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Fußnoten

1

Siôn T. Jobbins, The Phenomenon of Welshness, or ›How Many Aircraft Carriers Would an Independent Wales Have?‹, Llanrwst 2011, S. 3440.

2

Vgl. E. G. Bowen, Britain and the Western Seaways, London / New York 1972.

3

Vgl. Michael Maurer (Hrsg.), Wales. Die Entdeckung einer Landschaft und eines Volkes durch deutsche Reisende (17801860), Frankfurt a. M. [u. a.] 2014.

4

Gwyn Williams, The Land Remembers. A View of Wales, London 1977, S. 19 f.

5

Z. B. Gwyn A. Williams, When Was Wales?, Harmondsworth 1985, S. 20.

6

Ernest Renan, Études d’Histoire religieuse, Paris 1857.

7

Zahlen nach Gareth Elwyn Jones, Modern Wales. A Concise History, Cambridge 21994, S. 108 f.

8

Zum Kontext vgl. Prys Morgan, »From a Death to a View: The Hunt for the Welsh Past in the Romantic Period«, in: Eric Hobsbawm / Terence Ranger (Hrsg.), The Invention of Tradition, Cambridge 1983, S. 43100.

9

Gwynfor Evans, A National Future for Wales, [Swansea] 1975, S. 9 u. ö.

10

Zit. nach dem Artikel »Welsh Language, The«, in: John Davies [u. a.] (Hrsg.), The Welsh Academy Encyclopaedia of Wales, ­Cardiff 2008, S. 938.

11

Siehe z. B. Siôn T. Jobbins (s. Anm. 1), S. 1826.

12

Zit. nach dem Artikel »Welsh Language, The« (s. Anm. 10), S. 938.

13

Zahlen ebd., S. 940.

14

Oscar A. H. Schmitz, Das Land ohne Musik. Englische Gesellschaftsprobleme, München 31914.

15

Vgl. Matthew Arnold, On the Study of Celtic Literature and Other Essays, London 1910.

16

Vgl. Michael Maurer (Hrsg.) (s. Anm. 3) S. 113.

17

Zu den Instrumenten vgl. Owain T. Edwards, »Music in Wales«, in: R. Brinley Jones (Hrsg.), Anatomy of Wales, Peterston-­super-Ely, Glamorgan 1972, S. 207226 (mit Abbildungen) .

18

Vgl. Michael Maurer (Hrsg.) (s. Anm. 3) S. 32.

19

Das Beste zu diesem Thema: Martin Johnes, A History of Sport in Wales, Cardiff 2005. Zu einzelnen Sportarten verweise ich ­darüber hinaus auf die jeweiligen Artikel in: John Davies [u. a.] (Hrsg.), The Welsh Academy Encyclopaedia of Wales, Cardiff 2008.

20

Vgl. Michael Maurer, »Der Sonntag in der Frühen Neuzeit«, in: Archiv für Kulturgeschichte 88 (2006) S. 75100.

21

Vgl. Benedict Anderson, Imagined Communities, London 1983 (dt.: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, übers. von Benedikt Burkard und Christoph Münz, Berlin 1998).

22

Übersetzt nach der Wiedergabe in Terry Breverton, The Welsh. The Biography, Stroud, Gloucestershire 2012, S. 322.

23

Gareth Elwyn Jones, Modern Wales. A Concise History, Cam­bridge [u. a.] 21994, S. 273.

24

Ebd., S. 275.

25

Ebd., S. 278.

26

Vgl. Philip Jenkins, A History of Modern Wales 15361990, ­London / New York 1992, S. 386 sowie die Karte S. 440.

27

Vgl. Siôn T. Jobbins (s. Anm. 1), S. 168174.

28

Claire Mitchell, Religion, Identity and Politics in Northern ­Ireland. Boundaries of Belonging and Belief, Aldershot 2005.


Das Land im Westen

Die Attraktivität einer fremden Kultur

Wales – ein Teil Großbritanniens, einer Insel am nordwest­lichen Rand Europas. Was weiß man schon über Wales – vielleicht hat man schon die Flagge gesehen, den roten Drachen im grün-weißen Feld, oder Lauch und Narzisse als nationale Symbolpflanzen. Aber ist Wales wirklich als ein eigenes Land kenntlich? Kann man sich unter einem Waliser einen bestimmten Typ vorstellen wie unter dem Schotten, zu dem man gemeinhin den Kilt assoziiert, Dudelsack und Whiskey?

Während nationalistische Schotten die Unabhängigkeit erstreben, halten sich entsprechende Initiativen in Wales in Grenzen. Sicher: Seit der Volksabstimmung von 1997 wurde mehr regionale Autonomie gewährt, ein eigenes Parlamentsgebäude in der Hauptstadt Cardiff errichtet, mehr für die Verbreitung der walisischen Sprache in Schulen und Medien getan. Förderung genießt auch der Tourismus, der allerdings (bisher) vor allem Briten anzieht. In Wales gab es früher bedeutende Industriegebiete, die freilich, wie überall in Europa, im späten 20. Jahrhundert einen Niedergang erlebt haben; hohe Arbeitslosigkeit und toxische Altlasten waren die Folge. Ist Wales mehr als nur eine Region Großbritanniens, eine wirk­liche Nation?

Die Antwort fällt gemischt aus. Wales definiert sich vor allem durch seine eigene Sprache, eine keltische Sprache, verwandt dem schottischen und irischen Gälisch, aber auch dem Bretonischen auf der anderen Seite des Kanals. Obwohl in ­Wales Englisch heute die dominierende Sprache ist, spricht immer noch ein nennenswerter Anteil der Bevölkerung das Walisische. Wales ist stolz auf eine eigene Literatur in dieser Sprache, die sich kontinuierlich seit anderthalb Jahrtausenden aufbaut, wenn auch, unvermeidlicherweise, in den letzten Jahrhunderten in Konkurrenz und im Austausch mit der englischen Literatur. Man kann zwar nicht sagen, dass die walisische Literatur von großer Ausstrahlung auf die Weltliteratur sei (auch können sich die Waliser keineswegs so vieler Nobelpreisträger rühmen wie die Iren!), aber die großen Stoffe um König Artus sind eng mit Wales verbunden, wenn auch nicht auf Wales beschränkt. Und zumindest Dylan Thomas ist jedem Literaturfreund bekannt. Waliser tragen unauffällig zur Literatur in englischer Sprache bei; gleichzeitig entsteht weiterhin Literatur in walisischer Sprache, die aber außerhalb kaum Beachtung findet. Wales kultiviert sein Selbstverständnis in der Pflege von Musik, traditionell vor allem der großen Chöre. Dichtung und Musik sind wichtig und werden gepflegt auf dem jährlichen großen Nationalfest, dem Eisteddfod. Auch im Sport sind die Waliser gern für sich; wichtiger als Fußball (Soccer) ist ihnen Rugby.

