Doch dann sah sie es: Der Mann mit den hochgezogenen Hosen tanzte wie ein junger Gott mit seiner pummeligen Frau. Die beiden strahlten sich an, schienen alles um sich herum vergessen zu haben. Wo Wanda und Biggi schoben und strauchelten, schwebten die beiden dort wie aus einem Guss über das zerschrammelte Parkett. Sahen sich dabei in die Augen, kamen sich immer näher. Der Anblick der beiden traf Wanda unvorbereitet und mitten ins Herz. Wolfgang, ihr Ex, hatte nie so mit ihr getanzt. Nicht mal in ihren besten Zeiten. Er hatte sie nie so angesehen, wie der Mann mit den hochgewursteten Hosen dort seine Frau ansah. Und falls nicht noch ein ganz großes Wunder geschah, würde Wanda wohl auch niemand mehr in ihrem Leben so ansehen. Denn dazu müsste sie erst einmal jemanden finden. Und wo? Hier garantiert nicht.

»Die drehen sich alle«, keuchte Biggi ihr zu. »Los, wir drehen uns auch.«

Wanda riss reflexartig die Arme hoch, damit Biggi sich Cross Body Style à la Anita durchschieben konnte, aber Biggi machte genau dasselbe. Sie standen plötzlich Rücken an Rücken, die Arme über den Köpfen verdreht.

»Ich bin doch jetzt der Mann!«, japste Biggi.

»Augenkontakt nicht vergessen«, rief Ernesto. »Und dann wieder zurück, eins, zwei, drei.«

Aber Wanda tanzte nicht eins, zwei, drei zurück, denn als sie den Kopf nach hinten renkte und versuchte, ihre Arme und Biggis zu entwirren, schoss ihr ein stechender Schmerz in den Nacken. Sie hatte es doch geahnt, verdammt noch mal. Augenblicklich ließ sie Biggi los, die hinter ihr unter hysterischem Gegacker zu Boden ging.

Ernesto sah erstaunt zu ihnen hinüber. »Señoras?«

2 Schon mal Känguru gegessen?

»Also das hätte ich dir gleich sagen können. Was hast du jetzt davon? Einen steifen Hals. Turnen füllt Urnen, das ist nicht neu. Und bei Biggi muss es immer das Billigste sein.« Marianne schüttelte den Kopf und griff nach einem weiteren Stück Streuselkuchen. »Nun iss doch mal. Selbst gebacken, nicht aus der Packung.«

Wanda goss sich noch eine Tasse Tee ein – grün mit einem Hauch von Lotus – und stellte die gusseiserne Kanne zurück auf das Stövchen. Sie griff nach einem Stück des buttrigen Streuselkuchens. Ihre Freundin Marianne war die perfekte Hausfrau, ihre Kuchen waren Legende. Leider konnte sie es nicht lassen, einen auch ständig darauf hinzuweisen.

»Na ja, so billig war der Kurs nun auch wieder nicht«, entgegnete Wanda kauend. »Und so ganz stimmt das nicht, immerhin geht Biggi auch in diesen supermodernen Fitnessklub, der Gott weiß wie viel kostet.«

Biggi hatte Wanda eingeladen, doch mal mitzukommen, und ehrlich gesagt hatte Wanda nichts dagegen, sich in so einem ­schicken Laden mal umzusehen. Angeblich gab es dort eine tolle Sauna und einen Pilateskurs, was immer das nun genau war.

»Doch nur, weil sie damals Glück hatte und den Schnupperpreis bezahlen durfte. Sonst wäre die da nie Mitglied geworden. Kurz danach haben die Gebühren ordentlich angezogen.«

»Ach«, sagte Wanda. Sie stellte erstaunt ihre Tasse ab. »Warst du mal dort?«

Marianne wirkte plötzlich leicht pikiert. »Sie hat mich neulich mal in die Sauna mitgenommen. Und weißt du, warum? Weil sie irgendeinen Gutschein bekommen hätte, wenn ich Mitglied geworden wäre.« Marianne schlug empört ihre Zähne in den Streuselkuchen. »Unglaublich. Freunde trickst man doch nicht so aus.«

Wanda trank hastig einen Schluck. Was für einen Gutschein? »Aber du wolltest doch sowieso nicht Mitglied werden?« In der Tat war die Vorstellung einer Marianne, die an einer dieser Kraftmaschinen herumfuhrwerkte, geradezu grotesk. Es sei denn, sie würde sie putzen.

