Über das Buch:
Britische Kolonien, Massachusetts, 1763. Susanna ist die Tochter einer wohlhabenden Pfarrersfamilie, die in vornehmen Kreisen verkehrt. Sie hat das Herz auf dem rechten Fleck und unterrichtet die Töchter armer Witwen. Doch ihr scharfer Verstand sehnt sich nach höherer Bildung, die ihr als Frau verwehrt blieb, und ihr Herz nach einem ebenbürtigen Gesprächspartner. Da wird ihr Benjamin vorgestellt, ein mittelloser Anwalt mit unkonventionellen Ansichten. Susanna gerät in höchste Gefahr, als sie seine heimlichen Aktivitäten gegen die britische Kolonialmacht unterstützt. Doch während die Vertrautheit zwischen ihnen wächst, scheint der Abgrund zwischen ihren Welten immer größer zu werden …

Über die Autorin:
Jody Hedlund lebt mit ihrem Mann, den sie als ihren größten Fan bezeichnet, in Michigan. Ihre 5 Kinder werden zu Hause unterrichtet. Die Zeit, die ihr neben dieser Tätigkeit noch bleibt, widmet sie dem Schreiben.

Kapitel 8

Susanna drückte ihr Ohr an die Tür zum Arbeitszimmer. „S’il vous plaît“, wiederholte sie flüsternd die Worte des Lehrers, der William seine Französischstunde gab. Obwohl sie versuchte, die Sprache zu erlernen, hatte sie noch Probleme mit der Aussprache.

Der Lehrer ihres Bruders fuhr fort, aber seine Stimme wurde durch die dicke Walnusstür stark gedämpft.

„Auriez-vous l’obligeance“, wiederholte sie seine Worte.

Mit den Bruchstücken, die sie bei den seltenen Gelegenheiten, wenn sie Williams Unterricht belauschen konnte, aufschnappte, machte sie dennoch gewisse Fortschritte.

Aber das genügte ihr nicht. Ihre Finger wanderten zum Türgriff.

Wenn sie nur neben William sitzen könnte, statt das Lernen auf die seltenen Stunden beschränken zu müssen, wenn ihre Mutter nicht im Haus war.

Mutter hatte ihr nicht verboten, Williams Unterricht zu belauschen. Noch nicht. Streng genommen tat sie also nichts Verbotenes, wenn sie zuhörte. Trotzdem behielt sie für sich, was sie tat, da sie ihrer Mutter keine Gelegenheit geben wollte, ihr diese kleine Freude zu verwehren.

Am anderen Ende des Flurs quietschten die Angeln der Haustür und sie öffnete sich schwungvoll. Ein kalter Windstoß erfasste die Tür und drückte sie knallend gegen die Wand.

Susanna zuckte zusammen und entfernte sich schnell von der Arbeitszimmertür, damit ihr niemand auf die Schliche kam.

Als ihr Vater durch die Haustür trat, wich die Anspannung aus ihrem Körper. Wenn Vater den Verdacht hegte, dass sie Williams Unterricht belauschte, würde er wie immer so tun, als hätte er nichts bemerkt.

„Guten Tag, Vater.“

Er schaute mit zusammengekniffenen Augen in den halbdunklen Flur. Als er sie bemerkte, lächelte er. „Susanna! Wie geht es meinem Sonnenschein?“

„Ich habe die Mädchenschule schon beendet und die Mädchen nach Hause geschickt.“ Sie nahm seinen Hut und half ihm aus dem Mantel.

„Ich bewundere deine Entschlossenheit, diese armen Mädchen zu unterrichten. Du bist eine erstaunliche Frau.“ Er drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Der würzige Geruch von Tabak lag in seinem Atem.

„Und wie geht es Mr Arnold?“, fragte sie und tätschelte seine Wange.

Er warf einen Blick durch den leeren Flur zur offenen Salontür.

„Keine Sorge. Mutter ist mit Mary immer noch bei ihren Hausbesuchen.“ Sie wussten beide, dass es Mutter nicht billigte, dass er zu Hause seine Pfeife rauchte und dass er, um den Frieden im Haus nicht zu gefährden, zum Rauchen oft in Arnolds Taverne ging.

Vater tätschelte ebenfalls ihre Wange. „Ich habe dort deinen Freund getroffen.“

„Meinen Freund?“

„Den Anwalt. Mr Ross.“

Ihr Herz schlug schneller. „Mr Ross ist heute in Weymouth?“

„Er hatte eine Nachricht von Mr Cranch für Mary.“

Hatte Ben auch für sie eine Nachricht? Aber obwohl ihr diese Worte auf der Zunge lagen, schluckte sie sie schnell hinunter. Sie durfte nicht zu eifrig erscheinen und auf keinen Fall das Risiko eingehen, ihren Kontakt zu Dotty zu verraten.

„Offenbar möchte Mr Cranch am Samstagnachmittag gern zu Besuch kommen.“

„Mary freut sich bestimmt, ihn wiederzusehen.“ Das war eine starke Untertreibung. Seit sie letzte Woche am Strand gewesen waren, konnte Mary an nichts und niemand anderen mehr denken als an Mr Cranch. Susanna weigerte sich zuzugeben, dass es ihr mit Mr Ross genauso ging. Sie redete sich ein, dass sie nur in Bezug auf die Situation mit Dotty an ihn dachte, wenn überhaupt.

Vielleicht konnte sie einen Vorwand finden, um ihm den Brief in Arnolds Taverne zu bringen. Sie konnte es nicht erwarten, ihm die Informationen zukommen zu lassen, die sie über Dottys Herrn in Erfahrung gebracht hatte.

Vater war schon auf dem Weg in den Salon.

„Nach dem Unterricht hat eines meiner Mädchen heute erwähnt, dass ihrer Mutter die Wolle ausgegangen ist“, rief sie ihm nach, um einen Grund zu finden, Ben aufzusuchen. „Sagst du Mutter bitte, wenn sie nach Hause kommt, dass ich Anna Morris etwas Wolle bringe?“

„Natürlich.“ Ihr Vater winkte ihr nach. „Du bist genauso wie deine Mutter. Du denkst immer an diese armen Frauen und sorgst dich um sie. Es ist für die Frauen ein Segen, dass du ihnen hilfst.“

Susanna schob die Schuldgefühle wegen der kleinen Lüge schnell beiseite. Sie würde Mrs Morris ihre Wolle bringen. Wenn sie dabei zufällig an der Taverne vorbeireiten sollte, könnte es nicht schaden, kurz anzuhalten, um Ben den Brief zu geben.

Sie packte einen Beutel mit Wolle zusammen und steckte ihren Brief mit hinein. Sie war dankbar, dass Tom Mutter begleitete. So entging sie seinem forschenden Blick, der sie daran erinnerte, dass das, was sie tat, mit Gefahren und Täuschung verbunden war. Er würde sicher darauf beharren, sie zu begleiten, auch wenn seit Einsiedlerkrebs-Joes Prozess vor drei Wochen niemand mehr zu Schaden gekommen war. Offenbar hatte Braintrees Pastor Wibird viel Erfolg damit, den Mann zu läutern – viel mehr, als sie erwartet hatte.

Trotzdem lief ihr ein leichtes Schaudern über den Rücken, als sie sich auf ihren Damensattel setzte und ihre Unterröcke glatt strich. Sie zwang sich, ihr Unbehagen zu ignorieren, und lenkte ihre Stute im Galopp die Straße hinab, die sie zur Küste und zu Arnolds Taverne bringen würde.

Der Wind bewegte die Blätter und wehte sie von den Bäumen. Leuchtendrot, glühendorange und feuriggelb wirbelten sie auf die Straße und bedeckten sie wie einen bunten Teppich. Der kühle Wind streifte Susannas Wangen und Haare und schien fest entschlossen zu sein, ihre Frisur aufzulösen.

Nach mehreren Meilen lenkte sie ihr Pferd auf die Küstenstraße. Als sie zwei Soldaten des Königs entdeckte, die aus der Gegenrichtung auf sie zukamen, verlangsamte sie die Stute und lenkte sie an den Straßenrand.

Sie erkannte die steifen Schultern und die stolze Haltung des Soldaten, der voranritt – Lieutenant Wolfe.

Er brachte sein Pferd direkt neben ihr scharf zum Stehen und sah sie mit einer Arroganz an, die im Umgang mit einer Frau aus ihrer gesellschaftlichen Schicht ungewöhnlich war.

„Wenn das nicht Miss Smith ist!“ Seine Stimme war genauso schroff und unfreundlich wie damals zu Ben am Strand.

„Guten Tag, Lieutenant Wolfe.“ Sie richtete sich auf und fühlte sich etwas unbehaglich, weil sich ihre Haare aus dem sauberen Knoten, den Phoebe ihr gemacht hatte, gelöst hatten und jetzt großzügig um ihr Gesicht wehten.

„Oh ja. Ich darf nicht vergessen zu erwähnen“, fügte Lieutenant Wolfe hinzu und schaute sie mit zusammengekniffenen Augen an, „die loyale Miss Smith.“

„Das ist richtig. Ich bin loyal.“ Er stellte doch gewiss ihre Loyalität nicht infrage?

„Und warum sind Sie an diesem Herbstnachmittag auf der Küstenstraße unterwegs?“ Er warf einen Blick auf den Beutel mit der Wolle, den sie über die Schulter geworfen hatte.

Seit wann mussten die Kolonisten britischen Soldaten Rechenschaft über ihr Kommen und Gehen abgeben? Stand es ihnen nicht frei, sich zu bewegen, wie es ihnen beliebte?

Sie schluckte die scharfen Worte, die sie ihm gern an den Kopf geworfen hätte, hinunter. Stattdessen zwang sie sich, ruhig zu antworten: „Wenn Sie es unbedingt wissen müssen: Ich bringe einer Frau, die für meine Mutter spinnt, Wolle.“

Seine Aufmerksamkeit blieb auf ihren Beutel gerichtet, und einen langen Moment befürchtete Susanna, dass er sie auffordern würde, den Beutel zu öffnen und den Inhalt auszuleeren. Das hätte sie bereitwillig getan. Sie schmuggelte nichts und hatte vor ihm nichts zu verbergen.

Außer den Brief an Ben.

Natürlich hatte sie die Pseudonyme verwendet, auf die sie sich geeinigt hatten. Außerdem hatte sie sich bemüht, sich in Bezug auf Dottys Situation so vage wie möglich auszudrücken, ohne ihren Namen zu nennen. Aber das würde nicht erklären, warum sie einen so verdächtigen Brief bei sich trug.

„Ich muss wirklich weiter, Lieutenant.“ Sie verlagerte ihr Gewicht auf dem Damensattel und hoffte, gefasster zu erscheinen, als ihr zumute war. Sie durfte nicht zulassen, dass der Lieutenant ihren Brief an Ben fand. Auch wenn er unterwegs war, um Schmuggler zu fangen, würde er sicher kein Auge zudrücken, wenn er herausfand, dass sie eine flüchtige Schuldmagd beherbergte.

Lieutenant Wolfe rührte sich nicht vom Fleck und konzentrierte sich jetzt auf ihr Gesicht, als könne er die Schuldgefühle, die deutlich darin geschrieben standen, lesen.

Der junge Soldat, der sein Pferd neben dem Lieutenant zum Stehen gebracht hatte, nickte ihr zu. Sein Gesicht war im Gegensatz zu seinen roten Haaren blass, aber seine Augen waren strahlend und freundlich. „Sie sollten heute Nachmittag nicht zu lange unterwegs sein, Miss Smith. So wie der Wind weht, rechne ich damit, dass sich ein Sturm zusammenbraut.“

Der Horizont über dem Meer hatte das gleiche ruhige Blau wie die jetzt verblassenden Hortensien, die vor dem Pfarrhaus wuchsen.

Aber nur weil es keine Anzeichen für einen Sturm gab, bedeutete das nicht, dass keiner aufziehen würde. Die Stürme konnten fast aus dem Nichts aufziehen und sich mit gefährlicher Wucht entladen.

„Danke für die Warnung.“ Sie gab ihrer Stute die Fersen. „Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden. Ich muss weiter.“

Sie lenkte ihr Pferd an den Soldaten vorbei, auch wenn Lieutenant Wolfe nicht die Höflichkeit besaß, zur Seite zu weichen. Als sie weitertrabte, musste sie sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass der Lieutenant sie beobachtete und ihren Rücken mit hundert Fragen durchlöcherte.

Als sie eine Weile in nördlicher Richtung weitergeritten und vor Arnolds Taverne abgestiegen war, hatte sie genügend Abstand zwischen sich und die Soldaten gebracht. Trotzdem hämmerte ihr Herz immer noch laut und sie schalt sich, weil sie sich kein besseres Versteck für den Brief überlegt hatte.

Die schlichte, verwitterte Taverne stand an einem felsigen Teil der King’s Cove, wo steile Felswände und zerklüftete Untiefen das Navigieren in Küstennähe schwer und heimtückisch machten.

Sie atmete die feuchte Meeresluft ein und schaute auf die Wellen hinaus, die sich an den Felsen weit unter ihr brachen. Wie konnte Lieutenant Wolfe auf die Idee kommen, dass hier jemand schmuggeln würde? An anderen Teilen der Küste gab es glatte, sandige Strände. Aber das Ufer von Weymouth war alles andere als ideal, um Waren auszuladen.

Hoffentlich würde der Lieutenant bald seinen Irrtum erkennen und nach Boston zurückkehren.

Mit einem Schaudern schob Susanna die Tavernentür auf und wurde vom starken Geruch von Tabakrauch begrüßt.

Als sie den leeren Schankraum mit den abgeräumten Holztischen und den verlassenen Bänken sah, blieb sie abrupt stehen. Auf einer Seite hing ein eiserner Kessel in einem riesigen offenen Kamin und der Geruch des köchelnden Eintopfs erfüllte den Raum. An der anderen Wand standen Fässer mit Bier, Rum und Apfelmost und darüber ein Regal, auf dem Trinkkrüge aufgereiht waren.

Vielleicht waren die Stammgäste, die sich normalerweise hier trafen, durch den Lieutenant und seine Männer vertrieben worden. Oder vielleicht hatten sie gemerkt, dass der Sturm aufzog, und waren schon nach Hause gegangen, um sich in Sicherheit zu bringen.

Was machte sie hier, wenn sonst niemand das Wetter an diesem Nachmittag für geeignet hielt, um auszureiten? Sie hätte zu Hause bleiben sollen. Sie hätte darauf warten sollen, Ben den Brief am Samstag zu geben, falls er Mr Cranch bei seinem Besuch begleitete.

Sie wich einen Schritt zur Tür zurück, doch eilige Schritte in der Küche hinter dem Schankraum ließen sie innehalten.

Mr Arnolds Kopf lugte mit vorsichtiger Miene um den Türrahmen. „Miss Smith?“ Er richtete sich auf und tat, als wische er seine Hände an seiner Schürze ab, obwohl sie weder nass noch schmutzig waren. „Es überrascht mich, dass Sie heute unterwegs sind.“

„Ich wollte …“ Was sollte sie sagen? Sie konnte ihm schlecht erzählen, dass sie Ben Ross einen Brief überbringen wollte.

„Der Pfarrer, Ihr Vater, ist schon vor einer Weile gegangen“, fuhr er fort. „Und wie Sie sehen, haben sich meine anderen Gäste heute auch schon nach Hause begeben, da sich ein heftiger Sturm zusammenbraut.“

Hinter ihm baumelten Schinkenkeulen und Fleischstücke von der Decke. Die Küche war mit Fässern mit gepökeltem Fisch, Honiggläsern und Säcken mit Getreide gefüllt – Lebensmittel, die er für seine Taverne benötigte.

„Ich hätte nicht kommen sollen.“ Sie legte die Hand an die Tür. „Aber mein Vater erwähnte, dass er hier mit Mr Ross sprach und ich hatte gehofft, ihn noch anzutreffen.“

Mr Arnold warf einen Blick hinter sich.

Bens Pferd stand nicht vor dem Haus. Er war wahrscheinlich schon längst wieder aufgebrochen.

Sie öffnete die Haustür. Es war dumm von ihr gewesen, ihn hier finden zu wollen. „Entschuldigen Sie bitte die Störung, Mr Arnold. Ich gehe dann wieder …“

„Susanna.“ Ben trat um Mr Arnold herum. Er warf einen Blick aus dem staubigen Fenster auf die Küstenstraße, die vor der Taverne vorbeiführte.

„Ben“, atmete sie erleichtert auf. Sie ließ die Tür wieder zufallen und ging auf ihn zu.

Doch der Ärger, der sich in seinen Augen zeigte, ließ sie abrupt innehalten. „Was machst du hier, Susanna?“

„Ich habe gehört, dass du hier bist und …“

„Du hättest nicht kommen sollen.“ Er sah wieder unruhig aus dem Fenster.

„Aber ich musste dich sehen.“ Aus einem Grund, den sie nicht erklären konnte, brannten ihre Wangen vor Beschämung über seinen Tonfall und das Benehmen, das er ihr gegenüber an den Tag legte. Sie hatte zwar nicht erwartet, dass er vor Freude, sie zu sehen, Luftsprünge machen würde – aber mit seinem Ärger hatte sie auch nicht gerechnet.

Hatten sie beide die Verletzungen der Vergangenheit nicht hinter sich lassen wollen?

„Such mich hier nie wieder auf“, sagte er kurz angebunden.

Sie straffte die Schultern. „Wie du meinst.“ Wenn er es unbedingt so wollte …

Mr Arnold trat an eines der großen Fenster, das aus vielen kleinen Scheiben bestand, und warf einen Blick auf die Straße. „Sie kommen.“

Mit diesen Worten eilte der Wirt zu dem Fass Apfelmost, nahm einen Krug aus dem Fach und begann, ihn zu füllen. Seine Hand zitterte so, dass Apfelmost auf den bereits klebrigen Boden tropfte.

Ben seufzte verärgert. Dann trat er schnell auf sie zu, packte sie am Arm und zog sie zum nächsten Tisch.

„Wer kommt?“, fragte sie und war von seinem Handeln zu sehr überrascht, um sich zu wehren.

„Lieutenant Wolfe und sein Adjutant.“ Ben setzte sich auf die Bank.

Bevor sie wusste, wie ihr geschah, hatte er sie nach unten gezogen und ließ ihr keine andere Wahl, als auf seinem Schoß zu landen.

„Mr Ross!“ Sie keuchte. „Was hat diese Vertrautheit zu bedeuten?“

Er legte einen Arm um sie und begann gleichzeitig, seine Weste aufzuknöpfen.

Schamesröte zog von ihrem Hals bis in ihre Wangen hinauf. Sie schob sich von ihm weg und wollte aufstehen.

„Bleib sitzen.“ Sein Arm, der um ihre Taille lag, hielt sie gefangen.

Mr Arnold stellte vor ihnen zwei Krüge auf den Tisch und verschüttete in seiner Eile die schäumende Flüssigkeit. „Sie binden die Pferde an.“

Wer bindet Pferde an?“ Sie wand sich, um sich von Bens Schoß zu befreien, und ihr Entsetzen wuchs mit jeder Sekunde.

Mr Arnold verschwand eilig in der Küche, wo er Töpfe gegeneinander schlug, um den Eindruck zu vermitteln, er wäre mitten in den Vorbereitungen für das Abendessen.

Ben warf einen Blick zum Fenster und packte sie dann an beiden Armen. „Hör auf, dich gegen mich zu wehren!“, flüsterte er grob. „Leg die Arme um mich. Du musst so tun, als wären wir ein Liebespaar.“

„Ein Liebespaar? Ich werde ganz bestimmt nicht …“

„Uns bleibt keine andere Wahl.“ Er hob die Hand an ihr Kinn und zog unsanft die Schleife ihres breiten Strohhuts auf. „Lieutenant Wolfe ist dir gefolgt. Welchen anderen Grund willst du ihm dafür nennen, dass du mich hier aufsuchst?“

Ihr Verstand arbeitete auf Hochtouren, aber ihr fiel nichts ein. Sie konnte dem Lieutenant unter keinen Umständen sagen, dass sie Ben einen Brief über eine entlaufene Schuldmagd geben wollte.

Während schwere Stiefelschritte auf den Stufen vor der Taverne dröhnten, nahm Ben ihren Hut ab, warf ihn auf den Tisch und vergrub seine Finger in ihren offenen Haaren. „Ich hoffe, Sie sind eine gute Schauspielerin, Miss Smith.“ Sein warmer Atem streifte ihre Wange und in seinen Augen lag mit einem Mal etwas Stürmisches.

Der tiefe Ernst seiner knappen Worte jagte ihr Angst ein. „Natürlich.“ Hatte Susanna sie beide mit ihrem unüberlegten Ausritt in Gefahr gebracht?

„Dann leg die Arme um mich und tu so, als würdest du meine Aufmerksamkeit genießen.“

Zögernd legte sie die Hände auf seine Schultern.

Die Tür ging knarrend auf.

Obwohl Ben sie vorgewarnt hatte, war sie auf die Schnelligkeit, mit der er seinen Mund auf ihre Lippen legte, und die Heftigkeit seines Kusses nicht vorbereitet.

Mit der einen Hand drückte er ihren Körper an sich und die andere Hand umfing ihren Hinterkopf. Er ließ ihr keine andere Wahl, als sich an ihn zu schmiegen und seinen Kuss zu erwidern. Auch wenn sie den Soldaten nur etwas vorspielen wollten, lag in seiner Leidenschaft und Intensität etwas, das in ihr den Wunsch weckte, ihm unverstellt und echt zu antworten.

Sie lehnte sich an ihn, schlang die Arme um ihn und ließ ihre Lippen von einer Leidenschaft leiten, die ihr fast gefährlicher erschien als Lieutenant Wolfe.

Ben löste die Lippen von ihrem Mund und zog eine Spur Küsse über ihr Kinn zu ihrem Hals hinab. Sie schloss die Augen.

Die Tür wurde zugeknallt.

Ben flüsterte kaum hörbar dicht an ihrem Ohr, angespannt und heiser. „Du musst hochspringen und dich verlegen geben.“ Er gab ihr einen unauffälligen Schubs.

Sie riss sich von ihm los und sprang auf die Beine. Mit ungeheucheltem Entsetzen trat sie schnell einen Schritt von Ben weg.

Lieutenant Wolfe und sein Adjutant standen in ihren roten Mänteln am Eingang der Taverne. Der junge, rothaarige Soldat besaß den Anstand, den Blick auf seine glänzenden, schwarzen Stiefel zu richten. Aber Wolfe starrte sie mit beängstigender Kühnheit an.

„Lieutenant Wolfe“, keuchte sie atemlos und bemühte sich, überrascht zu klingen. „Ich habe nicht erwartet, Sie so bald wiederzusehen.“

„Wir haben beschlossen, dafür zu sorgen, dass Sie Ihre Wolle sicher überbringen.“ Sein Blick blieb zu lange an ihren Lippen hängen, die nach Ben schmeckten und von seinem Kuss etwas geschwollen waren. „Aber Sie haben nicht wirklich Wolle abgeliefert, nicht wahr, Miss Smith?“

Wie konnte sie dem Lieutenant antworten, ohne die Wahrheit zu verraten?

„Was haben Sie erwartet, Lieutenant?“ Ben nahm den Krug mit dem Apfelmost und trank einen Schluck. „Sie wollte mich sehen. Daraus können Sie ihr doch keinen Vorwurf machen, nicht wahr?“

„Dazu muss sie sich heimlich herumtreiben?“

„Was sollen wir Ihrer Meinung nach machen, wenn ihre Eltern einen armen Anwalt wie mich ablehnen?“

„Sie haben mir gesagt, dass Sie wieder wegreiten.“

„Wenn ich hierhergekommen bin, um sie zu sehen, reite ich doch nicht wieder weg, ohne sie vorher zu treffen.“

„Ich soll Ihnen also glauben, dass Sie heute nur aus dem Grund nach Weymouth gekommen sind, um sich mit dieser Frau zu treffen?“

„Ich habe Ihnen doch vorhin, als Sie Mr Arnolds Gäste so grob verscheuchten, schon gesagt, dass ich gekommen bin, um die Stiefel abzuliefern, die mein Vater gemacht hat. Für Miss Smith.“

Susanna zitterte. Ob wegen ihres Kusses mit Ben oder wegen ihrer Angst vor dem Lieutenant, das konnte sie nicht genau sagen.

Der Blick in Bens Augen flehte sie an, ihm bei der Charade, die sie spielten, zu helfen.

Aber ihre normalerweise so schlagfertige Zunge schien wie festgeklebt und sie hatte Mühe, sie zu lösen. „Lieutenant Wolfe, ich verstehe Ihre Fragen nicht. Wir haben nichts getan, das Sie provozieren könnte, und doch behandeln Sie uns ohne den geringsten Respekt.“

Der Lieutenant legte die Hand auf den Griff seines Säbels, der an seiner Seite hing.

Sie hob das Kinn und hoffte, er würde ihr die Besorgnis, die sie erfüllte, nicht anmerken.

Seine Lippen zuckten und verzogen sich zu etwas, das Ähnlichkeit mit einem steifen Lächeln hatte. „Der König hat mir den Auftrag erteilt, illegale Aktivitäten und Dissidenten auszurotten. Ich bin sicher, dass eine Frau, die so loyal ist wie Sie, verstehen kann, wie schwierig und unangenehm diese Aufgabe manchmal ist.“

„Ich bin sicher, dass sie sehr schwer sein kann …“

„Und es ist für Sie viel besser, Miss Smith, wenn Sie mit Männern, die sich auf Verrat einlassen, nichts zu tun haben.“

„Falls ich erfahre, dass irgendjemand mit Verrat zu tun hat …“, ihr Blick wanderte kurz zu Ben, bevor sie es verhindern konnte, „… werde ich Ihre Warnung selbstverständlich berücksichtigen.“

Ben trank noch einen Schluck von seinem Apfelmost.

Das Klappern eines Kessels in der Küche hallte im leeren Schankraum wider.

Mr Arnold hörte ihnen offensichtlich zu. Sie bemühte sich, nicht daran zu denken, wie viel Erzählstoff er für seine Gäste, einschließlich ihren Vater, hatte, wenn er das nächste Mal käme, um in der Taverne seine Pfeife zu rauchen. Er wäre entsetzt, wenn er erfuhr, dass sie auf Bens Schoß gesessen und ihn geküsst hatte.

Ben hob seinen Krug in Richtung des Lieutenants und prostete ihm mit einem hämischen Grinsen zu. „Ich werde Ihre Warnung selbstverständlich auch berücksichtigen.“

Wolfes Säbel kam ein paar Zentimeter aus seiner Scheide.

Der junge Soldat räusperte sich. „Lieutenant, darf ich vorschlagen, dass wir aufbrechen, bevor der Sturm losbricht?“ Er deutete mit dem Kopf zum Fenster. „So, wie der Wind weht, befürchte ich, dass uns ein gefährlicher Sturm erwartet.“

Durch die staubigen Fenster konnte Susanna sehen, dass sich bedrohliche dunkle Wolken über der Bucht zusammenzogen. Sie wusste, dass sie sofort nach Hause eilen sollte, aber da sie sich schon in Gefahr gebracht hatte, um den Brief wegen Dotty zu überbringen, konnte sie auch noch dafür sorgen, dass er sicher in Bens Händen landete, bevor sie wieder ging.

Mit einem letzten drohenden Blick auf Ben drehte sich der Lieutenant auf dem Absatz um und stapfte aus der Taverne. Der rothaarige Soldat verabschiedete sich von ihnen, indem er an seinen Hut tippte, und folgte ihm dann.

Susanna konnte sich mehrere Sekunden, nachdem sie gegangen waren, nicht bewegen. Sie schaute den Männern nach, wie sie auf ihre Pferde stiegen und auf der Küstenstraße davonritten. Der Wind zerrte an den Schößen ihrer Uniformen, während die ersten dicken Regentropfen auf die Straße fielen.

Ben rührte sich ebenfalls nicht vom Fleck.

In ihrer stillen, friedlichen Gemeinde Weymouth hatte sie nie viel mit den Soldaten des Königs zu tun gehabt. Aber nach dieser Begegnung musste sie zugeben, dass der Kontakt zu ihnen viel beängstigender war, als sie es sich vorgestellt hatte.

Sie nahm an, dass sie nichts zu befürchten hätte, wenn sie das Gesetz nicht brach. Immerhin versuchte der Lieutenant nur, den Gehorsam gegenüber dem König sicherzustellen, und das war auch gut so.

Mit zitternden Fingern kämmte sie ihre wilden, zerzausten Haare zurück.

Versuchte Gott, ihr zu sagen, dass sie bei ihren Bemühungen zu weit ging? Vielleicht sollte sie vorsichtiger sein, wie Tom ihr geraten hatte. Andererseits hatte Phoebe sie ermahnt, dass man der flüchtigen jungen Frau helfen müsse.

Mr Arnold trat aus der Küche und wischte wieder seine trockenen Hände an seiner Schürze ab. „Das war knapp, würde ich sagen.“

Bens Schultern sackten nach unten. „Sehr knapp.“

„Glaubst du, er hat dir abgenommen, dass du hier bist, um Miss Smith zu besuchen?“

Erst jetzt drehte sich Ben zu ihr um und sein Blick wanderte zu ihren Lippen. Sie sah zu Boden, damit er ihre Beschämung wegen der Sekunden der Leidenschaft zwischen ihnen und ihrer unerwarteten Reaktion auf ihn nicht sehen konnte.

„Lieutenant Wolfe ist ein sehr kluger Mann“, sagte Ben schließlich. „Wir können ihm nichts vormachen. Wenigstens nicht lange.“

„Soll ich den anderen sagen, dass sie gehen sollen?“, fragte Mr Arnold mit einem Blick aus dem Fenster.

Der Regen fiel jetzt kräftiger und ein Blitz erhellte den immer dunkler werdenden Himmel.

Ben nickte. „Wir sagen unser Treffen für heute ab. Der Sturm gibt ihnen die nötige Deckung, um zu verschwinden, ohne die Aufmerksamkeit des Lieutenants auf sich zu ziehen.“

Mr Arnold kehrte in die Küche zurück.

„Welche anderen?“, fragte Susanna.

„Ich habe dir schon gesagt, dass du mir keine Fragen stellen sollst“, erwiderte Ben. „Je weniger du weißt, umso besser. Vergiss nicht, dass du es dir zur Pflicht gemacht hast, so gut wie möglich mit Lieutenant Wolfe zu kooperieren.“ Er schob sich vom Tisch zurück und stand auf.

„Du brauchst nicht so grob zu sein.“ Sie verstand nicht, womit sie ihn verärgert hatte, aber sein Benehmen war fast verletzend. „Ich möchte nur dem König so gut wie möglich gehorchen.“

Er schnaubte.

Sie hätte nicht kommen sollen. Benjamin Ross war unausstehlich.

„Es tut mir leid, dass ich dich um Hilfe und Beratung gebeten habe.“ Sie nahm ihren Hut vom Tisch, ging zur Tür und bemühte sich, die Enttäuschung, die ihr die Kehle zuschnürte, hinunterzuschlucken. „Ich reite nach Hause.“

„Du kannst jetzt nicht hinausgehen. Dieser Sturm ist zu gefährlich.“

„Ich wäre dir dankbar, wenn du das mir überlassen würdest.“ Sie setzte ihren Hut auf. Ohne sich die Mühe zu machen, die Schleife zuzubinden, legte sie die Hand auf den Türgriff.

Mit zwei langen Schritten durchquerte Ben den Raum, stellte den Fuß vor die Tür und hielt ihn mit seiner Stiefelspitze zu. „Du musst hier warten, bis der Sturm vorübergezogen ist.“

Sie fuhr zu ihm herum. „Entschuldigen Sie, Mr Ross, aber Sie haben nicht das Recht, mir Ratschläge zu erteilen, nachdem Sie mir gesagt haben, dass ich nicht hätte kommen sollen und Sie nie wieder aufsuchen soll.“

Ein krachender Donner erschütterte das Gebäude. Ein kräftiger Wind wehte gegen die Fenster und rüttelte an den Scheiben. Sie sollte bleiben, aber sie war zu wütend, um das zuzugeben.

Er schaute sie fragend an und die angespannten Falten in seinem Gesicht wurden ein wenig weicher. „Es ist nicht so, dass ich dich nicht sehen möchte, Susanna. Gott stehe mir bei, ich will dich sehen.“

Bei seinem leisen Geständnis lehnte sie sich an die Tür und wurde sich plötzlich bewusst, dass sie keine Armeslänge voneinander entfernt waren.

