Mit

Niederschlag

muss gerechnet

werden

 

 

 

Roman

 

 

Mathias Blühdorn

 

 

 

 

 

 

Impressum

 

1. Auflage, Juli 2015

 

Edition Dornenhecke

 

Text © 2015 Mathias Blühdorn

Cover Artwork © 2015 Melanie Rochow

Layout & Satz: autorenservice.net

Alle Rechte vorbehalten

 

Kontakt: mbluehdorn@googlemail.com

www.mathiasbluehdorn.com

www.facebook.com/MathiasBluehdorn

 

 

ISBN-13: 978-1514633922

ISBN-10: 1514633922

 

 

Danksagung

 

Wenn ich auf den Entstehungsprozess dieses Romans zurückblicke, dann fällt mir vor allen anderen Dingen auf, wie viele Wegbegleiter mir vergönnt waren. Für diese wertvolle und zahlreiche Unterstützung in unterschiedlichster Form möchte ich mich hiermit herzlich bedanken! Dies ist für alle Berater, Hinterfrager, Motivierer, Helfer, Probeleser, Vorabkritiker und Mutmacher, euch gebührt ein ganz besonderer Ehrenplatz!

 

Herausgehoben nennen möchte ich an dieser Stelle:

 

Meine Familie: Sandra, Mira und Justus. Danke auch dafür, dass ihr meine nicht enden wollenden „Ich muss jetzt leider gerade noch ...“-Momente ausgehalten habt!

 

Caroline Kaufmann & Renée Rogage für das Lektorat!

 

Melanie Rochow für die grafische Gestaltung!

 

Alexandra Falken für das Fotoshooting!

 

Toni Huber für die Hilfe mit Wordpress & Co.!

 

Nina Stehr für die Social Media Tipps!

 

Ines Zimzinski für die Crowdfunding-Beratung!

 

Sowie Karin Blenskens, Antje Veit, Lars Korittki,
Ellen Blühdorn, Dirk Rumberg, Marc Ritter und meinen Autorenstammtisch für unterschiedlichste Arten der Inspiration, Reflexion und sonstiger Unterstützung!

 

 

Wall Of Fame

 

Die Veröffentlichung dieses Romans ist durch die tatkräftige Unterstützung vieler wunderbarer Menschen ermöglicht worden. Auf dieser Seite möchte ich allen Unterstützerinnen und Unterstützern danken und einen Ehrenplatz einräumen, die über ihre Teilnahme beim Crowdfunding zu Geburtshelfern für das Romanprojekt geworden sind. DANKE, ihr seid großartig!

 

In alphabetischer Reihenfolge sind hier zu nennen:

 

Jochen Amann, Nicolai Bader, Valeska Alves-Brinkmann, Stefanie Bangert, Sebastian Bartels, Andrea Baschang, Manuel Becker-Drobnjak, Jens Brinkmann, Hanns Peter Bushoff, Andrea Chilf, Alexander Dimitrov, Katrin Dörrler, Margot Drews, Brigitte Emmrich, Alexander Douchet, Frederek Dreyer, Alexandra Falken, Andreas Fränzel, Ralf Garnies, Ulf Garnies, Petra Geiger, Silvia und Andreas Genz, Larissa Gleich, Jan Göktekin, Holger Greven, Alexander Grod, Ulrich Hain, Nicole Hasenjäger, Susanne Heiker, Ernst Hofacker, Linda Honigbaum, Dirk Hoffmann, Berno Hunsche, Patrick Jedam, Genia Jessen, Erik Jülicher, Christian Kaeßmann, Caroline Kaufmann, Tinka Kleffner, Lars Korittki, Alexandra Kraus, Peter Krum, Julia Marti, Claudia und Daniel Maurer, Mario Mendrzycki, Stefan Mesner, Christina Nicolay, Ronja Nielsen, Nash Nopper, Marco Oderkerk, Stephan Pallmann, Anke Peter, Frank Pilgram, Johann Plank, Susanne Rohde, Marc Schaeffler, Sascha Schuster, Wolfgang Schwerber, Tina Sikorski, Didi Späth, Nina Stehr, Stephanie Steimann, René Swienty, Torsten Tesch, Philipp Theil, Ulla und Jörg Tresp, Camilla Maria Ullmann, Christian Vadillo-Bilda, Anja Väterlein, Sebastian Varga, Antje und Robert Veit, Lars-Oliver Vogt, Birgit Wieland, André Wiesler, Dirk Wilberg, Simon Wohlleb, Stefan Zimmermann, Ines Zimzinski

 

 

Handlung und Personen in diesem Roman sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit zu lebenden oder toten Personen wäre rein zufällig und könnte allenfalls auf mir selbst nicht gegenwärtigen Einflüsterungen seitens meines Unterbewusstseins beruhen. Einzelne Schauplätze, Firmennamen oder auch Personennamen entstammen der wirklichen Welt, sämtliche mit ihnen in dieser Geschichte verbundenen Details oder Personen sind aber fiktional.

 

 

Pyeongchang!?

Nichts gegen asiatische Austragungsorte von olympischen Spielen – aber warum bitte Pyeongchang für die Winterspiele 2018 und nicht München/Garmisch-Partenkirchen? Diese Fehlentscheidung hat der Region einen solchen Knacks versetzt, dass sie für die Winterspiele 2022 nicht einmal mehr antreten wollte.

Wusste das IOC, dass Pyeongchang weniger als 10.000 Einwohner hat? Das spricht nicht gerade für eine gesunde Infrastruktur, wenn man die Welt zu Gast hat. Vom Klima her ist Pyeongchang und Umgebung exakt eine Miniaturausgabe von München und den Alpen, nur weniger Stadt und weniger Berg und auch sonst eher weniger inklusive „weniger gut“.

