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Norbert W. Schlinkert

Stadt, Angst, Schweigen

Heraklitischer Fließtext

Elsinor Verlag

INHALT

Über den Autor

Über dieses Buch

Denke auch an Morgen, mein Bruder, wenn du nach Abend
siehest, und wenn vor dir eine Sonne untergeht, so wende
dich um und siehe wieder in Morgen einen Mond
aufsteigen: der Mond ist der Bürge
der Sonne, wie die Hoffnung
die Bürgin der Seligkeit.
Jean Paul

Wie früh es nun, dachte er, dunkel wird. November. Wie trüb es ist. Das hatte er schon den ganzen Tag über gedacht, immer wieder in den Erker an das nach Osten schauende Fenster tretend und auf die Straße blickend. Und dass die Hoffnung, nicht die allgemeine, wohlfeil zu bekommende, sondern die seine, seine als solche, nun aufgebraucht war, auch daran hatte er gedacht. Den ganzen Tag schon. Wann nur war ihm dieser Gedanke gekommen? An langgezogenen, grünen Hälsen hingen die Köpfe der Straßenlaternen zwischen ihm und der Straße unten, um sie herum ein gelblicher Kranz aus Nebel und Dunst mit fast cremiger Konsistenz. Von der Kreuzung her ein Hupen, das Rattern der Tram. An der Apotheke, sah er, jenseits der Kreuzung, flammte jetzt ein Licht auf und übergoss das Trottoir mit Helligkeit. Eine Werbemaßnahme ohne Zweifel, deren positive Wirksamkeit sicher belegbar wäre, denn man müsste nur, dachte er, mit der größtmöglichen Genauigkeit die Umsatzsteigerung und alle notwendigen Werbekosten, also Kauf und Installation der Lampe sowie die zusätzlichen Stromkosten, miteinander in Beziehung setzen. Natürlich würde der Effekt verpuffen, zögen andere Apotheken nach, eines Tages wäre sicher der Gehweg vor jeder Apotheke auf das grellste beleuchtet, was aber durchaus, dachte er jetzt, im Gegenteil vielleicht dann doch einen Gesamteffekt und Gesamteindruck machte, von dem alle profitierten. Aber sind das nicht unnütze Gedanken, dachte er, die Schultern hochziehend. Er wandte sich vom Fenster ab, durchschritt das Wohnzimmer und ging, am Telefon vorbei, in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Wohlgeordnet lagen Butter, Käse und abgepacktes Brot bereit. Er nahm einen kleinen Apfel aus dem sonst leeren Gemüsefach und steckte ihn in die rechte Tasche seiner Hausjacke, ein Vorgang, der zu nichts gut war, außer dazu, dem Gefühl, auf alles vorbereitet zu sein, Nahrung zu geben. Jetzt kann dir nichts mehr geschehen, jetzt kannst du um die ganze Welt reisen, hatte sein Großvater immer gesagt, wenn er, der Enkel, einen besonders schönen Apfel, den der Großvater, auf der Leiter stehend, ihm hinunterreichte, in die Jackentasche gleiten ließ. Hatte er je einen dieser Äpfel gegessen? Das Gefühl aber stellte sich auch jetzt ein, das Gefühl, gerüstet zu sein, allen Widrigkeiten trotzen zu können. Er ging, wieder am Telefonapparat vorbei, zurück ins Wohnzimmer und stellte sich wieder ans Fenster. Eine alte Frau, sah er, zog sich am Haltebügel