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T.A. Wegberg

 

Hör bloß auf mit Liebe

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1. Auflage

ISBN 978-3-946408-04-8

ISBN 978-3-946408-05-5 (epub)

 

Wie ich aufhörte, meine Frau zu lieben

Es war ein Dienstag im April, gegen elf Uhr abends, als ich aufhörte, meine Frau zu lieben. Wir hatten gerade Sex, und plötzlich war mir, als verließe ich meinen Körper und sähe uns beiden von einer etwas erhöht gelegenen Position bei der üblichen Routine zu. Ich bemerkte erstmals, dass meine Frau in drei verschiedenen Höhenlagen stöhnte, die sich immer abwechselten, und dass ich voraussagen konnte, welche davon als Nächstes kommen würde. Ich kannte im Voraus jede ihrer Bewegungen und deren exakte Geschwindigkeit. Jetzt würde sie gleich die Beine anziehen, die rechte Hand in meine Haare krallen, mit den Fingernägeln der linken über meinen Rücken schaben. Und dann wäre es auch schon vorüber.

Bis zu diesem Dienstag im April hatte ich die Liebe zu meiner Frau nie infrage gestellt. Wir kannten uns seit acht Jahren und waren seit fünf Jahren verheiratet. Keiner von uns war jemals fremdgegangen. Unser Sohn war vier, unsere Tochter zweieinhalb, beide Kinder waren gesund und entwickelten sich gut. Wir hatten ein eigenes Haus, zwei Autos und eine Putzhilfe, die immer donnerstags kam. Meine Frau und ich hatten anspruchsvolle Berufe, wir kochten gern gemeinsam, besuchten eine Tanzsportgruppe und glaubten nicht an Gott.

Jetzt, als meine Frau aus dem Bad zurückkehrte und sich an mich kuschelte – wie immer legte sie dabei den rechten Arm über meine Brust und den Kopf an meine Schulter –, fragte ich mich zum ersten Mal, ob diese Gemeinsamkeiten genügten, um einen Menschen zu lieben. Nein, das ist gelogen. Ich wusste, dass sie nicht genügten. Ich empfand keinerlei Liebe mehr. Vor ein paar Stunden, beim gemeinsamen Fernsehen, hatte ich meine Frau noch geliebt. Jetzt war meine Liebe verschwunden.

Und doch ging das Leben weiter wie gewohnt. Mit meiner Frau sprach ich nicht über meine Gefühle, oder besser gesagt: über deren Fehlen. Wozu sollte ich sie beunruhigen? Vielleicht war ich nur überarbeitet, und bald würde alles wieder werden wie früher. Bis dahin konnte ich mich zusammenreißen und dafür sorgen, dass man mir nichts anmerkte.

Allerdings konnte ich nicht verhindern, dass ich meine Frau mit anderen Augen sah. Mir fiel auf, dass ich an ihrer Stimmlage erkennen konnte, mit wem sie gerade telefonierte. In neunzig Prozent der Fälle wusste ich sogar, was sie gleich sagen würde. Ich fragte mich, warum das keinem anderen auffiel, also beispielsweise ihrer Mutter, die offenbar fast täglich dasselbe Gespräch mit ihr führte.

Wenn wir uns mit Freunden trafen, stellte ich an meiner Frau Verhaltensweisen fest, die mich bisher nie gestört hätten. Nun begann ich, mich dafür zu schämen. Ich fand es peinlich, dass sie über unsere Kinder sprach, als wären sie fehlerlose kleine Genies, oder wie sie Gitte und Rainer mit in die Luft gehauchten Wangenküsschen begrüßte.

Ständig sprangen mir neue Eigenschaften und Gewohnheiten meiner Frau ins Auge. Es war, als hätte ich nach jahrelanger Fehlsichtigkeit eine Brille aufgesetzt und sähe die Dinge nun mit vervielfachter Klarheit, und das war keine angenehme Erfahrung. Beim Tanzen ließ sich meine Frau nicht führen, kam aber häufig aus dem Takt und gab mir dann die Schuld. Auf der Autobahn wartete sie viel zu lange mit dem Überholen. An Tassen und Gläsern hinterließ sie Lippenstiftspuren und im Waschbecken lange, gekräuselte Haare.

Dabei lag es nicht an meiner Frau, dass ich sie nicht mehr liebte. Sie hatte sich nicht verändert. Sie war immer noch attraktiv, klug, lebhaft, kontaktfreudig und eine patente Mutter. Die fünf oder sechs Kilo, die sie jetzt mehr auf ihren Hüften hatte als bei unserem Kennenlernen, hatte sie sich mit mir gemeinsam angefuttert, und die Haut unter ihren Augen erschlaffte nicht schneller als bei anderen Frauen ihres Alters. In unserem ersten Jahr hatte ich es bezaubernd und sogar ein bisschen erregend gefunden, dass sie ganz unbekümmert die Tür offen ließ, wenn sie pinkeln ging; jetzt erregte das Plätschern ihres Urins nur noch meinen Abscheu.