Wusste das IOC, dass Südkorea in den letzten Jahren jedes Jahr mindestens 42 halbwegs relevante Erdbeben zu verzeichnen hatte? Das ist im statistischen Schnitt ein Erdbeben alle 8,7 Tage. Bei der geplanten Gesamtdauer von 17 Tagen sind das voraussichtlich ziemlich genau 2 Erdbeben im Laufe der Spiele. Das wird eine gerüttelte Angelegenheit!

Wollen wir nur hoffen, dass am Ende nicht noch das südkoreanische Pyeongchang mit Pjöngjang, der Hauptstadt NORDkoreas verwechselt wurde…

(Forumsbeitrag auf www.spiegel.de)

 

Was für eine elendige Datenflut. Die aktuellen Meldungen des Wetterdienstes rauschten kolonnenweise an Anton vorbei, ohne dass er ihnen wirkliche Beachtung schenkte. Es gab auch nichts Herausragendes oder gar Sensationelles zu vermelden. Wie denn auch – schließlich lebte er ja in Deutschland, und da war das Wetter insgesamt eigentlich nichts Beachtenswertes. Dummerweise gehörte es zu Antons Pflichten bei biowetter.com, aus diesen elendigen Daten die Essenzen des Tages und vor allem der kommenden Tage herauszulesen und diese einmal gut durchgekaut und in kleine, handliche Portionen verpackt zu bündeln und zu kommentieren. Fast immer ging es um eine möglichst interessante und aussagekräftige Ausformulierung des wettertechnischen Mittelmaßes, gelegentlich mäandrierend zwischen absoluter Zumutung und sonniger Zuversicht. Ja, er hatte sich zumindest das Wetter in Süddeutschland besser vorgestellt, als er vor vier Jahren aus dem kühlen und vermeintlich so viel verregneteren Norden nach München gezogen war. Und ja, als studierter Meteorologe hätte er es vermutlich besser wissen müssen, wenn er nur jemals die gleiche Emsigkeit und Datenliebe aufgebracht hätte wie viele seiner ehemaligen Kommilitonen.

 

Mit einem leisen ‚Bing‘ drängte sich ein Fenster rechts unten auf seinem Bildschirm in den Vordergrund und machte ihn auf eine neu eingetroffene E-Mail aufmerksam. Doro. Was wollte die denn jetzt? Und warum mailte sie ihm an seine dienstliche Adresse? Er hatte ihr oft genug gesagt, dass er das nicht gerne sah und das Private lieber im Privaten ließ. Aber wann hatte sich Doro je darum geschert, was er für richtig oder falsch hielt? Jetzt, da sie ausgezogen war, war es natürlich auch egal. Das ersparte immerhin weitere Diskussionen – ein Trostpreis.

 

An: Pröhlmann, Anton, biowetter.com

Von: <dorothea.schwalmbach@meinemail.de>

 

Mein Zweitracket liegt noch bei dir im Schrank

Hallo, Anton,

mir fällt gerade ein, dass ich mein Zweitracket noch bei dir liegen habe. Ich komme heute tagsüber in deine Wohnung und hole es ab. Hab auch noch einen Schlüssel von dir, den lasse ich bei deiner Nachbarin von gegenüber, du hattest den ja vorher auch bei der liegen, falls mal was ist.Dann haben wir das auch erledigt.

Grüße, Dorothea

 

Aha, sie waren wieder bei ‚Dorothea‘ angekommen. Es hatte sich also ‚ausgedorot‘. Na bitteschön. Sollte sie ihr dusseliges ‚Zweitracket‘ doch bloß besser früher als später holen. Wieso konnte sie ihr Sportgerät nicht wenigstens ‚Ersatzschläger‘ nennen, wie andere normale Menschen?! Bei ihr musste es ja immer das Besondere sein. So squashbesessen wie sie war, war ihr aktuelles ‚Erstracket‘ mit Sicherheit irgendeine Neuheit von der Sportartikelmesse vor zwei Wochen, zu der sie extra angereist war. Angeblich mit einer ähnlich sportverrückten Freundin namens Stefanie, von der Anton nie zuvor gehört hatte. Wer weiß, vielleicht war es auch ein noch viel sportverrückterer Typ namens Stefan gewesen, der ganz nebenbei noch ein horizontales Work-out-Programm mit intensivem Vorhandtraining geboten hatte.

 

Anton versuchte, sein Kopfkino zu stoppen. Solcherlei Gedanken waren seiner Verfassung nicht gerade zuträglich. Was als Fakt blieb, war Doros Fitness- und Bewegungssucht, und allein die konnte ihn schon die Wand hochlaufen lassen. Zu Beginn ihrer Beziehung hatte Anton das Gefahrenpotenzial, das in Doro schlummerte, noch nicht erkennen können. Sie schien einfach nur gut durchtrainiert und relativ fit zu sein und bot damit ein durchaus anziehendes Erscheinungsbild. Sie zeigte auch keinerlei Psychomacken in irgendeine Richtung, sondern wirkte vielmehr unkompliziert und pflegeleicht. Später offenbarte sich jedoch Stück für Stück, welch manische Sportbesessenheit in ihr wütete. Vielleicht war es mit der Zeit auch einfach immer schlimmer geworden bis hin zu dem Moment, in dem Anton nicht mehr anders konnte als sich einzugestehen, dass der beste Freund seiner Freundin in Wahrheit zwanghafter Bewegungswahn in jedweder Ausprägung war.

