Ingvar Ambjørnsen

 

SAN SEBASTIAN BLUES

 

Roman

 

Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs

CulturBooks Verlag

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Impressum

Digitale Neuausgabe: © CulturBooks Verlag 2016

Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg

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Alle Rechte vorbehalten

Deutsche Erstausgabe, Printfassung: © Edition Nautilus Verlag Lutz Schulenburg, 1989

Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj

eBook-Herstellung: CulturBooks

Erscheinungsdatum: 15.2.2016

ISBN 978-3-95988-007-7

Inhaltsverzeichnis

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Leseprobe: »Die mechanische Frau«
cover

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Nachdem ich drei Stunden gelaufen war, verschmälerte sich der Pfad immer mehr und bog nach Norden ab, bergauf. Das Wetter war grau, Regen hing zwischen den Bergen. Links fiel eine Felswand steil zu einem engen Pass ab, rechts erhob sie sich senkrecht 20, 30 Meter und ragte dann wie ein Halbdach über mir. Ich fühlte mich gleichzeitig beklommen und schwindlig. Erdrückt unter den gewaltigen Steinmassen, von Höhenangst gequält, wann immer ich einen Blick nach unten warf.

Nach einigen Hundert Metern führte der Weg vom Pass fort und meine Nerven kamen langsam zur Ruhe. Das heißt, meine Todesangst verschwand. Jetzt hatte ich nur noch meine Angst davor, was das Leben mir antun könnte. Der Weg führte durch eine Spalte nach oben. Ein armer Boden hatte einigen genügsamen Gewächsen Leben gegeben, grünen Flecken auf braunrotem Stein. Ich versuchte, Spuren von Menschen zu finden, die in der letzten Zeit hier gegangen waren, aber als Spürhund habe ich noch nie besonderen Erfolg gehabt. Der

Boden bestand aus groben Steinen, die oft messerscharf waren. Obwohl es diesen Pfad schon hundert Jahre oder länger gab, war das Verkehrsaufkommen bescheiden gewesen. Ab und zu ein Jäger. Oder ein Hirte mit seiner Herde. Vielleicht das eine oder andere Liebespaar aus dem Dorf.

Oben auf dem Höhenzug setzte ich mich auf einen Stein und zündete mir eine Zigarette an. Von hier aus hatte ich Aussicht auf eines der unzähligen kleinen Seitentäler des Tals von Roncal. Ein schönes grünes Tal mitten in der öden Landschaft an der Grenze zu Aragon. Dicht unter dem Berg auf der Westseite lag die Hütte. Sie war aus grauem Stein und groben Brettern gebaut. Eigentlich war sie recht geräumig, aber die Ausmaße der Steinblöcke um sie herum, ganz zu schweigen vom Berg, der dahinter aufragte, ließen sie klein und unansehnlich wirken.

Alles war so wie in meiner Erinnerung. Meine Beziehung zu diesem Bergland hatte damit angefangen, dass Vidar und ich, zusammen mit einer zufälligen Clique, auf dem Boden einer Bar in Barcelona einen alten Jäger gefunden hatten. Statt über ihn hinweg zu klettern, hatten wir ihn mitgeschleift und Vidar hatte sogar die Finger von seiner Brieftasche gelassen. Er, der alte Esteban, hatte uns hierhergeführt. Wir hatten mitten in den siebziger Jahren zwei Sommer hintereinander hier oben verbracht. Ein Schlaraffenleben für erschöpfte Stadtratten.

Ich blieb lange sitzen und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Das einzige, was sich in meinem Blickfeld bewegte, waren zwei Milane, die unter mir am Hang spielten. Mächtige schwere Flügelschläge, unbeholfen, ehe sie wirklich hochgekommen waren und Luft unter die Federn bekamen. Die rotbraunen Körper schnellten hierhin und dorthin, zwischen Geröll und Gebüsch.

Der Gedanke an den langen Rückweg brachte mich schließlich dazu, mich zu erheben.