Es war meine Schuld, ich hatte mich verändert, etwas war mit mir geschehen, und zwar über Nacht. Aus Liebe war kritische Distanz geworden, mit einer wachsenden Tendenz zur Abneigung. Ich litt, denn die Liebe zu meiner Frau war eine Konstante in meinem Leben gewesen, ein Halt und eine Zuflucht, und der Verlust fügte mir Schaden zu und gab mir das Gefühl, auf einem Seil über eine Schlucht zu balancieren. Nichts wäre mir lieber gewesen, als wieder in den Zustand der sorglosen Blindheit zurückzukehren.  

Mein Gewissen quälte mich. Nach wie vor hatte ich Respekt und Achtung vor meiner Frau. Sie war die Mutter meiner Kinder, sie organisierte unseren Familienalltag, sie war beruflich erfolgreich und pflegte unseren Freundeskreis. Es war nicht ihr Fehler, dass meine Liebe abhandengekommen war, und ich hatte Schuldgefühle deswegen. Manchmal dachte ich darüber nach, mich jemandem anzuvertrauen, möglicherweise sogar einem Therapeuten. Aber dann redete ich mir immer wieder ein, dass dies nur eine vorübergehende Phase sei.

Doch in Abwesenheit von Liebe können andere, unerwünschte Empfindungen unkontrolliert wachsen und sich vermehren. Ohne Liebe wird ein Guten-Morgen-Kuss zum Ekel vor dem Mundgeruch des anderen. Ohne Liebe werden zehn Minuten Verspätung zur Ursache eines unangemessenen Wutausbruchs. Ohne Liebe wird ein verregneter Urlaubstag in der Ferienwohnung zu einer klaustrophobischen Grenzerfahrung.

Mein Leben hatte seine Wurzeln verloren. Ich arbeitete länger und länger, um meiner Frau aus dem Weg zu gehen, übernahm freiwillig Dienstreisen und hätte mich sogar ins Ausland versetzen lassen, wenn das möglich gewesen wäre. Sobald ich allein in einer fremden Umgebung war, fiel die Anspannung von mir ab. Nichts war tröstlicher als ein anonymes, nüchternes Hotelzimmer in irgendeiner fremden Stadt weit weg von zu Hause, in dem ich die halbe Nacht am Laptop arbeiten und die Whiskyfläschchen der Minibar leeren konnte, ohne ein Bedürfnis nach Zweisamkeit heucheln zu müssen.

Zwei, drei Mal fragte meine Frau mich – und es klang fast ein bisschen scherzhaft –, ob ich eine Geliebte hätte. Jedes Mal reagierte ich fassungslos. Nein, nichts lag mir ferner, als sie durch eine andere zu ersetzen. Ich nahm andere Frauen durchaus wahr, einige fand ich auch attraktiv, aber sie alle würden ihre Eigenheiten haben – im Bett rauchen, beim Italiener „Gnotschi“ bestellen, sich mit meinem Rasierer die Beine enthaaren. Ich glaubte nicht, so etwas ertragen zu können. Mein Vertrauen in meine eigene Duldsamkeit war zutiefst erschüttert.    

Mir war klar, dass ich handeln musste. Undenkbar, noch jahrzehntelang so weiterzuleben, leer und innerlich erstarrt, wie ein Schauspieler, der mein eigenes Leben spielte. Aber was sollte ich tun? Sollte ich meiner Frau, die keinerlei Schuld an dieser Entwicklung traf, und meinen ebenso unschuldigen Kindern den traumatischen Schmerz einer Trennung zumuten?

Seit ich die Liebe verloren hatte, litt ich auch unter Schlafstörungen. Ich lag wach und grübelte und fand keine Lösung, keinen Ausweg. Das leise Schnarchen meiner Frau, mit dem ich sie früher liebevoll geneckt hatte, löste in mir solche Aggressionen aus, dass ich mit meinem Bettzeug aufs Sofa umzog, wo ich ebenso wenig zur Ruhe fand. Ich wollte mit ihr reden, ihr alles erklären, aber ich begriff es ja selbst nicht, und vor allem wollte ich ihr nicht wehtun.