Eine ganze Weile, bevor sie bei ihm einzog, hatte er Doro in ihrer damaligen Wohnung auf ihrem sündhaft teuren Laufband angetroffen, das – alle darumherum liegenden Sportaccessoires eingeschlossen – ungefähr ein Drittel ihres Wohnzimmers beanspruchte. Ihm war die Spucke weggeblieben, als er das Zimmer betrat: Doro hatte die Laufbandgeschwindigkeit auf einen Wert eingestellt, der sie in eine Art Langstreckenspurt zwang – Anton sagte gerne auch ‚Galopp‘, weil es ihn an die Hast angetriebener Gäule erinnerte, und er sich nicht vorstellen konnte, wie ein Mensch seinem Körper dies freiwillig zumuten wollte. Gleichzeitig vollführte sie mit beiden Armen Übungen mit zwei Lady-Hanteln – etwas leichter als die von Arnold Schwarzenegger und in feminineren Farben. Hoch, zur Seite, ran, nach vorne, zur Seite, ran. Was für ein Quatsch. Bei alldem die Balance zu halten, schien nicht gerade einfach zu sein, wie Anton an Doros fortwährenden Korrekturen und Beinahe-Stürzen erkennen konnte. Die wirkenden Kräfte kamen sich immer wieder gegenseitig in die Quere, was Anton spontan an abenteuerliche Multi-Achsenrotations-Fahrgeschäfte wie den Kraken von der Kirmes denken ließ.

Stumm und allenfalls mit einer gewissen physikwissenschaftlichen Faszination hatte er das Schauspiel betrachtet. Er hätte ohnehin keinen passenden Kommentar zu dieser Szene gewusst, der nicht unweigerlich zu getrennten Betten geführt hätte. Wer’s braucht – er brauchte es nicht. Und er brauchte sie nicht mehr, jetzt, wo sie meinte, ihn ganz plötzlich gar nicht mehr zu brauchen.

 

Um seine Gedanken in andere Bahnen zu lenken, schaute Anton auf eine weitere ungelesene Mail, diesmal in seinem privaten Postfach. Hörnchen hatte geschrieben:

 

An: Pröhlmann, Anton, freemail.de

Von: <hoernchen@hellsbells.com>

 

piste heute abend

hi anton,

eh dir die decke auf den kopf fällt: wir gehen heute raus und ziehen um die häuser! das ist kein vorschlag, alter, das ist dein fahrplan für heute abend. ich komm um 20 uhr bei dir rum und dann geht’s los. schlechte laune verboten! ich werd schon nachhelfen, falls du trauer schieben willst – und nich vergessen: es gibt nur einen anton pröhlmann, es gibt nur einen anton pröööööööhlmann, es gibt nur einen anton pröhlmann!

cheers,

hörnchen

 

Hörnchen, der Gute. Echt lieb von ihm, wie er sich ins Zeug legte. Na ja, es sprach ja nichts dagegen, heute Abend etwas abzuschalten und sich auf gute alte oder vielleicht sogar bessere neue Zeiten zu besinnen. Diese südkurvenartige E-Mail-Fanfare auf seinen Namen empfand Anton jedoch eher als etwas belastend. Vielleicht lag das weniger am verschrifteten Gegröle – das konnte Anton ganz gut ab, solange es von Hörnchen kam und nicht abendfüllend ausgeweitet wurde – als daran, dass Anton nur ungern so massiv mit der Nase in seinen eigenen Namen gestoßen wurde.

‚Anton‘ also. Nun ja, bekanntlich hat man ja wenig Einfluss auf die Wahl seines Vornamens. Ein günstiger Griff im Hinblick auf seine soziale Position in Jugendzeiten schien der Name jedenfalls nicht gewesen zu sein: Seine Mitschüler hänselten ihn gerne mit laut skandierten Sätzen wie „Mama! Papa! Wie konntet ihr mir das nur Anton?!“ oder zu seinen eher pummeligen Zeiten im Sportunterricht: „Seht euch das an. An-Tonne versucht zu laufen!“

Immerhin war man bei alphabetisch sortierten Listen immer ziemlich weit oben und musste nie lange warten, bis man aufgerufen wurde. Zumindest dann nicht, wenn es nach dem Vornamen ging. Sein Nachname hingegen verlieh ihm eher die Mittelposition, mittendrin im Geschehen, weder Kanonenfutter noch Ausputzer am Ende der Kette. Pröhlmann. Auch nicht gerade sein Wunschname, hätte er ihn sich aussuchen können. Am Ärgerlichsten fand er das ‚Ö‘ und die damit verbundene phonetische Ähnlichkeit zum Wort ‚Dröge‘. Und dröge wollte Anton wahrlich nicht sein. Anton Pröhlmann. Alles in allem ein Name, auf den Anton hätte verzichten können. Beim Nachnamen ließ sich im Zweifel noch etwas machen, beispielsweise durch eine namenstaktisch raffinierte Eheschließung, aber mit dem Vornamen musste er wohl dauerhaft leben. Ein origineller Spitzname, das wäre noch eine Chance gewesen, aber aus unerfindlichen Gründen weigerte sich sein Umfeld seit Jahrzehnten, ihm auch nur versuchsweise eine individuelle Abwandlung seines Namens anzudichten. Und sich Spitznamen für sich selbst auszudenken und in Umlauf zu bringen, wurde vermutlich mit mildem Mitleid bestraft und kam daher leider nicht infrage.

 

Da hatte es Hörnchen schon besser. Nicht dass speziell ‚Hörnchen‘ ein besonders erstrebenswerter Spitzname gewesen wäre, aber immerhin war es einer, ein unverwechselbarer zudem, der davon zeugte, dass Hörnchens Umfeld in ihm irgendwie jemand Besonderen sah, der auch einen besonderen Namen verdient hatte.

