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Prosa bei Lektora

Bd. 46

Jason Bartsch
Nils Früchtenicht
(Hrsg.)

Tintenfrische II

20 ausgewählte Texte der jüngsten
aufstrebenden Slam-Poeten

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Lektora, Paderborn

Vorwort

von Philipp Herold

„In den Holunderblüten eines Septembermorgens küssten wir uns einst wie taumelnde Traumtänzer vor den Toren dieser Stadt. Du hast mir einmal gesagt: Das Leben ist wie ein Märchen im Mondschein. Doch Du und Ich waren letztendlich auch nicht mehr als zwei eingeschlafene Feuerdrachen im Nieselregen der stillstehenden Zeit. Drei.“

Immer derselbe Pathos? So richtig mit Wir und Generation und Bla bla? Am Arsch! Junge Poesie kann so viel mehr. Na los, überzeugen Sie sich selbst! Überspringen Sie von mir aus sofort das Vorwort und tauchen Sie ein. In diese 20 Texte, die zugleich so gefühlvoll und brutal sein können, die suchen und finden, wollen und lassen, hoch hinaus und in die Tiefe gehen.

Ja, manchmal wäre ich auch gerne wieder U20. Einen Gedanken aus der Luft ziehen und seine Entfaltungsmöglichkeiten völlig unprätentiös auf das Blatt niederprasseln lassen. Lyrik oder Prosa? Mir egal, ich will beides. Einfach loslegen und schauen, wohin die Schreibe geht. Tüfteln und ausprobieren, experimentieren bis zum Umfallen. Was ist mein Stil? Was will ich sagen? Und wie will ich es ausdrücken? Schreiben ist sprechen ist schreiben ist sprechen. Bock auf Texte. Bock auf Touren. Bock auf noch ein Bier. Kiel, Berlin, Regensburg – wer will uns aufhalten? Ab zum nächsten Slam. Rockstars mit Sportzigaretten, die aus Hostelzimmern fliegen und trotzdem ganz genau wissen, was da noch fehlt. Was es noch braucht. Damit die Pointe zieht. Damit die Metrik stimmt.

Als mir vor ein paar Jahren die Idee zu dieser Anthologie kam, hatte ich irgendwie schon gehofft, dass Tintenfrische kein einmaliges Projekt bleibt. Und jetzt haben sich zwei wunderbare Jungs um den zweiten Teil gekümmert. Nice! Ich glaube, insgeheim wünsche ich mir sogar, diese Reihe ginge nie zu Ende. Also, liebe ungeborenen Poeten da draußen: Gönnt euch! Beehrt uns bald! Zeigt, was ihr drauf habt! Und lasst die Tinte tropfen!

Philipp

Inhalt

Jason Bartsch

Ein Text, der verstehen helfen soll

Johannes Berger

Du bist von vorne (fast) wie von hinten M-A-M-A

Sira Busch

Horn-Bad Meinberg

Julia Eckert

[Un]Sichtbar

Dominik Erhard

Perspektive

Fee

So einfach ist es eben nicht – Ein Text nicht dafür oder dagegen, sondern einfach darüber

Nils Früchtenicht

Suchtkind

Max Gebhard

Blumenkind

Danny Grimpe

Schall und Wahn

Samuel Kramer

Die Spieluhr

Noah Klaus

Lebensansichten eines verzogenen Bonzen

Hinnerk Köhn

Schlampen haben lange Beine oder auch: Döpdöpdöpdödödöpdöpdö dödöpdöpdöp dödödöpdöpdö

Olga Lakritz

Letzte Seite

Nhi Le

Kein Salz

Robin Reithmayr

dein ohr

Nick Pötter

Hermes und die Suche nach Liebe

Paul Lennart Vollmers

Der eine und der andere

Jule Weber

Candyman

Florian Wintels

Scheiß drauf

Fabian Wolf

Alles ist Kunst

Anmerkung:

Da es sich bei den nachfolgenden Texten um
Spoken Word handelt und maßgeblich der Auftritt
dem Text seine Form verleiht, erfolgte das Lektorat
für diese Sammlung mit sanfter Hand.