Irgendwer hatte seit meinem letzten Besuch die Hütte instandgesetzt. Ich wusste, dass der alte Jäger gestorben war, aber sicher hatte er eine Familie. Einige Windbretter, die von Hausbock und Fäulnis fast pulverisiert gewesen waren, waren durch imprägnierte Bretter ersetzt worden. Hier und dort war jemand zwischen den Steinen mit Zement zu Werk gegangen. Ein Fenster war erst kürzlich eingesetzt worden. Auf den groben Schieferplatten vor der Hütte lagen frische Holzspäne bei einem Hackklotz, die Axt fehlte jedoch. Ein Holzlager war ordentlich an der Wand aufgestapelt.

Die Tür war aus ungehobelten Kieferbrettern zusammengesetzt. Ich öffnete sie einen Spalt breit und merkte, dass mein Zwerchfell sich verkrampfte. Gott weiß, wovor ich mich eigentlich fürchtete.

Das Wohnzimmer war sauber und ordentlich. Vor dem Kamin lagen eine Schachtel Streichhölzer und ein Stapel El País, Auch eine Kaffeekanne stand auf dem Boden, auf einem Tisch gleich daneben sah ich eine halbleere Kaffeetasse ohne Henkel. Daneben lagen eine halbvolle Packung Marlboro und ein Wegwerffeuerzeug. Im Sessel am Fenster, meinem alten Lieblingsplatz, lag ein zusammengeknülltes hellblaues Hemd, Marke »Boss«. Als ich dieses Hemd zuletzt gesehen hatte, hatte es wie angegossen auf Vidar Skeies guttrainiertem Körper gesessen und er hatte mir 50.000 schnelle Flocken hingeblättert, damit ich ihm eine Adresse besorgte.

Das Schlafzimmer war leer. Ein ungemachtes Bett, ein voller Aschenbecher auf dem Steinboden. Die Küche war ein Chaos aus schmutzigem Geschirr und leeren Weinflaschen.

Ich ging ins Wohnzimmer zurück und setzte mich in den Sessel. Ich empfand nichts, ich war leer, blank, ausgeblasen. Eine große blauschwarze Fliege surrte durch das Zimmer und prallte in regelmäßigen Abständen gegen die Fensterscheibe. Das Brummen des Insektes erinnerte mich wieder an diesen Sommertag in meiner Kindheit und an den Jungen, der im sonnenversengten Gras auf den Knien gelegen hatte und dem das Auge langsam durch die Finger geflossen war. Was hatte er empfunden, was hatte er gedacht? Wer war er? Und ich dachte an Vidar, an den Dieb, der sich mit größter Selbstverständlichkeit genommen hatte, was er für sein Eigentum hielt. Und einen Moment lang sah ich mich selber, wie ich schwitzend auf dem schwankenden Zaun stand und alles mit entsetzter Neugier beobachtete. Mir ging auf, dass ich mich mein ganzes Leben lang in dieser Position befunden hatte.

Das war keine schmerzliche Erkenntnis. Ich war auf dem Spielfeld, vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben, aber ich war leer. Und während sich die Dämmerung über die öde Landschaft draußen senkte und die weißen Geier sich im Schatten der großen Geier versammelten, wusste ich, dass niemand im Dorf mich hatte kommen oder gehen sehen und niemand hatte mir Quartier, zu essen oder zu trinken gegeben. Und als ich Lisa Monradsen. die mit dem Mietwagen sicher inzwischen Figueras erreicht hatte, einen neutralen Gedanken widmete, hörte ich Schritte, die sich der Hütte näherten. Stiefel auf den ausgetretenen Steinplatten.

Jetzt kannst du kommen, dachte ich. Jetzt kannst du ruhig kommen.

Über das Buch

In seinem Roman geht es Ingvar Ambjørnsen um eine Unterweltverwicklung zwischen Oslo und San Sebastian: Ein verwirrendes Geflecht aus Alkohol, Flucht, Mord, Heroin, einer Liquidierung und dem großen Geld.