Hörnchen hieß eigentlich Thomas, aber daran konnte sich kaum noch jemand wirklich erinnern. Schon zu Schulzeiten war er ein riesengroßer AC/DC-Fan gewesen, der sich des Öfteren den Spaß erlaubt hatte, in einer Art Schulanzug im Stile von Angus Young zum Unterricht zu erscheinen. Zu besonderen Anlässen krönte er diesen Aufzug mit einem Haarreif, auf dem AC/DC-Teufelshörnchen montiert waren, mit Batteriebetrieb, sodass sie im Dunkeln leuchten konnten. Und seit diesen frühen Schultagen hieß Thomas für alle nur noch Hörnchen. Selbst gegenüber neuen Bekanntschaften stellte er sich irgendwann nur noch als Hörnchen vor. Kein Vorname, kein Nachname – nur Hörnchen. Das kam nicht immer gut an, hatte aber Konsequenz. Und so ein Alter Ego brachte den Vorteil mit sich, dass man sich auf gewisse Weise auch dahinter verstecken konnte. Anton Pröhlmann konnte dies nicht.

 

„Herr Pröhlmann, könnten Sie bitte mal in mein Büro kommen.“

Um mindestens zwei Ecken herum hallte die Stimme seines Vorgesetzten in Antons Zimmer und klang dabei ungewöhnlich förmlich und distanziert. Seufzend erhob Anton sich und trottete zu seinem Abteilungsleiter. Herr Grabosch saß bei geöffneter Tür wie eine Salzsäule hinter seinem Schreibtisch und stierte halb an Anton vorbei in Richtung Türrahmen. Sein Gesichtsausdruck war undefinierbar. Nichts Gutes ahnend betrat Anton das Büro, in dem bereits Frau Mahler aus der Personalabteilung saß. Das wird doch nicht etwa ...

„Bitte setzen Sie sich, Herr Pröhlmann, wir haben etwas zu besprechen.“

Herr Grabosch war Leiter der meteorologischen Abteilung bei biowetter.com und im Prinzip ein umgänglicher Typ, der seine Mitarbeiter gerne an der langen Leine ließ. Dass er hier nun eine dermaßen ernste Miene aufsetzte, gefiel Anton überhaupt nicht.

„Herr Pröhlmann, ich will gleich zur Sache kommen. Sie waren für mich immer ein geschätzter Kollege, aber nach einer routinemäßigen Zweitauswertung einiger Datensätze aus den letzten Monaten ist aufgefallen, dass speziell bei Daten, die Sie bearbeitet haben, immer wieder Unregelmäßigkeiten auftraten.“ Herr Grabosch blätterte in einigen Unterlagen, die er vor sich bereitliegen hatte. „Merkwürdigerweise haben Sie diverse Wetterdaten und damit publizierte Wetteranalysen und -prognosen für das gesamte Bundesgebiet systematisch besser dargestellt, als die eigentliche Datenlage dies erlaubt hätte. Mit zunehmenden Abweichungen und Häufigkeiten in der jüngeren Vergangenheit! Da würde ich jetzt doch gerne hören, was Sie dazu wohl vorbringen können?“

„Ach so, ja, das kann ich Ihnen schon erklären, Herr Grabosch ...“. Anton begann zu schwitzen. Er war aufgeflogen. Irgendwie hatten sie es also herausbekommen. In seinem Kopf rotierte es. Gerne hätte er jetzt erst einmal Zeit zum Nachdenken gewonnen, doch diese Zeit hatte er einfach nicht, er war überrumpelt worden. Egal, jetzt zählt es. Steh zu dem, was du tust! „Der Hintergrund ist der, dass unser Wetterservice hier bei biowetter.com ja nicht nur als reine Informationsquelle für die Website-Besucher funktioniert. Was wir schreiben, beeinflusst unmittelbar die Erwartungshaltung und damit auch das Wohlbefinden vieler Menschen. Und da schien es mir eine gute Idee zu sein, den Menschen über positive Prognosen zu einer konstruktiven Einstellung zu verhelfen. Das kann im guten Sinne ja zu einer Art self-fulfilling prophecy werden, wie es so schön heißt.“

Frau Mahler und Herr Grabosch wechselten einen Blick, der Vieles bedeuten konnte, mit Sicherheit aber eine gehörige Portion Fassungslosigkeit enthielt. Herr Grabosch strich sich zum wiederholten Male in vermutlich glätten wollender Absicht über seine bereits tadellos sitzende Krawatte und schnappte kurz und heftig nach Luft. Er setzte zu einer Entgegnung an, schloss dann aber zunächst wieder seinen Mund und schließlich auch seine Augen für einen kurzen Moment und lehnte sich betont langsam in seinem Schreibtischsessel zurück, fast so, als würde er sich selbst einen Gang herunterschalten wollen.

„Self-fulfilling prophecy?! Herr Pröhlmann, wollen Sie damit sagen, dass das Wetter dadurch besser werden soll, dass die Leute glauben, dass es gutes Wetter gibt!? Dass Wolken verschwinden, Regenschauer verhindert und Kälteeinbrüche abgemildert werden? Ich muss schon sagen: Das ist allerhand. Abgesehen davon, dass Sie damit jegliches Vertrauen in Ihre Arbeit zerstört haben, ist es auch noch völlig sinnlos!“

„Nun, so in physisch-meteorologischer Hinsicht verändert das natürlich nichts, aber eine positivere Grundstimmung in der Bevölkerung kann viel bewirken. Einige migränegeplagte Menschen zum Beispiel könnten kopfschmerzfrei durch den Tag gehen, das ist reine Psychologie, wie bei der Wirtschaft und Aktienkursen. Wo soll der Aufschwung denn herkommen? Ich wollte damit einen Dienst an der Gesellschaft leisten und etwas Gutes tun.“