»Natürlich nicht. Schmeiß denen doch nicht mein Geld in den Rachen. Sauber war’s auch nicht. Und dem Günther hätte es auch nicht gefallen.«

Für Marianne war nichts auf der Welt sauber genug, und dass ihr Mann Günther zu dem Thema seine Meinung hatte äußern dürfen, wagte Wanda noch zu bezweifeln. Günther verbrachte seine ihm noch verbleibende Lebenszeit hauptsächlich auf dem Dachboden, umgeben von surrenden Modelleisenbahnen, die ihn in Ruhe ließen und nichts von ihm verlangten, außer im Kreis herumfahren zu dürfen.

Trotzdem. Ob Biggi sich etwa über Wanda einen Gutschein erschleichen wollte? Sie musste doch wissen, dass sich Wanda die exorbitanten Gebühren sowieso nicht leisten konnte? Nun, das würde sich ja herausstellen.

»Was will die eigentlich immer da?«, fragte Marianne.

Wanda zögerte kurz. Sollte sie Marianne einweihen? »Biggi will abnehmen. Sich halbieren, genauer gesagt. Damit sie wieder so aussieht wie vor fünfundvierzig Jahren. Ihre Jugendliebe hat sich nämlich wieder bei ihr gemeldet und will sie treffen. Und da hat sie Panik bekommen.«

»So ein Blödsinn. Wahrscheinlich ist der selber in die Breite gegangen. Ist doch bei allen so.«

»Bei dem nicht. Er treibt wahnsinnig viel Sport. Marathon und Radtouren und Bergsteigen. Der ist topfit.«

Marianne schüttelte befremdet den Kopf angesichts dieses ungestümen Bewegungsdranges. Sie rührte noch einen Löffel Zucker in ihren Kaffee. »Ich meine – ich hätte ja auch gern eine gute Figur«, gab sie dann zu. »Aber noch lieber habe ich täglich ein leckeres Stück Kuchen. Ohne Kuchen könnte ich gar nicht leben.«

Das unterschrieb Wanda sofort. »Musst mir mal das Rezept geben.«

Marianne nickte befriedigt. »Die Hälfte habe ich eingefroren, für die Kati.«

Kati war Mariannes Tochter, die auch in der Stadt wohnte, genau wie Wandas Sohn Stefan und ihre Tochter Franziska. Nur mit dem Unterschied, dass Kati jede Woche treu bei ihrer Mutter vorbeischaute, während Stefan und Franziska dauernd viel zu beschäftigt waren. Er mit Sport und sie mit Arbeit.

Wanda seufzte. »Du hast es gut. Ich sehe den Stefan bestimmt erst wieder zu Weihnachten, und wenn Franziska mal zum Kaffee vorbeikommt, ist sie garantiert auf Diät.« Nicht dass es etwas brachte, fügte sie in Gedanken hinzu. Franziska, die als Kind im Schwimmteam unschlagbar gewesen war, hatte sich im Laufe der Jahre in ein Buchhaltungs-Pummelchen verwandelt, das nicht mal mehr Rad fuhr.

»Hat der Stefan denn endlich wieder eine Freundin? Der ist doch jetzt auch schon fast dreißig?« Marianne beugte sich in Erwartung pikanter Details nach vorn.

