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Die Übersetzerin dankt dem Freundeskreis Literaturübersetzer e.V. für ein
Arbeitsstipendium, das vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und
Kunst Baden-Württemberg ermöglicht wurde.

Titel der Originalausgabe:

Meena Kandasamy

Reis und Asche

Aus dem Englischen und mit einem Glossar
von Claudia Wenner

Wunderhorn

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Für Amma, Appa und Thenral, die mich zusammenhalten

Mord und Terror konnten sie nicht aufhalten. Wie kann man einem Manne Angst machen, dessen Hunger nicht nur in seinen eigenen verkrampften Gedärmen rumort, sondern auch in den armseligen Bäuchen seiner Kinder? Man kann ihm nicht Angst machen – er hat eine Angst durchlebt, die jede andere überwiegt.

John Steinbeck, ›Früchte des Zorns‹

[Deutsch von Klaus Lambrecht, München: dtv, 16. Aufl. 2007, S. 275]

PROLOG

Lang lebe die Landwirtschaft! Die Landwirtschaft ist Dienst an der Nation!!
Wir werden die Reisproduktion steigern!
Wir werden die Hungersnot an der Wurzel beseitigen!!

DER REISERZEUGERVERBAND NAGAPATTINAM TALUK

42/2, Mahatma Gandhi Salai, Nagapattinam, Tanjore Distrikt

MEMORANDUM EINGEREICHT AN DEN
MINISTERPRÄSIDENTEN VON MADRAS
MIT DER BITTE UM SOFORTIGE BEHEBUNG DER
MISSSTÄNDE IN DER REISLANDWIRTSCHAFT

Seien Sie gegrüßt!

Schweren Herzens ersucht der Bittsteller Sie, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, Ihre gütige Aufmerksamkeit auf das Leid der Reisanbauer von Nagapattinam zu lenken, das diese infolge der bösartigen Politik und falsch aufgefassten Propaganda, die die Kulis ergriffen hat, durchgemacht haben.

In den letzten zehn Jahren haben Kulis in der Landwirtschaft ständig höhere Tageslöhne gefordert. Immer wenn man sie ihnen verweigerte, organisierten sie Streiks und lähmten das Leben in unserem Distrikt. So genannte Kommunistenführer, selbst ziemlich wohlhabend, sind auch verantwortlich für illegale Landnahmen. Sie missachten nicht nur die Rechte der Grundbesitzer, sondern verfahren wie militante Naxaliten, indem sie die Arbeiter dazu anzetteln, dieses widerrechtlich angeeignete Land zu bebauen. Es reicht, festzuhalten, dass sie faktisch die Felder anderer Leute abernten und die landwirtschaftlichen Erzeugnisse mitnehmen, von denen ein Großteil bei ihren Führern landet.

Die zunehmende Pein der Land besitzenden Mirasdars hat uns gezwungen, den Reiserzeugerverband ins Leben zu rufen, von dem wir zweierlei erwarten: die Kulis in der Landwirtschaft aus der schlimmen Gesellschaft dieser fragwürdigen Führer zu befreien, und eine Beziehung des gegenseitigen Wohlwollens und Verständnisses zwischen Grundbesitzern, Pachtbauern und den Kulis in der Landwirtschaft, die beim Reisanbau eine äußerst wichtige Rolle spielen, herzustellen.

Die Kommunistenführer tauchen immer nur mit einer Liste von Forderungen auf und stacheln ihre Anhänger zum Streik an. Wenn ihren unvernünftigen Forderungen nicht nachgegeben wird, treten sie an die Regierung heran, die Gespräche mit den sich bekriegenden Grundbesitzern und Arbeitern führt, woraufhin vorübergehend eine Einigung erzielt wird. Der Bittsteller ist wie die anderen Landwirte der Meinung, dass jedes Treffen die Privilegien der Kulis in der Landwirtschaft vergrößert hat, wodurch die Kommunistenführer bestärkt und ermutigt wurden, eine Hungersnot zu schaffen, um dieses Land in eine Brutstätte für den Maoismus zu verwandeln.

Als Bittsteller möchte ich darauf hinweisen, dass die Kulis weiterprotestieren werden, damit neue Abkommen zustandekommen. Alle diese Abkommen waren bisher eine Bedrohung für den Frieden und Recht und Ordnung. Immer wenn die Regierungsbeamten beschlossen haben, Dreiergespräche zu führen, erscheinen diese Führer mit einer Liste unmöglicher Forderungen. Der Bittsteller, selbst Grundbesitzer aus Irinjiyur und Vertreter der Mirasdars, ist stur geblieben und hat sich geweigert, auf irgendeine dieser Forderungen einzugehen, und dies mit der Nichtumsetzbarkeit dieser Forderungen begründet, wobei er dieselbe Hartnäckigkeit zeigte wie seine unbeugsamen Gegner. Die Kompromisslosigkeit des Bittstellers und seine Entschlossenheit, sich nicht von ein paar Kommunisten erpressen zu lassen, hatten zur Folge, dass er als ihr größter Feind betrachtet wird. Sie meinen, irreparablen Schaden anrichten und alle ins Elend stürzen zu müssen und haben mehrmals gedroht, den Bittsteller und seine Verwandten umzubringen. Damit diese Drohungen Früchte tragen, haben sie zudem vor dem Haus des Bittstellers gewaltsame Agitationen organisiert. Da der Bittsteller seinem Selbsterhaltungsinstinkt gefolgt ist und sich niemals von ihnen hat provozieren lassen, ist es ihm gelungen, sich vor körperlichem Schaden zu bewahren. Mit ihren kindischen Aktionen und politischen Tricks vermochten die Kommunisten weder die Entschlossenheit noch die Weltanschauung des Bittstellers zu erschüttern. Folglich haben die verzweifelten Kommunisten auf eine andere schockierende und gefährliche Strategie umgeschwenkt.