„Ich sehe dich sehr gern“, flüsterte er. Das Dunkelbraun seiner Augen verdunkelte sich weiter und sie sah darin etwas, das sie nicht verstand. Ihr Herz begann wie wild zu hämmern. „Mein Wunsch, bei dir zu sein, ist stärker, als es für dich oder mich gut ist, Susanna.“

Als sein Blick zu ihren Lippen wanderte, erinnerte sie sich wieder an seinen Kuss.

„Aber dieser Ort, diese Zeit und alles, in das ich verwickelt bin – es ist zu gefährlich für dich.“ Er trat einen Schritt zurück. „Ich bin zu gefährlich für dich.“

Sie begann, den Kopf zu schütteln.

„Ich hätte Lieutenant Wolfe nicht vormachen sollen, wir wären ein Liebespaar. Jetzt wird er dich noch argwöhnischer beobachten.“

„Ich kann nur ahnen, welchen Schaden mein Ruf nimmt, wenn sich unser ungebührliches Verhalten überall herumspricht.“

„Wir wollen natürlich unter keinen Umständen, dass dein kostbarer Ruf meinetwegen Schaden nimmt.“

„Nicht deinetwegen“, sagte sie schnell. „Vielmehr wegen unseres … nun ja, als ich auf deinem Schoß saß und du …“

„Als wir uns geküsst haben?“ Er zog eine Braue hoch. „Ich nehme an, du willst nicht, dass irgendjemand erfährt, dass du einen armen Niemand, einen mittellosen Anwalt wie mich geküsst hast?“

„Ach, hör doch endlich mit deinem Selbstmitleid auf!“ Sie wand sich innerlich bei seinen kühnen Worten, aber sie bemühte sich, ihr Unbehagen zu verbergen. „Du bist kein Niemand. Du weißt, dass ich das schon längst nicht mehr denke, seit ich erwachsen bin. Vielleicht wird es Zeit, dass du auch erwachsen wirst.“

Seine Lippen verzogen sich zum Ansatz eines Lächelns. „Du bist ganz schön keck.“

„Und du jammerst viel zu viel.“

Der Wind zog mit rasender Geschwindigkeit über das Haus und heulte im Kamin. Ein Blitz erhellte den Raum, der durch den aufziehenden Sturm immer dunkler geworden war.

„Du bist also nicht beleidigt, weil ich dich geküsst habe?“ Seine Stimme war leise und sein Lächeln wurde breiter.

„Ich denke, das ist wohl kaum eine angemessene Frage, die man einer Dame stellt.“ Sie hatte Mühe, sich ein Lächeln zu verkneifen.

„Ich glaube, dir hat mein Kuss gefallen.“

„Er war nicht schlecht.“

„Nicht schlecht?“ Er stützte eine Hand neben ihrem Kopf an die Tür. „Gib es zu, Susanna. Mein Kuss war atemberaubend.“

Er hatte recht. Und er war ihr in diesem Moment viel zu nahe. Sie wandte den Blick von ihm ab, da sie befürchtete, er könnte die Wahrheit in ihren Augen lesen. „So schwer es dir auch fallen wird, in meiner Nähe deine Küsse zu beherrschen, muss ich dich doch bitten, dich nach Kräften darum zu bemühen.“

Er schmunzelte.

Plötzlich erfüllte ein berstendes Geräusch die Luft. Glas zersplitterte.

Sie zuckte zusammen.

Aber Ben schob blitzschnell seinen Körper vor sie und schirmte sie vor den fliegenden Scherben ab. Glassplitter flogen in den Raum, gefolgt von tosenden Windstößen und peitschendem Regen.

„Du solltest Miss Smith lieber in den Keller bringen“, rief Mr Arnold von der Küchentür her. „Es hört sich so an, als wollte dieser Sturm meine Taverne Brett für Brett auseinandernehmen.“

Der heulende Wind wehte ihnen ins Gesicht, als Ben Susanna um die Glasscherben herumführte. Er brachte sie schnell in die Küche zu einer Falltür, die in den Keller hinabführte. Sie kletterte eine Leiter hinunter. Als ihre Füße sicher auf dem Boden standen, reichte er ihr die Kerze hinab.

„Bleib da unten, bis ich komme und dich hole.“

„Kommst du nicht auch nach unten?“

„Ich muss Mr Arnold helfen, seine Sachen zu retten, bevor der Wind sie aufs Meer hinausweht.“

„Das ist doch gefährlich. Dir könnte etwas zustoßen.“

„Aber Miss Smith! Ich glaube fast, eine gewisse Sorge in Ihrer Stimme zu hören. Ich bin gerührt.“

Sie war dankbar für die Dunkelheit, die die Röte, die über ihre Wangen zog, versteckte. „Natürlich mache ich mir Sorgen. Um dich und um Mr Arnold. Ihr solltet beide kein Risiko eingehen.“

„Mein liebes Mädchen, du kannst ruhig zugeben, dass du mit mir allein im dunklen Keller sein wolltest, um mehr Küsse von mir zu fordern.“

„Ich gebe nichts dergleichen zu.“ Obwohl der Gedanke daran Schmetterlinge in ihrem Bauch auffliegen ließ. „Da du davon sprichst, muss ich davon ausgehen, dass es aber sehr wohl deine Absicht war.“

Er grinste und leugnete ihre Anschuldigung mit keinem Wort.

Ein weiteres Donnerkrachen hallte in der Küche über ihr wider. Seine Stirn zog sich in Falten und er wich von der Tür zurück. „Komm nicht nach oben, Susanna. Bitte!“

Damit verschwand er.

Kapitel 9

Die feuchte Kälte des Kellers legte sich um Susanna. Grobe Holzregale, die mit Gläsern und Fässern gefüllt waren, säumten die Wände. Fässer mit Rum und Apfelmost, den Mr Arnold seinen Gästen verkaufte, standen auf dem Boden. Kisten quollen mit Äpfeln, Zwiebeln und Kartoffeln über. Ihr erdiger Geruch vermischte sich mit dem Geruch der feuchten Bretter und Steine auf dem Boden.

Sie hob die Kerze und beleuchtete die Ecken des engen Raumes. Zu ihrer Überraschung war eines der staubigen Regale von der Wand weggeschoben und dahinter entdeckte sie ein großes Loch.

Sie bahnte sich einen Weg durch das Labyrinth aus Fässern und Kisten und betrachtete die Stelle hinter dem Regal. Das Loch schien eher der Beginn eines Tunnel zu sein, der auf jeden Fall so groß war, dass ein erwachsener Mann oder eine Frau hineinkriechen konnte.

Sie hielt die Kerze vor sich, um in das Loch hineinzuspähen. Als sie sich vorbeugte, hielt sie sich an dem Regal fest, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Überrascht bemerkte sie, dass sich das gesamte Regal weiter von der Wand wegbewegte, als stünde es auf Rollen.