Alex, ein ehemaliger Journalist, der sich als Schriftsteller beweisen möchte, wird in eine mysteriöse Affäre hineingezogen. Er trifft seinen Jugendfreund Skeie, der in dunkle Geschäfte verwickelt ist und sich auf der Flucht befindet. Alex inspiriert die Figur seines Freundes zu einer Verbrecherbiografie. Als an der norwegisch-schwedischen Grenze eine Leiche gefunden wird, kommen einige Dinge ins Rollen, und der Schauplatz der Geschichte wechselt nach San Sebastian.

In diesem wie ein Thriller geschriebenen Roman beleuchtet Ingvar Ambjørnsen die Rolle des Schriftstellers als »Voyeur«, als einen, der in das Leben anderer eingreift, es auf- und aussaugt und selbst als Unbeteiligter im Hintergrund bleibt. Diese parasitäre Haltung beginnt Alex im Laufe seiner Nachforschungen zu begreifen. Und so wird die Reise mehr und mehr auch zu einer Begegnung mit sich selbst.

»Leicht und unaufdringlich trifft Ambjørnsen den Jargon der Szene und mit schlafwandlerischer Sicherheit diesen »I’ve got the Blues«-Ton.« Hamburger Abendblatt

Über den Autor

Ingvar Ambjørnsen, geb. 1956 in Tønsberg, Norwegens kneipenreichster Stadt, aufgewachsen in Larvik. Nicht vollendete Gärtnerlehre und mancherlei Jobs in Industrie und Psychiatrie. Erste Buchveröffentlichung 1981: »23-salen«, seitdem zahlreiche Romane, Welterfolg mit den »Elling«-Romanen. Lebt seit 1985 in Hamburg. Bei CulturBooks erscheinen seine frühen Kriminalromane »Stalins Augen« (1989) und »Die mechanische Frau« (1991) und der Roman »San Sebastian Blues« (1990) als digitale Neuauflagen. Ingvar Ambjørnsen wurde 2012 mit dem Willy-Brandt-Preis ausgezeichnet.

 

Ebenfalls bei CulturBooks als eBook erhältlich:

 

Ingvar Ambjørnsen: »Stalins Augen«

 

Die Privatdetektive Ronny und Laila Olsen leben in Oslo und verdienen ihr Geld normalerweise mit der Beschattung untreuer Eheleute. Das ändert sich, als ihr Freund Bernhard tot aus dem Hamburger Hafen gezogen wird.

 

Die Ermittlungen des Schnüfflerpaares führen über Hamburg zum KZ Neuengamme, in dem Bernards Vater 1945 Zeuge wurde, wie sich ein russischer Kriegsgefangener freizukaufen versuchte – mit mysteriösen Diamanten aus der UdSSR. Diesen Diamanten war Bernard auf der Spur, und schnell befinden sich auch Laila und Ronny auf der Jagd nach »Stalins Augen« …

 

Ingvar Ambjörnsens hervorragend beobachteter Roman illustriert die letzte Phase des Kalten Krieges aus der Sicht seiner beiden Antihelden und attackiert unterhaltsam und schwarzhumorig verdrängte deutsche Vergangenheit

 

»Der Roman, der Ingvar Ambjörnsen in die Reihe der Vertreter einer Kriminalliteratur stellt, die sich am Gesellschaftsroman orientiert, überzeugt durch seine direkte und zeitnahe Sprache.« LISTEN

 

»Stalins Augen ist humorvoll, spannend, böse – wie ein Krimi sein soll.« Die Welt

1

Mit der Kleinen lief wieder alles daneben. Sie konnte nicht eine einzige Anekdote aus dem Kindergarten erzählen und sie wollte auch nicht wissen, warum der Himmel blau war, und das Wasser nass. Ihr Blick sagte mir, dass sie schon halbwegs in ihrem geistigen Teddybärenreservat war, zu dem Jedes-dritte-Wochenende-Väter keinen Zutritt haben.

»Ich freu mich auf den Sommer«, sagte ich. »Dann können wir draußen sitzen und gar nichts tun. Wie findest du das?« Ich gab der Fernschaltung einen Klaps und die blöde Visage von Bugs Bunny tauchte auf der Mattscheibe auf.