Es sah nicht unbedingt danach aus, als würde Herr Grabosch Antons Perspektive einnehmen können oder wollen. Sein Gesicht hatte sich allmählich zu einem erkennbaren Leuchtendrot verfärbt, und der Lieblingskugelschreiber seines Chefs – ein schönes Mont-Blanc-Exemplar mit Gravur, ein Weihnachtsgeschenk seiner Frau – rotierte zwischen seinen nervösen Fingern in einer Geschwindigkeit, die nichts mit den meditativ kreiselnden Bewegungen gemein hatte, die Anton aus diversen Meetings bekannt waren und die auf ihn immer eine leicht hypnotische Wirkung gehabt hatten. Mit gepresster Stimme und nur mühsam im Zaume gehaltenem Zorn bog Herr Grabosch nun auf die Zielgerade des Gesprächs ein: „Herr Pröhlmann, das ist das Absurdeste, was ich je gehört habe. Jegliche weitere Diskussion ist überflüssig. Wir sind ein Datendienstleister, und Sie haben Daten bewusst gefälscht und manipuliert. Wir entlassen Sie heute fristlos. Wenn Sie weiterhin einen guten Dienst an der Gesellschaft leisten wollen, dann suchen Sie sich möglichst schnell einen neuen Job, damit Sie dem Staat nicht auf der Tasche liegen! Das ist alles, was ich dazu noch anmerken möchte. Frau Mahler wird alle weiteren Formalitäten mit Ihnen klären. Anschließend haben Sie eine Stunde Zeit, um Ihren Arbeitsplatz zu räumen, danach will ich Sie hier nicht mehr sehen!“

Wie eine Gewitterwolke rauschte Herr Grabosch an Anton vorbei, seine eben noch glatt gestrichene Krawatte wie ein Wetterfähnchen im Winde taumelnd, und verließ energischen Schrittes das Zimmer. Wohin auch immer er unterwegs war, denn die Unterredung hatte ja in seinem Büro stattgefunden. Hätte Anton doch diesen Sturm nur besser vorhersagen oder sich wenigstens besser auf ihn vorbereiten können. Nun war der Platzregen auf ihn eingeprasselt und würde ihn unwiderruflich auf die Straße spülen.

Wieso hatte man kein Verständnis für einen engagierten, ambitionierten Mitarbeiter, der über gesellschaftliches Verantwortungsgefühl und Empathie verfügte und über den Tellerrand wissenschaftlich penibler Faktenpflege hinaus das größere Ganze im Auge behalten wollte? Das Leben war nicht immer fair.

 

 

Robin nimmt seinen Hut und verlässt die Hood

Undank ist der Welten Lohn – wer Gutes sät, der erntet Hohn. Leider bewahrheitet sich manch alte Erkenntnis nur allzu gerne auch im modernen echten Leben. Man sollte einfach alle Ambitionen fahren lassen und seine Umwelt und das versammelte Mitmenschentum getrost sich selbst überlassen. Viel Spaß dann noch mit der ungeschminkten Realität – ganz ohne Stützräder; ohne Zivi, der einen füttert; ohne Netz und doppelten Boden; ohne eine frische Note im tristen Grau.

(Eintrag auf www.meinemeinung.blog.de)

 

Selten zuvor hatte Anton den Heimweg aus der Firma so früh und so missgelaunt angetreten. Was alles nur noch schlimmer machte, war das Gefühl, dass alle Menschen um ihn herum ihm an der Nasenspitze ansehen konnten, dass er innerhalb kürzester Zeit alles gründlich in den Sand gesetzt hatte: erst Doro, die ihm nicht einmal plausibel erklären konnte, was genau ihre Begeisterung für eine Beziehung mit ihm zum Erliegen gebracht hatte, jetzt auch noch der plötzliche Verlust seines Arbeitsplatzes. Aus den Augenwinkeln schienen ihn Passanten argwöhnisch zu mustern: So sieht man also aus, wenn man nichts auf die Reihe bekommt? Schau, Kind, so sieht ein Versager aus, merk es dir gut und nimm dich in Acht.

Und wie viele Leute um ihn herumwuselten auf seinem halb betäubten Weg nach Hause – auf den Straßen, in den Geschäften, in der Tram. Es erstaunte ihn immer wieder, wie viele Menschen sich am helllichten Werktag auf den Straßen tummelten. Hatten die auch alle keine Arbeit? Oder Urlaub? Wenn jeder im Schnitt pro Jahr sechs Wochen Urlaub hatte und eine Woche krank war, dann waren das sieben von etwa zweiundfünfzig Wochen, die das Jahr hatte, ein knappes Siebtel also. Und das bedeutete grob überschlagen, dass zu jedem beliebigen Zeitpunkt etwa jeder siebte Werktätige gerade nicht arbeitete. Eine beeindruckende Zahl. Andererseits verbrachte man seine Urlaubszeiten und Krankheitstage ja zu großen Anteilen eher nicht auf heimischen Straßen, insofern blieb das Phänomen ein Phänomen, trotz aller anderen Menschen mit relativ freier Zeiteinteilung wie Rentner, Kinder, Studenten und Arbeitslose, zu denen er sich nun auch zählen musste, wie ihm mit Schrecken bewusst wurde.

Auch die Tram, in die Anton stieg, war gut gefüllt. Er ergatterte einen freien Platz und ließ sich ermattet sinken. Schräg gegenüber auf der anderen Seite des Ganges saß eine Frau mittleren Alters mit ihrem Sprössling, der Anton interessiert begutachtete. Als seine Mutter den Blickkontakt bemerkte, unterzog sie Anton einer ebenso blitzartigen wie gründlichen Musterung. Das Ergebnis schien nicht zufriedenstellend auszufallen, denn ihre Miene zeugte von offenkundiger Geringschätzung. Und anscheinend war Anton nach ihrer Einstufung selbst für nonverbale Kommunikation kein geeigneter Umgang für ihren Filius. Sie zog ihr Kind mit einem entschlossenen Ruck noch näher zu sich heran, was den erschreckten Jungen in akute Quetschungsgefahr brachte. Nach einer Weile entspannte sich ihre kämpferische Verteidigungshaltung wieder und wandelte sich in demonstratives Desinteresse. Der Junge, der nun wieder atmen und sich freier bewegen konnte, zog einen Lutscher aus seiner Jackentasche und sabberte genüsslich an dem süßen Klebeding herum. Seine Mutter schaute derweil weiter aus dem Fenster, zog ihren rechten Fuß aus dem Schuh und begann, sich mit Zeige- und Mittelfinger abwechselnd ihre Schläfen und ihre Fußzehen zu massieren, wobei sie leicht gequält schaute. Da das Wechselspiel dem Leid der geplagten Frau keine Abhilfe zu verschaffen schien, versuchte sie es jetzt simultan: linke Hand Schläfe, rechte Hand Fuß, mal im Uhrzeigersinn, mal dagegen.