Zurzeit haben ihre Führer einen ihrer pflichtgetreuen Handlanger namens Chinnapillai an einen geheimen Ort geschickt und Anzeige erstattet, der Bittsteller habe diesen Mann umgebracht und alle Beweismittel für diesen Mord vernichtet. Aus sicherer Quelle wurde in Erfahrung gebracht, dass dies am 15. Mai 1968 auf dem Polizeirevier von Keevalur, Nagapattinam, als ›Vermisstenanzeige‹ abgeheftet wurde, und wegen dieser Falschmeldung momentan von der Polizei ermittelt wird. An dieser Stelle ist es notwendig, darauf hinzuweisen, dass vor drei Jahren eine ähnliche Verschwörung ausgeheckt worden war, in die der Bittsteller damals verwickelt war. Ein Mann namens Sannasi ging in ein Dorf bei Karaikkal und sofort ging das Gerücht um, dass dieser Mann von den Grundbesitzern ermordet worden sei. Doch bevor diese Geschichte die Gestalt einer böswilligen Anzeige annehmen konnte, wurde bekannt, dass Sannasi in jenem Dorf an Alkoholvergiftung gestorben war, weil er schwarzgebrannten Arrak getrunken hatte. Die obengenannte Anzeige offenbart die böse Absicht der Kommunistenführer, die verbissen versuchen, den Bittsteller ins Gefängnis zu bringen, weil er für ihre schändlichen Aktivitäten die größte Bedrohung darstellt.

Sie haben nicht nur wie beschrieben Anzeige erstattet, sondern auch öffentliche Versammlungen abgehalten und die sofortige Festnahme des Bittstellers verlangt. Als die Führer trotz größter Mühen nicht das gewünschte Resultat erzielten, änderten sie ihren Angriffsplan. Als Teil dieser neuen Strategie organisieren sie Aufmärsche direkt vor dem Haus des Bittstellers, skandieren provozierende Parolen und verurteilten den Bittsteller auf höchst diskreditierende Weise. Sie überhäuften ihn mit Flüchen und haben insgeheim erwartet, er würde vor sein Haus treten, damit sie mit ihm machen konnten, was sie wollten. Unter solch bedrohlichen Umständen blieb der Bittsteller aus Vorsicht hinter abgeriegelten Türen und bewahrte sich so vor einem verhängnisvollen Schicksal.

Ohne geringsten Zweifel glaubt der Bittsteller, dass die Kommunisten ihn zum Ziel ihrer Agitation erkoren haben und dass sie dieses Ziel erreichen werden. Falls die Kommunisten nicht in Schranken gehalten werden, falls keine dauerhaften rechtlichen Maßnahmen ergriffen werden, um dieses Problem zu lösen, dann wird kein Grundbesitzer mehr in Sicherheit sein. Der Bittsteller ist der Meinung, dass, falls dieses Ärgernis nicht im Keim erstickt wird, es in Nagapattinam zu noch nie dagewesenen Problemen kommen wird.

Obwohl die Kommunistenführer und ihre leichtgläubige Gefolgschaft unser Land widerrechtlich betreten haben, unsere Frucht unbefugt geerntet haben und uns hierdurch immenses Leid zugefügt haben, sehen wir uns als Mitglieder des Reiserzeugerverbands einer Politik des strikt gewaltlosen Widerstands verpflichtet. Um uns in Zukunft vor einer solch organisierten Erpressung und unsinnigen Angriffen zu schützen, obliegt es dem Bittsteller, Sie, sehr verehrter Herr Ministerpräsident, inständig zu bitten, für Gerechtigkeit zu sorgen. Der Distrikt Ost-Tanjore braucht ganz dringend Schutz, um seiner ehrenvollen und traditionellen Aufgabe als Korn- und Reisspeicher des Landes weiterhin nachkommen zu können. Wenn den Kommunisten freie Hand gelassen wird, droht eine Hungersnot, die sich für das Volk als Katastrophe erweisen wird.

In Ihrem geschätzten Buch Thee Paravattum haben Sie, verehrter Herr Ministerpräsident, geschrieben, dass das Feuer der Vernunft das Dogma des Aberglaubens zerstören würde. Es ist nun an der Zeit, das Dogma des Kommunismus zu zerstören, das die Menschen in Klassen spaltet und gegeneinander aufhetzt. Wenn wir dieses Unkraut in unserer Gesellschaft weiter gedeihen lassen, wird es die Hoffnung auf zukünftige Ernten ersticken.

Es wird respektvoll darum gebeten, dass Eure Exzellenz sich als Ministerpräsident schnellstmöglich mit dieser ernsten Angelegenheit befassen und die nötigen Schritte veranlassen wird, um den vom Terror heimgesuchten und in ständiger Furcht lebenden Grundbesitzern das verlorene Vertrauen zurückzugeben und Nagapattinam auf diese Weise aus den Klauen der Kommunisten zu befreien, damit Gewalt und Blutvergießen verhindert werden.