die schräge Ebene zur Apotheke hoch. Die Tür öffnete sich automatisch. Diente die Beleuchtung vielleicht doch eher der Sicherheit als der Werbung, überlegte er. Und waren Stufen an Apotheken nicht mehr erlaubt? Könnte durchaus sein. Bei Gelegenheit müsste er das erfragen, das mit dem Licht und auch das mit den Stufen, jetzt aber, heute Abend, nur aus diesem einzigen Grunde hinunter zu gehen, kam nicht in Frage, er benötigte vorläufig nichts. Zudem waren diese Fragen nicht wichtig, er stellte sie sich selbst, das war alles. Nicht jede Frage ist es wert, beantwortet zu werden, dachte er. Unwichtig, ob der gewissenhafte Apotheker eher seinen Gewinn oder die Gesundheit seiner Kundschaft und der anderer Passanten im Sinn hatte, als er sich entschied, das Flutlicht anzubringen, das ja tatsächlich den Gehsteig überflutet wie ein unendlich dünner Film aus gleißendem Licht, leichter als Wasser und schwerer als Gas. Unwichtig, dachte er, diesmal fast unwirsch, jetzt eines Handwerkers gewahr werdend, der aus einem Firmenwagen ausstieg, dem Fahrer zunickte und vielleicht ein Bis Montag mit den Lippen formte, ohne tatsächlich die Stimmbänder in Schwingung zu versetzen. Der Mann verschwand im Hauseingang links neben der Apotheke. Möglicherweise steht auch er, so er im Vorderhaus wohnt, in wenigen Minuten am Fenster, um, noch in Arbeitskleidung, hinauszuschauen, auch wenn er anstelle der Apotheke und der Bäckerei den Zeitungsladen und das Wäschegeschäft gegenüber sehen muss. Er selbst brauchte nur das Fenster zu öffnen, sich nur ein wenig hinauszulehnen und nach rechts zu blicken, über die Hochbahnbrücke hinweg, auf der im Augenblick zwei gelbe U-Bahn-Schlangen, ihm den Blick versperrend, sich begegneten, um das Licht des Wäschegeschäfts zu sehen, wie es den Gehweg schwachgelblich überzog, so wie der Handwerker ebenfalls nur das Fenster zu öffnen brauchte, um, nach links blickend, das Apothekenlicht zu sehen. Unwichtig, unwichtig, dachte er wieder, alles von außen Betrachtete ist unwichtig! Doch sobald nur ein einziger Gedanke an das Geschehen angeheftet wird, was fast automatisch geschieht, erscheint es auf einmal wichtig. Einem selbst. Aber auch wenn kein Gedanke, sann er weiter, keine Überlegung und keine Frage auf ein Geschehen folgt, es zu belegen und zu kommentieren, so erfordert allein die Entscheidung zum Nichtbedenken, Nichtüberlegen und Nichtbefragen wieder einen Denkimpuls. Auch ein Nicht-daran-Denken ist, wenn nicht immer, so doch oft, ein Daran-Denken. Er holte tief Luft und tastete zugleich nach seinem Apfel. Ohne Belang, all das, dachte er weiter, nur um nicht das Wort gleichgültig denken zu müssen, welches ihm gleichzeitig in den Kopf geschossen war. Wer noch einen Apfel in der Tasche hat, der hat noch nicht alle Hoffnung fahren lassen müssen, auch das hatte der Großvater gesagt. Oder habe ich, dachte er, mir das hinzugedichtet? Das mit der Hoffnung?