Bei ihrem Sohn war der orale Drang zwischenzeitlich erloschen. Ratlos schaute sich der Junge nach einer geeigneten Lager- oder Entsorgungsmöglichkeit für seinen eingespeichelten Lutscher um und wandte sich schließlich mit stummer Geste hilfesuchend an seine Mama, die seine Notlage jedoch nicht ansatzweise registrierte, da sie mit ihren eigenen Unpässlichkeiten vollauf beschäftigt war. Nachdem sein Begehr an Mama abgeprallt war, fiel sein Blick auf den Boden, wo wiedereinstiegsbereit Mamas rechter Schuh geparkt stand. Einladend reckte sich ihm die Öffnung entgegen. Der Ruf blieb nicht ungehört, und so versenkte Junior das Klebedings am bestmöglichen Platz weit und breit, wobei er gründlich vorging und den Lutscher nicht einfach nur fallen ließ, sondern mit entschlossener Konzentration ganz nach vorne in den Schuh schob. Mission erfolgreich! Der Kleine strahlte.

Dies wäre vermutlich der Moment gewesen, an dem ein freundlich gestimmter Anton die Migräne-Mama höflich auf die drohende Gefahr hingewiesen hätte. Leider hatten jedoch weder die bisherigen Geschehnisse des Tages noch die Klebedings-Sorgeberechtigte Anton in eine freundliche Stimmung versetzen können, daher bestand seine einzige Reaktion darin, dem Kleinen ein anerkennendes Nicken zuteilwerden zu lassen.

Beim nächsten Halt fuhr die Frau zusammen und erwachte ruckartig aus ihrer Massagetrance. Sie sprang auf, schnappte sich mit der linken Hand ihre Einkaufstasche, mit der rechten die Hand ihres Sprösslings und rammte ihren Problemfuß eiligst an seinen angestammten Platz im bereitstehenden Schuh. Die Information, dass dort etwas ganz und gar nicht stimmte, brauchte in der Hast des Hinauseilens aus der Tram etwas länger, bis sie im operativen Migränezentrum eingetroffen war. Erst mitten im Lauf riss die Frau entsetzt ihre Augen auf und begann lauthals zu schreien und zu humpeln. Ihr Sohn starrte sie verwundert an und setzte mechanisch den Weg hinaus ins Freie fort, als seine Mama vor lauter Schreck seine Hand losließ. Trotz der Schmerzen hüpfte und humpelte die jetzt noch sehr viel misslaunigere Mama mit beinahe schon artistischem Geschick hektisch aus der Tram auf die Straße hinunter zu ihrem Sohn, bevor die Türen sich schließen konnten.

Unten angekommen, ging der Veitstanz jedoch erst richtig los: Auf dem linken Bein auf und ab springend, trat die Frau mit ihrem rechten Bein aus wie ein bockiger Gaul. Die mittlerweile geschlossenen Türen der Tram dämpften ihr Zetern und Fluchen nur unzulänglich, das sich in einem beeindruckenden Crescendo steigerte. Mit einem Mal beugte sich der rechte Schuh den Fliehkräften, löste sich vom Fuß und knallte mit einem dumpfen Klatschen an das Tramfenster, vor dem die Dame bis vor Kurzem noch gesessen hatte. Kick it like Beckham, ging es Anton durch den Kopf, immerhin hatte das Schauspiel große Ähnlichkeit mit einer Frauenfußball-Sportübertragung.

Das Corpus Delicti war durch den Schuhwurf jedoch noch nicht geborgen und klebte immer noch bunt und dadurch klar erkennbar am perlbestrumpften Fuß der Migräne-Mama. Nun, da sie gewahr wurde, was genau ihr da am Fuß hing, kreischte die Frau in wütender Entrüstung auf und angelte unbeholfen – immer noch einbeinig herumstelzend – nach dem peinigenden Klebedings.

Mit beherztem Griff erwischte sie den Lutscherstiel genau in dem Moment, in dem die Tram wieder anfuhr, sodass Anton nur noch im Zurückblicken erkennen konnte, wie diese Aktion sie das bis dahin erfolgreich verteidigte Gleichgewicht kostete und sie mit einem Grunzen rückwärts zu Boden ging, das so laut war, dass Anton es durch die geschlossenen Türen noch hören konnte.

Wer weiß, was jetzt noch alles massiert werden muss, dachte sich Anton, der durch die unerwartete Bahnsteigrevue zumindest kurzzeitig aus seiner dumpfen Lähmung herausgerissen worden war.