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Jason Bartsch. Postpoetry.NRW-Preisträger 2012, Treffen Junger Autoren Berlin 2013, Longlist des internationalen New Voices Award der PEN 2014, Teil des Jahrbuchs der Lyrik 2015 der DVA. Halbfinalist der deutschsprachigen Meisterschaften im Poetry Slam 2013, Finalist in der Kategorie U20, Vizemeister der NRW-Meisterschaften. Veranstalter sämtlicher Poetry Slams im Ruhrgebiet. Lebt und arbeitet in Bochum und Darmstadt.

 

Ein Text, der verstehen helfen soll

Als ich noch jünger war, schrieb ich kryptische Gedichte.

In Versform erzählte ich verwirrende Geschichten, saß zuhause, hörte Musik, die niemand hören will, weil sie verstörend wirkt und sich kanalisiert und verdichtet,

dein Gehirn im Zentrum auf die kreative Schaffensphase richtet.

Ja, vermutlich war ich irgendwie verschroben, ohne Sozialkontakte ein wenig abgehoben, doch wenn man als Pubertierender schon nicht weiß wohin, dann doch nach oben.

Man ist schließlich auch Nichts-zu-Verlierender, worin man sieht, dass mein Glas damals schon halb voll war.

Mit Bier.

Mein Bücherregal war auch voll.

Mit Bukowski.

Und hier begann ich auch zu rauchen,

mit Verlaub auch wenn

die Argumente fürs Rauchen mit dem Älterwerden schwinden,

Fakt ist doch:

Rauchen lässt dich gut aussehen und schneller Freunde finden.

Irgendwann kam einer dieser „Freunde“, die ich hinter der Turnhalle kennengelernt habe, zu mir nach Hause und fragte mich, ob ich Poetry Slam kenne, und wie das unter oberflächlichen Freunden so ist, habe ich natürlich „Ja“ gesagt. Und wie das unter oberflächlichen Freunden so ist, hat er trotzdem Youtube aufgemacht, mir ein Bier rübergereicht und schon war ich verliebt. Ich bin der Meinung, dass jeder Junge Idole braucht und er gab mir meine.

In dem rhythmischen Rattern der Reime versank ich, verliebte mich in Sebastian23.

Für die Wunder der Sprechkunst im Klang unverhofft, man

verguckt sich so leicht in Songs von Toby Hoffmann.

Und für mich noch immer erste Wahl:

Für Rosenrabauken und Räubertöchter,

Ginstergespenster und Traumverfechter,

das Slam-Gesicht schlechthin: Theresa Hahl.

(Mittlerweile wohne ich mit ihr zusammen, Jackpot.)

Mein Freund schaute mich an,

sah, wie meine Augen glitzerten,

wir witzelten noch über Sinn und Verstand,

stand für mich schon längst fest:

Erst schreib’ ich ’nen Text und wenig später dann steh’ ich da oben, das ist schließlich meine einzige Richtung,

sodass man vielleicht irgendwann ein Video von mir bei Youtube finden kann.

Und ich schrieb und schrub und schrubte,

ich vergoss, vergrub und suchte,

ich verdroß genug und fluchte und

wenig später stand der Text und

ich schon auf einer kleinen Bühne in der Stadt.

Der Moderator war ein Arschloch

und ich hab’s hart verkackt.

Ja, der Boden der Tatsachen

greift auch nach Glasflaschen,

aber meine Flasche Bier war immer noch halb voll

und draußen vor dem Laden

standen Slammer, die sich gerade

über Termine unterhielten,

und ich verfiel in

Schockstarre, denn man hatte mich gebeten

in Wuppertal aufzutreten.

In Wuppertal.