Während in Bezug auf die Politik und das Recht Wales seit langem von den englischen Nachbarn einbezogen und überformt worden ist, hat Wales seinen eigenen Charakter in der Religion weitgehend bewahrt. Wales gehört (wie Irland) zu den früh christianisierten Ländern, welche durch die Jahrhunderte in ihrem Bezug auf christliches Leben und Brauchtum eine wesentliche Stütze ihrer Nationalität gefunden haben. Die heiligen Quellen und Wallfahrtsorte, die heimischen Heiligen, im Mittelalter auch die Klöster: All das gehört zu Wales. Mit der Reformation in England wurde auch Wales protestantisch und in die Anglikanische Kirche einbezogen, aber nicht in vollem Maße anglisiert. Denn ein Element des Nationalen fand Entwicklungsmöglichkeiten in den Freikirchen; the Chapel ist in vielen Städten und Dörfern in Wales wichtiger als the Church. In den nonkonformistischen Kirchen konnte sich die walisische Sprache entfalten, hier wurde sie gefördert in Gebet und Gesang. Die Geschichte des religiösen Lebens und der kirchlichen Organisationen spielt deshalb in Wales eine große Rolle für Politik und Gesellschaft. Man hat geradezu die These gewagt, die Entwicklung zu einer politisch selbständigen Na­tion sei abgeleitet und letztlich verhindert worden durch das große ›Revival‹ von 1904.1

Wales ist also in mancher Hinsicht für uns fremd und eigenwillig; es scheint streng, ernst und grau. Es ist aber auch ein grünes Land, eine herrliche Ferienlandschaft zwischen smaragdgrünen Meeresbuchten und alpinen Moorregionen mit ungezählten Schafherden und wilden Pferden.

Und Wales bildet einen höchst lebendigen Bestandteil eines Europas der Regionen. Wenn man auf der Promenade an der Bucht von Aberystwyth entlangschlendert, findet man außer den berühmten europäischen Nationalflaggen nicht zufällig auch die weniger bekannten Fahnen der Regionen, die neben dem walisischen Drachen figurieren: etwa die der Isle of Man und Cornwalls, der Bretagne und der Normandie, Kataloniens und des Baskenlandes. Wales stellt den interessanten Fall einer autochthonen europäischen Kultur mit tiefen Wurzeln in der Geschichte dar, welche sich einerseits in einem Rückzugsgebiet gegen einen starken Nachbarn behaupten konnte, andererseits in engem Kontakt und Austausch mit diesem starken Nachbarn Anschluss an Europa und später auch an das Empire fand und insofern lange Zeit nicht mehr als eigene Kultur in Erscheinung trat, sondern nur noch als Teil der britischen Kultur wahrgenommen wurde.

Die europäischen Institutionen wurden von europäischen Nationalstaaten gegründet nach verheerenden Weltkriegen, welche das Nationalitätsprinzip zugleich zutiefst in Frage gestellt haben. Aber Europa könnte auch ein Europa der Regionen sein, in dem der walisische Drache freundlich die Bretonen grüßt, die ihre Hymne zu einer Melodie singen, welche in Wales für die walisische Hymne komponiert wurde …

Geographie

Wales wird durch die Geographie bestimmt. Es liegt am nordwestlichen Rand Europas und am westlichen Rand der britischen Hauptinsel als mittlere Halbinsel zwischen Schottland im Norden und Cornwall/Devonshire im Süden. Damit gehört es zu Großbritannien, ist aber auch klar von ihm abgrenzbar: Im Norden, Westen und Süden vom Meer umgeben, trennt es sich von England durch das breite Mündungsgebiet des Flusses Severn im Süden. Die Landgrenze zwischen England und Wales ist deutlich erkennbar: Vom Severn führt seit mehr als 1200 Jahren eine von Menschen aufgeworfene Wallanlage (›Offa’s Dyke‹) nach Norden bis in die Nähe von Chester, also wiederum zum Meer (zur Bucht von Liverpool). Wenn wir uns das Meer als etwas Trennendes vorstellen, ist Wales klar abgetrennt sowohl von Schottland als auch von Irland und Cornwall. Freilich gilt für beträchtliche Epochen der Geschichte, dass das Meer auch eine Wasserstraße darstellte (›Western Seaways‹);2 insofern ist Wales mit diesen Ländern in regem Austausch zu denken. Die Landgrenze zur englischen Seite hin ist zwar weniger ausgeprägt, aber doch erstaunlich konstant durch die Jahrhunderte.

Wales hat als Kern ein gebirgiges Massiv, das vor allem den Norden der walisischen Halbinsel bestimmt. Dieser Gebirgskern ist sowohl unwegsam als auch wenig fruchtbar; er hat ein extrem feuchtes und kühles Klima, wenngleich er nicht hoch über dem Meeresspiegel liegt. Dieser Gebirgskern eignete sich in früheren Zeiten als Rückzugsgebiet: Ein distinktes Wales, eine abgesonderte Bevölkerung, ist ohne diese geographische Gegebenheit nicht vorstellbar.

Der höchste Berg in Wales ist der Snowdon, den man früher (fälschlich) für den höchsten Berg in Großbritannien hielt, weil er so majestätisch aufsteigt (1085 m). Weiter südlich reihen sich Bergzüge an, die als Cambrian Mountains zusammengefasst werden und im Osten in die Brecon Beacons und die Black Mountains auslaufen, im Westen in die Presili Mountains. Alle diese Gebirge sind, gemessen an der Höhe über dem Meeresspiegel, nicht so eindrucksvoll, wohl aber in ihrer Umgebung. Außerdem sind sie unwegsam und oft kahl.

Gleichzeitig muss man sich bewusst machen, dass von den Flussmündungen und Buchten, von den Stränden und flachen Ebenen vor allem des Südens immer leichte Möglichkeiten des Zugangs nach Wales auch von den Meerseiten her bestanden. Es ist kein Zufall, dass die offenen, klimatisch günstigeren und fruchtbareren Gebiete im Süden und Westen immer sehr lockend waren für Einwanderer und Siedler. Diese Gebiete sind es auch, die Wales für Römer, Iren, Wikinger, Angelsachsen, Flamen, Normannen und Engländer gewissermaßen offenlegten: Man konnte sie leicht erreichen, und es war attraktiv, sich dort niederzulassen.