Mit vorzüglicher Hochachtung bin ich, sehr verehrter Herr Ministerpräsident, Ihr ergebenster und gehorsamster Diener

Datum: 1. Mai 1968 GOPALAKRISHNA NAIDU
Ort: Irinjiyur Verbandsvorsitzender

- Erster Teil -
HINTERGRUND

1.Über das Geschichtenerzählen

In einem Land, in dem despotische Barden über tausend Jahre dafür sorgten, dass nur die Dichtung als Literatur galt – Alliteration unter der Achselhöhle, Algebra um reimende Versfüße –, ist es schwierig, einen Roman zu schreiben. Das Versmaß war alles, worauf es ankam. Doch jede Sprache bringt ihre Luthers und Linden und so weiter hervor , die tamilische Prosa war geboren. Als Schauspielerin im Kindesalter trat sie zuweilen hier und da öffentlich auf, doch da es damals noch kein Reality-TV gab, wurde die kleine Rebellin zur Einsiedlerin, die bald jegliches Sprechen und Singen verweigerte und sich stattdessen für die Einzelhaft entschied. Ein paar Jahre später zeigten sich die ersten Barthaare und Brüste, und Haar kräuselte sich spiralig nach unten, ohne großes Tamtam kam die Prosa in die Pubertät. Von Teenagerängsten geplagt und mit einer androgynen Stimme belastet, merkte dieses Kid sehr bald, dass sich die Dichtung nie würde verdrängen lassen. Die Prosa, die sich selbst verurteilt hatte, tauchte aus einer von Fledermäusen heimgesuchten Bibliothek auf, und brach, Lob als Vorwand benutzend, auf krummen Wegen ins System ein. Ausführliche kritische Kommentare wurden zu den Werken der oben erwähnten tyrannischen Dichter geschrieben und, schlimmer noch, auch gelesen. Dichtung wurde zum multiversalen Megastar; die Prosa begann ihre bescheidene Laufbahn als dubiose philologische Kommentatorin. Hinterhältigkeit und Verrat gehörten in eine andere Zeit, griffbereit, aber verborgen. Jahrhunderte später würden Dedestruktivisten dieses Phänomen studieren und ihre Entdeckungen twittern – die Dichtung: versaut durch schmeichlerische Schönfärberei; die Prosa: bewies, den Wert ungebundener Rede, lief rot an und wurde den Hang zum Kommentar nie los.

Zurück zum Roman: tamilisch im Geschmack, englisch auf der Zunge, frei von Poesie und Prosodie, aufgetischt als prima Prosa. Vergeben Sie diesem Text den quälenden Hang zu Erklärungsversuchen und die Neigung, jeder Formulierung eine Meinung anzuhängen. Verstehen Sie bitte, dass Weitschweifigkeit zur Prosa gehört. Und verstehen Sie bitte auch, dass dieses Unterwertverkaufen klarer Beweis meiner Verpflichtung zu absoluter Selbstsabotage ist.

Und jetzt erlauben Sie mir einen verheißungsvollen Anfang. Amen und Bismillah ir-Rahman ir-Rahim. Und so weiter und so fort. Und sechsmal, aus Liebe zu meiner vom biologischen Geschlecht bestimmten Muttersprache Murugamurugamurugamurugamurugamuruga.

Es war einmal eine alte Frau, die lebte in einem winzigen Dorf.

Da ich im Sommer nach dem Arabischen Frühling schreibe, rechne ich damit, dass jeder erste Satz eine Enttäuschung sein muss, sofern er keine indirekte Anspielung auf eine Granate, einen Kreuzzug oder das Lieblings-Tabuthema ›Genozid‹ enthält. Hausgemacht wie der Sklavenhandel und betont klischeehaft, will dieser Anfang bewusst enttäuschen und den übertriebenen Wert in Frage stellen, der großen Eröffnungen beigemessen wird.

Über eine Romanschriftstellerin der ersten Generation aus einem Dritte-Welt-Land, die ganz offensichtlich nicht in ihrer Muttersprache schreibt, werden die Literaturkritiker vielleicht die Nase rümpfen und mich nach der Lektüre einer solch biederen Zeile mit dem Tort des Orange-Prize einsortieren und nichts weiter erwarten als eine dramatisch-traumatische Familiengeschichte. Sollen sie in Frieden buhen.

*

Es war einmal eine andere alte Frau, die lebte in einem anderen winzigen Dorf.

Diese Transplantation fällt flach aufs Gesicht, fatalerweise zuerst auf die Stirn. Solch eine strategische Ortsverschiebung und die Einführung neuer Personen haben keinerlei Auswirkung auf die Wahrnehmung einer Geschichte. Meine Facebook-Freunde, die sich um mich geschart und gespannt auf die entscheidende Anfangszeile gewartet haben, sind bereits gegangen. Meine Familie scheint bereit zu sein, mich zu verstoßen, Freunde fliegen ab, und ehemalige Liebhaber verschwinden. Allmählich wird mir klar, dass niemand die Geduld aufbringt, altbekannte Geschichten oder gemeinsam Erlebtes zu lesen. Und wie soll ich weiterschreiben, wenn die Anfangszeile nicht sofort hunderttausend Gefälltmir-Klicks bekommt?