Ich war völlig aus dem Häuschen,

man stieß noch mit mir an und kurz,

kurz war ich Bukowski,

bis ich wieder zu mir fand und

mit mir waren da Freunde.

Leute, denen ich sagen konnte, dass ich keine Ahnung hätte, wer Paul Auster sei oder Dalibor Markovic. Leute aus Städten, die ich nicht kannte, die mich einluden, als wär’ ich ein entfernterer Verwandter.

Sie sagten, ich könnte auf ihrer Couch schlafen, wenn ich käme.

Sie hätten nicht viel Geld für mich, aber ich hatte plötzlich Pläne.

Ich fuhr Zug und ich fuhr Zug und ich fuhr Zug und dann:

fuhr ich nach Herne.

Lernte Idole kennen, genoss diese Wärme,

so gut und gerne, wie ich sie alle nennen würde, sage ich Danke.

Ihr wisst, dass ihr gemeint seid,

ihr seid entferntere Verwandte.

Überall hast du fünf Minuten Zeit.

Fünf Minuten, um das Publikum zu begeistern, um dir selbst treu zu sein und deine Ängste zu meistern.

Fünf Minuten von dir selbst in einem Text, fünf Minuten Liebe, das meiste davon echt. In fünf Minuten noch ein Bier hinter der Bühne, fünf Minuten für Gedanken und Gefühle, ein bisschen Ruhm in fünf Minuten.

Fünf Minuten für die Lustigen, Bemühten, die Guten, fünf Minuten für das Schöne und Wahre,

die Zeit, die es braucht, um alles zu sagen.

Ich hasse Pathos eigentlich ziemlich, aber diese fünf Minuten können euer verdammtes Leben verändern, sonst würden nicht Hunderte von Poeten stundenlang Zugfahren, sich ihre Seele aus dem Leib schreien und von der Bühne gehen, um von einem Publikum bewertet zu werden, dass ja vielleicht ’nen schlechten Tag hatte, vielleicht auf Klappstühlen sitzt und vielleicht nur einen Bruchteil deiner Fahrtkosten als Eintritt gezahlt hat.

Aber du tust es so lange, bis die erste schlechte Wertung nicht mehr weh tut, bis du jeden im Backstage kennst und dein eigenes Zuhause mit ’nem Navi suchen musst.

Ich war in Flensburg und Hamburg,

Gießen und Frankfurt,

vor sechs Leuten im Jugendzentrum,

vor Tausend im Schauspielhaus,

auf alten Bierkästen im AZ und

auf Festivalbühnen.

Du fragst mich warum?

Du tust es für den einen Lacher,

der immer funktioniert,

für die eine Träne, die ein Mann vor dir verliert,

für den Applaus nach dem Auftritt,

für eine Wertung mit Aussicht auf’s Finale,

für eine 6.2, die dich rauskickt und gerade

für die Menschen, denen du Tag für Tag etwas

mitgeben kannst,

die, denen du vielleicht hilfst, und die,

die du zum Schweben bringen kannst.

Du tust es für deinen Kollegen aus Kiel,

den du Wochen nicht getroffen hast,

und ihr trefft euch beim Slam in München, wo du

noch alle Texte offen hast.

Du tust es für das Freibier, die Liebe, den Text,

für das Ich-blieb-hier, die Liebe, den Sex,

für das Beispiel, die Liebe, das fetzt und ...

Mittlerweile findet man Videos von mir bei Youtube. Ich kann nicht verleugnen, dass das manchmal echt gut tut,

zu wissen, ein Ziel erreicht zu haben.

Denn nicht jeder Weg führt nach oben,

das scheinen alle Menschen irgendwie gleich zu haben und ja,

vermutlich bin ich immer noch irgendwie verschroben.

Ich meine, ich trage Fliegen und lese Texte vor, aber meine Flasche Bier ist immer noch halb voll und wer will schon Bukowski sein,

wenn er Slampoet sein kann?

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Johannes Berger