 

An seiner Station angekommen, stieg Anton aus der Tram und ging zähen Schrittes auf den unscheinbaren Altbau zu, in dem er seine Zweizimmerwohnung hatte. Im Erdgeschoss befand sich eine eher liederlich geführte Backstube mit dem neumodischen Namen „Backshop“, die seiner Nachbarin gehörte, die in der Wohnung direkt gegenüber wohnte. Wie so oft fläzte sich Annabel, die Tochter der Bäckersnachbarin, gelangweilt auf den Treppenstufen im Eingangsbereich. Anton war schlecht im Schätzen, was das Alter von Kindern anbelangte, Annabel stufte er grob ins Grundschulalter ein. Hatte dieses Mädchen keine Freunde? Oder sonst jemanden, der sich kümmern konnte? Oder Hausaufgaben zu erledigen? Warum musste sie so oft müßig im Treppenhaus herumlungern? Es war schon erstaunlich, wie wenig man selbst von seinen Nachbarn wusste.

Im Fall der altklugen kleinen Annabel und ihrer meist miesepetrigen „Backshop“-Mama empfand Anton jedoch kein Bedürfnis, seinen Informationsstand aufzubessern, und als ob Annabel es darauf angelegt hätte, Antons Einstellung zu ihr und ihrer Restfamilie zu bestätigen, kommentierte sie sein Erscheinen mit den Worten:

„Na, schon so früh zu Hause? Meine Mama sagt immer, dass man fleißig sein soll. Wer faul ist und nicht genug arbeitet, der darf sich nämlich nicht beschweren!“

Na Prosit, das hatte Anton jetzt gerade noch gebraucht. Er zog es vor, besser nicht auf Annabels Einwurf zu antworten – wer weiß, wohin das bei seiner jetzigen Verfassung noch geführt hätte!? – und beließ es bei einem säuerlich verzogenen Mundwinkel und einem strammen, möglichst unbeirrt wirkenden Durchmarsch in die dritte Etage.

Beim Aufschließen der Wohnung fiel ihm auf, dass nur noch ‚Pröhlmann‘ auf dem Namensschild an der Tür zu lesen war. Der kleine Zettel mit ‚Schwalmbach‘, der lange Zeit mit Tesafilm befestigt darunter klebte, war spurlos verschwunden. Doro war vermutlich wie angekündigt in der Zwischenzeit da gewesen und hatte ihn entfernt. Dies bestätigte sich, als Anton den Flur betrat und im obersten Fach des Garderobenschranks keinen Squashschläger mehr liegen sehen konnte. Ihren Schlüssel zur Wohnung hatte Doro sicherlich wie angekündigt bei der benachbarten Bäckersfrau abgegeben. Nun ja, er brauchte ihn vorerst nicht, sollte er ruhig erst einmal dort bleiben, wenngleich Anton sich noch nie ausgesperrt hatte, aber man wusste ja nie. Zweitschlüssel gegen Zweitschläger, ging es Anton durch den Kopf, ein wahres Tauschgeschäft. Eigentlich war dies bei Lichte betrachtet sinnbildlich für ihre Beziehung, die ein ständiges Geben und Nehmen gewesen war, aber nicht auf die entspannt-ausbalancierte Art, über die man nicht mehr nachdenken muss, die einfach so passiert und ausgleichend wirkt, sondern eher wie ein ständiges Feilschen auf dem Basar. Ein Feilschen um Freiräume, Rechte und Pflichten.

Doro war die Sportverrückte gewesen, die ständig Aktive, Überehrgeizige, der es nie schnell und weit genug gehen konnte. Was auch immer sie zu Beginn in Anton gesehen haben mochte – irgendetwas an ihm musste sie am Ende enttäuscht haben, vielleicht war es auch nur, dass Anton in ihren Augen ihr Tempo nicht ausreichend mitzog. Anton hatte nach seinem Dafürhalten eigentlich nichts Besonderes gemacht, was möglicherweise in sich schon eher eine Erklärung als ein Einwand war. Für ihn hatte sich Doros Sinneswandel leider nicht angekündigt, sonst wäre er gewarnt gewesen und hätte vielleicht rechtzeitig reagieren können. Statt wie geplant endgültig bei ihm einzuziehen und ihre eigene Wohnung aufzugeben, hatte Doro plötzlich entschieden, sich ganz aus Antons Leben zu entfernen. Und da sie ihre Beweggründe nicht wirklich erklären konnte oder wollte, würde Anton wohl leider nie genauer erfahren, wie es zu diesem Schritt gekommen war.

Seufzend blickte er sich in der Wohnung um. So richtig ordentlich und sauber sah es nicht gerade aus, obwohl es bei ihm schon immer eher spärlich möbliert gewesen war. Aber mit Doros Auszug vor einer Woche war auch eine ordnende Hand verschwunden, was bereits jetzt sichtbar wurde. Hinzu kam, dass Anton sich momentan so antriebsschwach und unmotiviert fühlte, dass er eher zwei Stunden lang regungslos auf seinem Bett lag und Löcher in die Decke starrte, als zehn Minuten aufzuräumen. Phase 1: Sacken lassen und verarbeiten. Phase 2: Aufräumen und neu starten. Phase 2 hatte noch nicht begonnen, und nach den Geschehnissen des heutigen Tages hatte Anton das diffuse Gefühl, dass Phase 2 vielleicht noch länger auf sich warten lassen könnte.

 

 

Biologisch abbaubar?

Für alle, die die Website biowetter.com noch nicht kennen: Gut so! Belasst es dabei! Für alle, die biowetter.com kennen oder sogar schon mal auf der Seite waren: Vorsicht! Die Seite ist unseriös und wird von miesepetrigen Grantlern betrieben, die ihre Kundschaft dadurch vergrößern wollen, dass sie alle Biowetterinteressierten krank machen oder ihnen einreden, krank zu sein! Da wird dann die eine oder andere Föhnlage erfunden, es drückt, regnet und fröstelt allerorten. Lasst euch nicht irritieren! Bleibt einfach weg, auf der Website kann man sich außerdem echte Viren einfangen, da liegen die Bits und Bytes mit Fieber darnieder!