Der Apfel wanderte von der einen in die andere Tasche seiner Hausjacke. Wieder begegneten sich zwei U-Bahnen auf der Brücke, passierten einander, und zwar dieses Mal, wie er glaubte erkennen zu können, exakt auf Höhe der Brückenmitte, passgenau. Aber unwichtig, dachte er, unwichtig. Alles, was er beobachtete, was er mit gedachten Sätzen belegte, war ohne jeden Belang. Und auch der Mann, der nun im Türrahmen der Apotheke stand und sich den Hals rieb, bedurfte keiner Kommentierung. Ich schließe die Augen und nichts dort draußen ändert sich, dachte er, es sei denn, ein Beobachter meiner selbst denkt, jetzt schließt er, also ich, die Augen und steht nur da. Nicht wichtig, auch das nicht, natürlich, ob nun wahr oder erfunden. Er öffnete die Augen. Die Brücke leer. Müssten sich die U-Bahnen, fuhren sie exakt im gleichen Takt von drei, vier oder fünf Minuten, nicht immer genau auf Mitte der Brücke treffen? Theoretisch war das sicher so, in der Praxis aber unwahrscheinlich. Zudem fährt die eine Bahn in die nah der Brücke sich befindende Station hinein, während die andere aus ihr herausfährt, die eine bremst also, die andere beschleunigt. Aber auch das wäre sicher zu bewerkstelligen, also theoretisch sicher, der Berechnung nach. Doch was war schon wirklich sicher, ja gäbe es denn Sicherheit, was bräuchte der Mensch Glaube, was bräuchte er, bräuchte ich, Hoffnung, dachte er. Von Liebe mal ganz zu schweigen. Glaube, Liebe, Hoffnung. Seine Hoffnung jedenfalls war ihm verloren gegangen, allein dessen war er sich nun sicher, obgleich eben noch nichts entschieden war in seiner Sache, über die er niemandem gegenüber etwas hatte verlautbaren lassen, eben weil es seine Sache war. Seine Diagnose. Nicht die von irgendjemand anderem. Er musste abwarten, und dazu war er bereit gewesen, doch er hatte nicht gewusst, nicht einmal geahnt, dass die Hoffnung, die ja so eng mit dem Warten auf eine entscheidende Nachricht verbunden ist, überhaupt aufbrauchbar sein könnte. Hieß es nicht, sie stürbe zuletzt, immer. Der Mut, die Liebe, ja selbst die Verzweiflung, all diese Zustände, mochten sie noch so verworren erscheinen, fänden sicher immer ihr Ende, wenn auch Zustände nicht der richtige Begriff ist, wie er wusste. Die Hoffnung aber, stellte er also fest, habe ich immer als unaufbrauchbar betrachtet, gleichsam als einen unendlichen Weg, und mochte der auch letztlich in sich selbst münden, so geschieht dies doch immer unbemerkt, glaubte ich, dachte er. Die Hoffnung ein Selbstbetrug also? Aber wie auch immer, ist nicht gerade das das Wesen der Hoffnung, sich selbst betrügen zu können, ohne es doch eigentlich zu bemerken? Keine Statistik, keine Logik und keine Empirie reicht heran an die Hoffnung, so seine Überzeugung bis heute, bis zu diesem Augenblick der Klarheit. Nun also lag sie hinter ihm, die Hoffnung, doch es war nun nicht etwa so, dass sich stattdessen Verzweiflung einstellte, nein, sie, die Hoffnung, war einfach nur fort, ein Wort ohne Inhalt, unspürbar, also nichtig. Was er jetzt spürte, war also demnach Hoffnungslosigkeit, doch auch wenn sie ohne Zweifel vorhanden war, so war sie doch nicht an die Stelle der Hoffnung getreten. Und selbst wenn jetzt, er wartete bereits seit Stunden auf nichts anderes, das Telefon klingeln würde, er träte nicht mit gleichsam neuer Hoffnung auf eine positive Nachricht auf den Apparat zu, er täte es, er ginge hin, selbstverständlich, er nähme ab, meldete sich mit einem kurzen Ja, wie immer, selbst in seinem Büro sagte er nur immer Ja, aber er täte es nicht mit dem Gefühl, bald von der Hoffnung getrogen beziehungsweise getragen zu werden, worden zu sein, ja, so hatte er immer gedacht, was doch ein einziger Buchstabe allein auszurichten imstande ist, hatte er gedacht, ein a oder ein o, getragen oder getrogen, und die Hoffnung war ihm immer die Mitte gewesen zwischen zwei klar zu benennenden Möglichkeiten, dem Gelingen oder dem Misslingen einer Angelegenheit, sei sie wichtig oder nicht.