Zwei Tage vor Silvester saßen wir abends mit einem Glas Wein am Kamin. Die Kinder schliefen, draußen fiel Schnee, im Fernsehen lief eine Talkrunde. Meine Frau griff zur Fernbedienung und schaltete das Gerät aus, wodurch ich aus meiner schläfrigen Betäubung erwachte. „Ich wollte sowieso mit dir reden“, sagte sie. Sofort fuhr mir das Schuldbewusstsein wie ein Messer durch die Eingeweide. Jetzt musst du alles zugeben, dachte ich. Sie wird weinen. Sie wird wissen wollen, was sie falsch gemacht hat. Vielleicht wird sie sogar darum betteln, dass du trotz allem bei ihr bleibst.

Dieser Gedanke jagte mir am meisten Angst ein.

„Du hast es ja wahrscheinlich schon mitgekriegt“, fuhr meine Frau fort. „Ich kann mich nicht so gut verstellen. Deswegen ist es besser, wenn ich es dir jetzt sage.“

Verstellen? Sie? Aber warum denn? Ich war es doch, der schauspielerte, und das schon seit Monaten. „Nein, nein, es ist doch nicht deine Schuld …“

Sie sah mich irritiert an und sagte dann: „Doch, es ist meine Schuld. Ich fand Rainer immer schon toll, aber ich dachte, er wäre nicht an mir interessiert. Na ja, und dann, bei dieser Grillparty … Du hast es doch gemerkt.“

Ich schwieg, verwirrt und zu beschämt, um zuzugeben, dass ich nicht wusste, wovon sie sprach.

„Ich find’s toll, dass du die ganze Zeit nichts gesagt hast, wirklich“, fuhr sie fort. „Du hast wahrscheinlich gedacht, es geht von alleine vorbei.“

„Ja, das stimmt“, sagte ich, obwohl ich ahnte, dass wir nicht dasselbe meinten.

„Hab ich am Anfang auch“, erwiderte sie. „Aber es geht nicht vorbei. Es ist immer größer und größer geworden.“

„Na ja, schon, aber vielleicht können wir doch … Das muss doch nichts Endgültiges sein …“

Meine Frau seufzte, schüttelte leicht den Kopf und wandte den Blick ab. Dann sah sie mir wieder direkt in die Augen. „Es ist endgültig, und zwar ohne Wenn und Aber. Rainer und ich wollen zusammenbleiben. Natürlich möchte ich, dass die Kinder bei mir bleiben … also bei uns, aber dafür brauchst du auch keinen Unterhalt zu bezahlen.“ Nach ein paar Sekunden fügte sie hinzu: „Es tut mir wirklich leid.“

Ich starrte in die tanzenden Flammen des Kamins wie der gebrochene Mann, der ich hätte sein sollen. Gleichzeitig spürte ich, wie das Leben in mir erwachte, wie eine Tür sich vor mir öffnete, wie die Hoffnung wieder Gestalt annahm. Vor Dankbarkeit und Erleichterung stiegen mir Tränen in die Augen, und mit jenem willkommenen Schmerz, der einer langen Taubheit folgt, kehrte die Liebe in mich zurück.

 

Gefallen

 

„Ich melde mich bei dir, versprochen“, hat sie gesagt und dabei kurz die Hand auf meinen Arm gelegt, ehe sie ihren Freundinnen nach draußen gefolgt ist. Eine intime, liebevolle Geste. In diesem Moment war ich mir sicher, dass sie mich mag.

 

Ich renne die Stufen von der S-Bahn hoch. Zu spät. Die roten Rücklichter des Busses verschwinden mit einem höhnischen Zwinkern um die Ecke, und nachts fährt er nur halbstündlich. Achselzuckend schiebe ich die Hände in die Jackentaschen und stapfe los.

 

Gleich beim Reinkommen habe ich sie entdeckt. Genau genommen war sie das Erste, was ich gesehen habe, so als würde mein Blick per Funksignal gesteuert, obwohl die Bar voller Menschen und nur schwach beleuchtet war. Sie saß neben einem Typen mit Hornbrille und gestutztem Holzfällerbart, der ihr irgendwas auf seinem iPhone zeigte.

Wieder trug sie ein weißes Top, wie bei ihrer Lesung vor zwei Wochen, aber ärmellos diesmal. Ich konnte ihre Schlüsselbeinknochen sehen und ihre glatten Achselhöhlen, als sie sich den Pferdeschwanz neu band. Der Bärtige sagte etwas, das sie zum Lachen brachte.

 

Es ist kalt. Mein Atem bildet kleine Wölkchen. Die Luft tut gut, das Laufen auch. In meinen Ohren summt immer noch ein Echo des Barlärms, dabei ist es hier in dieser nächtlichen Nebenstraße vollkommen still. Meine Schritte teilen raschelndes Herbstlaub.