Den meisten Menschen hängt Geschichte zum Hals heraus, vor allem dann, wenn Geschichte sich wiederholt, und deshalb bin ich gezwungen, mir etwas Neues auszudenken und ihrer Langeweile ein Schnippchen zu schlagen. Weil es im Roman vor allem darum geht, eine anonyme Leserschaft zu erreichen, will ich versuchen, meine Geschichte in den ersten tausendundacht Erzählungen mit Unspezifischem zu überschwemmen.

*

Es war irgendwann einmal eine alte Frau, die lebte in einem recht großen Dorf.

Die englische Sprache, die die Welt so gekonnt verwaltet hat, verlangt nach mehr Effizienz. Nicht nach diesen dauernden Unterbrechungen. Vielleicht sollte die Anfangszeile den Konflikt formulieren und die Leserinnen und Leser mit der Enthüllung fesseln, dass die alte Frau am Ende ihre gesamte Großfamilie in einem Massaker verliert. Oder aber in der Anfangszeile sollte überhaupt keine alte Frau vorkommen, sondern über ein strittiges Thema nachgedacht werden: über Unberührbarkeit oder Klassenkampf. Vielleicht sollte die Anfangszeile sich weder mit einer Figur noch mit einem Konflikt befassen, sondern von einem Landstrich reden, der die Welt ernährte, jedoch vergaß, das eigene Volk zu ernähren.

Soweit ich weiß ist es immer gut, mit dem Ort der Handlung zu beginnen: Nagapattinam, Schauplatz der tränenreichen, feuerheißen Geschichte der Alten Frau. Tharangambadi, das Dorf, in dem sie geboren wurde, Land der singenden Wellen. Kilvenmani, das Dorf, in das sie hineinheiratete, das Dorf, das sich mit dem Kommunismus verheiratete. Um mit einem derart überfrachteten Anfang zurechtzukommen, muss ich sehr viel Geschichte ausgraben.

*

Ein Land weckt bekanntlich nur dann Interesse, wenn ein Weißer dort landet, Freundschaft mit ein paar Einheimischen schließt, die Regionalküche probiert, viele unverschämte Fragen stellt, massenhaft Notizen in sein Moleskine-Notizbuch schreibt und nach seiner Rückkehr über dieses Land schreibt.

Ptolemäus – halb Grieche, halb hellenisierter Ägypter und wie andere Weiße von zweifelhafter Herkunft – war sehr stolz auf sein Wissen über abgelegene Orte, kapitulierte vor dem Druck der Verlagshäuser und seiner sich türmenden Rechnungen und ging daran, einen Lonely-Planet-Reiseführer zu schreiben, in dem er die tamilische Hafenstadt Nigamos ein einziges Mal beiläufig erwähnte. Das auf so verzweifelte Art in die Geschichte geschleuderte Nagapattinam wartete daraufhin geduldig, bis eine Tamilin vorbeikam und, beschloss, einen halbwegs ordentlichen Roman zu schreiben, der in dieser Gegend spielt.

Zwischen dem sechzehnten und dem zwanzigsten Jahrhundert gelangte Nagapattinam von den schneeweißen Händen der Portugiesen in die der Holländer und dann in die der Briten. Dass die Stadt mit all diesen Varietäten und jedem zweiten Vellaikkaaran schäkerte, tangierte ihre Verbindung zu Arabern und Chinesen nicht im geringsten. Alle stahlen ihren Reis und hinterließen als Andenken ihre Religion. Wie viele alte Frauen lebte auch sie mit den hinterlassenen Göttern. Und weil es ihr gelang, deren Geschichten zu verstehen und sich anzueignen, erhob sie sich bald über die anderen Städte und verwandelte sich von einer verschlafenen kleinen Hafenstadt in einen autarken Wallfahrtsort.

In diesem von Legenden überbordenden Land verspricht ein Tempel, dass ein Gott zum Ender des Todes werde; in Sikkal empfängt Murugan von seiner Mutter den Speer und kämpft danach gegen repressive Dämonen; ein Bad im Tempelteich von Thirunallaru rettet jedermann vor Saturns siebeneinhalbstem verflixten Jahr. Die Religion ist keine entzweiende Unruhestifterin mehr: Alle strömen in Scharen zur Nagore Sufi Dargah; alle verzweifelten Beter rutschen auf Knien zu Unserer Lieben Frau von Velankanni. Auch lässt sich über Geschmack nicht streiten: Hier wird die sonst blutdürstige Kali mit Sakkarai Pongal zufrieden gestellt, einem süßen Festmahl aus Jaggeryreisbrei, während Einheimische ein Stück weiter genau auf die Stelle zeigen können, an der Buddha mit seiner Lampe erschien, sich unter einen Baum setzte und dann verschwand. Sogar der Heilige Antonius, darauf spezialisiert, verlorene Gegenstände wiederzufinden, wurde während einer Überschwemmung in ihre Mitte getrieben. Berühmt für seinen großen Triumphwagen und seine drallen Devadasis, gewährleistete der Tempel von Tiruvarur einst, dass Götter und Menschen eine gute Fahrt hatten. Dann gibt es den Tempel für die pubertierende Neelayadakshi, die einzige tamilische Göttin mit blauen Augen. Aus dem steten Strom weißer Männer, die zu Besuch kamen, hatten zweifelsohne einige ihren Samen verstreut.