»Meinste vielleicht, das wär witzig?«, fragte sie, den Mund voller Salzlakritz.

»Nein«, sagte ich. »Das ist nicht witzig.«

Ich stand auf und ging in die Küche, um mir ein Bier zu holen.

»Ich glaub, das hat keinen Zweck, Alex«, sagte Toril, als ich dem Halben den Hut abschlug. Sie sah beim Reden Thor an und Thor tat so, als passierte draußen vor dem Fenster etwas Spannendes.

»Nein, sieht nicht so aus«, antwortete ich. »Hoffentlich habt ihr für dieses Wochenende nicht die große Supersause vor.«

»Wir haben überhaupt nichts vor«, sagte sie. »Wie sollten wir auch?«

Thor meinte: »Vielleicht hatte die Psychologin recht. Vielleicht ist das für sie wirklich zu viel Hin und Her.«

Toril stöhnte und machte ein ziemliches Theater wegen ihres wunden Rückens, als sie zum Küchenschrank hinüberging, um die Thermoskanne zu holen. »Warum hast du bei der Zeitung aufgehört?« fragte sie. »Hast du mit deinem Schmöker so massenhaft Flocken abgezockt, dass du deine Einkünfte begrenzen musstest? Oder hattest du Angst, die Druckerschwärze der Tagespresse könnte deinen guten Namen als Schriftsteller versauen?«

Ich nahm noch einen Schluck. »Diese Psychofrau hat nicht recht. Heute haben alle Kinder zwei Väter und drei Paar Großeltern, das weißt du verdammt nochmal genau. Das Problem ist, dass ich den ganzen Mist nicht in den Griff kriege.« Ich leerte die Flasche und stellte sie auf den Tisch. »Und das macht mir Sorgen.«

Nun hatte ich einen Giftspritzer ins Auge erwartet, aber der kam nicht Stattdessen folgte ein langes und böses Schweigen, das Toril schließlich zerstörte, wahrscheinlich aus purer Nächstenliebe.

»Ich weiß nicht, was mit dir los ist. Aber du kommst mir genauso verwickelt vor wie ein Seemannsknoten. Und Kinder sind keine Idioten.«

»Vielleicht sollte ich mal bei Kåre vorbeischauen«, sagte Thor.

»Bleib ruhig hier«, erwiderte ich. »Keine Panik. Toril hat recht und deshalb gibt’s auch keinen Knatsch.«

Ich nahm mir ein neues Bier aus dem Kühlschrank. »Wir legen mal ein Päuschen ein. Bis sie nach mir fragt.«

Sie sahen verlegen aus.

»Und die Zeitung?«, fragte Toril und betrachtete forschend den Kaffeesatz in ihrer Tasse.

»Da war ich doch nicht fest angestellt, zum Henker«, sagte ich entnervt.

»Nein, aber es war doch zumindest ein fester Aufenthaltsort.«

»Das war diese Bude hier auch mal«, sagte ich. »Du hast dir nicht solche Sorgen gemacht, als mir dieser Aufenthaltsort durch die Lappen gegangen ist.«

»Ich gehe runter zu Kåre«, sagte Thor.

»Du bleibst!« befahl Toril.

Ich gab Thor eine seiner Bierflaschen aus meinem Kühlschrank. »Alles klar. Diese LP brauchen wir nicht nochmal aufzulegen.«

»Du bist 35«, sagte Toril. »Und du wuselst wie ein von zu Hause durchgebrannter Teenie durch die Gegend. Willst du nach dem Bohème-Image leben, das einige Rezensenten dir angehängt haben?«

»Ja«, antwortete ich. »Im Herbst gebe ich all die schweinischen Briefe heraus, die du mir damals aus Lesbos geschickt hast. ›Siecher Sex‹.«

»Fein«, sagte sie. »Das Geld zahlst du dann direkt auf das Konto der Kleinen ein. Schließlich habe ich ja das Copyright, meine ich.«