Da Wales ein Land mit überdurchschnittlich hohem Niederschlag ist (über 2000 mm pro Jahr, also mehr als das Zehnfache dessen, was man in den flachen Gegenden Englands misst), wird die Landschaft belebt von einer Fülle von Flüssen und Bächen. Infolge des zentralen Hochlandriegels von Nord nach Süd fließen die meisten Flüsse vom Gebirge nach Westen oder nach Osten. Alles, was nach Osten fließt, mündet in den Severn oder Wye (mit Ausnahme des Dee im Norden).

Als weitere Gegebenheit der Geographie, welche die kulturelle Entwicklung von Wales determinierte, ist zu bedenken, dass sich in dieser Landschaft kein Zentrum ausprägen konnte. Wales war immer und ist auch heute noch polyzentrisch. Während die große Stadt am Unterlauf der Themse für England gewissermaßen ein natürliches Zentrum darstellt, fehlt in Wales die geographische Gegebenheit für ein Zentrum des Handels und des Verkehrs. Der lebensfeindliche Gebirgskern verhilft den Walisern nicht nur dazu, sich gegen die Menschen im Osten zu verschanzen, sondern trennt ebenso den Norden und den Süden von Wales voneinander. Aber es gibt auch nicht etwa zwei konkurrierende Zentren, ein Zentrum des Nordens und ein Zentrum des Südens, weil die Landesteile östlich des Gebirgsmassivs natürlich nach England tendieren und weil die Hafenstädte an der Irischen See eher nach Westen schauen als nach Norden und Süden.

So war Wales jahrhundertelang in Kleinkönigreiche zerfallen, die sich gegenseitig bekämpften. Erst im Zeitalter der Eisenbahnen (und noch später: durch Autobahnen) wurden diese geographischen Gegebenheiten überwindbar. Diese Verkehrserschließung setzte jedoch erst zu einer Zeit ein, als Wales bereits sehr enge Bindungen an die englische Kultur entwickelt hatte, welche vor allem seit dem 19. Jahrhundert die Britischen Inseln insgesamt dominierte.

Wales verfügt also nicht über einen Fluss, welcher das Land gestaltet, weil die kleinen Flüsse, welche das zentrale Gebirgsmassiv entwässern, in verschiedene Himmelsrichtungen fließen. Und Wales hat keine natürliche Hauptstadt, die sich aus einem unbestrittenen Handels- und Verkehrszentrum hätte entwickeln können. (Cardiff gilt erst seit 1955 als Hauptstadt.)

Landeskultur

Wales ist wesentlich durch zwei natürliche Gegebenheiten bestimmt: das Meer, welches die Küste modelliert, und die unwirtlichen Berge, welche dem Land Rückhalt und Charakter geben. Ein drittes Element kommt hinzu: die eher lieblichen Flusstäler, vor allem am Wye, Tywi, Usk, Clwyd und Dee. Während in der Vorzeit das ganze Land von Wald bedeckt war, wurde dieser in den Jahrtausenden menschlicher Besiedlung immer radikaler gerodet, mit zweischneidigen Folgen: Durch Rodung verschaffte sich der Mensch einerseits Energie (Brennholz); er konnte auch Häuser und Schiffe bauen und kultivierte das Land, indem er Felder und Weiden anlegte, um seine Ernährung sicherzustellen. Andererseits vernichtete er damit gleichzeitig seine natürliche Umwelt, schränkte den Lebensraum des Wildes ein, drängte Beerenpflanzen und Buschwerk zurück und gab letztlich den Boden der Erosion preis. Den Gipfel der Entwicklung erreichte man mit der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts, als unendlich viel Brennmaterial, Baumaterial und Grubenholz gebraucht wurde, bis aus dem waldreichen Wales ein weitgehend kahles und von Bäumen entblößtes Land geworden war. Erst im 20. Jahrhundert begann man mit einer planmäßigen Wiederaufforstung, nun allerdings mit nicht indigenen Baumarten (vor allem Sitka-Fichten); mit schnellwachsenden Holzlieferanten wurden nun Berge und Hügel bedeckt, um das Land in planmäßiger Forstwirtschaft teils zu rekultivieren, teils in neuer Weise industriell auszubeuten. Diese Maßnahmen waren natürlich an die Gegebenheiten des Klimas gebunden, aber sie haben auch, wo sie in großem Stile durchgeführt wurden, ihrerseits wiederum zur Veränderung des Klimas beigetragen.

Wales ist freilich in seiner Gesamtheit weniger durch Wälder bestimmt als vielmehr durch Felder und vor allem Weiden, auf denen hauptsächlich Schafe gehalten werden (in Wales gibt es mehr Schafe als Einwohner!), auch Rinder in großer Zahl, ferner Ponys. Eine jahrhundertelange Feld- und Weidewirtschaft hat der Landschaft ihr eigenes Gesicht gegeben, insbesondere in Verbindung mit der kleinteiligen Struktur kleinbäuerlichen Besitzes und der Siedlung in Form von Einzelgehöften im Mittelalter. Die ausgedehnten Weidelandschaften sind (wie in England) häufig gegliedert durch Trockensteinmauern und Heckenreihen, die zuweilen schon über tausend Jahre alt sind und insofern (trotz aller Eingriffe in neuerer Zeit, trotz der Eisenbahnen, Asphaltstraßen und Industrieanlagen) als charakteristische landschaftsgestaltende Bestandteile gelten müssen. Es kommt hinzu, dass sich Landstraßen (ebenso wie in England) oft an die topographischen Gegebenheiten anschmiegen, statt sie zu durchschneiden und zu überformen. Auch heute sind Straßen für den Autoverkehr nicht selten im Boden abgesenkt, von Büschen und Bäumen gesäumt und treten damit im Überblick über die Landschaft zurück. Wales hat viel Natur zu bieten und ist weit weniger zersiedelt als beispielsweise Mitteleuropa oder die englischen Industriereviere.