*

Pfarrer Baierlein, den ein gewisser J.R.B. Gribble aus dem Deutschen übersetzt hat, berichtet in seinem Buch, dass die Dänen in Nagapattinam anlegten und dann in den Norden nach Tharangambadi reisten, das Dorf, in dem die Alte Frau eines Tages geboren werden würde. Sie nannten es prompt Tranquebar und machten sich daran, statt des kursierenden Klatschs das reinste Evangelium zu predigen. An diesem von Gott vorherbestimmten Kommen der Dänen waren ein Schiffbruch, die Begegnung mit dem König und andere aus Hollywooddramen bekannte Besonderheiten beteiligt. Doch machte die Rollenbesetzung der Opferhelden eine Weile lang Probleme. Während Händler und Matrosen der Geschäfte wegen aus Dänemark anreisten – und der zutraulichen Blicke der Tamilinnen –, war kein Geistlicher Manns genug, in einem fremden, heidnischen Land das Amt eines protestantischen Missionars zu bekleiden. Stattdessen wurden zwei Deutsche entsandt, mit leeren Händen, wie Gott und sein Sohn es verlangten. Ohne jeden Anspruch auf Missionsgelder oder Krankenversicherung hielt sich Heinrich Plütschau streng an den Wortlaut und bekehrte ohne jegliches Tamtam. Nach fünf Jahren Werkelei ging er zurück nach Europa, um die Mission gegen ihre Kritiker zu verteidigen.

Sein Gefährte Bartholomäus Ziegenbalg jedoch machte sich eifrig ans Werk. Er lehnte sowohl die paulinischen als auch die ottonischen Konvertierungstechniken ab und entwickelte seine eigene, einzigartige Methode, um das Wort Gottes in heidnische Worte zu übertragen. Da er nichts von den Feinheiten wusste, die zwischen schlüpfrigen Zungen verloren gehen konnten, lernte er die Sprache der Einheimischen, indem er das Alphabet in den Sand schrieb, alle 161 Texte las, denen er habhaft werden konnte, und sich dann eine Druckerpresse erbat (von den Dänen, die dann aber die Engländer bereit stellten) und in Halle die Herstellung tamilischer Lettern in Auftrag gab. Die Lettern kamen, waren aber so groß, dass sie das gesamte Papier verschlangen, weshalb er Lettern aus den Bleideckeln von Cheshire-Käsebüchsen ausschneiden ließ und sich dann an die Arbeit machte. So drängte er sich Mutter Tamil auf, die diesen Einlass begehrenden Fremden zur Wahrung ihrer Ehre heftig bekämpfte. Doch er machte weiter, von den Testamenten getestet und von Tamil verspottet. Als er das Neue Testament gerade in diese vergewaltigungsresistente Rüpelsprache übertragen hatte, beschlossen die geringschätzigen Kopenhagener Geistlichen, ihn in die Heimat zurückzuzitieren.

In der Hoffnung, sich irgendwann nach Europa einschiffen zu können, reiste der deutsche Manngermane nach Madras – laut manchem Bericht in einem Palankin . Die Mitglieder seiner kleinen Kirchengemeinde sahen in seinem Verschwinden ein Zeichen göttlichen Zorns und beschlossen, die Gemeinde nicht aufzulösen (für den Fall, dass er zurückkehren sollte), und weil sie sich bei ihrem eigenen, vorübergehend vernachlässigten Pantheon einschmeicheln wollten, griffen sie auf ihre bewährte Technik zurück und opferten ihren großmäuligen Lokalgöttern laut schreiende Hühner und Ziegen.

*

Manche Dichter sind ausgesprochene Verlierer: unglaubwürdig, was Fakten anbelangt, und unfähig, einen Roman zu schreiben. An einem Ort, der auf die Entwicklung und den Einsatz von Folterinstrumenten zur Verunstaltung von Brüsten spezialisiert war, lebte ein Lotos essender Barde, der von der Forderung, einen Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen zu diesem Sachverhalt zu berufen, ablenkte, indem er mit der Phantasie der Menschen spielte: Er verband die Liebe mit dem Leben, das Leben mit dem Lebensunterhalt, den Lebensunterhalt mit dem Land und das Land mit dem dortigen Fluss, und verglich den trägen weißen Fluss lächelnd mit einer Perlenkette auf dem Busen der Erde, und in seinen vollkommenen, bild-schönen Gedichten, die den Fluss Kaveri besangen, kamen die blutenden, geblendeten Brüste der Sklavenarbeiter dieses Deltagebiets nicht vor. Ich nehme das Risiko in Kauf, mich lächerlich zu machen – natürlich gab es die Vereinten Nationen damals noch nicht, Brüste sind immer eine schöne Metapher, und dichterische Freiheit muß man verstehen. Ich lege nur die Matratze ans Flussufer, gestalte die Landschaft und lade Sie, liebe Leserschaft, ein, mittels dieser romantischen Bildersprache mit mir zusammen über das Trauma hinauszublicken.