 

Ich holte mir einen Gin Tonic und ging wie zufällig ganz nah an ihr vorbei. Sie blickte vom Bildschirm des iPhone auf und erkannte mich sofort wieder. „Hi!“, rief sie erfreut und streckte mir die Hand entgegen. Ihre Finger fühlten sich warm und fest an. „Das waren tolle Fotos, und der Artikel war echt super, vielen Dank!“

„Hat Spaß gemacht“, antwortete ich. „Du schreibst ja auch tolle Gedichte.“

„Ach, ich war so aufgeregt an dem Abend!“

„Hat man nicht gemerkt.“

„Danke“, sagte sie mit einem Lächeln. „Ich war noch nie in der Zeitung.“

„Ich hätte dir auch gerne den Link geschickt, aber …“

„Ja, ich weiß, tut mir leid. Ich bin einfach nicht dazu gekommen, ich war jetzt vier Tage in München und davor in Luxemburg, also beruflich, jetzt nicht mit Lesungen oder so. Aber ich schreib dir eine E-Mail, okay? Ich hab ja deine Karte.“

Dann kam Matthias und begrüßte mich lautstark und zog mich mit sich an seinen Tisch. Ich konnte ihr nur noch entschuldigend über die Schulter zulächeln.

 

Heute ist Vollmond. Ich bleibe kurz stehen und lege den Kopf in den Nacken, um ihn zu betrachten. Er strahlt so hell, dass es beinahe in den Augen schmerzt, und wie immer erkenne ich ein freundliches Gesicht. Ich würde gern an seine besonderen Kräfte glauben. An eine Art von lunarer Magie, die bewirkt, dass Begegnungen in Vollmondnächten schicksalhaft sind. Vielleicht ist sie auch noch auf und steht irgendwo mit zurückgeneigtem Kopf – und denkt an mich.

 

Von unserem Tisch in der Ecke aus konnte ich sie beobachten. Ich brauchte nur über Matthias’ Schulter hinwegzusehen. Der Hornbrillenhipster quatschte sie voll, und an ihrer Sitzhaltung erkannte ich, dass es ihr zu viel wurde. Je näher er an sie heranrückte, desto stärker bog sie den Oberkörper zurück. Nicht offensichtlich, nur millimeterweise, aber für den genauen Beobachter doch unübersehbar. Ich war darüber so froh, dass ich leise in mich hineinlachte.

„Na, du hast ja gute Laune heute.“ Matthias grinste. Ich überlegte, ob ich ihm sagen sollte, dass ich auf sie stand. Eigentlich hätte ich es gerne jemandem erzählt. Immerhin war es weitgehend mein einziger Gedanke, er füllte mich fast vollständig aus.

Aber noch ehe ich die richtigen Worte gefunden hatte, verschwand er zur Theke, um neue Getränke zu holen, und als er wiederkam, berichtete er mir, dass Gerald ihn auf die Sache mit dem Kultursenator angesetzt hätte, und danach redeten wir nur noch über die Arbeit.

Vorne auf der Bühne, wo sie vor zwei Wochen ihre Gedichte vorgetragen hatte, spielte jetzt ein Trio irische Folklore.

 

Hinter manchen Fenstern brennt noch Licht, aber im Großen und Ganzen liegt das Wohngebiet im Tiefschlaf. Kein Mensch unterwegs, kein Auto fährt an mir vorbei. Hätte ich den Bus erwischt, läge ich vielleicht schon im Bett, aber eigentlich bin ich ganz froh über die zusätzlichen zwanzig Minuten Fußweg. Zum Schlafen bin ich zu glücklich.

Ich hole das Handy aus der Jackentasche, um zu sehen, ob sie mir schon eine Mail geschickt hat. Natürlich nicht. Selbst wenn sie ebenso auf mich abfährt wie ich auf sie – und das will ich gar nicht ausschließen , wird sie sich nicht die Blöße geben, es derart deutlich zu zeigen. Bis morgen wird sie mich schon zappeln lassen. Oder noch länger, wer weiß.

 

Irgendwann hatte sie den Holzfäller abgeschüttelt und saß dann bei ihren Freundinnen am Tisch. Ich musste mich ein bisschen verrenken, um sie weiter beobachten zu können. Zwei-, dreimal trafen sich unsere Blicke. Ich schaute jedes Mal schnell weg.

Matthias musste nach Hause, ich holte mir noch einen Gin Tonic und schlenderte mit dem Glas an ihrem Tisch vorbei. Der Stuhl neben ihr war leer. Sie lächelte mich an. Ich lächelte zurück und beugte mich zu ihr herunter, um die Musik zu übertönen: „Machst du bald mal wieder eine Lesung?“

„Nein, im Moment ist nichts geplant. Ich mach das ja nur so nebenbei. Aber ich hab neue Texte geschrieben.“

„Oh, das ist interessant.“

„“