»Ich glaube nicht. Er ist gestern mit Freunden nach Bayern gefahren. Da liegt schon Schnee. Zum Snowboarden.«

»Zum was?«

»Snowboarden. Wie Surfen, halt auf Schnee.«

»Kenne nur Skifahren. Und was da dran schön sein soll …« Marianne schüttelte sich leicht. Sie nahm ein drittes Stück von ihrem Kuchen. »Vielleicht ist er ja schwul? Das gibt es doch heutzutage oft.«

»Unsinn.« Wanda winkte ab. »Er hatte doch jahrelang eine Freundin. Die Tina. Das ging ja leider auseinander.« Leider war die blanke Lüge. Wanda war heilfroh, dass die misslaunige, gepiercte Tina auf Nimmerwiedersehen aus Stefans Leben verschwunden war. Und bei Franziska sah es in Sachen Heirat auch nicht viel besser aus. Wenigstens hatte die seit ein paar Monaten einen Freund. Einen Buchhalter aus ihrer Abteilung, mit dem Charisma einer Weinbergschnecke und einer Vorliebe für Countrymusik und Bausparverträge. Eigentlich ein gutes Zeichen, dass von Heirat keine Rede war.

»Hat der Stefan immer noch den Sportladen?«, riss Marianne sie aus ihren Gedanken.

»Sein Studio Herkules meinst du wohl. Das ist kein Laden, sondern ein Klub. Die machen da Bodybuilding.«

Marianne sah sie leer an.

»Du weißt schon, Kraftsport.«

»Kraftsport?«

Wanda gab es auf. Sollte jemals ein Wettbewerb für die unsport­lichste Frau der Welt stattfinden, würde Marianne kaum zu schlagen sein. Wanda rieb sich den Nacken, der jetzt, eine Woche nach dem Salsa-Desaster, immer noch nicht ganz in Ordnung war.

Marianne sah sie mitfühlend an. »Tut’s noch weh? Was rennst du auch zu so einem Unsinn. Komm doch lieber wieder mit zu Englisch.«

O Gott. Wanda rührte hastig in ihrer Tasse, obwohl kaum noch Tee drin war. Der Englischkurs, zu dem sie Marianne auf deren Drängen hin begleitet hatte, war vor drei Wochen genauso ein Reinfall gewesen wie der Salsakurs, obwohl bei Englisch zugegebenermaßen mehr Männer vertreten waren. Aber was für bornierte Affen. Sie gaben an wie Prinz Charles persönlich, und Wanda war schleierhaft, warum sie es überhaupt noch nötig hatten, so einen Kurs zu besuchen. Wahrscheinlich, um sich über Leute wie sie und Marianne zu amüsieren. Und das taten sie dann auch genüsslich, als Marianne den Satz It does not matter eifrig, und noch bevor Wanda sie bremsen konnte, mit: Ist das nicht Mutter? übersetzte. Bei der Erinnerung an das unkontrollierte Gelächter der anderen Kursteilnehmer standen Wanda noch im Nachhinein die Haare zu Berge.

»Hm?«, drängelte Marianne. »Das hat doch Spaß gemacht und war wenigstens nützlich.«

Wanda sah stur aus dem Fenster in den Garten hinaus. In ihren Steingarten. »Hab ich dir eigentlich schon von dieser Unverschämtheit erzählt? Von diesem Hundebesitzer, der seine blöde Töle immer in meinen Garten machen lässt?«

Marianne riss die Augen auf. »Nein!«

Vergessen war der Englischkurs. Gott sei Dank.

Zu ihrem Ärger stellte Wanda am nächsten Tag fest, dass sie gar keine Sportsachen mehr besaß. Auf gar keinen Fall konnte sie Biggi in ihr nobles Fitnessstudio begleiten und dort im ausge­leierten T-Shirt herumlaufen. Sie würde wieder in die Stadt gehen und sich etwas kaufen müssen, dabei konnte sie gleich mal wieder im Teeladen nach dem Rechten sehen. Vielleicht brauchte Martin ja heute dringend ihre Hilfe? Dann wäre es unverzeihlich, wenn sie sich nicht dort blicken ließ.

Der vertraute Geruch wehte ihr schon entgegen, als sie noch ein paar Meter von ihrem Laden entfernt war. Oriental Tea House hieß der jetzt. Sie hatte zwar nicht erwartet, dass Martin den Namen »Wandas Teestube« behalten würde, aber musste es denn unbedingt so was Fremdländisches sein? Sie spähte durch die Scheibe hinein. Martin hockte auf dem Boden und packte irgendwelche Kisten aus. Das machte man doch nicht während der Öffnungszeiten. Ärgerlich öffnete sie die Tür. Der Türgong erklang, aber Martin sah nicht mal hoch.