Kilvenmani, das Dorf, in das die Alte Frau hineinheiratete, erhält sein Wasser von den zwei Kaveri-Nebenflüssen Korai Aaru und Kaduvai Aaru. Korai ist das Gras, aus dem Matten gewebt werden, und Kaduvai ist die für diese Gegend typische Parai-Trommel. Parai wie in Paraiyar, wie auf Deutsch ›Paria‹. Flüsse sind für den Reisanbau, was Lügen für die Dichter sind: das Herzblut sozusagen. Etwas Herz und etwas Blut, möchte ich schnell hinzufügen.

Zuerst wollte ich aus diesem Abschnitt über Dichter und Flüsse eine Fußnote machen und die Prosa gar nicht erwähnen. Doch als ich das letzte Mal eine Fußnote schrieb, sagte ich unvorsichtigerweise, Ponnar und Sankar, zwei lokale Schutzgottheiten, seien Arundhatiyars, eine unterdrückte Kaste von Unberührbaren, und bekam sieben Jahre nach Erscheinen des Buches von zartbesaiteten, berührbaren Kastenhindus einen Prozess aufgehalst. Ich erhielt eine gerichtliche Vorladung und wurde wegen mutwilliger Provokation, absichtlicher Unruhestiftung und Aufwiegelung zu Feindschaft, Hass und Groll zwischen den verschiedenen Klassen verurteilt. Meine Versuche, Fakten als Grundlage für einen Roman zu verwenden, indem ich die Geschichte einer Alten Frau in einem winzigen Dorf erzähle, die vor langer, langer Zeit gelebt hat, habe ich daher aufgeschoben, bis die Zeit für die tausendundneunte Erzählung gekommen ist. Über die Frivolität der Form mag hinwegtrösten, dass das Thema durchaus ernst ist.

*

Suchen Sie immer noch nach dem Einzeiler, der alles zusammenfasst und nach dem sechzigsekundigen markigen Spruch? Wollen Sie, dass ich diese Tragödie so komprimiere, dass sie in Twitter passt? Wie kann man dieses Herz der Finsternis überhaupt betreten?

Möchten Sie dabei sein, wenn Amy Goodman in Democracy Now! Krishnammal Jagannathan begrüßt, die den alternativen Nobelpreis bekommen hat – eine unerschrockene Dame, die sich dem Gandhismus und der Gewaltlosigkeit verschrieben hat und das Land an die landlosen Bauern umverteilt? Während Goodman die alte Frau überredet, ihr zu bekunden, dass das, was in Kilvenmani passiert ist, sie zur Aktivistin gemacht hat, oder dass sie, als Martin Luther King in Indien war, Dosai für ihn gebacken hat, achten Sie darauf, wie sie von den Nachkommen der Grundbesitzer schwärmt, die in drei Autos vorgefahren sind und ihr sämtliche Eigentumsurkunden geschenkt haben. Man kann sich vorbeugen und diesem Gespräch lauschen, doch klingt es wie ein Und-wenn-sie-nichtgestorben-sind-dann-leben-sie-noch-heute-Ende. Daraus wird kein konfliktreicher Anfang, und eine bloße Transkription ist kein akademisch anerkannter Erzählstil. Zudem ist ein Videointerview für einen Roman etwas zu diszipliniert, und diese alte Frau ist nicht die Alte Frau aus diesem Roman.

Sollen wir uns jetzt, falls es mit Amy Goodman nicht klappt, eine andere Weiße suchen, die die Geschichte erzählt? Da wäre Kathleen Gough, eine linke Professorin, die auf der schwarzen Liste des FBI stand und im Verwaltungsdistrikt Tanjore gelegentlich Feldforschung betrieb. Die Frauen in Nagapattinam waren dafür bekannt, dass sie zwei, drei Dörfer weit zu Fuß gingen, nur um Gough eine von zwei Fragen zu stellen: ob weiße Frauen ihre Tage bekommen, und ob sie ihre Neugeborenen in Whisky baden, damit deren Haut weiß wird. Goughs Beliebtheitsgrad unter den Ortsansässigen ist ein zusätzlicher Pluspunkt, doch relevant für den Roman ist, dass sie fünfzehn Jahre vor der Tragödie hier war und dann noch einmal acht Jahre später. Jahre vor meiner Geburt traf sie dieselben Augenzeugen wie ich. Selbst ihre Feldforschungsnotizen von 1968 sind noch intakt. Wenn ich Sie alle dazu bringen könnte, ihr Werk zu lesen, sich mit der Marxschen Theorie vertraut zu machen und alle Informationen zu begreifen, die in den Fußnoten stehen, dann bräuchte ich diesen Roman nicht zu schreiben. Bedauerlicherweise sind Sie zum Lesen von Forschungsarbeiten zu faul.

Vielleicht möchten Sie zum Ausgleich einen Blick in alte amerikanische Zeitungen werfen? Manche Schlagzeilen erzählen nämlich bereits die ganze Geschichte: Madras muss für Terrorismus auf dem Land bitter büßen; Kleinkrieg zwischen Reisbauern und Feldarbeitern gipfelt in Flammen, als Arbeiter Beteiligung an Ernteertragssteigerungen fordern.

Das ist gewissermaßen alles. Der Roman muss nur noch die Lücken ausfüllen.

*

Sollen wir zu dem winzigen Dorf gehen und uns seine Geschichte anhören? Oder sollen wir lieber hier bleiben und stattdessen Geschichte studieren?

Sollen wir ein großes Wort verwenden, das für Aufregung sorgt? Sklaverei. Bei den Weißen nährt es Schuldgefühle und den Braunen nimmt es die Möglichkeit, stolz darauf zu sein, dass man sie besser behandelt als die Schwarzen. Disziplinierte Romane sind tot, und brave werden verrissen, man gebe mir also die Gelegenheit, dieses Thema mit einem vornehmen Euphemismus anzuschneiden: der Emigration. Im zwölften Jahrhundert konnte ein Sklave in Tanjore einen Preis nennen und sich selbst verkaufen. Diese Praxis hat nicht ausgedient – mit der Ankunft des Vellaikkaaran entwickelte sich daraus ein Basar für körperliche Arbeit. Männer, die zum ›Coolie Export Depot‹ im Hafen von Nagapattinam kamen, sah kaum jemand wieder – wie Tote, die in ihren Gräbern verschwanden. Wenn es den Grundbesitzern nicht gelang, die Ausreißer im Hafen zu finden und auf die Felder zurückzuschleppen, landeten diese Kulis – sie waren jetzt identisch mit dem Wort für ihren Arbeitslohn – in Siam oder Singapur oder den Straits Settlements, wo sie sich als Kontraktarbeiter in Schuldknechtschaft auf britischen Plantagen oder im Eisenbahnbau verdingten. Zehntausende starben bei der Arbeit, doch da ängstliche Leserinnen und Leser diese Geschichte nicht überleben würden, wollen wir beim Thema unseres Romans bleiben.

Doch zuvor ein kurzes Zwischenspiel: Hätten diese Arbeiter weitergelebt, wenn sie nicht fortgegangen wären? Auf einem portugiesischen Schiff, das 1646 auf dem Weg nach Sumatra über unser Nagapattinam fuhr, befanden sich 400 fast verhungerte Sklaven, die kein Glied mehr rühren konnten. An Land verkaufte man sie zum halben Preis. Sie sagten, in ihrem Land habe eine Hungersnot alle Alten, Jungen und alle Redseligen dahingerafft. Vierhundert Jahre später werden sie immer noch von Hunger und feudaler Marter gebeutelt und ergreifen weiter aus Angst die Flucht. (Je mehr sich ändert, desto mehr bleibt alles gleich. Aber egal.)

Viele dieser tamilischen ›Emigranten‹ landeten in Malaya und waren bald in den Gewerkschaften der Bergarbeiter, Dockarbeiter und Fährenarbeiter. Dann fing die Regierung an, Kommunisten wie Moskitos zu zerquetschen, und ein paar freimütige tamilische Arbeiter wurden wegen Verrats angeklagt, ihr Führer, Genosse Ganapati, wurde gehängt, und nicht einmal der entgegenkommende Lee Kwan Yew, ihr Rechtsberater im Deportationsprozess, konnte helfen. Genosse Veerasenan wurde auf hoher See vor Singapur erschossen und nur ein paar Männern aus Malaya – Senan, Iraniyan und andere – gelang es, nach Indien zurückzukehren und den Kommunismus in ihr Heimatland zu schmuggeln. Arbeitskräfte-Export, Kommunismus-Import – aber für die Fetischisierung einer ausländischen Ware, die dem Sklavenhandel entspringt, ist es zu früh. Bleiben Sie ruhig und perfektionieren Sie Ihre Ernsthaftigkeit. Lassen Sie mich nach den lokalen Spuren suchen.

*

Weil diese Erzählungen mal die Figuren und mal die Leserschaft leiten, wird früher oder später jemand Einwände erheben. Die Geschichte, die sich mühsam aus dem Würgegriff des Erzählens zu befreien versucht, befasst sich ausschließlich mit der Landwirtschaft. Alle Artefakte dieses Romans – das Einsäumen, Aushöhlen, Füllen, Mischen, Pflanzen, Hochbinden, Kappen, Jäten, Bewässern, Düngen, Dreschen, Worfeln – sind einem Bauernparadies entlehnt. Dort wachsen Geschichten wild wie Unkraut, fließen Ideen wie Regen durch undichte Strohdächer.