Verkehrsverbindungen

Während Wales auf drei Seiten von der See her zugänglich ist, stellt die Zugänglichkeit von der Landseite her ein grundlegendes Problem dar. Dies lässt sich im Laufe der Geschichte immer wieder beobachten: Wege von England nach Wales führten entweder in Küstennähe im Norden von Chester nach Holyhead oder im Süden von Bristol bis zu den Häfen an der Irischen See. Im Norden galt es, verschiedene Flussmündungen zu umgehen oder zu überbrücken. Im Süden war das eigentliche Hindernis das breite Mündungsdelta des Severn; wenn man dieses überwunden hatte, blieben nur noch mäßige Hindernisse, weil man in der relativ flachen Landschaft landeinwärts über Carmarthen ziehen konnte. Noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde eine Straßenbrücke über die Severnmündung vom englischen Parlament ausdrücklich für überflüssig erklärt. Gebaut wurde sie schließlich mit dem zunehmenden Autoverkehr, 1966, später, 1996, ergänzt um eine zweite Severnbrücke. Die wichtigste Anbindung für Wales, eine wahre Lebensader, wurde die M 4, die von England her kommt und über Newport, Cardiff und Swansea bis Carmar­then reicht. Freilich bot der Straßenverkehr auch erstmals die Möglichkeit, die entlegeneren Gebiete in Wales mit einer Straße durch das Gebirge zu erschließen.

Eine Umrundung des Landes entlang der Küste ist zwar für Wanderer heute auf einem Küstenpfad möglich, nicht aber für Autofahrer. Wohl können sie teilweise in Küstennähe den Straßen folgen, wo es Steilküsten gibt, aber immer wieder gilt es, Flussmündungen zu umgehen oder zu überbrücken und seichte Uferpartien zu umfahren.

Auch die Eisenbahnen nahmen zuerst diese Nord- und Süd­tangente und verzweigten sich dann binnenländisch. Sie bildeten im 19. Jahrhundert vor allem im südostwalisischen Indus­triegebiet ein dichtes Netz aus. Auch die übrigen Teile von Wales wurden durch die Täler, teilweise mit Stichbahnen zu den Hafenstädten, erschlossen. Die wichtigsten Eisenbahnen waren immer die Verbindungsstrecken nach Irland: im Norden über Holyhead, im Süden über Fishguard. Andere Bahnen, die zeitweilig wichtig waren, wurden im 20. Jahrhundert zurückgebaut.

Zwar gibt es heute in Cardiff und Swansea Großflughäfen; insgesamt aber spielt der innerwalisische Flugverkehr kaum eine Rolle. Die Überseeanbindung geschieht teilweise von englischen Flughäfen aus (Bristol, Manchester, Birmingham, Liverpool).

Landschaftsempfinden

Wesentlich für das, was Wales heute ist und in den Augen der Welt darstellt, wurde die Entdeckung der Landschaft seit dem späten 18. Jahrhundert. Noch in den Augen des Reisenden Ned Ward, der im Jahre 1700 A Trip to North Wales publizierte, war diese Gegend der Abraum der Schöpfung, der Schutt, den die Sintflut zu Noahs Zeiten übriggelassen hatte. Das Schroffe, Ungestaltete, Unwegsame und Menschenabweisende drängte sich den Reisenden jener Zeit auf; eine solche Landschaft konnten sie nicht genießen; sie nahmen sie als lästiges Hindernis wahr, das möglichst schnell umgangen oder durchquert werden musste.

Dies änderte sich im Laufe des 18. Jahrhunderts grundlegend. Vor allem die neue Sensibilität der Empfindsamkeit, welche sich Landschaftselemente zu Bildern gruppierte und die aus der Kunst bekannten Landschaften in die Natur hineinzusehen sich bemühte (›the picturesque‹: ›das Pittoreske‹), führte dazu, dass nun manche Engländer absichtlich in die entlegenen Regionen reisten, um solche neu gesehenen Landschaften zu genießen. Für Wales wurden vor allem die Reiseberichte von William Gilpin (Observations on the River Wye, 1770) und Thomas Pennant (A Tour in Wales, 1778) epochemachend. Ihnen folgten die Maler: der Waliser Richard Wilson schuf attraktive Landschaftsbilder nach dem neuen künstlerischen Ideal, schon im Übergang zum Erhabenen (›the Sublime‹: ›das Erhabene‹), welches auch den Londoner William Turner zu Malerreisen nach Wales aufbrechen ließ, ebenso wie weniger berühmte Maler. Seit dieser Zeit entstand eine Fülle wertvoller Reiseberichte: von Benjamin Heath Malkin (The Scenery, ­Antiquities and Biography of South Wales, 1804) bis zu George Borrow (Wild Wales, 1862). Führende Schriftsteller und Dichter der Romantik fühlten sich durch dieses neue Interesse für walisische Landschaft angesprochen; sie reisten nach Wales, durch die lieblichen Täler und durch die gebirgigen Landschaften, und schrieben darüber, ob nun privat in Briefen oder in veröffentlichten Feuilletons und Reiseberichten. Seit der Romantik war Wales durch britische Autoren rezipiert und zum Bestandteil der europäischen Kultur geworden.

Auch deutsche Schriftsteller hatten an dieser Bewegung Anteil.3 Auch sie fanden im 18. Jahrhundert Wales noch ein barbarisches Land (Johann Gottlob Küttner, 1784) und entdeckten die landschaftlichen Schönheiten auf den Spuren der englischen Reisenden. Einen Meilenstein deutscher Befassung mit diesem keltischen Land am Rande Europas bildete das Buch von Julius Rodenberg (Ein Herbst in Wales. Land und Leute, Märchen und Lieder, 1858); er war der erste Deutsche, der sich längere Zeit in Wales niederließ, die walisische Sprache erlernte, Lieder und Gedichte aufzeichnete, Sitten und Bräuche studierte und überhaupt volkskundliche Feldforschungen betrieb.

Wann beginnt die walisische Geschichte?

Es gibt Autoren, welche die walisische Geschichte mit dem ›Paviland Man‹ beginnen wollen, jenem ockergefärbten Skelett eines Menschen, getrennt vom Schädel, das in einer Höhle im südlichen Gower gefunden wurde und schätzungsweise 18 000 Jahre alt ist.4 Es handelt sich dabei gewissermaßen um den walisischen ›Neanderthaler‹, wenn auch einer jüngeren Epoche als dieser zugehörig, ohne Zweifel ein Homo sapiens. Allerdings war daran nichts spezifisch Walisisches. Seit den Eiszeiten besiedelten Menschen die milder und lebens­freundlicher werdenden Teile Mittel- und Westeuropas. Zumal Großbritannien und Irland damals noch mit dem euro­päischen Kontinent zusammenhingen (erst um 7000 v. Chr. schmolz so viel Eis, dass sich der Meeresspiegel hob und Großbritannien als Insel aus dem Wasser stieg).