»Ach ja?«, fragte ich. »Die Alimente spuken also wieder? Mach dir keine Sorgen. Oder hab ich damit vielleicht rumgetrödelt?«

»Nein, hast du nicht. Gott weiß, wie du das geschafft hast.«

»Ja«, sagte ich und trank abermals ex. »Du kannst sicher sein, er weiß das.«

Wir legten noch zwei oder drei Runden verbales Pingpong hin, um nicht ganz aus dem Training zu kommen. In der Luft lagen weder alte Liebe noch alter Hass, es war nur ein Spiel, nur ein verdammt plattes Spiel. Wir vertrieben Thor ins Wohnzimmer zu Bugs Bunny und unserer Erbin und sowie wir zuschauerlos waren, saßen wir einfach nur noch da und betrachteten die Tropfen, die vom Wasserhahn herunterfielen und im Spülbecken landeten.

»Das war wirklich nett«, sagte ich. »Aber alles hat ein Ende.«

Ich erhob mich. »Gib ein Signal, wenn du meinst, ich kann noch etwas anders tun als Postanweisungen zu unterschreiben.«

Sie stand auf und streichelte meine Wange.

»Warum ist es zehnmal schlimmer, von einer fünf Jahre alten Frau abgewiesen als von einer dreißigjährigen vor die Tür gesetzt zu werden?«, fragte ich.

Nun war sie es, die den Kühlschrank aufsuchte. »Ich ruf dich nächste Woche an, wenn du noch dieselbe Nummer hast Hau jetzt ab und schreib dein großes Abenteuer!«

Ich ging ins Wohnzimmer, sagte »Mach’s gut« zu Thor und zwang der Kleinen einen Kuss auf. Wir waren alle drei verlegen und unbeholfen, ich musste dem allen einfach ein Ende machen und wegkommen, ehe die Verzweiflung zur Aggression wurde, ehe Decke und Wände kamen. Ich musste einen trinken, ich musste zwei trinken und ich dachte an den verdammten Frühling draußen und an das Wochenende, das überlegt werden wollte.

Einen Moment blieb ich vor dem Block stehen, drehte mir eine Zigarette und betrachtete einen Heini, der sein Auto polierte. Mir war schlecht. Das ist bloß der Frühling, sagte ich mir. Der macht dich dieses Jahr so fertig wie letztes Jahr und alle anderen Jahre auch.

Es war dieses Gefühl, nackt in die langen Nachmittage geworfen zu werden. Das gelbe Licht. Der Streusand in den Augenwinkeln, Hundescheiße unter den Schuhsohlen. Der Anblick von vor Neujahr benutzten Kondomen, sie wuchsen aus den immer weiter schrumpfenden Schneewehen heraus wie Maden aus halb aufgelösten Leichen. Die Kippen, die fallenden Eiszapfen, das steigende Dreckwasser und die verdammten Autofahrer, die alle Zweibeinigen mit klebrigem Schmutz bespritzten. Seit die Sommerzeit in Kraft getreten war, waren die Tage lang wie Lichtjahre und ich hatte nichts, womit ich sie füllen konnte. Ich lief durch Oslo im April und zerbrach mir den Kopf, ob ich irgendeinen hergelaufenen Trottel umbringen oder ob ich meine Hoffnungslosigkeit gegen mich selber wenden und kurzen Prozess machen sollte. Der Frühling hatte mich immer schon zu neuen Abgründen gelockt, zu offenen Fenstern und schwindelnd hohen Brücken, schlecht gesicherten Zugübergängen und Medizinschränkchen voller Barbiturate.

Ich fuhr stattdessen mit der Bahn in die Innenstadt und ging ins Alkoholmonopol. Der halbherzige Versuch des feigen Selbstmörders, sich selber ohne zu viel Blut und Unbehagen aus dem Weg zu räumen. Ich kaufte zwei Flaschen Whiskey und drei Flaschen trockenen Weißwein und bei Andvord erstand ich 400 weiße Blätter für den Fall, dass ich noch zukunftsgeil würde.