Er nahm den Apfel aus der Tasche und wog ihn in der linken Hand. Warum, so fragte er sich, ist die Hoffnung, meine Hoffnung, ausgerechnet jetzt aufgebraucht, in eindeutigem Zusammenhang mit dem, was ihm heute noch, so glaubte er, telefonisch mitgeteilt werden würde? Er hatte darauf bestanden, sofort unter seiner privaten Nummer angerufen zu werden, unverzüglich, zu welcher Tages- oder Nachtzeit auch immer. Nicht auf dem Anrufbeantworter sei die Mitteilung zu hinterlegen, sicherheitshalber stellte er ihn ab, sondern ihm persönlich zu übermitteln, fernmündlich, wie früher noch gesagt wurde und wie er es auch gerne heute noch formulierte, von Ferne, von anderer Stelle aus mündlich. Man wolle versuchen, seine Angelegenheit vorzuziehen, könne aber nichts versprechen, es gäbe im Labor eine strikte Ordnung, Abläufe, Zuständigkeiten, er verstünde das sicher. Seiner Sekretärin, die ja gar nicht die seine ist, hatte er mitgeteilt, er bleibe heute zuhause, ginge in seine Wohnung, führe also nicht über das Wochenende, wie sonst immer, heim, in die alte Heimat, bleibe also in Berlin, ausnahmsweise. Warum, so dachte er jetzt, hatte er ihr das überhaupt mitgeteilt, an diesem Freitag, um die Mittagszeit herum, zu einem Zeitpunkt also, an dem er ihr normalerweise ein schönes Wochenende wünschte und dann schnurstracks mit der S-Bahn zum Ostbahnhof fuhr, um seine Fahrt Richtung Düsseldorf anzutreten, über Hannover bis nach Dortmund, wo er dann umstiege, gewissermaßen. Heute führe er nicht, hatte er gesagt, und Frau Krämer hatte daraufhin ja gesagt, so wie sie immer ja sagte, teilte er ihr etwas mit. Dass sie nicht meine Sekretärin ist, sondern die des Kollegen Kranzler, ist ihr sicher mehr als bewusst, obgleich sie meine Aufträge immer so schnell und so präzise wie möglich ausführt, wie es scheint. Sie können meine Sekretärin mitbenutzen, hatte Kranzler gesagt, kollegial lächelnd, es sei ja nicht meine Schuld, dass an diesem Ende gespart werde. Kranzler hatte tatsächlich mitbenutzen gesagt, nicht etwa in Anspruch nehmen, und er wusste nicht zu sagen, ob etwa ein frivoler Hintersinn in diesem Wort steckte oder nicht. Unwillkürlich hatte er sie sich nackt vorstellen müssen, nackt in ihrem Bürostuhl sitzend und arbeitend, nicht etwa auf dem Schreibtisch liegend mit gespreizten Schenkeln, nein, durchaus nicht, einfach nur nackt und arbeitend. Sein Verhältnis zu der Krämer, wie sie allenthalben genannt wurde, war aber eher kühl, und er fürchtete, sie nähme ihm die zusätzliche Arbeit übel, obwohl er doch unter normalen Umständen alle Anrufe immer automatisch in sein Büro leiten ließ, was manch einen Gesprächspartner überraschte. Die Krämer also wusste, dass er nicht heim gefahren war, sondern zuhause blieb. Er hatte es für sich immer so und nicht anders formuliert, heim und zuhause, wobei das Heim ja tatsächlich ein wenn auch kleines Haus war, gute vier Zugstunden entfernt, während sein Zuhause aus einer Mietwohnung bestand, einer Zwei-Raum-Wohnung mit Bad und Balkon in Prenzlauer Berg. Hier, wie auch dort, wartete niemand auf ihn. Er stand oft wochentags, wenn er am Abend, wie zumeist, nicht ausging, so wie jetzt, am Fenster und sah hinaus. Anrufe kamen selten, und auch jetzt rechnete er nur mit dem einen, der kommen sollte, kommen musste, den er ausdrücklich erbeten hatte, der ihm Klarheit verschaffen würde, endgültig, wie er dachte. Die Mitteilung würde nichts an sich haben, das nach einer Mitte aussähe zwischen den Möglichkeiten, beide waren ihm gleich recht, weil schließlich wahr, keine war vorzuziehen, auf keine hatte er eine spezielle Hoffnung gesetzt. Ich bin weder lebensmüde noch lebensgierig, dachte er, ich selbst bin diese Mitte, auch wenn ich nicht habe ahnen, nicht einmal habe denken können, dachte er jetzt wieder, dass eben die Hoffnung, meine Hoffnung nicht nur nicht zur Anwendung kommen, sondern sich als aufgebraucht, nein, als verloren erweisen würde. Und das in einem Sinne, der ein pures Nichtmehrvorhandensein bedeutete, ein nur noch in der Erinnerung Vorkommendes, ein Begriff, der leergelaufen war, so wie ein Weinschlauch leer läuft, wenn er ein Loch hat.