Großbritannien und mit ihm Wales waren Teil einer älteren Kultur Mittel- und Westeuropas. Diese Jäger und Sammler müssen schon umfassende gesellschaftliche Organisationsformen entwickelt haben, als sie zwischen 3000 und 2000 v. Chr. die Rituallandschaft gestalteten, als deren berühmtestes Beispiel Stonehenge herausragt. In Wales gibt es reichlich Zeugnisse dieser Kultur. Und die ›Bluestones‹, die in Stonehenge aufgerichtet wurden, stammen nachweislich aus den Presili Mountains im Südwesten von Wales, und man kann sich nur wundern, wie sie mit den damaligen Verkehrsmitteln über so beträchtliche Strecken transportiert werden konnten.

Wales war auch Teil jener bronze- und eisenzeitlichen Kultur, die nach einem wichtigen Fundort in den Alpen als La-­Tène-Kultur bezeichnet wird. Auch hier wurden die Berge mit Befestigungen versehen, welche charakteristisch waren für ­eine keltische Kultur. Man nimmt heute an, dass die Kelten zu einer große Teile Mittel- und Westeuropas umfassenden jungsteinzeitlichen und bronzezeitlichen Völkergruppe gehörten, die man nach ihrer sprachlichen Zusammengehörigkeit benennt. Diese expandierten seit etwa 500 und verstärkt im dritten vorchristlichen Jahrhundert nach Italien, über den Balkan nach Griechenland und bis zur Krim. Bei diesen Zügen stießen sie auf Mittelmeerkulturen, welche bereits die Schrift entwickelt hatten. Es gibt deshalb Zeugnisse römischer und griechischer Autoren, welche diese ›Kelten‹ bemerkt haben: So gerieten sie in den Fokus der Hochkulturen, zunächst als Barbaren am Rande, als gefährliche Bedrohung.

Ein Grieche aus Massilia, der griechischen Kolonie in Südfrankreich, mit Namen Pytheas, unternahm im vierten vorchristlichen Jahrhundert, gelockt durch die Gerüchte phönizischer Händler über Funde von Gold, Silber und Zinn am westlichen Rand Europas, eine Seereise um Spanien herum, bei der er auch Cornwall und Wales besuchte, die für Kupfer und Zinn bekannt waren, und die Britischen Inseln sowie Dänemark umrundete, um am Ende eine Schrift über den Ozean zu verfassen.

Die Römer in Wales

Damit sind wir auch schon am Kern des Rätsels, warum sich die Römer überhaupt für diese entlegene Weltgegend interessierten: Sie hatten es auf die Bodenschätze abgesehen. Zu Zeiten von Caesar und Claudius, als die Römer auf den Südosten der Britischen Insel ausgriffen, blieb Wales noch für sich; dort lebten kriegerische Stämme, die der römischen Militärmacht trotzten. Wir kennen die Bezeichnungen für diese Völkerschaften aus den Schriften der Römer: Im Südosten wohnten die wehrhaften Silures, im Südwesten die friedlichen Demetae, an der Grenze zu England die Cornovii, im Nordosten die Deceangli und im Nordwesten, hauptsächlich auf der Insel Mona (Anglesey), die Ordovices. Zwar waren diese Stämme von ihrer Bewaffnung und Organisation her den kriegsgeübten römischen Legionen in jeder Beziehung unterlegen, doch nutzten sie die Vorteile, welche ihnen unwegsames und den Römern unbekanntes Gelände boten. In diesem Guerillakrieg gegen römische Eindringlinge zeichnete sich vor allem ein Stammesführer der Silurer aus, der später als erster ›Nationalheld‹ in der walisischen Geschichte gelten sollte. Bei Tacitus heißt er ›Cara(c)tacus‹; in der walisischen Überlieferung wurde er ›Caradog‹ genannt. Dieser Kriegsheld organisierte lange erfolgreich die Verteidigung, wurde aber am Ende, als er sich, nachdem sein Heer besiegt war, einer Stammesfürstin in den Bergen anvertraute, betrogen und ausgeliefert. Die Römer brachten ihn nach Rom. Bei Tacitus findet man sogar eine (angebliche) Rede des Caratacus vor dem Senat. Er wurde schließlich freigelassen und durfte mit seiner Familie in Rom wohnen. Sein Heimatland aber wurde unterworfen.

Die Römer suchten vor allem Gold, Silber, Kupfer und Zinn, das sie auf jede mögliche Weise abbauten: Sie schürften Gold, leiteten Flüsse um und schufen künstliche Wasserbecken, um an den Goldsand heranzukommen. Sie trieben Tagebau, aber auch unter Tage teuften sie Stollen ab. Außer Edelmetallen und Zinn reizten sie am meisten Sklaven. Sie brachten auch walisische Kriegsgefangene nach Rom. Vor allem aber setzten sie die Sklaven in Wales selber als Zwangsarbeiter ein.

In den landwirtschaftlich attraktiven Gebieten, vor allem an der Südküste, trieben sie auch großflächig Landwirtschaft. Da sie aus einer mittelmeerischen Hochkultur kamen, hatten sie den Nordländern auch einiges zu bieten: Beispielsweise waren es die Römer, die den Weizen nach Britannien brachten. In günstigen Lagen bauten sie sogar Wein an. Sie machten die Waliser mit neuen Früchten bekannt wie beispielsweise dem Apfel, der seither durchgehend dort gezüchtet wird. An neuen Gemüsen brachten sie Lauch und Karotten mit. Sie bauten ›Villen‹, d. h. Landgüter, von denen aus sie die Landwirtschaft mithilfe von Soldaten und Kriegsgefangenen planmäßig betrieben.

In den zugänglichen Randgebieten von Wales schufen sie Grundlagen für ein Leben, das möglichst nahe an dem sein sollte, was sie von zu Hause gewohnt waren. Seit der erfolgreichen Expansionsphase 6883 n. Chr. errichteten die Römer auch in Wales oppida, Militärlager und Grenzfestungen gegen die keltischen Stämme, namentlich in Isca (Carleon) und in Deva (Chester). Von diesen beiden Hauptstädten aus wurde ein Netz von Straßen gebaut, bei dem jeweils in der Entfernung eines Tagesmarsches ein Stützpunkt errichtet wurde. Reste dieser Römerstraßen und Befestigungen finden sich noch heute an verschiedenen Stellen.