»Hallo«, sagte sie schließlich.

Er drehte sich um. Als er Wanda erkannte, wurde sein Lächeln ein bisschen dünn. »Ach«, sagte er bloß. »Du bist’s.«

»Ja, ich bin’s. Ich war gerade in der Nähe.«

»Tatsächlich?«

Hörte sie da einen leichten Spott heraus? Wandas Blick wanderte in Windeseile durch den Laden und blieb an einem leeren Regal hängen. »Wo sind denn die Kräutertees?«

Martin stand auf und wischte sich die Hände an der Hose ab. »Wer Hustentee will, soll in die Apotheke. Die Kräutertees habe ich nicht mehr im Sortiment. Dafür verkaufe ich jetzt Matcha.« Er zeigte auf eine Anzahl kleiner silberner Dosen, die er gerade aus dem Karton auf dem Fußboden befreite.

»Matcha«, wiederholte Wanda unglücklich. Dieses blöde ­Pulverzeug. Schon dieser Name – Matcha! Das klang wie ein Kampfschrei von Dschingis Khan und nicht wie gemütlicher Nach­mittagstee. Neumodischer Schnickschnack, genau wie diese Teeblumen, die sie neuerdings überall hatten und die sich auf gespenstische Weise im heißen Wasser öffneten wie Austern. Als ob im Teeglas ein kleines Lebewesen saß und einen anstarrte. Wer wollte denn so was trinken?

Der Türgong erklang hinter ihr, eine Kundin kam herein. Frau Ludwig, seit Jahren Stammkundin.

Wanda begrüßte sie freundlich. »Na, Frau Ludwig, wie geht’s denn so?«

Frau Ludwig, eine kleine alte Dame mit streng gescheiteltem grauem Haar, winkte ab. »Ach, gar nicht gut, gar nicht gut.«

Wanda nickte. Es war genau die Antwort, die sie erwartet hatte. Frau Ludwig klagte schon seit Ewigkeiten. Genau, wie sie seit Ewigkeiten in den Teeladen kam, um ein Schwätzchen zu halten. Oder besser gesagt einen Monolog. Doch als sie jetzt dazu ansetzte, wurde sie unterwartet von Martin unterbrochen.

»Was möchten Sie denn, Frau Ludwig?«

»Was?« Frau Ludwig blinzelte verschreckt. Sie hatte sich doch noch nicht einmal warm geredet.

Wanda räusperte sich. »Bestimmt wieder den Früchtetee Himbeer-Sahne, stimmt’s? Frau Ludwig ist doch Stammkundin, da kennt man die Wünsche.« Letzteres galt Martin.

Die alte Frau nickte leicht gekränkt, und Wanda wollte sich gerade in Bewegung setzen, um den Früchtetee zu holen, als sich eine Hand von hinten auf ihre Schulter legte.

»Ich bin sicher, der Martin hat das hier alles bestens im Griff.«

Wanda fuhr überrascht herum. »Bertram, du?«

Der ältere Herr vor ihr hielt eine Teedose hoch. »Na klar, ich. Wo soll ich denn sonst meinen Tee kaufen, wenn nicht im besten Laden der Stadt?« Er nickte Martin freundlich zu. »Ich kann doch nicht auf meinen Earl Grey verzichten, nur weil du leider nicht mehr hier arbeitest, meine Liebe.«

»Da hast du nun auch wieder recht.« Wandas Laune besserte sich mit einem Schlag. Bertram. Dr. Bertram Michalzik, pensionierter Internist. Er war nicht nur einer ihrer Stammkunden gewesen, er war fast so etwas wie ein Freund. Sie vermisste ihre langen Gespräche über Tee, über ferne Länder, über Gott und die Welt. Im Sommer hatten sie oft auf der kleinen Bank vor dem Teeladen in der Sonne gesessen, einen Eistee in der Hand und dabei ganz die Zeit vergessen. Im Winter hatte sie ihn einmal zufällig auf einem Weihnachtskonzert getroffen, wie selbstverständlich hatten sie nebeneinandergesessen und wahrscheinlich für alle Welt ausgesehen wie ein Paar. Und irgendwie hatte Wanda in den letzten Jahren auch immer mal wieder gehofft, dass sich ihre Begegnungen eines Tages nicht nur auf seine Besuche im Teeladen oder Zufälle beschränken würden.