Waren die anderen, von denen Mr Arnold und Ben vorher gesprochen hatten, hier unten gewesen? Im Keller? Vielleicht zu einem geheimen Treffen?

Sie kniete nieder und steckte den Kopf in das Loch. Sie hatte den Verdacht, dass Ben ihr nicht mehr erzählen würde, als sie schon wusste. Hatte er nicht gesagt, je weniger sie wüsste, umso besser wäre es?

Sie warf einen Blick zu der Öffnung, die zur Küche hinaufführte.

Er war wahrscheinlich damit beschäftigt, die Fensterläden zu schließen und die anderen wertvollen Butzenscheiben-Fenster davor zu schützen, vom Sturm zerbrochen zu werden.

Er müsste ja nicht erfahren, dass sie einen kurzen Blick in den Tunnel gewagt hatte.

Ja, mehr würde sie nicht machen. Nur einen kurzen Blick hineinwerfen.

Sie nahm ihren Hut ab, sank auf die Knie und begann, mit der Kerze in der Hand durch den Tunnel zu kriechen.

Der Tunnel führte bergab. Die Erde war kalt und feucht und das schwache Licht der Kerze beleuchtete den notdürftigen, aber glatten Weg, der nicht weiter als bis zu den Grundrissen der Taverne führte.

Einen Moment später erreichte sie das Ende und befand sich in einem weiteren ausgegrabenen Keller.

Als das flackernde Licht den Keller beleuchtete, entfuhr ihr ein entsetzter Aufschrei.

Der Raum war viel größer als Mr Arnolds anderer Keller. Er war mit mehr Fässern vollgestellt, als sie je an einem Ort gesehen hatte.

Langsam stand sie auf und strich ihren Rock glatt. Mit zitternden Beinen und einem schweren, drückenden Gefühl im Magen hielt sie die Kerze an das nächstbeste Fass.

Die Schrift auf dem Fass war in Französisch verfasst. Sie versuchte, die Worte zu lesen, aber sie verstand leider immer noch nicht viel Französisch.

Doch noch während sie die vielen Fässer anstarrte, wuchs ihre Übelkeit. Wenn die Fässer von den französischen Westindischen Inseln gekauft worden waren, konnte das nur eines bedeuten:

Sie waren wahrscheinlich mit Melasse gefüllt, die in die Kolonien geschmuggelt worden war. Verbotene französische Melasse.

Susanna schüttelte den Kopf. Sie hoffte inständig, dass sie sich irrte, dass die Fässer leer und nicht mit den illegalen Waren gefüllt wären, die Lieutenant Wolfe hatte ausfindig machen wollen.

Sie war natürlich nicht naiv. Jeder wusste, dass es skrupellose Händler gab, die ungeniert das Gesetz missachteten und schon seit vielen Jahren an der Küste unerlaubte Geschäfte abwickelten. Es gab zu viele habgierige Kaufleute, die nur an ihren eigenen Vorteil dachten und nicht bereit waren, die Steuern zu zahlen, die der König auf britische Melasse erhoben hatte.

Und sie verstand auch, dass die Kolonien auf die Melasse angewiesen waren.

Aber die Männer von Weymouth waren gottesfürchtige, gesetzestreue und loyale Untertanen des Königs. Oder etwa nicht?

Sie würden nicht so weit sinken und illegal Waren schmuggeln!

Als sie sich im Raum umschaute, entdeckte sie einen weiteren Tunnel, der steil bergab zu führen schien. Sie vermutete, dass er zu der felsigen Küste irgendwo unterhalb der Taverne führte. Die Melassefässer wurden wahrscheinlich im Schutz der Dunkelheit ans Ufer gebracht und im Inneren der Erde unter Arnolds Taverne gelagert.

Die Schmuggler trieben direkt hier in ihrem friedlichen Küstenstädtchen ihr Unwesen. In der Gemeinde ihres Vaters. Unter den Männern, die sie ihr ganzes Leben lang gekannt und geachtet hatte.

„Wie können sie das nur tun?“, flüsterte sie verständnislos.

„Susanna?“, hörte sie Bens Stimme schwach aus dem Keller auf der anderen Seite des Tunnels zu ihr dringen.

Offenbar war Ben auch in den Schmuggel verwickelt.

Nach allem, was er gesagt hatte, und auch nach allem, was er nicht gesagt hatte, wusste sie, dass er aufrührerische Gedanken hegte. Aber er war offensichtlich viel stärker in die illegalen Aktivitäten verwickelt, als sie es sich vorgestellt hatte.

„Susanna?“, rief er wieder, dieses Mal lauter. Seine Stimme hallte im Tunnel wider.

Was sollte sie zu ihm sagen? Sie konnte nicht leugnen, dass sie sich seinen Rat gewünscht hatte. Vielleicht sogar seine Freundschaft.

Aber jetzt?

Er kam durch den Tunnel auf sie zu. „Was machst du hier?“ Seine Stimme war angespannt und in seinen Augen funkelte nur mühsam beherrschter Ärger. „Du hättest nicht hierherkommen sollen.“

„Warum nicht? Weil ich deine kriminellen Machenschaften nicht sehen sollte?“

Er kroch aus dem Tunnel und richtete sich auf. In der Dunkelheit des Kellers, der nur durch das Flackern ihrer Kerze erhellt wurde, erschien ihr sein schattenhafter Umriss groß und breit wie der eines griechischen Minotaurus, der kam, um die hilflosen Jungfrauen zu verschlingen.

Das Tropfen des Grundwassers irgendwo in der feuchten Höhle verriet ihr, dass über ihnen immer noch das Gewitter wütete. Aber der tiefere, dunklere Sturm, der sich mit einem Mal in diesem Keller unter der Erde zusammenbraute, erschien ihr plötzlich viel gefährlicher.

„Das alles hier verblüfft mich.“ Sie deutete mit der Hand auf die Fässer. „Hier in Weymouth? Das ist undenkbar.“

„Vielleicht für jemanden wie dich, der immer ein behütetes Leben geführt hat und alles zur Verfügung hatte, was er je brauchte oder wollte.“

„Oder jemanden, der denkt, wir sollten die Gesetze einhalten, statt sie um des selbstsüchtigen Profites willen nach Belieben zu brechen.“

„Hier geht es nicht um selbstsüchtigen Profit.“

„Warum sonst umgeht man die britischen Steuern, wenn nicht, um die eigenen Taschen mit mehr Geld zu füllen?“

Er seufzte frustriert. „Du hast offenbar nicht die geringste Ahnung von dem ganzen Konflikt.“

„Warum? Weil ich nur eine Frau bin? Weil ich nicht so gebildet bin wie du?“

„Wer versinkt jetzt in Selbstmitleid und jammert?“

„Wenn ich also nicht zu dumm für deine Erklärungen bin, dann kannst du mir jetzt ja erzählen, was hier vor sich geht. Bist du in den Schmuggel verwickelt oder nicht?“

Er schürzte die Lippen und gab keinen Ton von sich.