An ihren wichtigsten Stützpunkten schufen die Römer außer den Versorgungseinrichtungen für die Ernährung ihrer Truppen auch Bäder. In Carleon konstruierten sie sogar ein Amphitheater, eine Arena für 6000 Zuschauer, die sich von Tier- und Menschenkämpfen unterhalten lassen wollten. In Venta Silures (Caerwent) im Südosten an der Grenze zu England legten sie eine Marktstadt an mit Werft und umfassenden Hafenanlagen: Hier sollte ein Überseehafen gegründet werden, um eine Seeverbindung mit Rom herzustellen.

Anders als Schottland und Irland wurde das keltische Wales also in den Herrschafts- und Kulturbereich der Römer einbezogen. Auf die militärische Eroberung folgten drei Jahrhunderte einer infiltrierenden Romanisierung, die man, wenn sich auch wenig an schriftlicher Überlieferung findet, durch Reste von Römerstraßen, Aquädukten, Wasserleitungen, Bädern, Brücken, Villen und andere Funde archäologisch nachweisen kann.

An Schriftquellen sticht allerdings das Zeugnis des römischen Historikers Tacitus heraus, der berichtet, wie der Befehlshaber Suetonius Paullinus im Jahre 60 n. Chr. eine Expedition zur Insel Mona (Môn, Anglesey) unternahm. Er schrieb, dass dort die ›Druiden‹ ihren Hauptsitz hätten, die geistigen Führer des Widerstandes. Man sei nun darangegangen, ihre heiligen Haine zu zerstören, um ihre Macht zu brechen. Diese Leistung wurde seinem Schwiegervater Agricola zugeschrieben (79 n. Chr.).

Die römischen Soldaten brachten ihre eigenen Kulte mit. Sie verehrten verschiedene Götter, auch asiatische (Mithras). Manche von ihnen gehörten auch zu den Christen. Zur Zeit der römischen Christenverfolgung unter Diocletian wurden in Wales die ersten beiden Märtyrer auf den Britischen Inseln registriert: Julius und Aaron wurden im Jahre 308 in Caerleon hingerichtet. Doch scheint festzustehen, dass die damalige Grundbevölkerung in Wales noch nicht zum Christentum konvertiert war, als die Römer um 400 aus Großbritannien abzogen.

In die Auflösungsphase der Römerherrschaft in Britannien gehört noch ein Name, in dem manche geradezu den Gründungsheros des walisischen Volkes sehen wollen:5 ›Macsen Wledig‹ wird er in den walisischen Liedern und Legenden des Mittelalters genannt; als Römer hieß er ›Magnus Maximus‹. Dieser Heerführer stammte eigentlich aus Spanien, übernahm aber in Britannien 380 den Oberbefehl und vermählte sich auch mit einer Einheimischen aus königlicher Familie. Seine Truppen riefen ihn 383 zum Kaiser aus. Als Gegenkaiser zur Zeit des römischen Kaisers Gratian vermochte er sich einige Jahre zu halten: Er beherrschte neben Britannien auch Gallien, Spanien und die römischen Provinzen in Afrika, doch 388 wurde er besiegt und hingerichtet. In der walisischen (und überhaupt britischen) Überlieferung figuriert dieser Macsen Wledig als Held der Einheimischen im Kampf gegen die Römer. Wahrscheinlich erlangte er diesen Ruf durch kluge Bündnisse mit den einheimischen Stämmen (wofür auch seine Eheschließung spricht). Dauerhaften Erfolg hatte er freilich nicht.

Wann und wie die Römerherrschaft in Wales und in Britannien überhaupt endete, weiß niemand genau anzugeben. Ein Datum von Bedeutung stellt 410 dar, weil in diesem Jahr der Kaiser Honorius in Rom zu Protokoll gab, er könne nun keine weiteren Truppen mehr nach Britannien schicken und keine Soldzahlungen mehr gewährleisten. Wahrscheinlich verließ der Großteil der Truppen, die in ihrer Hoch-Zeit in Wales etwa 30 000 Mann stark gewesen sein mögen, die Insel bald nach 400, doch ist davon auszugehen, dass auch später noch kleinere Einheiten zurückblieben. Nicht zuletzt ist zu bedenken, dass sich die Römer ja mit den Einheimischen vermischt hatten, so dass ein Teil wohl lieber dort blieb, als nach Rom zurückzukehren.

In den drei Jahrhunderten der Römerherrschaft war es zu einer weitgehenden Symbiose gekommen, zu einer Mischkultur, die sich aus indigenen und mittelmeerischen Elementen zusammensetzte. Auch die Sprache war längst gemischt. Die Einheimischen sprachen ursprünglich Brythonisch, eine keltische Sprache, die Besatzer Latein. Aber als Vertreter einer vielfach überlegenen Kultur gaben sie zahlreiche Worte an die Einheimischen ab, welche sich in der walisischen Sprache, die sich aus der brythonischen entwickelte, bis heute erhalten haben: beispielsweise pont für ›Brücke‹ (von lat. pons) und eglwys für ›Kirche‹ (von lat. ecclesia). Obwohl auch das Englische später viele Lehnwörter aus dem Lateinischen aufnahm, unterscheidet sich das Walisische bis heute vom Englischen durch diese Wörter, an deren Stelle sich im Englischen germanische Wörter durchgesetzt haben.

Die Einwohner von Wales, welche sich mit den Römern vermischt hatten, waren im Laufe der Zeit weitgehend romanisiert worden. Als später die Angelsachsen kamen, nannten sie diese nichtgermanischen Einwohner ›Waliser‹, was möglicherweise eben nicht einfach ›Fremde‹ heißt (wie man früher gemeint hat, abgeleitet von angelsächsisch wealas), sondern ›Romanisierte‹. Dazu gäbe es Analogien in anderen Teilen Europas, nämlich in der Schweiz (›Walliser‹ in den Alpentälern), in Südtirol (›Welsche‹), in Belgien (›Wallonen‹) und an der unteren Donau (›Walachen‹).