(Forumsbeitrag in der Kategorie ‚Wetter‘ von ‚WetterRetter‘ auf www.werweisswas.de)

 

Erst als die Türklingel schellte, erwachte Anton aus dem Dämmerzustand, in den er zwischenzeitlich versunken war. Natürlich, Hörnchen wollte ihn ja abholen kommen! So richtig Lust hatte er eigentlich nicht auf verordnete Bespaßungsaktionen, aber wer weiß, vielleicht tat es ja ganz gut, einfach mal die Bude zu verlassen und rauszukommen. Und wenn man jemanden brauchte, um auf andere Gedanken zu kommen und einen netten Männerabend zu verleben, dann war Hörnchen definitiv eine gute Wahl. Schon zu Studiumszeiten in Hannover hatten die beiden sich des Öfteren zusammengetan, meistens um ins ‚Heartbreak Hotel‘ zu gehen, eine der gemeinhin als kultig eingestuften Locations im eher übersichtlich proportionierten Rotlichtviertel der Stadt. Hörnchen war damals Lehramtsstudent mit den Fächern Physik und Sozialwissenschaften gewesen, und als Einziger aus den Zeiten der alten Hannover-Clique, der wie Anton den Weg nach München gefunden hatte, hatte Hörnchen den Status des dienstältesten und damit auch besten Kumpels vor Ort. Und Freundschaften, die noch aus den erweiterten Jugendtagen stammten, hatten sowieso meistens die besten Qualitäten, befand Anton. Hörnchen war zwar Single wie neuerdings auch Anton wieder, mittlerweile aber längst verbeamteter Studienrat und damit immerhin jobtechnisch sozusagen auf Rosen gebettet. Wenn man von den nervigen Schülern mal absah.

 

„Let there be rock!“, dröhnte Hörnchen ihm bereits aus dem Treppenhaus fröhlich entgegen, als er noch nicht einmal auf Antons Etage angelangt war.

„Hey, Hörnchen, nicht ganz so laut bitte, ich krieg’ sonst Stress mit den Nachbarn hier.“

„Meine Güte, was bist du denn für eine Spaßbremse? Ich hab’ mir schon gedacht, dass du etwas Aufmunterung vertragen kannst, aber so nölig musst du nun auch wieder nicht anfangen.“

„Hör bloß auf, ich bin heute fristlos gefeuert worden, mir langt’s echt so langsam.“

„Was?! Das glaub’ ich jetzt nicht. Wie ist das denn ...“

„Erzähl’ ich dir später, lass uns einfach losziehen, eh wir bei mir versumpfen.“

„Okay, das klingt nach einem verdammt eindeutigen Fall von SF-Abend, wenn du mich fragst. Wollte ich dir eh schon vorschlagen, aber mit DEN Neuigkeiten gleich dreimal mehr!“

 

Anton konnte sich nicht mehr genau erinnern, wann und wie es angefangen hatte. Vermutlich war aus einer Gelegenheit rückblickend betrachtet so etwas wie ein Konzept entstanden. Ein Trainingskonzept, das im echten Leben für das echte Leben verfolgt werden konnte. Das Konzept hieß für Hörnchen und ihn mittlerweile nur noch ‚SF‘. SF wie Science Fiction, wobei SF mit Science nicht viel zu tun hatte, eher schon mit Fiction. Das Kürzel stand für ‚Schabrackenflirten‘. Wie der Begriff schon nahelegte, ging es um das Anflirten (oder aktives Sich-Anflirten-Lassen) von Damen, die nach normalen Kriterien der Partnerinnenwahl keinesfalls infrage gekommen wären. Ideal waren Damen, die nicht unbedingt als solche bezeichnet werden konnten, auf der stufenlosen Schönheitsskala irgendwo zwischen ‚Ich sah mal gut aus‘ und ‚Ich würde gerne gut aussehen‘ einzuordnen waren, in jedem Fall aber unabhängig von ihrem absoluten Alter schon einmal bessere Zeiten erlebt hatten, intellektuell keine Überflieger waren, dies auch wussten und allein deshalb schon über ein maximal mittelmäßig ausgeprägtes Selbstwertgefühl verfügten. Oder anders gesagt: die aufgrund all dieser Faktoren dankbar für jede Art maskuliner Aufmerksamkeit waren.

Das Tolle daran war, dass es eigentlich nichts zu verlieren gab. Die einzige Gefahr bestand darin, beim Schabrackenflirten von Bekannten gesichtet zu werden, wodurch man sich leicht den Ruf einer gewissen Wahllosigkeit einhandeln konnte. Und der Ausstieg war auch nicht ohne. Falls man sich nicht doch mal eine frühe Abfuhr abholte, was natürlich auch beim Schabrackenflirten passieren konnte, musste man den richtigen Punkt erwischen, an dem ein eleganter Abgang ohne zwischenmenschliche Grenzüberschreitung noch gut machbar war. Das ging dann meist nur noch als dogmatischer Abbruch, wobei sich die einfachste Lösung oft in einem vorgetäuschten Toilettengang mit heimlicher Lokalflucht fand.

Andere Leute trainierten sämtliche zwischengeschlechtlichen Sozialfertigkeiten in Momenten echten Interesses, Anton und Hörnchen hatten sich für ihre Grundausbildung schon vor vielen Jahren das Schabrackenflirten als Trainingslager ausgesucht – schließlich fuhren viele Menschen auch erst auf dem Verkehrsübungsplatz, bevor sie sich mit ihrem Auto auf echten Straßen ins Dickicht der StVO begaben. Dabei hatten die beiden sich das SF derart zur Gewohnheit werden lassen, dass sie es über die Jahre beibehielten. Manchmal war es mehr die Ausübung eines Hobbys, manchmal diente es eher dazu, sich auf dem Weg des geringstmöglichen Widerstandes eine neue Portion Selbstbestätigung zu holen.