Er ließ den Apfel wieder in die Tasche gleiten. Hoffnung, dachte er, ein Wort, ohne weiteres in jedem Zusammenhang, auch dem alltäglichsten, anwendbar, so wie zuletzt in Hannover auf dem Hauptbahnhof, als der Zug wegen eines Lokschadens feststand, als ein, er erinnerte sich des Aufruhrs, von mehreren Reisenden bedrängter Bahnmitarbeiter erklärte, er hoffe, es gehe in Kürze mit einer neuen Lok weiter. Hunderte von Reisenden waren schließlich in einen anderen Zug umgestiegen, der, wie freitags üblich, schon überfüllt gewesen war. Wie erschlagen hatte er seinen Zielort erreicht, sein Heim, und war dort sofort ins Bett gefallen, ohne noch irgendetwas anderes tun zu können. Ich erinnere mich, dachte er jetzt, wie ich, zwischen Leibern eingekeilt, hoffte, bald heim zu kommen, einfach die Hoffnung habend, nichts mehr würde schief laufen auf dieser Reise, dieser Fahrt, die er fast jedes Wochenende auf sich nahm, gut tausend Kilometer insgesamt, hin und zurück. Er besaß eine früher so genannte Jahresnetzkarte, seit Jahren schon, einmal um die Erde jedes Jahr, trotzdem aber nur pendelnd zwischen Berlin und seiner Heimatstadt, in der er dieses Haus besaß, von dem er sich nicht trennen konnte, selbst wenn er es kaum bewohnte. In Berlin fühle ich mich wohl, dachte er immer wieder, ich bin ein Großstadtmensch, kein Kleinstadtmensch, in der Kleinstadt werde ich verrückt, bleibe ich länger dort als ein paar Tage. Allein auch das Hineinfahren in diese Menschenansammlung Ruhrgebiet verursachte ihm noch jedes Mal eine nervliche Belastung, die mit jedem Zusammentreffen mit einem dieser Ruhrgebietsmenschen sich verstärkte, allein durch das Anhörenmüssen des schweren westfälischen oder auch westfälisch-rheinischen Akzentes, dessen Zungenschlag das akustische Bild abgibt des gemeinhin schwerfälligen, wenn auch auf eine Art gleichsam bequem-quirlig-biegsamen Charakters dieses Ruhrgebietsmenschen, der ja nichts als ein bis in die Tiefe seines Wesens hinein verkleinbürgerlichter Charakter ist, so dachte er oft, und allein durch diesen Gedanken wurde ihm übel bis zum Brechreiz, und nicht selten erbrach er sich tatsächlich im Laufe der beiden Tage, die er dort zu verbringen hatte, selbst wenn er streng auf die Bekömmlichkeit seiner Speisen achtete. Auch einen Durchfall hatte er immer, der sich aber schon mit dem Herausfahren aus dem Ruhrgebiet am Sonntagnachmittag nicht nur besserte, sondern schlicht nicht mehr vorhanden war. Selbst wenn ich, so dachte er jetzt, im Erker stehend und zwei döneressende Alkoholiker vor dem Imbiss gegenüber beobachtend, am Sonntag nichts als unvernünftige Speisen zu mir nehme, so ist doch mein Stuhlgang am Montagmorgen in Berlin der allerbeste und befriedigendste und nicht zuletzt auch Voraussetzung für einen gelungenen Tag. Nichts ist wichtiger als ein befriedigender morgendlicher Stuhlgang, dachte er jetzt weiter, ein von ihm oft gedachter Gedanke, denn ein gelungener, gleichsam ästhetischer Stuhlgang bedeutete ihm morgens Einklang mit der Natur seiner selbst. Dahingegen war ihm das Zur-Toilette-Gehen am Samstag- und Sonntagmorgen ein Vorgang, vor dem ihm graute, war doch niemals etwas anderes zu erwarten als ein Ruhrgebietsdünnschiss, egal, was er noch in Berlin gegessen hatte. In seinem Magen- und Darmtrakt verwandelte sich jede in Berlin eingenommene Mahlzeit allein durch das Hineinfahren ins Ruhrgebiet zu einer stinkenden hellbraunen Flüssigkeit, die er, schon unter Krämpfen leidend, in sein Haus trug, um sie in das Klosett hinein zu entsorgen. In Berlin konnte er essen, was immer er wollte, der Stuhlgang war immer ein befriedigender, der zur immer gleichen Zeit am immer selben Ort wochentags zur immergleichen Voraussetzung eines gelingenden Tages wurde. Warum nur, so dachte er jetzt, reise ich überhaupt, wenn sich mir dort der Magen umdreht, mal ganz abgesehen davon, dass ja dort auch ein Erbrechen schon kurz nach den Mahlzeiten nie auszuschließen, ja tatsächlich sogar zu erwarten ist, ohne dass dadurch der Durchfall ausbliebe. Es rinnt und erbricht sich aus mir heraus, dachte er, immer noch die Döner-Esser beobachtend, sobald ich den Boden des Ruhrgebiets betrete. Die Hoffnung, ohne ein Erbrechen oder einen Durchfall zwei Tage in meinem Haus im Ruhrgebiet zu verbringen, ist trügerisch, immer trügerisch geblieben, auch wenn das Haus, so dachte er, welches ich doch längst hätte verkauft haben können, sich nur am Rande des Ruhrgebiets befindet, knapp nördlich der Ruhr und immerhin mit Blick auf das Sauerland und nicht etwa mit Blick auf Fördertürme oder Hochöfen, die es ja auch dort ohnehin kaum noch gibt. Nichts wäre besser für mich, als diese magenumdrehende Ruhrgebietsmenschenansammlung für immer zu meiden, das Haus, wenn auch unter Preis, zu verkaufen, auch wenn ein guter Preis zu erzielen nicht außerhalb jeder Möglichkeit liegt, ist doch der gemeine Ruhrgebietler mehr oder weniger ein kleinbürgerlicher Eigenheimmensch, ähnlich dem Schwaben, der nichts mehr anstrebt als das eigene Heim in einer Vorstadt, die ja das ganze Ruhrgebiet tatsächlich ist, eine Vorstadt mit Kleinstadtcharakter, in denen Kleinstadtcharaktere ihr Wesen treiben. Es ist zum Kotzen, dachte er.