Dann fuhr ich nach Majorstua, wo jemand gesagt hatte, ich könnte mich bis auf weiteres wie zu Hause fühlen. Spitze. Ich habe mich noch nie irgendwo länger als bis auf Weiteres zu Hause gefühlt.

Nach einigen Gläsern am Küchentisch ging ich mit der Flasche in Gerts Arbeitszimmer, wo ich die 400 Blätter anglotzte, die sorgfältig in stramme Plastikfolie eingeschweißt auf dem Schreibtisch lagen. Je weiter ich mich dem Boden der Whiskeyflasche entgegenarbeitete, um so weißer wurden sie, immer jungfräulicher und unnahbarer. Schließlich trank ich aus und gab auf.

Und wo ich nun schon mal aufgegeben hatte, war es im Grunde das natürlichste von der Welt, mit einem Taxi ins P 17 zu fahren.

Da war das übliche alte Gewusel. Nachdem ich mich an den lebensgefährlichen serbischen Rausschmeißern (oder wo zum Henker die nun herkommen mochten) vorbeigequetscht hatte, stürzte ich mich kopfüber in das zugeräucherte Lokal. Der Geruch von verschwitzten und frustrierten Geschlechtsorganen mischte sich mit dem Dunst der viel zu teuren Getränke und ein Schauspieler, der in den letzten 15 Jahren ein bisschen Pech gehabt hatte, hing in den Armen eines joblosen Journalisten und rief, er wolle sterben, am liebsten hier und jetzt. Die Rausschmeißer eilten herbei und taten ihr Bestes. Es war so voll wie in einer versiegelten Heringsdose und es gab fast genauso wenig Luft. P 17 war ein Lokal für versoffene, erfolglose Menschen, ohne jede Zukunft, aber mit massiven Alkoholvisionen von Sommerhäusern und Värmland, frisch erschienenen Bestsellern, Durchbruch in der Filmbranche, überhaupt ganz allgemein GLÜCK. Und nun tranken und tranken und tranken sie, während sie darauf warteten, dass die große Liebe einen Blick in ihre Wirklichkeit warf und »Hallo!« sagte.

Hier konnte ich mich sicher auch wie zu Hause fühlen, bis auf Weiteres.

König Knut tauchte gegen ein Uhr auf. Mit Hof. Ich versuchte, mich in eine andere Richtung zu drehen, als ich seine breite Gestalt in der Tür sah, aber es war zu spät, er hatte mich schon auf der Netzhaut. Er schickte zwei von seinen Boys vor sich her durchs Gewimmel, damit er keine Zigarettenasche auf sein teures Jackett bekam, dann zog er einen Kamm durch die Reste seiner Behaarung und folgte den Knaben zusammen mit drei, vier jungen Tussis, die blöd genug gewesen waren, sich ins tiefe Wasser locken zu lassen. Sie waren 18, 19 Jahre alt und sahen absolut nicht so aus, als ob sie schwimmen könnten.

»Alex!« Seine Stimme war genau einschmeichelnd genug, um mich darauf vorzubereiten, dass er mich gleich mit einem rostigen Messer zerlegen würde. »Das muss doch Jahre her sein, was? Trinkst du Wein? Bestell noch eine Flasche, auf meine Rechnung.«

Ich entfernte seine Rechte von meiner Schulter. Sie war bleischwer von Ringen und dem obligatorischen Goldarmband. Er stank nach Rasierwasser und Campari.

Sein Gefolge presste sich an mich, um am Tresen Platz zu finden, aber es macht mich nicht sonderlich geil, wenn mir ein 18 Jahre alter Frauenoberschenkel in den Hintern gedrückt wird.

»In manchen Ländern ist es ganz normal, die ganze Familie mitzuschleifen, wenn man einen trinken geht«, sagte ich. »Hier bei uns sieht das bloß beknackt aus.«

Er lachte sein widerwärtiges Lachen und wieder legte sich seine väterliche Hand auf meine Schulter. »Immer noch der gute alte Alex. Noch immer dieselbe große Klappe wie eh und je. Ja, ja, davon lebst du ja schließlich, wie ich höre.«

Ich war klug genug, nicht laut herauszubrüllen, wovon er lebte.