»So, der Früchtetee.« Martins Stimme riss sie aus ihren Ge­danken. »Und noch eine kleine Kostprobe für Sie, Frau Ludwig. Matcha.« Mit einem triumphierenden Blick drückte Martin der verdutzten alten Frau noch ein kleines Päckchen in die Hand.

»Was? Was für’n Matsch?«, fragte die misstrauisch.

»Grüner Tee. Macht jung und gesund und schön. Nicht dass Sie das bräuchten, Frau Ludwig.«

Wanda traute ihren Ohren kaum, so ein Geschmalze konnte Martin doch unmöglich ernst meinen? Doch dann sah sie, wie ein Lächeln die Miene der alten Ludwig erhellte, ein Lächeln, das in dem sauertöpfischen, zerknitterten Gesicht so selten war wie ein neunundzwanzigster Februar und eine unglaubliche Wirkung hatte. Frau Ludwig erschien fast menschlich!

»Also, ich könnte da wohl einen ganzen Eimer vertragen.« Bertram lachte. »Besonders wegen dem, was ich vorhabe.« Er zupfte Wanda am Ärmel. »Hast du ein bisschen Zeit? Ich lade dich zum Mittagessen ein. Dann kann ich dir gleich von meinem Plan erzählen. Ich hätte dich heute sowieso noch angerufen.«

»Ach, tatsächlich?« Wanda sah ihn überrascht an. »Ich spiele für deine Pläne eine Rolle?«

»Ich hoffe es.« Bertram lächelte immer noch, als ob er scherzte, doch in seinen Augen glimmerte noch etwas anderes. Hoffnung? Oder gar … Wanda stockte der Atem. Bertram hatte sie noch nie vorher irgendwohin eingeladen. War es nicht das, was sie sich immer gewünscht hatte? Dass nicht nur Gespräche stattfanden, sondern vielleicht noch ein bisschen mehr?

»Klar habe ich Zeit«, hörte sie sich zu ihrer Überraschung sagen. Biggi und ihr komischer Klub konnten warten. Und Martin hatte das hier tatsächlich im Griff, wenn auch auf andere Weise als Wanda die zwanzig Jahre davor. Aber selbst wenn er die Wände schwarzweiß kariert anmalen und einen Roboter hinter die Kasse stellen würde, konnte ihr das egal sein. Es war jetzt sein Laden. Nicht mehr Wandas. Denn heute begann endgültig Wandas neues, teeladenfreies Leben!

Bertram hielt ihr die Tür auf.

Wanda zögerte kurz. Er konnte ja wenigstens mal andeuten, worum es ging. »Bertram, was genau hast du eigentlich vor?«

Er grinste. »Schon mal Känguru gegessen?«

3 Sydney oder Sauerland?

Im Wallaby herrschte ein unheimlicher Andrang. Wanda konnte es gar nicht fassen, dass es offenbar so viele Menschen gab, die sich in ihrer Mittagspause statt bayrischem Kraut oder Kartoffelsuppe ein Stück Krokodil, Strauß oder gar Känguru schmecken ließen. Nie im Leben wäre sie alleine in dieses Restaurant gegangen, aber Bertram war ganz offensichtlich nicht zum ersten Mal hier. Sie nahmen unter einem großen Wandbild Platz, das Muster aus der Kunst der Aborigines zeigte.

»Baumrinden-Malerei?« Wanda deutete ein Kopfnicken in Richtung des Bildes an.

Bertram lächelte anerkennend. »Du kennst dich aus.«

Wanda murmelte eine vage Zustimmung, froh darüber, dass Stefan ihr auf seiner Australienreise damals so viele Karten geschickt hatte. Sie bestellten Getränke, und Wanda las mit wachsendem Entsetzen die Speisekarte. Känguru würde sie definitiv nicht essen, schließlich hatte sie vor einem halben Leben alle Folgen von Skippy das Buschkänguru gesehen. Heuschrecke und Krokodilsteak kamen ebenfalls nicht in Frage, allein bei der Vorstellung kräuselten sich ihre Nackenhaare. Heuschrecken! So ein winziges Getier, fast wie Kakerlaken, mit dünnen Beinchen und diesen glotzigen Insektenaugen, einfach furchtbar, wie konnte sich jemand so etwas in den Mund stecken?

»Ich nehme die Heuschrecken«, sagte Bertram zu dem Kellner, der in einem sonnengelben T-Shirt vor ihnen stand und sie erwartungsvoll ansah. »Du auch, Wanda? Die sind lecker.«

»Auf gar keinen Fall. Ich nehme ein Steak. Von einem Tier mit vier Beinen.« Wanda klappte die Karte zu.

»Also vom Krokodil?« Bertram zog belustigt die Augenbrauen hoch.

»Nein! Haben die nicht auch was Normales hier? Oder essen die in Australien nur solche Viecher?«

»Genau das will ich ja herausfinden.« Bertram trank einen Schluck Aussi-Bier, welches der blitzschnelle Kellner gerade vor ihm abgestellt hatte, und sah sie plötzlich direkt an. »Mit dir, wenn du Lust hast.«

»Hm?« Wanda verstand nicht ganz, was er meinte. »Du willst …« Sie riss die Augen auf. »Ach, du willst nach Australien?« Und dann dämmerte ihr der Rest seiner Bemerkung. »Mit mir? Verstehe ich das jetzt richtig?«

»Ja, das verstehst du richtig. Ich spiele schon lange mit dem Gedanken. Und vor kurzem habe ich eine kleine Finanzspritze bekommen, dann hast du den Laden abgegeben und daher, soviel ich weiß, jetzt endlich mal Zeit – das kam mir vor wie eine Fügung des Schicksals.« Er stotterte jetzt ein bisschen. »Ehrlich, Wanda, ich wüsste nicht, mit wem ich lieber so eine Reise machen würde. Mit dir wird es mir nie langweilig, du interessierst dich für Australien, jetzt mal abgesehen von gebratenen Heuschrecken. Weißt du noch, wie wir ganz aufgeregt die Reise deines Sohnes auf der Landkarte verfolgt haben?« Er lächelte.

»Du willst mich zu einer Reise einladen?« Wanda konnte es immer noch nicht glauben. »Gibt es denn niemand anderen?« Verdammt, warum hatte sie das jetzt gesagt?

Bertram legte die Stirn in Falten. »Ja, gibt es schon. Meine Schwester zum Beispiel, die einen ganzen Koffer für all ihre ­Medikamente braucht und die mir liebend gern vier Wochen lang täglich detaillierte Berichte über ihren Kreislauf, ihren Spreizfuß und ihr Rheuma liefern würde. Oder meine Tochter, die der Meinung ist, dass ich langsam senil werde, und die alles besser weiß und mir immer das Wort abschneidet. Oder meinen alten Freund Eddy, der in unserem letzten gemeinsamen Urlaub vor ein paar Jahren zehn von zwölf Tagen im Vollrausch verbracht hat, weil das Bier in Spanien so billig war.« Er nickte nachdenklich und zwinkerte ihr zu. »Doch, die Konkurrenz ist groß.«

»Ich …« Wanda wusste einfach nicht, was sie sagen sollte, und prompt wurden in diesem Moment auch noch die Heuschrecken an den Tisch gebracht. Sie steckten kopfüber in einer Scheibe Ananas, als hätte der Kammerjäger sie als Wurfpfeile benutzt.

»Wann?«, brachte Wanda schließlich heraus, während sie fasziniert auf Bertrams Mund starrte, in dem gerade die erste Heuschrecke verschwand.

»In knapp drei Wochen. Visa geht schnell, und ich kenne jemanden im Reisebüro.«

In knapp drei Wochen. Nach Australien. Dem deutschen Winter entfliehen. Glutrote Wüsten, Kängurus, spektakuläre Natur und dazu diese mystische, brummende Musik der Didgeridoos. Wanda verspürte auf einmal ein Kribbeln wie schon seit Jahren nicht mehr. Wie hatte sie sich gerade noch nutzlos und deprimiert fühlen können? Hier präsentierte ihr jemand eine perfekte Reise auf dem Silbertablett, ja vielleicht sogar ein perfektes neues Leben, wenn sie alle Signale, die von Bertram ausgingen, richtig deutete. Ihr Blick wanderte durch den Raum und blieb am Nachbartisch hängen. Dort saß ein Ehepaar in ihrem Alter und schwieg sich an. Ab und zu machte die Frau eine Bemerkung, die von dem Mann mit einem Grunzen quittiert wurde. Er sah sie kein einziges Mal dabei an. Die Frau blätterte gelangweilt in der Speisekarte. Sie tat Wanda leid und erinnerte sie an ihr letztes Jahr mit Wolfgang. Und dann fiel Wandas Blick wieder auf Bertram, der sie immer noch erwartungsvoll ansah. Was gab es da noch zu überlegen? Was hatte sie zu verlieren?

»Gibt’s da auch was anderes als das?« Sie tippte vorsichtig eine der Heuschrecken an.

»Ganz bestimmt.« Bertram lachte. »Aber probieren könntest du sie wirklich mal.«

Mist, Biggi ging nicht ans Telefon, wahrscheinlich hüpfte sie noch in ihrem Fitnessklub herum. Dann eben Marianne. Wanda hämmerte Mariannes Nummer, so schnell sie konnte, in ihr Handy, und als diese nach dem zweiten Klingeln abnahm, hielt Wanda sich nicht lange mit großen Vorreden auf.

»Marianne, stell dir vor, Bertram hat mich gerade zu einer Australienreise eingeladen!« Sie betrachtete ihr begeistertes Gesicht im Spiegel des Wallaby-Waschraumes. Plötzlich kam ihr die fransige Kurzhaarfrisur, zu der eine Friseurin sie überredet und die nach Verlassen des Salons sofort wild vom Kopf abgestanden hatte, nicht mehr so pumuckelartig vor. Eher keck und verwegen. Passte jedenfalls zu einer Globetrotterin. »Was sagst du nun dazu?«

»Das ist schweineteuer.«

Wanda verdrehte die Augen. »Er lädt mich ein, das ist es doch gerade. Mein Gott – Sydney, Korallenriffe, Wasserfälle, Dingos, Kängurus …« Sie brach überwältigt ab.

»Giftspinnen und Schlangen.« Marianne schnaubte verächtlich. »Für das Geld kannst du drei Jahre im Sauerland Urlaub machen. Und wirst nicht von Verrückten gekidnappt.«

»In Australien werden keine Touristen gekidnappt.«

»Noch nicht. Und wer ist der Mann überhaupt?«

Warum musste Marianne immer so negativ sein? »Bertram ist einer meiner früheren Stammkunden. Er ist kultiviert und witzig und …« Sie biss sich auf die Lippe. »Und sieht gut aus.«

»Willst du mit ihm verreisen oder ins Bett gehen?«

»Marianne!«

»Ich frage ja nur. Es scheint dir ja wichtig zu sein, dass er gut aussieht. Aber Aussehen ist nicht alles, meine Liebe. Was, wenn er schreckliche Angewohnheiten hat? Männer in dem Alter schnarchen wie Kreissägen, das will ich dir nur gesagt haben. Von anderen Geräuschen ganz zu schweigen. Und dann liegst du da, am anderen Ende der Welt in der Wüste zwischen Giftspinnen und anderem Getier, und er schnarcht und röchelt und knattert neben dir in seinem Schlafsack, den du dauernd für ihn nähen oder tragen musst, denn das ist garantiert der wahre Grund, warum du mitkommen sollst …«

»Marianne! Ich fahre auf alle Fälle. Ich dachte, du freust dich für mich.« Marianne konnte ja ins Sauerland fahren, Wanda hatte das jedenfalls nicht vor. Aber sie hatte keine Lust, darüber zu streiten, weil es ohnehin nichts brachte. Marianne fuhr nie irgend­wohin, wo deutsche Brötchen, Aufschnitt und Kaffeesahne nicht selbstverständlich waren. »Stefan wird mir schon gute Tipps geben, was die Spinnen und Schlangen angeht.«

»Vergiss die Haie nicht«, sagte Marianne spitz.

Wanda ignorierte den Einwurf. Wahrscheinlich war Marianne einfach nur neidisch. Die einzige Reise, die Günther noch unternahm, war mit der Modelleisenbahn im Kreis herum.

»Ich fahre. Mit Bertram. Und gucke mir Schlangen und Haie an und lausche seinem Geschnarche, und weißt du was? Wenn ich Lust habe, dann gehe ich sogar mit ihm ins Bett!« Das letzte Wort kam lauter heraus als beabsichtigt. Marianne schwieg am anderen Ende verblüfft, dafür erklang unmittelbar neben Wanda eine Klospülung. Ach du lieber Himmel, war hier noch jemand? Die Frau vom Nachbartisch kam aus der Kabine. Sie wusch sich die Hände, und dann blickte sie Wanda auf einmal an. »Es geht mich ja nichts an«, meinte die Frau. »Aber lassen Sie sich die Reise nicht von Ihrer Freundin ausreden. Sie haben ja gesehen, in welch herrlicher Gesellschaft ich mich da draußen befinde. Und eins sage ich Ihnen: Wenn Sie nicht fahren, fahre ich!«

Zwei Stunden später lief Wanda wie in Trance durch ein Kaufhaus. Australien. Sie brauchte noch einen Sonnenhut. Sonnenschutzspray. Unsinn, sie flogen erst in knapp drei Wochen, es war noch endlos viel Zeit. Nein, es war überhaupt keine Zeit mehr. Ein neuer Badeanzug musste her, feste Wanderschuhe und ein guter Fotoapparat, wenn sie schon mal dabei war. Das Visum beantragen. War ihr Pass überhaupt noch gültig? Brauchte sie irgendwelche Impfungen? Warum grinste die Frau dort sie so albern an? Ach, das war sie ja selbst, im Spiegel der Unterwäscheabteilung. Welche geheime Macht führte sie eigentlich in die Unterwäscheabteilung? Wanda kicherte und kümmerte sich nicht um den befremdeten Blick der Verkäuferin. »Ich freue mich so«, hatte Bertram Wanda zum Abschied versichert. Gleich morgen wollten sie wieder tele­fonieren. Aber vorher musste sie Biggi erreichen. Un­bedingt. Im Gegensatz zu Marianne würde Biggi die ganze Sache richtig gut finden. Biggi würde vor Neid platzen, was ja im Grunde dasselbe war. Wanda blieb stehen und griff nach einem schicken Kulturbeutel aus weichem Leder, da klingelte plötzlich ihr Telefon. Nanu? Nur drei Leute riefen sie gewöhnlich auf dem Handy an. Biggi – die hampelte doch noch in ihrem Klub herum, oder? Franziska – die kommunizierte nur nach Feierabend mit ihr. Und Stefan. Und der rief nie unter der Woche an, außerdem hatten sie erst vor ein paar Tagen mitein­ander gesprochen. Es sei denn, Marianne rief zurück? Wanda kramte ihr Handy aus den Tiefen der Handtasche, klappte es auf und sah auf das Display. Es war Stefans Nummer. Auf einmal überkam Wanda ein ganz ungutes Gefühl. Hastig drückte sie auf die grüne Taste. »Ja? Stefan?«

»Mama?« Er klang so weit weg. So jung. So jämmerlich. O Gott.

»Ist was passiert?«

»Mama, ich hatte einen Snowboard-Unfall.« Ein kurzes Ächzen, wie unter Schmerzen. »Ich liege im Krankenhaus in Kempten. Kannst du kommen?«