Mittelalter

Das Zeitalter der Heiligen

Die Übergangszeit von der Spätantike zum frühen Mittelalter, die im Allgemeinen als ein ›finsteres Zeitalter‹ gilt (›Dark Ages‹), hat am Nordwestrand Europas ihren besonderen ­Charakter, weil sich hier ein weitgehend selbständiges, von Rom unabhängiges Christentum entfalten konnte. Romantische Autoren wie Ernest Renan waren sogar der Meinung, das 6., 7. und 8. Jahrhundert sei in der keltischen Christenheit eine besonders gesegnete, ursprünglich christliche und fromme Epoche gewesen.6 In der walisischen Überlieferung gilt sie als ›Zeitalter der Heiligen‹ (›Age of Saints‹). Die meisten dieser Heiligen sind außerhalb so gut wie unbekannt. Mit einer Ausnahme (St. David, 1120) wurden sie auch nie von Rom kanonisiert. Trotzdem steht fest, dass es sich um Heilige mit einem die Jahrhunderte überdauernden Ruf handelt, der sich zumeist an die Gründung von Kirchen und Klöstern heftete und insofern heute noch topographisch erkennbar ist.

Zahlreiche Dörfer in Wales beginnen mit ›Llan‹, meist übersetzt mit ›Kirche‹, aber gemeint ist eigentlich der geheiligte Bezirk, in dessen Zentrum gewöhnlich eine Kirche stand. Auf dieses Wort ›Llan‹ folgt der Name eines Heiligen, der diese Kirche gründete oder zu dessen Ehren sie so benannt wurde: ›Llandaff‹, ›Llanberis‹, ›Llandudno‹ … Fast die Hälfte aller Ortsnamen in Wales beginnt so. Allein aufgrund dieser Benennungen schon erscheint Wales als ein von christlichen Heiligen durchstrukturiertes Land.

Die ersten Kirchen- und Klostergründer waren meist Asketen: Männer, welche sich von den übrigen dadurch abhoben, dass sie sich körperliche Genüsse versagten oder besondere Strapazen auf sich nahmen. Von St. David zum Beispiel berichten die Heiligenviten, dass er sich von Wasserkresse ernährte und in eiskalten Flüssen oder Teichen bis zum Hals stand. Solche Männer, die das Evangelium predigten und danach zu leben versuchten, sammelten Gleichgesinnte um sich, Anhänger und Nachahmer. Sie gründeten klösterliche Gemeinschaften, in denen sie nach dem Ideal der Bedürfnislosigkeit und Armut lebten. Aber ihre Gemeinschaften waren auf anderen Prinzipien aufgebaut als die späteren Klöster. Man musste nicht unbedingt ehelos und besitzlos leben. Ja, die keltische Form des Klosterlebens zog sogar besonders die sozial Führenden an. Ein Klostergründer konnte sein Kloster auch an leibliche Nachkommen vererben. Oft lebten ganze Sippen in so einem Kloster beisammen: Die weltliche Sozialstruktur hatte sich an die christliche Gemeinschaftskultur angepasst.

Im Christentum der frühen Jahrhunderte bestand ein reger Austausch über die ›Western Seaways‹: Das bekannteste Beispiel ist St. Patrick, ein ehemaliger römischer Soldat in Britannien, der in irische Kriegsgefangenschaft geriet, freikam, nach Britannien zurückkehrte und dann als christlicher Missionar nach Irland ging. So bestanden enge Beziehungen zwischen Irland und Wales, England und Irland, Irland und Schottland, Irland und England. Aber auch Gebiete jenseits des Kanals waren in dieses Geflecht einbezogen, die Normandie etwa und die spätere Bretagne (›Klein-Britannien‹).

Diese enge Kommunikation im Bereich der ›Western Seaways‹ weist andererseits darauf hin, dass die Beziehungen zum Kontinent, auf dem diese Epoche im Zeichen der ›Völkerwanderung‹ stand, gestört waren. Für das Christentum bedeutete das, dass es sich in seinen keltischen Formen unbeeinträchtigt von außen entwickeln konnte. Das römische Papsttum setzte sich erst allmählich im Laufe des Mittelalters als Norm und Zentrum durch. Auch in Wales lebten zahlreiche Menschen, die sich als ›Christen‹ betrachteten, ohne sich nach dem Papst zu richten.

Das keltische Christentum unterschied sich vom römischen hauptsächlich dadurch, dass es keine Hierarchie bildete. Vielmehr handelte es sich um Affiliationen von Gruppen, die sich an bestimmten Heiligen orientierten. Sie hatten eine eigene Form der Taufe entwickelt. Die Mönche trugen eine andere Art der Tonsur (geschoren am Vorderkopf, langwachsende Haare hinten). Der Ostertermin wurde anders berechnet.

Im Prinzip folgten die keltischen Christen zwar derselben Doktrin wie die römischen, aber es fällt doch auf, dass ein wichtiger Teil der Glaubenslehre von einem Mann herausgefordert wurde, der zeitweilig in Wales lebte und den größten Teil seines Lebens in Rom verbrachte, wo er sich für seine Lehre verantworten musste: Pelagius (um 354 bis nach 418). Seine Auffassung des Christentums unterschied sich vor allem in der Erbsündenlehre. Indem er die Erbsünde ablehnte, also den Glauben, dass allen Menschen seit Adam grundsätzlich etwas Böses angeboren sei, nahm er möglicherweise Grundanschauungen vorchristlicher Zeit aus seinem Herkunftsbereich auf. In der keltischen Kirche waren und blieben viele ›Pelagianer‹, während sich in der römischen Kirche Aurelius Augustinus, der Bischof von Hippo (354430), durchsetzte mit seiner Erbsündenlehre. Diese wurde auf mehreren Konzilen diskutiert. Der Papst schickte 429 einen Bischof (und Heerführer!) Germanus nach Britannien, um zu schlichten. Der Pelagianismus wurde 431 auf dem Konzil von Ephesus endgültig verurteilt und die Erbsündenlehre im Sinne des Augustinus dogmatisiert.

Für die Britischen Inseln, auf denen sich das Christentum allmählich auch im Bereich der Angelsachsen ausbreitete, wurde die Synode von Whitby 664 entscheidend, auf der sich der König von Northumbria von St. Wilfried dazu bekehren ließ, die römische Form des Christentums anzunehmen. Von da an stand auch die keltische Kirche unter Anpassungsdruck. Die Kirche in Wales hielt sich noch etwa hundert Jahre zurück. Aber seit dem späten 8. Jahrhundert schlossen sich auch die Bischöfe in diesem Bereich der römischen Osterrechnung, dem Taufritus und der Erbsündenlehre an.

Die Traditionen, die sich im ›Zeitalter der Heiligen‹ aufbauten, gruppieren sich um bestimmte Kirchen und Klöster als Zentren. Diese bilden architektonische Kerne, die anfangs meist nur aus Holz und Lehm, später aus steinernen Nach­folgebauten bestanden und an denen sich die Erinnerung ­topographisch fixieren konnte. Was wir inhaltlich über die keltischen ›Heiligen‹ wissen, entstammt zumeist späteren Biographien, die Lehrer-Schüler-Verhältnisse und Kloster-Affiliationen legitimieren.