»Wo treibst du dich denn zurzeit herum? Dichterklause auf dem Lande?«

Seine Boys und seine Tussis unterhielten sich miteinander und ich hatte das unangenehme Gefühl, dass im Grunde nur Knut und ich hier anwesend waren.

Und die Barmänner, natürlich. Aber auch wenn diese Knaben sicher ein gewisses Training in Lebensrettung hatten, wagte ich es doch nicht, mich voll darauf zu verlassen.

Ich kippte mein Weinglas, das er großzügig für mich gefüllt hatte, in mich hinein. »Mal hier, mal da.«

Ich hatte nicht vor, ihm Adressen zu verraten.

»Noch immer nichts Festes?«

»Nein.«

Er schüttelte den Kopf und sah bekümmert aus. »Du bist zu alt für dieses Leben, Alex. Du musst deinen Kram ein bisschen in Ordnung bringen.«

»Wie war’s im Knast?« fragte ich. »War der Kram da ein bisschen in Ordnung?«

»Ach, Himmel, sicher doch.« Er zwängte einen dicken Zeigefinger hinter seinen Schlipsknoten und machte dadurch die Schlinge etwas weniger tödlich. »Aber da draußen war wirklich das totale Chaos, bis ich gekommen bin.«

»Ich muss jetzt gehen. Ich bin blau.«

»Aber doch jetzt noch nicht, Alex! Blau? Bock auf eine Nummer mit der kleinen Anita hier?« Seine Hand verschwand von meiner Schulter und ich hörte, wie er ihrer Arschbacke applaudierte. »Die Frau ist wirklich ein heißer Ofen!«

»Was willst du eigentlich?« Ich füllte mein Glas noch einmal.

»Was ich will? Will ich denn etwas?«

»Aus dem Weg!«, sagte ich. »Sonst muss ich dir in die Tasche pissen!« Ich hatte meine Stimme ein paar Takte lauter gedreht und einer seiner Handlanger drehte sich erwartungsvoll um. König Knut winkte ab und setzte mir seinen Zeigefinger auf den Solar Plexus.

»Na gut, Alex, ich sag dir, was ich will! Ich will den ganzen Vidar Skeie auf einem silbernen Tablett!«

Das war immerhin eine gute Nachricht. Ich hätte König Knut dieses Gericht auch nicht servieren können, wenn ich es noch so gern gewollte hätte.

»Ich hab den Knaben seit Monaten nicht mehr gesehen«, sagte ich und entfernte seinen Zeigefinger.

»Das weiß ich. Das heißt, ich glaube es, wenn du es sagst. Aber wenn er kommt, Alex – und früher oder später kommt er zu dir – dann will ich ihn haben. Habe ich so langsam und deutlich gesprochen, dass du alles verinnerlicht hast?« Er fischte einen Parker aus der Tasche und kritzelte eine Telefonnummer auf eine Serviette. »Hier. Tag und Nacht.«

Ich nahm die Serviette und wischte mir damit die Oberlippe ab, ehe ich sie in der Jackentasche verschwinden ließ. »Was hat er denn angestellt? Hat er schon wieder deine VISA-Karte gemopst?«

Er steckte sich an der alten eine neue Prince an. »Ich glaube, ehrlich gesagt, nicht, dass dich das so besonders interessiert, oder?«

Damit hatte er im Grunde recht, wenn ich mir das so überlegte. Es war mir ganz einfach schnurz, was diese beiden Ärsche miteinander trieben und wie sie es machten. Das einzige, was mich wirklich interessierte, war mein eigenes Wohlergehen. Und deshalb musste ich meine Nase möglichst weit aus den Arschlöchern von Vidar Skeie und König Knut heraushalten.

»Und der Finderlohn?«, fragte ich, vor allem, um etwas zu sagen.

»Tja. Zwei ganze Kniescheiben und zwei Flaschen Wein, was hältst du davon? Soll ich noch eine bestellen?«

»Ich glaube, es reicht«, sagte ich.