Zu all dem, zu dem magenruinierenden Tonfall und Akzent der einheimischen Bevölkerung in den Vorstädten, die sich um die Karikaturen von fußgängerzonendurchsetzten Stadtkernen wie Geschwüre ausbreiten, dachte er jetzt weiter, während die Döneresser, die trotz der Kälte draußen ausharrten, sich Bier bringen ließen, kommt noch mehr oder weniger deutlich die gehirn- und gedankenzersetzende Wirkung des Ruhrgebietsmilieus an sich, ein überall einen geradezu anspringendes Zersetzungsmoment, welches einen jeden Gedanken zerstört, wenn nicht bereits im Ansatz, so doch spätestens im Zustand der Frühreife. Die Versuche, am Wochenende in meinem Haus im Ruhrgebiet zu denken, musste ich aufgeben, dachte er, verstand ich doch meine eigenen, in Berlin geschriebenen Texte nicht mehr, so dass ich sie durch mein Bearbeiten immer ruiniert mit zurück nach Berlin nahm, wo ich sie nicht selten am Sonntagabend neu schreiben musste, von Grund auf neu. Nichts ist unmöglicher als eine geistige Tätigkeit auszuüben, hat man den Boden des Ruhrgebiets betreten. Der gemeinhin sozialdemokratisch verbildete Kleinbürger, der, zumal am Wochenende, sich auf den Weg in seinen Schrebergarten macht, um zwischen Autobahnzubringern und Fernbahngleisen das Wochenende zu verbringen, hinterlässt in den Vorstädten nichts als wohlgeordnete auf Eicherustikal gebeizte Bücherregale mit Reader’s-Digest- und Bertelsmann-Buchklub-Geistesruinenbücher, die ungelesen übergroße Farbfernsehgeräte umstellen, deren kleinere Schwestern und Brüder in den Schrebergartenhäuschen ihren Dienst verrichten, die Unterhaltung nämlich von Millionen von Menschen, deren Daseinszweck sich darin erschöpft, dachte er, mir Magen und Gehirn umzudrehen. Und auch die Vorstellungsgespräche, das fiel ihm jetzt plötzlich ein, die er Kranzler zuliebe über sich hatte ergehen lassen, als vor wenigen Monaten ein junger Assistent gesucht wurde, da der angestammte sich zu Tode hat fahren lassen, endeten mit einer Übelkeit, die den Abend über anhielt, waren doch von vierzehn Kandidaten und Kandidatinnen nicht weniger als fünf Personen aus dem Ruhrgebiet, welche ja selbst in Berlin ihre geistzerstörende Wirkung entfalten können, wenn auch in geringerem Maße als in ihrem Heimatrevier. Immerhin, so erinnerte er sich, musste ich nicht erbrechen und selbst der Stuhlgang am folgenden Morgen war der üblich gelungene, den Einflüssen des Vortags zum Trotz. Am Ende entschied er sich für eine junge Frau aus Sachsen, die perfektes Hochdeutsch spricht und perfekte Zähne hat, die ihr zu einem tatsächlich unwiderstehlichen Lächeln verhelfen. Ich habe, so fiel ihm jetzt ein, vor Kranzler keinen Hehl daraus gemacht, aus welchem Grund ich sie ausgewählt habe. Immerhin war Kranzler schon nach wenigen Tagen ganz begeistert von der jungen Dame, mit der ich ja tatsächlich weniger zu tun habe als er, Kranzler, dachte er. Semper, wie die Oper, so ihr Name, Kranzler nennt sie Fräulein Semper, was sie sich ohne weiteres gefallen lässt. Vielleicht, so dachte er manchmal, habe ich die falsche Wahl getroffen, wenn auch die fünf Ruhrgebietsmenschen nicht in Frage gekommen sind, der schweren Zunge wegen, die zu verheimlichen allen diesen mir gegenüber nicht gelungen war. Mein Magen ist nichts weniger als ein Seismograph für Ruhrgebietsakzenterschütterungen, auch und besonders in Berlin, so dachte er jetzt weiter, während die Döneresser langsam in Richtung Kreuzung verschwanden. Ich bleibe also diesmal in Berlin, dachte er, nachdem er gedacht hatte, die Döneresser verschwinden in Richtung Kreuzung, ein einfacher Gedanke, der dem von ihm Beobachteten eins zu eins entsprach. Ja, das war einfach die Wahrheit.