Themenstrang 1: Der Kommunismus gedieh in Ost-Tanjore, weil sich in dieser Gegend die meisten Teestände des gesamten Distrikts befanden: Orte, an denen diskutiert wurde. Oft wurde behauptet, und zwar von niemand Geringerem als von der theinfreien Bourgeoisie, dass der Kommunismus ausgemerzt werde, wenn es keinen Tee mehr gäbe. Themenstrang 2: Der Kommunismus hat sich nur entlang der Bahnlinien eingeschlichen. Themenstrang 2.1: Die Marxisten des Zwanzigsten Jahrhunderts würden zu Feudalherren, beinah Faschisten, und würden versuchen, jeden mundtot zu machen, der statt von Klassen von Kasten spricht. Themenstrang 2.4: Ende 1968 tauchen die ersten Poster des Parteivorsitzenden Mao auf und Genosse Ho Chi Minh steuert manchmal ein Sondergraffiti bei. Themenstrang 3: Ein junger Mann (ein einheimischer Informant, mit dem zusätzlichen Pluspunkt, dass er der Vater der Autorin ist) erschaudert erst und feiert dann, als er erzählt bekommt, dass ein Klassenfeind (ein Grundbesitzer aus Irinjiyur) mit der Axt in vier-und-vierzig Stücke gehackt wurde und sein totes Fleisch in Palmwedel gewickelt als Rachesouvenir an die Bauernfamilien verschenkt wurde. Themenstrang 5: Im Jahr 1943 findet in Tanjore die erste kommunistische Protestkundgebung für Lohnerhöhungen in der Landwirtschaft statt. Themenstrang 6: Wer einen Kommunisten sichtete, der sich versteckt hielt, war gehalten, die Tempelglocken zu läuten, um die Polizei zu alarmieren. Themenstrang 7: An die tausend naxalitische Kommunisten in Untersuchungshaft werden nach Tamil Nadu gebracht, weil die Gefängnisse in West Bengalen vor lauter Naxaliten aus allen Nähten platzen. Themenstrang 11: Jeder, der ein Gewehr, einen Revolver, eine Pistole oder eine andere Feuerwaffe besitzt, sollte diese (samt Munition) auf dem örtlichen Polizeirevier abliefern, sich eine Verwahrungsquittung geben lassen, ein Verlängerungsformular ausfüllen und eine Woche warten, bis die Verfahrensformalitäten abgeschlossen sind. Diese bürokratische Prozedur gewährleistete, dass selbst die schießfreudigsten Grundbesitzer eine Weile unbewaffnet waren. Die militanten Naxaliten, auf deren Programm die Liquidierung der Grundbesitzer stand, warteten eine Ewigkeit auf diese eine Woche der Entwaffnung. Themenstrang 13: die Mobilisierung der Agrarsklaven durch die Kommunisten setzt den unmenschlichen Feudalpraktiken ein Ende.

Doch keine Sorge, liebe Leserinnen und Leser: Sie haben genügend Intelligenz, die fehlenden Fäden zu finden und deren lose Enden zu verknüpfen. Die Menschen in diesem Land sagen am Klang weit entfernten Donners den Regen voraus, am Muster des Libellenflugs, des Hofs um den Mond, der Antworten geisterbesessener Tänzer, der Wahrscheinlichkeit, dass jemand Zinnober statt heiliger Asche den Vorzug gibt, sowie anderer Zufallsereignisse. Aber seien Sie zuversichtlich – meine Prosa ist sehr viel beständiger.

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Erwarten Sie nicht, nur weil dieser Roman im ländlichen Indien spielt, dass aus Gründen der Authentizität eine Büffelherde über jede Seite zieht. Auch eifrige Mütter mit Salz und getrockneten roten Chilis in den Händen, die Kreise über Ihren Köpfen beschreiben und Sie dann auffordern, dreimal in die Hände zu spucken, damit die Geister mit dem bösen Blick von Ihnen weichen – auch diese Mütter sind auf mein Geheiß verschwiegen worden, weil ich nicht will, dass Sie sich in Nostalgie und Exotika verlieren. Die Bimmelglocken der Ochsen könnten die Sätze musikalisch untermalen, doch ihnen wurden Dämpfer aufgesetzt, damit Sie sich geräuschlos an die Handlung der Geschichte heranpirschen können.

Genosse, eines muss klar sein: Es gibt nur zwei Möglichkeiten, die Sache anzugehen. Wenn Sie Ihre Dokumente an den richtigen Stellen haben abstempeln lassen und sich eine Fahrkarte gekauft haben, könnte ich Sie in das Dorf Kilvenmani bringen, wo Sie sich ins dortige Leben vertiefen können. Ich könnte Sie zu allen Jahreszeiten bei den Dörflern wohnen lassen, könnte Ihnen das Pfeifen beibringen, während Sie mit ihnen auf den Reisfeldern arbeiten und halbherzig versuchen, sich zu deklassieren. Ich könnte Ihre Hand halten, wenn Sie den Sonnenuntergang betrachten und ihn jedes Mal spektakulär nennen, und ich könnte Sie mit meinen Frauen nach Hause zurückgehen lassen. Ich könnte Ihnen beibringen, was es heißt, die Spreu bei wehendem Wind vom Reis zu trennen, wie man die übrig gebliebenen Körner auf dem Dreschboden zusammenkehrt, wie viel die verschiedenen Maße fassen, und wie man sich mit einem Bündel Brennholz auf dem Kopf fortbewegt. Ich könnte Ihnen Grütze kochen und zusehen, wie Sie sie voller Gier und genüsslich mit rohen Zwiebeln verspeisen. Ich könnte Ihnen die schön gemeißelten Schultern der Arbeiter zeigen; ich könnte dafür sorgen, dass Sie in Ohnmacht fallen, wenn Sie ihren Schweiß sehen. Ich könnte Ihnen vorführen, wie eine Großmutter flucht, eine Mutter Schlaflieder singt und eine Tante Klagelieder. Ich könnte die umherstreifende Zigeunerin bitten, Ihnen die Arme und Beine mit Tinte aus Muttermilch zu tätowieren. Ich könnte Ihnen die Freude bereiten, auf dieser exotischen Zeitreise eine Economy-Class-Voyeurin zu sein. So würde es immer weitergehen, ad nauseam, und Sie hätten das widerwärtig Süßliche bald über. Und höchstwahrscheinlich würden Sie nicht das Geringste lernen.

Die einzige Alternative hierzu ist meine Vorgehensweise.

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