Cover

Ich will nicht in die Schule!

Inhalt

Einleitung

1. Angst – einem Phänomen auf der Spur

2. Kleine Neurobiologie der Angst

3. Schule und Angst – ein ambivalentes Verhältnis

Von der Lust aufs Lernen zur Angst vorm Versagen

Von der Angst vorm Versagen zur Lust aufs Lernen

4. Angst lässt aufblühen – über den positiven Umgang mit Ängsten

5. Wie Trennungsangst autonom und stark macht

Tipps für Eltern und Kinder

6. »Überforderung« – von der Versagensangst zum Flow

Tipps für Eltern und Kinder

7. Wie Erfolgsangst Potenziale entfalten kann

Tipps für Eltern und Kinder

8. Außenseiter – die paradoxe Angst, nicht dazuzugehören

Tipps für Eltern, Lehrer und Kinder

9. Erste Hilfe bei Mobbing

Tipps für Eltern und Lehrer

10. Erste Hilfe bei Schulverweigerung

Selbstverankerung der Eltern

die Kunst der Deeskalation

Beistand und Unterstützung

Tipps für Eltern und Lehrer

Danksagung

Einleitung

Den meisten Büchern über Schulangst und Schulverweigerung ist eigen, dass sie die Angst besiegen, vertreiben oder überwinden wollen, damit endlich positives Erleben möglich ist. Einige gehen auf die Angst zu, um sie dann zu eliminieren. Ich gehe in diesem Buch einen anderen Weg.

Nicht zuletzt ermutigt durch den Neurobiologen Gerald Hüther, möchte ich eine neue Sichtweise auf dieses Gefühl vermitteln: Ohne Angst geht gar nichts. Sie ist unser Lebenselixier und zentraler Ausgangspunkt von Entwicklung. Sie stellt Energie zum Handeln bereit. Diese Energie kann in einer Aufwärtsspirale des Erfolgs aufgehen, dann beflügelt Angst. Es kann aber auch zu einer Abwärtsspirale kommen, wenn Angst blockiert und lähmt.

Für Eltern von Schulkindern bedeutet das: Eine angstfreie Schule, wie sie vielfach gefordert wird, ist nicht sinnvoll. Denn wie zum Leben gehört Angst auch zur Schule – und ohne dieses Gefühl gibt es keinen schulischen Erfolg.

In diesem Buch erfahren Sie, welche Rolle Angst in der Schule spielt, und finden Wege, sie in eine Aufwärtsspirale aus Motivation, Interesse und Selbstbewusstsein zu überführen.

Die ersten beiden Kapitel befassen sich mit den theoretischen Grundlagen von Angst im Allgemeinen, danach geht es konkret um Schulangst. Zahlreiche Fallbeispiele aus meiner langjährigen Erfahrung als Therapeut stellen den Bezug zum familiären und schulischen Alltag her.

In Kapitel 1 erfahren Sie, welchen evolutionären Fortschritt das Gefühl der Angst und das Entstehen der Stressreaktion für die menschliche Entwicklung bedeuten.

Kapitel 2 gehört der Neurobiologie – es bietet einen Überblick darüber, was im Gehirn abläuft, wenn Angst beflügelt oder lähmt.

Kapitel 3 befasst sich mit dem Verhältnis von Schule und Angst, das voller Herausforderungen steckt, und kommt zu dem Schluss, dass eine Schule ohne Angst Wunschdenken ist – ja, dass Schule die Angst sogar braucht.

Kapitel 4 verrät, wie die Aufwärtsspirale gelingt und stellt dazu verschiedene Ansätze vor: PERMA, die Theorie des Wohlbefindens, Neue Autorität und Konzepte der positiven Jugendentwicklung.

Kapitel 5 zeigt auf, wie Trennungsängste der Beginn von Stärke, Autonomie und Erfolg sein können.

Kapitel 6 bietet einen neuen Zugang zur allgemein beklagten »Überforderung«, indem es zeigt, wie Versagensangst und Flow miteinander zusammenhängen.

Kapitel 7 beleuchtet ein paradoxes Phänomen, das oft übersehen wird, nämlich die Angst vor Erfolg, und zeigt Eltern, wie die Erfolgsangst ihrer Kinder zum Katalysator von Potenzialentfaltung wird.

Kapitel 8 beschäftigt sich mit der besonderen Ausstrahlung von Außenseitern in der Schule und wie gerade sie zu sozialem Miteinander und Gruppenerfolg beitragen können.

Kapitel 9 und 10 bieten schließlich konkrete Hilfestellung im Umgang mit Mobbing. Hier hilft die Positive Psychologie Schülern, Lehrern und Eltern Schritt für Schritt herauszufinden aus diesem weitverbreiteten Teufelskreis aus Sozialangst und Schulverweigerung.

Alle Kapitel sind so abgefasst, dass sie auch für sich gelesen werden können. Sie können also dort einsteigen, wo Sie wollen. Die Lehrerinnen unter den Lesern bitte ich um Verständnis, dass ich aus Gründen der Lesbarkeit durchgehend von »Lehrern« spreche, wohl wissend, dass die meisten Pädagogen weiblich sind.

Über Rückmeldungen und Diskussionsbeiträge von allen Seiten freue ich mich sehr – schreiben Sie bitte an dpst@ikjf.at.

1. Angst – einem Phänomen auf der Spur

Niklas ist leicht angespannt. Ein bisschen schwitzt er an den Händen, er hört sein Herz pochen. Der Elfjährige atmet auch etwas schneller, als der Mathematiklehrer die Klassenarbeit vor ihn hinlegt. Doch Niklas ist gut vorbereitet und entspannt sich langsam, als er die Beispiele sieht. Mit Elan und voll konzentriert macht er sich an die Lösungen. Im Laufe der Stunde, während ihm eine Aufgabe nach der anderen gelingt, wird er immer lockerer.

Sophie, 8 Jahre, hat sich davongeschlichen und kramt im dunklen Keller der Eltern herum. Die Beleuchtung ist nur spärlich. Plötzlich geht das Licht aus, und es ist zappenduster. Sophie stößt einen kleinen Schrei aus und atmet flach. Dann wird sie panisch und fängt an zu schreien, bis endlich ein kleines Licht auftaucht und die vertraute Stimme von Mama ertönt: »Keine Angst, Sophie!«

Spätabends geht der 16-jährige Jakob durch den Park. Es ist ziemlich dunkel. Plötzlich bemerkt er, dass ihm jemand folgt. Wenn er schneller geht, bewegt sich diese Person auch schneller. Wenn er stehen bleibt, hält auch sie an. Sein Herz beginnt zu rasen und der Puls pocht wie verrückt. Er schwitzt und zittert, alles ist plötzlich angespannt. Jakob geht immer schneller, bis er fast rennt. