Cover

Lola Jaye

Was fehlt, bist Du

Roman

Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

Über Lola Jaye

Lola Jaye wurde selbst als Baby adoptiert und wuchs in London auf, wo sie immer noch wohnt. Einige Monate verbrachte sie in Nigeria, dem Land ihrer Vorfahren. Sie hat Psychologie studiert und lange als Beraterin für den National Health Service gearbeitet, bevor sie mit dem Schreiben begann. Die Romane «Für immer, Dein Dad» und «Bis du erwachst» waren in Deutschland große Erfolge.

Über dieses Buch

Lara feiert ihren dreißigsten Geburtstag, als es an der Tür klingelt und eine bunt gekleidete Frau vor der Tür steht – es ist Yomi, Laras Mutter, die den weiten Weg aus Nigeria nach England auf sich genommen hat, um endlich ihre Tochter kennenzulernen. Als Lara noch sehr klein war, musste sie sie in ein Waisenhaus geben. Von dort hat Patricia sie adoptiert und zu sich nach England geholt. Lara hatte eine glückliche Kindheit, aber sie hat immer gespürt, dass ein Teil von ihr fehlt, sich an jedem Geburtstag gewünscht, ihre «richtige» Mutter möge sie besuchen kommen. Jetzt ist sie wirklich da, und Lara muss sich ihrer Vergangenheit stellen – ebenso wie Yomi und auch Patricia ...

Eine ergreifende Geschichte über die Liebe und Entscheidungen, die das Leben verändern.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel «Being Lara» bei HarperCollins, UK.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Januar 2013

Copyright © 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«Being Lara» Copyright © 2012 by Lola Jaye

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung Hafen Werbeagentur, Hamburg

(Umschlagabbildungen: Bariskina, Maram, ilolab/Shutterstock.com; Mona Kashani-Far butterfly effect DESIGN)

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Printausgabe 978-3-8052-5047-4 (1. Auflage 2013)

ISBN E-Book 978-3-644-21171-1

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-21171-1

Für Nanno

Prolog

Heute

Lara war jetzt ein Alien.

Ihre Verwandlung hatte sich rasch vollzogen, und zwar auf der Party am Abend ihres dreißigsten Geburtstags, rund sechseinhalb Minuten nach dem Auspusten der dreißig Kerzen, die in einem riesigen Vanillekuchen steckten.

«Du musst deine Augen zumachen, bevor du sie auspustest!», befiehlt Agnes. Also schließt Lara die Augen ganz fest. Sie meint, die Türklingel zu hören. Die Innenseiten ihrer Lider sind dunkel. Irgendwer schaltet das Licht aus. Sie ist ganz hibbelig vor Aufregung, überlegt sich einen Geburtstagswunsch.

«Noch nicht! Mach sie wieder auf!», sagt Jason. Sie öffnet die Augen. Es wird gesungen. Jemand stellt den Kuchen, der die Form einer Chanel-Handtasche hat, schwungvoll vor sie hin. Sie brennt darauf, die cremige Butterglasur zu kosten. Sie schließt die Augen erneut. Sie kann die Hitze der Kerzen spüren.

«Wünsch dir was!», ruft Mum in ihrer neuen, malvenfarbenen Strickjacke.

Laras Lunge füllt sich mit Luft. Das Licht geht wieder an.

«Jetzt doch noch nicht!», schreit Mum empört.

«Licht wieder aus!», befiehlt Sandi.

Es ist schwer, die Luft anzuhalten. Dad ist an der Tür, neben ihm eine Frau mit einem strengen, blau-schwarzen Tuch um den Kopf. Batik? Sie reden miteinander. Er sieht gestresst aus. Sogar wütend – das Gesicht kreideweiß. Lara kennt die Frau nicht. Sie will jetzt ausatmen, denn sie kann die Luft nicht mehr so lange anhalten wie als Kind. Sie ist jetzt immerhin dreißig.

Sie pustet die Kerzen aus, endlich. Klatschen. Lauter Jubel.

Sie starrt die Frau an. Die Frau starrt zurück. Sie ist eine Fremde. Sie war nicht eingeladen. Wer ist sie? Warum ist sie gekommen? Die Fragen wirbeln ihr störend durch den Kopf. Keine Antworten – aber obwohl Lara Reid nicht weiß, wer die Frau ist, hat sie das ungemein starke Gefühl, ja fast die Gewissheit, dass sie sie schon ihr ganzes Leben lang kennt.

 

Dass es ein Alien war, erfuhr das Kleine Mädchen zum ersten Mal am Morgen seines fünften Geburtstags mitten auf dem Schulhof, neben dem weißen, länglichen Springbrunnen.

Erklärt wurde ihm dieser Umstand mit nicht gerade sprachlicher Eleganz durch eine Kombination aus Gesten und Erwachsenenworten von jemandem namens Connie, die Mundgeruch und Sommersprossen hatte und zwei verschiedenfarbige Söckchen trug.

«Du bist ganz klar ein Alien!», wiederholte Connie, deren akkurat geflochtene blonde Zöpfe hin und her schwangen wie zwei Peitschen und so das boshafte Verhalten unterstrichen, das das Kleine Mädchen mittlerweile von Connie erwartete. Es gehörte praktisch zu seinem Schulalltag dazu.

Das Kleine Mädchen wollte unbedingt wissen, von wem Connie die Information hatte, und war keineswegs überzeugt, dass die Behauptung jeglicher Grundlage entbehrte.

«Willst du wissen, woher ich das weiß?», fragte Connie. «Mein Dad hat’s gesagt!», erklärte sie, eine Hand auf der Hüfte, den Körper irgendwie s-förmig verdreht, was in dem Kleinen Mädchen sogleich die Überzeugung weckte, dass Connie Jones nicht bloß gemein war, sondern auch Gedanken lesen konnte. Dieses Wissen und die jähe Vorstellung, dass ein richtiger Erwachsener ihre ET-Abstammung bestätigt hatte, verbanden sich zu einer beklommenen Erkenntnis, die den Moment in ein neues und unerwünschtes Licht tauchte.

Offensichtlich würde das Kleine Mädchen gleich enttarnt werden.

«Und … und … was hat dein Dad noch so gesagt … über mich?»

«Er hat gesagt, du bist ein Alien. Hast du nicht zugehört?»

Die Worte hingen in der Luft wie ein unliebsamer, stechender Geruch, drohten, alles Gute oder Vernünftige im Umkreis des Kleinen Mädchens zu überdecken. Obwohl das Kleine Mädchen an Connies Gehässigkeiten gewöhnt war, spürte es, dass Connies Selbstsicherheit, ihr ganzes Auftreten plus die erwachsene Informationsquelle bedeuteten, dass sich diese spezielle Beschimpfung irgendwie von den übrigen abhob. Eine gigantische Offenbarung in einem Meer kleiner Kränkungen, die es in den letzten Wochen über sich hatte ergehen lassen müssen.

Das Kleine Mädchen suchte den Schulhof nach einem freundlichen Gesicht ab, wäre gern zu den Jungs in den kurzen Hosen gelaufen, die weiter hinten mit Murmeln spielten und sich über Jungskram unterhielten. Es sehnte sich nach einer solchen Einfalt, wünschte sich fort von den beunruhigenden Erkenntnissen, denen es sich jetzt stellen musste, Connie sei Dank.

«Ich sag meinem Dad, dass du gesagt hast, wir wären Aliens!», drohte es, wohl wissend, dass diese kleinmütige Reaktion die Sache auch noch schlimmer machen könnte.

Es wich zurück, und Connie rückte nach.

«Wieso? Der ist doch kein Alien, bloß du. Hat mein Dad gesagt!» Connies blaue Augen blitzten triumphierend.

«Ähm … woher weiß er das denn?»

«Haben die ihm bei der Arbeit gesagt!»

«Du lügst», entgegnete das Kleine Mädchen, als Connies Worte anfingen, sich zu Formen und Farben zusammenzusetzen, die es einfach nicht verstand.

«Mein Dad hat gesagt, bloß du bist ein Alien! Das haben wir alle gesehen, als deine Mum die Geburtstagstorte reingetragen hat. Wenn du mir nicht glaubst, guck doch in den Spiegel, wenn du nach Hause kommst!», sang Connie schaurig.

«Du lügst», entgegnete das Kleine Mädchen noch einmal, hauptsächlich, weil seinem fünf Jahre alten Gehirn nichts Besseres einfiel, um die Gefühle von Verwirrung, Hilflosigkeit und wachsender Frustration in Worte zu fassen.

«Du siehst nicht so aus wie sie, weil du nämlich …» Connie verdrehte spöttisch die Augen, und das Kleine Mädchen fing an, sich auszumalen, was das wohl für ein Gefühl wäre, ihr einfach sämtliche Zähne aus dem Schädel zu hauen. «Weil … du ein Alien bist, Blöööödi!»

Und mit diesem hammermäßigen Schlusssatz hüpfte Connie davon, um eine andere Klassenkameradin zu terrorisieren oder eine Spinne zu zertreten. Der Nachhall ihrer Worte waberte in ihrem Kielwasser wie Treibasche nach einem Großbrand.

Noch am selben Abend rief das Kleine Mädchen seinen Vetter Jason, der bei ihnen übernachtete, unter dem raffinierten Vorwand, sich die Reste der Geburtstagstorte mit ihm teilen zu wollen. Es zog ihn an seinem orangensaftbefleckten T-Shirt vor den großen Spiegel im Flur, während Mum gebannt auf den Fernseher starrte und Dad neben ihr döste.

«Was machst du?», fragte Jason beunruhigt, als es ihn zwang, sich direkt neben es zu stellen, Schulter an Schulter, wie Zinnsoldaten beim Appell. Er senkte trotzig den Kopf, doch das Kleine Mädchen drückte ihn geschickt mit dem Zeigefinger wieder hoch.

«Steh still, Jase! Das ist mein Ernst!», zischte es leise, um die Eltern ja nicht bei ihrer «Auszeit» zu stören.

Es fixierte den Spiegel, dann Jason, dann wieder den Spiegel und wieder seinen Vetter. Das Kleine Mädchen machte das so oft, dass ihm schon der Nacken weh tat.

«Waaaaas?», jammerte Jason, der vielleicht froh gewesen war, seinen herrischen älteren Schwestern für einen seligen Abend zu entkommen, jetzt aber wünschte, sie könnten eine spektakuläre Rettungsaktion starten, A-Team-mäßig, und ihn von seiner offensichtlich geisteskranken Cousine wegholen.

«Steh doch endlich still!», sagte die und zog an seinem stocksteifen Arm.

«Das sag ich Tante Pat», drohte er.

Das Kleine Mädchen kniff die Augen zusammen und bündelte die Konzentration, die für eine so wichtige Aufgabe unerlässlich war. Es starrte aufmerksam ihre beiden Spiegelbilder an, ohne recht zu wissen, wonach es eigentlich suchte.

«Tante Pat!», schrie Jason, der Verräter.

Das Kleine Mädchen öffnete den Mund, um ihn zurechtzuweisen, blickte aber weiter in den Spiegel. Das Einzige, was ihm ins Auge sprang, war, dass Vetter Jason anscheinend etwas größer war als es selbst.

«Was ist hier los?», fragte Mum, als sie im Flur auftauchte und einige blonde Haarsträhnen zurückstrich. Sie waren aus dem Gummiband gerutscht, mit dem sie sich einen Pferdeschwanz band, wenn sie in Eile war.

«Sie hält mich als Geisel!», heulte Jason in maßloser Übertreibung.

«Lass deinen Vetter los, bitte!», sagte Mum warnend.

Das Kleine Mädchen runzelte die Stirn, als versuchte es, die Siebenerreihe im Kopf zu rechnen, ehe es gehorchte. Jason flüchtete postwendend Richtung Schlafzimmer, während Mum in die Knie ging, auf Augenhöhe, und sich die Nase des Kleinen Mädchens mit dem vertrauten Lavendelduft füllte. Mum nahm die Hand ihrer Tochter, und genau in dem Moment wurde etwas offenbar.

«Schätzchen, was ist denn?», fragte Mum.

Das Kleine Mädchen riss vor Verwunderung die Augen weit auf, bekam den Mund nicht mehr zu, so unmittelbar, so real war diese frische Erkenntnis, die ihm da aus dem Spiegel entgegenstarrte.

Mums Augen sahen anders aus als seine eigenen.

«Was ist denn, Schätzchen?»

Und Mums Brauen waren nicht so buschig wie seine.

«Schätzchen?»

Und das Stück genau über dem Mund stand bei dem Kleinen Mädchen ein bisschen vor, aber bei Mum nicht.

Und das winzige Löchlein oben an seinem Ohr und die richtig langen Wimpern hatten weder Mum noch sonst wer in der Familie. Tatsächlich sahen sich Mum, Dad, Onkel Brian, Tante Agnes, Keely, Annie und Jason untereinander irgendwie alle ein ganz kleines bisschen ähnlich, wohingegen das Kleine Mädchen …

Es zwang sich, noch einmal Mums Hand anzugucken, und die Wahrheit klopfte noch etwas kräftiger an die Tür der Verdrängung, und auf einmal wusste es überhaupt nicht mehr, was eigentlich los war.

«Schätzchen, was hast du denn?», fragte Mum erneut.

Ohne recht zu wissen, warum, starrte es, statt zu antworten, nur stumm nach unten, registrierte, wie hübsch die rosa-weißen Elfenpantoffeln mit dem aus einem Zauberstab rieselnden Glitzergoldstaub an seinen Füßen aussahen. Sie waren eines der vielen Geburtstagsgeschenke von Mum und passten zu dem rosafarbenen Nachthemd mit dem schlafenden Teddybär vorne drauf.

Es blickte wieder in den Spiegel, in dem sie beide zu sehen waren, und Mum rief seinen Namen.

Das Kleine Mädchen sagte nichts. Es konnte nichts sagen. Nicht, weil es unartig sein wollte, sondern weil nichts herauskommen würde, wenn es den Mund aufmachte. Das Bild im Spiegel hatte ihm die Sprache verschlagen. Die Elfenpantoffeln waren mit dem Boden verwachsen, sein ganzer Körper wie gefangen auf einer Insel, die von Haien umkreist wurde.

Und die Angst. Niemand, den es rufen konnte. Eingesperrt an einem Ort des Schreckens – und am schlimmsten war, dass Connie und ihr Dad die ganze Zeit richtiggelegen hatten.

Lara Reid war tatsächlich ein ALIEN.

Kapitel 1

Damals

Laras Familie war zweifellos anders als alle, die rings um den Entwistle Way in Essex wohnten.

Sie hob sich ab.

Mum hatte mal das Wort singulär benutzt, was immer das heißen mochte. Aber größtenteils waren Lara die Unterschiede zwischen ihrer Familie und den Familien ihrer Nachbarn und Freunde klar. Es hatte viel mit Mum zu tun, die nicht immer schon in Essex gelebt, nach Lavendel gerochen, selbst gekocht und ihre Wäsche selbst gewaschen hatte. Vor langer, langer Zeit, als Lara noch nicht auf der Welt war, hatte Mum das Leben eines internationalen Popstars geführt, mit Nummer-eins-Hits wie ‹Do You Want This?›, ein «Disco trifft Pop»-Song laut Dad und einigen alten Zeitschriften, die Onkel Brian von Zeit zu Zeit hervorkramte. Mums Songs waren von so gut wie jedem englischen Radiosender gespielt worden, hatten es ihr ermöglicht, durch die Welt zu jetten und andere Stars zu treffen und regelmäßig in Glitzerkleider zu schlüpfen, die sie nicht mal bezahlen musste. Mums Geschichten aus dieser Zeit waren wie süße Erdbeermarmelade auf einer warmen Scheibe Toast – beruhigend und vertraut –, und die siebenjährige Lara konnte sich einfach nicht dran satthören.

«Wie war das so?», fragte sie Mum bestimmt schon zum zehnten Mal in diesem Jahr mit sehnsüchtigen Augen und einem breiten Lächeln, das Kinn artig in die Hände gestützt.

«Na ja», sagte Mum, stellte einen ofenheißen Biskuitkuchen auf den Tisch und wischte sich die Hand an einer leicht abgetragenen Blümchenschürze ab. Ihre roten Schuhe glänzten wie die von Dorothy, als sie sich hinsetzte, ein Bein über das andere schlug und mit der wohligen Wärme lächelte, die Lara vertraut war. «Welche Geschichte soll ich dir denn heute erzählen, Schätzchen?»

Lara setzte sich auf Mums Schoß, vor ihnen der dampfend heiße Kuchen. Irgendwo im Hinterkopf war sie sich genau darüber im Klaren, dass sie zu alt für so etwas sein könnte, und sie schlug sich Sindy-Puppen, Connie Jones und die Frage, ob Dad je aufhören würde, ihr Pommes vom Teller zu stibitzen, aus dem Kopf und hörte zu.

Lara «schnappte nach Luft», als Mum die so oft erzählte Geschichte zum Besten gab, wie sie tatsächlich mal Madonna kennengelernt hatte (ehe die ein Star wurde), kicherte über das, was bei dem Fotoshooting mit dem pampigen Maskenbildner passiert war, und malte sich aus, wie es sich wohl anfühlen musste, auf einer Riesenbühne zu singen, belagert von Massen kreischender Fans.

«Erzähl weiter, Mum, biiitte!»

Lara schlang die Arme um den Hals ihrer Mum und gab ihr, während sie lauschte, immer mal wieder geistesabwesend einen Kuss auf die Stirn. Diese Geschichten waren unendlich weit entfernt von dem kleinen Reihenhaus auf dem Entwistle Way, mit einer Mum, einem Dad und einem unsichtbaren Hündchen, und doch machte gerade die Unerreichbarkeit sie so faszinierend. Laras junger Verstand saugte jedes Wort auf, um es bis zum nächsten Tag auf dem Schulhof zu behalten, wo sie ihren Freundinnen dann alles erzählen würde, natürlich mit reichlich Ausschmückungen, während Connie Jones neidisch von weitem zusah. Connie ärgerte sie nicht mehr so oft wie früher. Sie gab nur ab und zu noch ein paar aufgewärmte Sticheleien von sich, die mittlerweile auf taube Ohren stießen.

«Vermisst du es, Mum?»

«Warum sollte ich? Ich hab doch dich und deinen Dad, mehr brauche ich nicht.»

«Und das Hündchen …», fügte Lara hinzu, wobei sie in Mums Augen nach der Bestätigung suchte, dass sie tatsächlich eines Tages einen Hund bekommen würden.

«Außerdem, Schätzchen, ist das lange her, vergangen. Vergiss nicht, du und ich machen irgendwann zusammen unsere eigene kleine Konditorei auf.»

«Au ja, Mum! Dann verkaufen wir jede Menge knallbunte Törtchen. Und wir verkleiden uns mit Perlen und langen Handschuhen!», sagte sie begeistert.

«Genau. Und jetzt …», sagte Mum, während sie vorsichtig aufstand und Lara von ihrem Schoß rutschte, «mach ich die Butterglasur, und wenn du ein braves Mädchen bist, lass ich dich vielleicht sogar die Schüssel auslecken.»

Laras Augen weiteten sich vor Freude bei dem Gedanken, den großen Löffel mit niemandem teilen zu müssen. Es war schön zu wissen, dass ihre Mum mal ein Popstar gewesen war, aber noch schöner war, dass Mum nicht mehr dauernd nach Los Angeles oder zur Oscarverleihung reisen musste, oder was Popstars sonst so machten, und sie sie ganz für sich allein haben konnte.

 

Lara freute sich immer auf die Sommerferien, und als sie sieben Jahre alt war, verbrachte ihre Familie diese kostbare Zeit in einer Stadt namens Blackpool.

Blackpool war viel mehr als bloß eine stimmungsvolle Welt aus Kirmeskarussells und Zuckerwatte. Es war ein Höhepunkt ihrer Kindheit, an dem Lara die Süße der Freiheit und der verbotenen Genüsse kostete – alles immer unter Mums wachsamen Augen. Es gab nichts Schöneres, als Popcorn und bunte Zuckerwatte zu essen, bis ihre Lippen aussahen wie geschmolzene Regenbögen, und zu lachen, bis ihr Wangen und Kinn weh taten. Lara liebte die lärmenden, ausgelassenen Stadtrundfahrten in den oben offenen Doppelstock-Straßenbahnen – ein Riesenabenteuer, das eines Indiana Jones würdig gewesen wäre – und am Strand den sorgfältigen Bau stabiler Sandburgen und einen kreischenden Dad vom Hals bis zu den Füßen einzubuddeln. Außerdem fiel es ihr in den Ferien auch leichter, Freundschaften zu schließen. Ein Mädchen – Sarah aus dem Ferienhaus nebenan – war sogar einverstanden, für den Rest des Aufenthalts die Puppen mit Lara zu tauschen, was einen unausgesprochenen Pakt besiegelte, der bis zum Ende der Ferien halten sollte. Sarah hatte zwei Brüder, Ryan und Toby, die gern mit einem Ball kickten, während Sarah und Lara lieber über Spielhäuser und Puppen diskutierten – Jungs und Mädchen bemüht, sich nicht gegenseitig in die Quere zu kommen, derweil beide Elternpaare sich gemeinsam am Strand sonnten.

Eines Tages sagte Ryan zu Lara: «Wieso sind die deine Mum und dein Dad?»

«Weil sie’s sind», erwiderte sie selbstsicher und dachte zugleich, dass das ja wohl die blödeste Frage war, die sie je im Leben gehört hatte.

«Kann ja gar nicht!», widersprach er trotzig.

«Ich bin adoptiert», konterte sie, legte herausfordernd den Kopf schief und freute sich, als seine Miene von ungläubig auf verwirrt umschaltete. Mum und Dad hatten sich eines Tages mit ihr zusammengesetzt und ihr alles erklärt, hatten gesagt, dass Lara etwas Besonderes und ihnen geschickt worden war.

Ein ganz besonderes kleines Mädchen, hatte Mum gesagt.

«Kann trotzdem nicht!», sagte er. Lara beschloss, seine himmelschreiende Dummheit zu ignorieren, und rannte los, um Sarah zu suchen. Er war nun mal ein Junge, und unter Laras Freundinnen herrschte schon lange die übereinstimmende Auffassung, dass Jungen ein bisschen doof waren.

Am Abend gingen Mum, Dad und Lara zurück zu ihrem gemieteten Ferienhaus. Dad hielt Laras Hand, während sie neben ihm her hüpfte, und Mum trug den fast leeren Picknickkorb, in dem nur noch eine Banane und ein halb gegessenes Sandwich mit Cheddar und Branston Pickle lagen. Laras Augenbrauen zogen sich zusammen, als sie merkte, dass sich die Gedanken an Ryan zu einem großen Fragezeichen über ihrem Kopf zusammenballten.

Wieso sind die deine Eltern?

Lara sah zu ihrem Dad hoch, dessen Schnurrbart zu lächeln schien. Er freute sich, dass er nach einer vollen Woche Urlaub endlich sonnengebräunt war, weil Mum ihn die ganze Zeit wegen seiner blassen Haut geneckt hatte. Sie hatte ihn käsig genannt, und er hatte mit einem verspielten Klaps auf ihren Po reagiert, was bei Lara und ihren neuen Freunden allgemeine Heiterkeit ausgelöst hatte. Aber sosehr Lara auch versuchte, Ryans Frage wie eine lästige Fliege zu verscheuchen, sie ging ihr nicht aus dem Kopf. Und in diesem Moment drängten sich Gedanken an den «Alien»-Zwischenfall auf dem Schulhof vor zwei Jahren in ihr gegenwärtiges Bewusstsein – zusammen mit dem damals alles beherrschenden Wunsch nach einer Tiny-Tears-Puppe und der Abneigung gegen Kohl – und drohten, sie wieder einmal durcheinanderzubringen.

 

Sie waren seit ein paar Wochen wieder in Essex, und als Mum Lara an dem Abend, bevor die Schule wieder losging, ins Bett brachte, erzählte sie ihr eine Geschichte von einer wunderschönen, soulsingenden Prinzessin und dem wild den Kopf hin und her schüttelnden Punkrocker, die sich ineinander verliebten und glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage in einer mit Glitter bedeckten Villa in Surrey lebten. Wie immer nach einer ihrer Geschichten, die sie nie aus irgendwelchen Büchern vorlas, gab Mum Lara je einen Kuss auf die Stirn und auf beide Wangen und sagte: «Schlaf schön, bis morgen, Schätzchen», genau aufs Stichwort, wie jeden Abend, so lange Lara zurückdenken konnte. Lara hasste die Dunkelheit und ließ stets die kleine, graue Lampe mit dem verstellbaren langen Stahlhals neben ihrem Bett bis tief in die Nacht, wenn nicht gar die ganze Nacht über an.

«Mum …», sagte sie, als sich die Tür schon fast geschlossen hatte.

Mum kam zurück, kniete sich neben Laras Bett und zog die gelbe Bettdecke zurück. «Was ist denn?»

Hinter Mums Kopf klebte mit Tesafilm ein altes Poster aus Mums Popstar-Zeit an der Wand; sie hatte eine auffällige blonde Dauerwelle, bedeckt von einer kolossalen Ledermütze, die modisch keck über das linke Auge gezogen war, und trug eine Unmenge blauen Lidschatten. Auf dem Poster sah Mum schön aus, und das tat sie noch immer, auch wenn sie sich manchmal die Haare mit einem Gummi hochband.

«Ich hoffe, du versuchst nicht bloß, länger wach zu bleiben», sagte sie und zog die Bettdecke wieder hoch über Laras Schultern. Das war ein Trick, den Lara schon öfter ausprobiert hatte, aber nein, diesmal hatte sie wirklich etwas auf dem Herzen. Etwas Wichtiges. Diesmal wollte sie wissen, was Ryan gemeint hatte und warum. Denn die ganze Zeit, die sie danach noch in Blackpool verbracht hatten, war Lara nicht entgangen, dass sie mitunter von fremden Leuten angestarrt wurde, wenn sie und ihre Mum und ihr Dad in Souvenirläden stöberten oder sich ein Eis am Stiel kauften. Sie hatte mitbekommen, wie manche Leute anscheinend mitten im Gespräch verstummten, wenn sie zu dritt Hand in Hand die belebte Strandpromenade entlangbummelten, mit der Sonne im Gesicht und kreischenden Möwen um sie herum. Und auch hier, in heimischer Umgebung, beim Metzger, im Supermarkt, überall außerhalb der Geborgenheit ihres Elternhauses, fiel ihr auf einmal etwas Seltsames auf. Blicke, Geglotze, Getuschel – Dinge, die sie zuvor nicht bemerkt hatte.

«Du hast zwei Minuten, um mich zu fragen, was du wissen willst, mehr nicht. Du brauchst schließlich deinen Schlaf.»

Mums lieblich duftendes Lavendelparfüm drang Lara in die Nase, umhüllte sie wie eine warme Umarmung, gab ihr das Gefühl zurück, geborgen zu sein und vielleicht gar keine Frage mehr stellen zu müssen.

Lara gähnte herzhaft. «Ist schon gut, Mum. Ich schlaf jetzt.» Sie drückte fest die Lider zu und dachte an nichts mehr, bis zum Morgen, als sich die Gedanken alle wieder zurückmeldeten, diesmal sorgsam versteckt inmitten eines Trommelfeuers aus Fragen, die für Siebenjährige wohl kaum ungewöhnlich waren.

«Wie können Tauben hören, wenn sie keine Ohren haben?»

«Wo wohnen die Sterne am Himmel denn nachmittags?»

«Warum bin ich … anders?»

Für diese spezielle Frage suchte sich Lara die Abendessenszeit aus. Sie saß am Tisch vor einem Teller mit Kartoffelpüree, Würstchen und Bohnen, und eine Folge von Mums Lieblingsserie Dallas lief im Hintergrund. Kurz vor dem abendlichen Ritual, unterm Esstisch spielerisch mit den Beinen zu strampeln, während Mum die Getränke holte und Dad sich in «Dads Sessel» vor den Fernseher setzte, den warmen Teller auf einer Ausgabe der TV Times im Schoß, fragte Lara:

«Warum bin ich anders?»

Das Kartoffelpüree blieb Dad plötzlich in der Kehle stecken, und Mum ließ den Krug mit «gesundem und nährstoffreichem Wasser» fallen, das sie ihnen gerade eingießen wollte.

Schweigen.

Mum ging Wischlappen, Eimer, Kehrblech und Handfeger aus der Küche holen, und die Stimmung blieb extrem ruhig, nur durchdrungen von Sue Ellens unhöflichem Gequassel.

Lara sah verzweifelt zu ihrem Dad hinüber, wartete bang, dass er ihr eine vernünftige Erklärung geben würde, damit sie sich über ihr Essen hermachen konnte, obwohl sie auf einmal gar keinen Hunger mehr hatte.

Also wiederholte sie die Frage, diesmal mit etwas mehr Nachdruck und einer Prise Drama. Trotzdem blieb die anschließende Stille intensiv, drohte, sie regelrecht zu verschlingen, und veranlasste sie, auf ein Mittel zurückzugreifen, das sie ausschließlich in verzweifelten Situationen einsetzte. Wie damals, als Mrs Kershaw, ihre Lehrerin, fragte, wer einen Filzstift quer durch die Klasse geschmissen hatte, während sie mit dem Rücken zu den Schülern stand. Alle wussten, dass es Connie gewesen war, doch Lara hatte nur den Kopf geschüttelt und gesagt, sie hätte nichts gesehen.

Lara würde wieder lügen müssen.

«Ryan hat gesagt, ihr hättet mich bestimmt irgendwo auf der Straße gefunden und mit nach Hause genommen. Stimmt das?», fragte sie mit Blick auf ihren Dad.

«Sei nicht albern!», sagte Mum und bückte sich, um Glasscherben auf das grüne Kehrblech zu fegen.

Irgendetwas, ein Gedanke, ein Gefühl oder eine Erinnerung, raunte Lara zu, dass das hier richtig ernst werden könnte, und sie sehnte sich geradezu danach, in Doc Browns Zeitmaschine zu springen, wahllos irgendwelche Knöpfe zu drücken und sich dann fünfzehn Minuten früher wiederzufinden, nein, besser noch drei Wochen früher, dann hätte sie fröhlich weiter am Strand von Blackpool herumtollen können, mit der einzigen Sorge, ob sie schon genug Muscheln gesammelt hatte oder nicht.

Sie sehnte sich einfach danach, wieder sie selbst zu sein. Lara vom Entwistle Way, irgendwo in Essex. Aber ihr Gehirn, das unfähig war, den ersten Blick in die Büchse der Pandora zu begreifen, die sie soeben geöffnet hatte, beschloss, auf die einzige Art und Weise zu reagieren, die ihr in diesem Moment irgendwie sinnvoll schien.

«Sagt mir einfach, was er gemeint hat!», schrie sie endlich und spürte eine seltsame Befreiung, als ihr Blickfeld sich leicht rot färbte und ihr Herz in jäher Empörung anfing zu rasen. Sie wollte die Wahrheit wissen, heute, in dieser Minute, in dieser Sekunde!

Aber selbst jetzt gab keiner einen Ton von sich – außer einem unabsichtlichen Aufstoßen von Dad –, während Mum weiter die letzten Splitter zusammenfegte, die Augen auf den Boden gerichtet.

Dad warf Mum einen besorgten Blick zu. Mum richtete sich zu ihrer vollen Größe auf und starrte leer die Wand an.

«Mach dir deshalb keine Gedanken», sagte sie fast wie ein Roboter. Lara öffnete den Mund, um bockig zu widersprechen, doch in dem Moment ergriff Dad das Wort, wahrscheinlich weil er spürte, dass sie kurz davor war, einen Wutanfall zu kriegen. Was er jedoch sagte, überraschte, ärgerte und verwirrte sie nur noch mehr, alles auf einmal.

«Es ist noch nicht der richtige Zeitpunkt.»

 

Also war da irgendetwas.

Sogar am nächsten Tag im Kiosk, wo Lara regelmäßig ihr wöchentliches Taschengeld in Höhe von einem Pfund für Süßigkeiten und Comics auf den Kopf haute, kam ihr die Atmosphäre plötzlich fremd vor. Eine Frau mit einem bombastischen Hut gaffte Lara und Dad an, während sie (ziemlich schlecht) so tat, als würde sie sich für die Schlagzeilen der Tageszeitung interessieren. Ihre Augen belauerten abwechselnd Lara, die schmachtend die Teenagerillustrierten durchblätterte, und Dad, der wie üblich mit Mr Maharajah scherzte, dem Kioskbetreiber, und dabei insgeheim die Reihen von Zigarettenschachteln auf dem Regal an der Rückwand beäugte.

Hinweise, die früher in den duftigen Wolken der Unwissenheit versteckt gewesen waren, traten jetzt überall rings um Lara deutlicher zum Vorschein, und allmählich löste sich die feste Überzeugung, dass die Leute einfach nur gern ihre einst berühmte Mum bestaunten, in ein trauriges Nichts auf. Die Lady mit dem Hut tat jetzt nicht einmal mehr nur so als ob, sondern ihre Knopfaugen studierten Lara derart schonungslos, dass sie sich fühlte wie eine Laborratte – nicht, dass sie wusste, wie sich eine Laborratte fühlte (Lara hatte bloß mal zufällig auf Dads Schoß gedöst, während er sich interessiert eine Sendung ansah, in der eine vorkam). Also schön, sie war jetzt eine Laborratte.

Als ein Polizist den Kiosk betrat, machte die Lady mit dem Hut keinerlei Anstalten, ihre Neugier zu verbergen.

«Hallo», sagte der Polizist zu Dad, während sie anstanden, um Zeitung, Zigaretten und die Tüte heimliche Süßigkeiten zu bezahlen, die gut über ein Pfund kostete, was Lara Mum nicht verraten durfte, wie sie Dad versprechen musste.

Dad nickte dem Polizisten zurückhaltend zu, der seine Aufmerksamkeit daraufhin Lara widmete.

«Alles klar, Kleines?», fragte der Officer, der einen ulkigen Akzent hatte, wie Lara fand. Sie wollte lachen, bekam es aber irgendwie mit der Angst zu tun, weil sie überhaupt erst ein einziges Mal mit einem echten Polizisten gesprochen hatte – als die Ortspolizei in ihrer Schule Verkehrsunterricht abhielt.

Sie sah Dad hilfesuchend an, und der drehte sich einfach zu dem Polizisten um und sagte: «Wieso stellen Sie meiner Tochter Fragen?»

«Ihrer Tochter?» Der Polizist starrte sie an – von den Haarspitzen bis runter zu den Spitzen ihrer ausgelatschten Turnschuhe –, mit einem leeren Ausdruck im Gesicht. Lara fragte sich, ob er wohl gleich hier im Kiosk eine Verhaftung vornehmen würde. Die Frau mit dem Hut schob sich näher, um besser sehen zu können.

«Dad, ich will nach Hause», sagte Lara, die plötzlich den Drang verspürte, loszuheulen, es sich aber fest entschlossen verkniff.

«Sie sieht sehr bekümmert aus», sagte der Polizist mit dem ulkigen Akzent.

«Sie ist auch bekümmert, kein Wunder», sagte Dad. Lara fiel auf, wie rot sein Gesicht wurde. So hatte sie ihn noch nie gesehen. Na ja, jedenfalls nicht mehr seit dem Sonnenbrand in Blackpool.

Mr Maharajah hatte einen Kunden zu Ende bedient und gesellte sich nun zu Dad und dem Polizisten, während Lara mit leicht bebenden Schultern die Hände vors Gesicht hob. Sie wollte zu ihrer Mum. Sie wollte Dads Hand nehmen und ihn aus dem Laden ziehen. Würden sie jetzt verhaftet werden?

Lara schaffte es, das Gespräch der Erwachsenen teilweise zu verfolgen. Mr Maharajah sagte irgendetwas von «für sie verbürgen». Dad sagte irgendetwas von «sich beschweren». Die Frau mit dem Hut sah aus, als wäre gerade ein großes Eis mit Bananengeschmack vom Himmel gefallen.

Lara blieb mucksmäuschenstill, trat aber ungeduldig von einem Bein aufs andere, während die Erwachsenen in der Ecke beim Regal mit Milch und Käse tuschelten. Das ging eine Ewigkeit so – mindestens fünf Minuten – und endete damit, dass Mr Maharajah den Kopf schüttelte und Dad auf den Rücken klopfte.

Dads Gesicht war so rot wie Mums Tomaten, als er nach Laras Hand grapschte und sie aus dem Laden zog. Lara war so erleichtert, nach Hause zu kommen, dass sie beschloss, nicht zu fragen, was da eben passiert war. Sie war ganz durcheinander im Kopf, vergaß sogar die Tüte Süßigkeiten, die auf Mr Maharajahs Theke liegen geblieben war.

 

An dem Wochenende nach dem Zwischenfall im Kiosk lehnten Mum und Dad eine Einladung von Agnes und Brian ab, obwohl sie wussten, wie gern Lara immer mit hinging, weil sie dann ihre Cousins sah, vor allem Jason – und Goldie, den hübschen Labrador, den sie hatten. Außerdem war gleich um die Ecke ein bestens ausgestatteter Spielwarenladen, den sie alle zusammen öfter aufsuchten, um «sich bloß mal umzuschauen», und den sie nie ohne ein Geschenk von Brian wieder verließen.

Demzufolge kam ihr diese Absage wie eine Strafe vor. Lara mutmaßte sofort, dass Mum und Dad aus irgendwelchen seltsamen Gründen nein gesagt hatten. Sie war nicht blöd. Sie war immerhin schon fast acht.

Der richtige Zeitpunkt war gekommen.

Sie saß auf der Sofakante, die Hände auf dem Schoß, das Herz voll gespannter Erwartung. Dad war auf dem Dachboden gewesen, und als er vorsichtig die schmale Leiter herunterkletterte, Staub in seinem hellbraunen Haar, sah Lara, dass er eine schmutzige blaue Kiste unter dem Arm trug. Er reichte die Kiste Mum, die erst den Staub abwischte, ehe sie sie Lara gab.

Lara öffnete sie. Zuoberst lag ein Umschlag mit vergilbten Zeitungsausschnitten und darunter Fotos.

«Star Patricia Reid adoptiert Baby!», schrie eine Schlagzeile. Lara warf einen Blick darauf und war leicht schockiert, dass Mum mal in der Zeitung gestanden hatte. Lara stellte sich vor, wie sie das ihren Freundinnen in der Schule erzählen und was die sagen würden. Sie hatte zwar schon immer gewusst, dass Mum die Cover von Musikzeitschriften und einige Poster geziert hatte – aber in einer richtigen Zeitung? Wie Prinzessin Diana. Wow!

«Schätzchen, jetzt hör mal gut zu», sagte Mum. Sie klang angespannt.

 

«Sängerin Patricia ‹Trish› Reid, 32, die mit ‹Do You Want This?› einen Top-Ten-Hit landete, hat ein Baby adoptiert! Ehemann Barry, 42, kehrte gestern Abend mit der drei Jahre alten Lara aus Nigeria zurück. Das Wiedersehen am Flughafen verlief sehr emotional. Eine glückstrahlende Trish sagte über ihre neue Tochter: ‹Lara ist wunderbar und die Erfüllung all unserer Wünsche!›, und den liebevollen Blicken nach zu urteilen, mit denen Barry seine kleine Tochter betrachtete, gilt dasselbe auch für ihn.»

Mums Hände schienen zu zittern, während sie den Artikel vorlas.

Und noch einen.

«Afrikanisches Baby für Trish!»

«Popstar Trish hat sich zu einem außergewöhnlichen Schritt entschieden – sie hat ein kleines Mädchen aus einem armen, rattenverseuchten Waisenhaus in einem entlegenen afrikanischen Dorf adoptiert. Letzten Dienstag nahm Trish alias Patricia Reid die Dreijährige in Empfang und strahlte vor Glück. ‹Ist sie nicht wunderhübsch?›, sagte Trish. Ihr Ehemann Barry fügte hinzu: ‹Wir können es kaum erwarten, sie unseren Verwandten und Freunden vorzustellen. Jetzt ist unsere Familie komplett.›»

Es gab noch jede Menge andere Zeitungsausschnitte, alt und vergilbt, aber auf einmal hatte Lara keine Lust mehr, sie sich anzuschauen.

«Ich weiß, wir haben dir vor einiger Zeit gesagt, dass du adoptiert bist … Aber wir haben nie richtig darüber gesprochen, wie wir dich bekommen haben», sagte Mum.

Lara wandte sich zu ihrem Dad um, wünschte und hoffte, dass er diesmal etwas sagte, irgendetwas, aber der Blick, mit dem er sie ansah, verriet praktisch nichts.

«Ihr … ihr habt gesagt, ich wäre was Besonderes …», sagte Lara, einen verwirrten Ausdruck im Gesicht.

«Das bist du auch, Schätzchen», sagte Mum mit gequälter Miene. «Aber wir dachten, es wäre an der Zeit, dir das hier zu zeigen, damit du uns alles fragen kannst, was dir vielleicht durch den Kopf geht.»

Lara überlegte, was Mum mit dem Wort aber gemeint hatte.

Heißt das, ich bin nichts Besonderes mehr?

Dad nahm zwei Bilder aus der Kiste heraus, die er Mum reichte, die sie dann an Lara weitergab.

«Darf ich jetzt gehen?», fragte sie hastig. Ihre Eltern wechselten Blicke, ehe Mum nickte und Lara aufstand und langsam in ihr Zimmer ging. Sie fühlte sich, als hätten die beiden gerade französisch mit ihr geredet und sie müsste jetzt ein Wörterbuch suchen, um jedes einzelne Wort zu entschlüsseln.

Lara setzte sich aufs Bett, schaltete die stahlgraue Lampe an und legte die beiden Bilder neben ihre Sindy-Puppe auf die Bettdecke.

Das eine Bild zeigte sie als kleines Kind – ungefähr drei Jahre alt. Lara konnte sicher sein, dass sie das war, weil eine Fülle von ähnlichen Bildern im ganzen Haus verteilt war, aber auf keinem davon sah sie genauso aus wie auf dem. Feste Zöpfchen, wie Würmer, standen von ihrem Kopf ab, und sie trug Sachen, die sie noch nie gesehen hatte und die ganz komisch geschnitten waren. Außerdem hatte sie keine Schuhe an! Wie albern sah das denn aus?

Lara studierte das Bild genauer und bemerkte etwas in ihrer Hand, vielleicht ein Taschentuch. Die Wände auf dem Bild waren dunkelgrün, und das war komisch, weil keine der Wände in dem kleinen Haus auf dem Entwistle Way je grün gestrichen gewesen war. Und es war ein hässliches Grün. Sie legte das Foto zur Seite und studierte das zweite Bild. Es zeigte eine alte und heruntergekommene Baracke mit einem Schild über der Tür, auf dem HEIM FÜR MUTTERLOSE KINDER stand, und direkt daneben ragte ein hoher und üppiger Baum auf, der Lara an eine gigantische Ananas erinnerte. Sie legte beide Bilder sorgfältig neben die graue Lampe, setzte sich Sindy auf den Schoß und streichelte langsam die langen blonden Haare der Puppe, während ihr die Erkenntnis dämmerte, dass sie jetzt eine unsichtbare Grenze überschritten hatte. Sie war eindeutig auf ein Gebiet vorgestoßen, das für sie völlig neu war, beängstigend und vor allem von Dauer.

Und im Alter von fast acht Jahren begriff Lara, dass ihr Leben nie wieder so sein würde wie zuvor.

Kapitel 2

Jetzt

Laras dreißigster Geburtstag begann mit einem verregneten Morgen unter einem trüben und verhangenen Himmel. Lara sah die Post durch, Rechnungen und Angebote, die versprachen, sie reich zu machen, und der Pegel ihrer aufgeregten Freude stieg mit jeder weiteren Geburtstagskarte, die sie hervorzupfte. Sandis nicht jugendfreie Botschaft stach auffällig von Mums und Dads pastellfarbener Süße ab. Und als Lara schließlich alle Karten auf dem Kaminsims neben der Familie peruanischer Figuren aufgereiht hatte, war es ihr fast gelungen, sich einzureden, dass die ganze Aufregung vorher eigentlich schlimmer gewesen war als der Tag selbst.

Dreißig musste nicht der Auftakt zur Vergreisung sein, sondern konnte viele neue Möglichkeiten und Chancen bieten. Die Zukunft gehörte ihr, und sie war entschlossen, jede Chance zu nutzen, hart zu arbeiten und ihren Erfolg zu genießen, zugleich aber alles daranzusetzen, ein guter Mensch zu sein. Darum ging es doch schließlich im Leben, oder etwa nicht?

Wie an jedem Geburtstag öffnete sich ihr Verstand wolkenbruchartig, als er Gedanken an sie zuließ, gefolgt von einer kurzen Phantasie, wie es sich wohl anfühlen würde, einen Umschlag zu öffnen, der von ihr zugeklebt worden war. Worte zu lesen, die sie geschrieben hatte. Eine Karte zu betrachten, die sie eigenhändig ausgewählt hatte. Wäre es ein modernes Design oder eher etwas traditionell Blumiges? Allerdings fragte sich Lara, ob sie überhaupt wusste, wie bedeutsam der Tag war. Immerhin konnte sich Lara ihres tatsächlichen Geburtsdatums ja gar nicht sicher sein.

Der Wolkenbruch dauerte an. Lara stürzte ins Büro, wo ihr persönlicher Assistent Jean ihr einen großen Strauß aus dreißig rosafarbenen Rosen überreichte, und jede Besprechung endete mit einem schlecht gesungenen «Happy Birthday» samt Glückwünschen und Händeschütteln. Gedanken an sie wanderten bis zum nächsten Jahr ins Archiv, und Lara gönnte sich ein trunkenes Glücksgefühl und die Hoffnung, dass der Tag trotz des Regens gut laufen würde.

«Vielen Dank für die Blumen. Die müssen ja ein Vermögen gekostet haben!», beschwerte sie sich scherzhaft bei Jean.

«Du wirst ja schließlich nur einmal einundzwanzig, Lara.»

«Dafür kannst du dir in etwa einer halben Stunde den Rest des Tages frei nehmen.»

«Ehrlich?» Er strahlte. Es war erst ein Uhr, aber Jean machte regelmäßig Überstunden, wenn Termindruck herrschte, und Lara hatte sein Engagement durchaus zur Kenntnis genommen. Sie schätzte ihn, vielleicht mehr, als er glaubte. Lara gehörte nicht zu denen, die sich allzu viele Emotionen erlaubten. Schon gar nicht im Büro.

Von Optimismus erfüllt, blickte Lara zum Bürofenster hinaus, als die nächste «Happy Birthday»-SMS auf dem Display ihres Handys erschien. Sie lächelte in sich hinein und bemerkte die blauen Stellen, die sich am grauen Himmel zeigten, dachte daran zurück, wie toll es gewesen war, endlich ein Büro mit einer schönen Aussicht und mit ihrem Namensschild an der Tür zu bekommen, und damit auch die befriedigende Gewissheit, dass sich ihre harte Arbeit gelohnt hatte. Sie erinnerte sich, wie das Gefühl, «angekommen» zu sein, alles, was sie tat oder dachte, überschattete, ihr ganzes Verhalten bestimmte. Manche mochten ihr toughes Auftreten als Arroganz deuten, aber Lara wusste, dass es eher mit Erleichterung zu tun hatte, verbunden mit der leisen Angst, dass ihr das alles jederzeit wieder genommen werden könnte. Schließlich währte nichts ewig. Sie strich sich Strähnen ihrer glatten Bubikopffrisur hinter die Ohren und klopfte mit dem Mittelfinger der rechten Hand auf den Tisch. Vier Mal.

Solange sie sich erinnern konnte, hatte Lara stets davon geträumt, erfolgreich zu sein, eine Position zu erlangen, in der keiner ihr etwas anhaben konnte und die niemand in der Familie Reid je erreicht hatte.

Tatsächlich hatten sie und ihre beste Freundin Sandy (die sich bald «Sandi» nennen sollte) diesen Plan als Teenager ausgeheckt, in einer Ecke des Schulhofs, irgendwo, irgendwann in ferner Vergangenheit, als sie zum Frühstück am liebsten Kaugummi aßen und sich regelmäßig darüber stritten, welches die beste Band war – Nirvana (Sandy) oder Public Enemy (Lara).

«Arm sein ist echt zum Kotzen!», maulte Sandy und kickte mit ihren ramponierten Turnschuhen gegen einen Dreckklumpen auf der Erde.

«So arm sind wir gar nicht», sagte Lara.

«Dir geht’s prima, mit deiner Popstar-Mum und so, aber ich … Echt, die Familie, zu der sie mich letzte Nacht gesteckt haben, die ist so was von arm! Das Haus ein einziges Chaos, völlig verdreckt. Sogar der Hund hat gemacht, dass er wegkommt. Der sogenannte Dad hockt die meiste Zeit in der Kneipe und besäuft sich, und sie redet kein Wort mit mir. Gucken sich die vom Jugendamt heutzutage gar nicht mehr an, wo sie Kinder hinschicken? Da wär ich im Heim besser dran, und das will was heißen. Meine Fresse, ist das ein Drecksloch!»

Lara wusste nicht recht, was sie dazu sagen sollte. Sie hatte immer nur mit Mum und Dad zusammengelebt und sich eigentlich nie etwas anderes gewünscht – außer einem Golden Retriever und vielleicht einem größeren Zimmer.

«Nimm’s nicht so schwer. Du bist ja nicht mehr lange bei denen, oder?», sagte sie in einem schwachen Trostversuch.

«Stimmt. Dann geht’s weiter zur nächsten Asi-Truppe. Eins kann ich dir sagen, irgendwann werde ich stinkreich. So reich, dass ich kein Schwein mehr brauche. Verstehst du?»

«Klar versteh ich dich.»

«Dann kauf ich eine Riesenvilla und jede Menge Autos.»

«Und einen Swimmingpool!»

«Mit einer Poolbar, wo’s nur Cocktails mit bunten Papierschirmchen gibt. Vielleicht hat deine Mum noch ein paar Kontakte, dann könnte sie uns mit einem Rockstar oder so verkuppeln.»

«Wohl kaum!»

«Wieso denn nicht? Wäre doch super … Ich kann’s mir schon ganz genau vorstellen. Keiner könnte uns was anhaben.»

Sandy lehnte sich gegen ein staubiges Mäuerchen. «Ich sag dir, am sichersten bist du, wenn du Kohle hast. Wenn du reich bist. Wenn du andere nie um irgendetwas bitten musst.»

«Klar, find ich auch.»

«Na siehst du. Ich weiß ja nicht, was du so vorhast, aber ich will jedenfalls genau da hin.»

Sandys Plan war geglückt. Mittlerweile war sie als führende Software-Beraterin eine Spitzenkraft, ihr Gehalt lag im sechsstelligen Bereich, und sie flog zweimal im Monat geschäftlich aufs europäische Festland, ein Dauerlächeln in ihrem schönen Gesicht. Und auch Lara selbst ging es weiß Gott nicht schlecht. Sie hatte an einer ziemlich angesehenen Universität einen Abschluss mit Auszeichnung gemacht, danach einen Job als Einkäuferin für ein Kaufhaus ergattert, ehe sie sich forsch bei ihrem jetzigen Arbeitgeber als Assistentin bewarb, um drei Jahre später zum Online-Editor befördert zu werden. Lara hatte schon immer glitzrige Sachen gemocht, deshalb war es für sie praktisch ein Traumjob, regelmäßig mit Schmuck zu tun zu haben und dafür auch noch großzügig bezahlt zu werden. Von außen betrachtet, besaß sie alles: Schönheit (nach Aussage einer sehr voreingenommenen Mum und ebensolchen besten Freundin, obwohl Lara einen dicken Po hatte, der einfach nicht verschwinden wollte, und einmal im Monat einen unangenehmen Schub unreiner Haut); eine eigene Wohnung; Eltern, die noch immer verheiratet waren, sowie die regelmäßige Aufmerksamkeit eines äußerst erstaunlichen Mannes (laut bester Freundin, Mum und Agnes). Aber für Lara fehlte noch etwas.

Irgendetwas war einfach nicht so, wie es sein sollte. Sie fühlte sich nie vollständig, nie wie ein ganzer Mensch. Sie war glücklich – ja. Vollständig – nein. Sie war nicht ganz sicher, ob es überhaupt möglich war, das eine zu sein und das andere nicht. Es war schwierig, das anderen zu erklären, also tat sie es nicht.

 

Vor ihr lag ein hektischer Nachmittag – Rückrufe tätigen, Verträge genau prüfen, die Webseite auf irgendwelche Fehler oder Widersprüche durchsehen, ehe sie sich einen Blick auf die «Verkehrszahlen» erlaubte – dennoch war Lara froh, als Jean sie unterbrach.

«Lara, deine Mum auf Leitung eins», sagte er.

«Danke, Jean. Stell sie durch und mach dann Feierabend! Ist ja schon fast zwei Uhr.» Sie setzte sich in ihren grauen Bürosessel, als es erneut piepste, diesmal aus ihrem Blackberry. Schon wieder eine Geburtstags-SMS.

«Mum!», sagte sie mit einer Mischung aus Glück und schlechtem Gewissen.

«Alles Gute zum Geburtstag! Wie geht’s dir denn, mein Schätzchen?»

«Mum, ich bin schon groß!»

«Dreißig, weiß ich ja.»

«Erinnere mich nicht dran.»

«Warum denn nicht? Du bist doch noch ein junger Hüpfer. Warte ab, bis du in mein Alter kommst. Weshalb ich anrufe … Es geht um das Familientreffen am kommenden Wochenende. Dein Vater und ich haben gedacht, wir machen daraus eine Art Geburtstagsparty für dich. Du, ich, Dad, deine Tante und dein Onkel …»

«Mum, Moment mal. Ich dachte, es wäre klar, dass wir uns nur zum Essen treffen. Ich will kein großes Tamtam.»

«Weiß ich ja, aber es ist doch dein Dreißigster …»

Lara seufzte und dachte daran, wie unheimlich gern ihre Mutter Partys schmiss. Schon als Lara noch klein war. Sie erinnerte sich gut, wie viel Spaß Mum all die Vorbereitungen machten, auch wenn sie die ganze Woche mit umgebundener Schürze in der Küche verbrachte und wie am Fließband backte. Mums Backtalent war etwas, worüber sich alle gern köstlich amüsierten, bis irgendein Tollpatsch sagte, ein solches Talent für Sandkuchen, Cupcakes und süßes Brot könnte nur von ihrer Mutter vererbt worden sein. Woraufhin dann Mums Miene ernst wurde, die Atmosphäre plötzlich umschlug, und Dad oder jemand anderes die unbehagliche Stimmung mit dem Einwurf lockerte, dass Mum natürlich die heilige Pflicht habe, ihre kulinarischen Fähigkeiten an Lara weiterzugeben, die es leider Gottes noch immer nicht geschafft habe, ein Ei kürzer als zwanzig Minuten zu kochen. Haha.

«Bitte keine Großveranstaltung, Mum. Ich steh nicht mehr so auf Geburtstagspartys.»

«Wieso denn nicht? Wo du so viel erreicht hast. Schließlich hattest du ja nicht gerade die besten Startbedingungen im Leben, oder?»

Ein Moment der Verlegenheit entstand.

«Mum … bitte nur im ganz kleinen Rahmen, ja? Ich hab als Kind genug Partys gehabt.»

«Na ja, dann ist das jetzt eben deine letzte … vorläufig.»

«Na schön, meinetwegen», sagte Lara widerstrebend. Sie wünschte, Mum hätte ihr früher Bescheid gesagt. Sie brauchte doch Zeit, um sich darauf vorzubereiten. Es war schon schlimm genug, dreißig zu werden und zum Beispiel die Angst vor dem Alter zu spüren. Aber anders als ihre Freundinnen, die die klassischen Mantras «Werde ich je heiraten?» oder «Wohin gehe ich?» wie in einer inneren Endlosschleife abspulten, fürchtete Lara, dass es bei ihr wieder das alte «Wo komme ich her?» sein würde, das um diese Zeit des Jahres unweigerlich in ihr aufkam, eingebettet in das vertraute Gefühl der Leere. Sie riss sich aus diesen Gedanken – sie musste wirklich damit aufhören – und wandte sich dringlicheren Themen zu.

«Hauptsache, es gibt Kuchen, Mum, und zwar reichlich.»

«Das versteht sich von selbst. Kuchen, Familie und ein bisschen Musik. Was soll da schon schiefgehen?»