„Dein Schweigen klagt dich an.“

Lange hielt er ihren Blick. „Ich bin nicht auf die Weise darin verwickelt, an die du denkst.“

„Ich weiß nicht, was ich denken soll.“ Sie hatte Ben mögen wollen. Sie hatte sogar angefangen, ihn zu mögen. Und sie hatte ihn respektieren wollen.

Aber wie konnte sie einen Kriminellen respektieren?

Eine Ratte huschte zwischen zwei Fässern hindurch und Susanna sog scharf die Luft ein.

Ben deutete mit dem Kopf zum Tunnel. „Komm jetzt. Wir müssen von hier verschwinden.“

Sie rührte sich nicht vom Fleck. „Warum? Damit Lieutenant Wolfe nicht herausfindet, was ihr macht?“

„Wir sind vorsichtig. Er wird nichts finden.“

„Jetzt vielleicht schon.“

Ben erstarrte.

„Ich habe ihm versprochen, dass ich ihm illegale Aktivitäten melden werde.“

Ben trat auf sie zu. Die Härte in seiner Miene und das Funkeln in seinen Augen machten ihn im flackernden, schemenhaften Licht tatsächlich zu einem übermächtigen Minotaurus.

Sie wich einen Schritt zurück und stieß gegen ein Fass. „Ich erinnere mich genau, dass ich Lieutenant Wolfe gesagt habe, dass ich die Erste wäre, die ihn informiert, falls ich irgendetwas von kriminellen Machenschaften mitbekomme.“

Er blieb erst stehen, als er nur noch wenige Zentimeter von ihr entfernt war. Sein Auftreten sollte sie einschüchtern.

Sie zwang sich, sich nicht kleinkriegen zu lassen. „Soll ich ihn anlügen?“

„Du sollst einfach schweigen, Susanna.“

„Das, was du tust, ist falsch. Ich werde es nicht verschweigen.“ Sie trat einen Schritt zur Seite, da sie um ihn herumgehen wollte, aber er packte sie am Arm und hielt sie fest.

„Du hast offenbar keine Ahnung von der Unterdrückung durch die Briten, oder du verstehst sie nicht“, sagte er heiser, „aber auf unseren Schultern liegt schon eine sehr schwere Last. Wenn die Briten könnten, würden sie diese Last noch erhöhen, damit wir ihre unterwürfigen Untertanen bleiben.“

Sein Atem war heiß und sein Körper angespannt. Sie versuchte, nicht daran zu denken, wie nahe er vor ihr stand.

„Du kannst versuchen, dein Verbrechen zu rechtfertigen, so viel du willst“, entgegnete sie, „aber jeder gebildete Mensch weiß, dass er sich nicht aussuchen kann, welche Gesetze er befolgen will und welche nicht. Wenn jeder nur nach Lust und Laune Gesetze befolgt, ist das der Anfang von Anarchie.“

„Es gibt Zeiten in der Geschichte, in denen sich der Mensch überlegen muss, welche Gesetze er befolgt, und sich entscheiden sollte, ob sie richtig, gerecht und barmherzig sind. Wenn die Gesetze auf Tyrannei basieren und nur zum Wohl von wenigen ausgelegt sind, anstatt allen zu dienen, ist es die Pflicht jedes denkenden Menschen, sich für gerechtere Gesetze einzusetzen.“

Er konnte wirklich sehr gut mit Worten umgehen, genauso wie damals beim Prozess um Einsiedlerkrebs-Joe. Aber das änderte nichts an der Tatsache, dass Schmuggel falsch war. „Sie können sagen, was Sie wollen, Mr Ross, aber Sie werden mich nicht davon überzeugen, dass es zu rechtfertigen wäre, das Gesetz zu brechen.“

„Unter keinen Umständen?“

„Natürlich nicht.“

„Dann solltest du dir noch einmal überlegen, ob du dieser flüchtigen Schuldmagd wirklich helfen willst, nicht wahr? Immerhin ist es auch illegal, ihr zu helfen.“

Seine Worte erstickten ihren Einwand und beförderten nur noch den Kampf, der ohnehin schon in ihr wütete, seit sie Dotty gefunden hatte. Sie wollte Dotty helfen. Alles in ihr sagte ihr, dass sie die junge Frau trösten und schützen sollte und dass Dotty diese grausame Behandlung nicht verdiente.

Aber je länger sie Dotty versteckte und je mehr sie ihr half, umso ungehorsamer war sie. Und wenn man erst einmal anfing, ungehorsam zu sein, wohin würde das dann führen?

Als spüre er den Konflikt, der in ihr tobte, entspannte sich Bens fester Griff um ihren Arm. „Ich weiß, dass alles, was ich dir jetzt sage, schwer zu verdauen ist, aber ich bitte dich nur, dass du über die Konsequenzen nachdenkst, bevor du etwas unternimmst.“

Sie konnte ihn nur wortlos anstarren. Sie wusste nicht mehr, was richtig war. Wenn sie es rechtfertigen konnte, das Gesetz zu brechen, um einer armen Frau zu helfen, warum sollte es Ben dann nicht bei einem Anliegen, das für ihn sehr wichtig war, genauso gehen?

Er beugte sich näher zu ihr vor. „Denk bitte an die ganzen Menschenleben und Familien, die du in Gefahr bringst, wenn du zu Lieutenant Wolfe gehst und ihm verrätst, was wir hier tun.“

Mr Arnolds Stimme drang gedämpft aus dem Keller zu ihnen herüber.

Ben legte den Kopf schief. „Willst du, dass Mr Arnold und zahlreiche andere Männer am Galgen landen?“

Natürlich wollte sie das nicht. Sie konnte sich nicht vorstellen, noch mehr Männer aus ihrer Gemeinde zu verlieren, jetzt, wo der Krieg endlich vorbei war. Sie hatten schon so viele Männer verloren und sie sah, wie die armen Witwen kämpften, um ihre Familien zu versorgen und zu ernähren.

„Also gut, Mr Ross“, sagte sie. „Ich werde sehr sorgfältig nachdenken, bevor ich etwas unternehme.“

Mr Arnolds Stimme erklang lauter von der anderen Seite des Tunnels her.

Ben trat einen Schritt von ihr weg.

In ihrem Herzen regte sich ein unerwarteter Schmerz.

Er hatte recht gehabt. Die Dinge, in die er verwickelt war, zu dieser Zeit, an diesem Ort – das alles war zu gefährlich für sie.

Sie musste sich von ihm fernhalten.