Ich bleibe also diesmal in Berlin, sagte er sich noch einmal, um auf den Anruf zu warten, dessen Botschaft ihm im besten Falle eine Entscheidungsfreiheit geben würde, die er bis heute nicht besessen hatte. Ja, er erwartete diesen Anruf, bis Sonnabendmittag wissen Sie Bescheid, war gesagt worden, spätestens, und so wartete er also, jetzt bereits einige Stunden, doch es war ja erst Freitagabend, es konnte noch dauern. Aber er hoffte eben nicht, nicht auf die eine und nicht auf die andere Nachricht. Es gab nur zwei Möglichkeiten. Die eine schloss die andere aus, und das war ihm recht. Es musste so sein.

Zur vollen Stunde drehte er das Radio an, Deutschlandfunk, Nachrichten zu hören, die er dann kaum beachtete. Die Hauptsache war ihm jetzt, es wurde gesprochen, während er wartete, egal was, und selbst als die Verkehrshinweise alle Staus ab vier Kilometer Länge meldeten und als als erstes die seit Jahren übliche Meldung die A1 betreffend, die den Namen seiner Heimatstadt in die Welt hinausposaunte, verlesen wurde, beachtete er diese Meldung nicht mehr als jede andere, auch wenn sie wegen des täglich vielfachen Vorkommens die Hauptursache dafür war, dass seine mit aller Berechtigung völlig unbekannte Heimatstadt dem Namen nach inzwischen bekannt war, ihrer Lage wegen an der A1, auf der eben dort üblichweise Stau war, so wie im Ruhrgebiet immer Stau ist, nicht überall gleichzeitig, immer aber irgendwo, Tendenz steigend, in allen diesen Städten, denen ja ihre Lebens- und Daseinsberechtigung, das dachte er jetzt wieder einmal, mit dem Niedergang von Kohle und Stahl, es hieß ja immer Kohle und Stahl, abhanden gekommen war, die nichts weiter mehr waren, nichts weiter mehr sein konnten als ein Konglomerat hässlicher Mietskasernen und abstoßender Reihenhausreihen. Selbst die museal hergerichteten, viel eher aber hingerichteten Zechensiedlungen lösten bei ihm nichts anderes als Unbehagen oder sogar Übelkeit aus, selbst wenn keine Menschen zu sehen waren, aber eben das Sozialdemokraten Unternaturgemäßmusste konnteDeutschlandradio Kultur Speckgürtel im