Als ältester überlieferter Name wird St. Dyfrig genannt (wohl um 475), der anscheinend eine Art von Bischof in Erging war. Der heilige Illtud, der um 525 gestorben sein muss, ist uns aus einer Biographie des heiligen Samson aus dem 7. Jahrhundert bekannt. Dort wird er als Schüler des Germanus von Auxerre dargestellt und als Führungsfigur der Christen in Wales. Er gründete Llantwit Major, das für die Verbreitung des Christentums in Wales höchste Bedeutung gewinnen sollte. Ihm wird besonders hohe Gelehrsamkeit zugeschrieben. Das Hervortreten asketischer Züge ist offenbar eine Sache späterer Generationen.

Der hl. Samson, gebürtig aus Südwales, war ein Schüler des hl. Illtud, der etwa 485 bis 565 lebte. Er wurde Abt von Piro (heute: Caldey Island) und gründete eine ganze Reihe von Klöstern in Irland und in Cornwall. Er starb in der Bretagne in dem von ihm gegründeten Kloster Dol und wird nach diesem auch Samson von Dol genannt.

Mit St. Beuno (6./7. Jahrhundert) reichen wir in eine offenkundig heidnische Tradition zurück, da man ihm als besondere Wundergabe zuschrieb, Enthauptete wieder mit ihrem Kopf zusammenzubringen. Außerdem soll er, der in Berriew geboren wurde, als erster Waliser die englische (angelsächsische) Sprache vernommen haben, was ihn dazu veranlasste, vom Severn nach Gwynedd zu fliehen, wo er das Kloster Clynnog Fawr gründete.

Drei Führungsfiguren der Generation nach St. Illtud sind in der Überlieferung ausgezeichnet dadurch, dass man ihnen zuschrieb, sie seien vom Patriarchen von Jerusalem zu Bischöfen geweiht worden: St. Teilo, St. Padarn und St. David. St. Teilo (6. Jahrhundert) ist der Gründer der Kirche von Llandeilo Fawr. Nicht weniger als fünfundzwanzig Kirchen in Wales führen sich auf ihn zurück. St. Teilo pflegte ebenfalls Beziehungen in die Bretagne, wo verschiedene Kirchen mit ihm in Verbindung gebracht werden und wo er als Patron der Pferde und der Apfelbäume gilt.

St. Padarn (6. Jahrhundert) gründete das klösterliche Zen­trum in Llanbadarn Fawr (Ceredigion). Er gehört zusammen mit St. Teilo und St. David zu den drei Führungsfiguren, die in der keltischen Dichtung Triodd Ynys Prydain als die ›drei gesegneten Ankömmlinge auf der Britischen Insel‹ gepriesen werden.

St. David schließlich, der bedeutendste von allen: Er gilt noch heute als Patron von Wales; sein Namenstag am 1. März ist der Nationalfeiertag der Waliser. Nicht weniger als sechzig Kirchen in Wales sind nach ihm benannt, als wichtigste die Bischofskirche am südwestlichen Ende der Halbinsel, das Hauptwallfahrtszentrum in Wales. Wahrscheinlich starb St. David im Jahre 589. Fast alles, was über ihn bekannt ist, wissen wir aus einer lateinischen Vita aus dem 11. Jahrhundert von Rhigy­farch, der ein Sohn des Bischofs Sulien von St. David’s war. Nach der Vita des Rhigyfarch wurde David von seiner Mutter, der hl. Non, einer Nonne, bei einer Quelle oberhalb des Meeresufers in der Nähe der späteren Stadt St. David’s geboren, die heute durch eine Kapelle markiert ist. Die Nonne Non soll von einem König von Ceredigion mit Namen Sant vergewaltigt worden sein und dann den hl. David zur Welt gebracht haben. Sein Biograph schreibt ihm eine Wallfahrt nach Jerusalem zu und hebt stark die asketischen Züge im Zusammenhang mit Wasser hervor: Ernährung nur mit Brot und Wasserkresse, als Trank nur Wasser, Abtötung des Fleisches durch Stehen in kaltem Wasser usw. Seine kirchenpolitische Bedeutung liegt darin, dass er auf einer Synode in Llanddewi Brefi gegen den Pelagianismus aufgetreten sein soll. Zur Hervorhebung dieser Episode hat sich der Hagiograph ausgedacht, dass sich manche aus der Versammlung beklagt haben sollen, den Redner schlecht zu verstehen, worauf sich die Erde hob und ein Hügel unter den Füßen des hl. David entstand. Schließlich senkte sich auch noch bei seiner entscheidenden Rede eine weiße Taube vom Himmel hernieder, die auf seiner Schulter Platz nahm. Unter den Aussprüchen dieses Heiligen ist vor allem einer in die Tradition eingegangen. St. Davids letzte Worte sollen gewesen sein: »Ihr Herren, Brüder und Schwestern, seid fröhlich und haltet fest an eurem Glauben, und tut die kleinen Dinge, die ihr von mir gehört und gesehen habt.«

Die nach ihm benannte Gründung wurde zum geistlichen Mittelpunkt dieser geographisch und ethnisch besonders eng mit Irland verbundenen Landschaft (Dyfed). Die Anglonormannen übernahmen die Verehrung dieses wichtigen Heiligen. Die Bischofskirche von St. David wurde im 12. Jahrhundert zum kirchlichen Mittelpunkt für den Süden von Wales.

Das Eindringen von Angelsachsen aus dem Osten

Die Macht- und Bevölkerungsverhältnisse auf den Britischen Inseln änderten sich in der Zeit nach der Römerherrschaft nur allmählich, aber mit dauerhaften Folgen für die seitherige ­Geschichte. Das Machtvakuum, das die Römer hinterließen, geriet gleich von drei Seiten her unter Druck: Von Norden drangen die Pikten nach Süden vor und von Irland her gälische Völkerschaften. Und seit dem 4. Jahrhundert schon kamen, teilweise innerhalb des römischen Heeresverbandes, auch Germanen nach Britannien, vornehmlich von der südlich und östlich von England gelegenen Nordseeküste: Angeln, Jüten und Sachsen. Sie setzten sich gegen die einheimische Bevölkerung in England durch und bildeten mehrere kleine König­reiche.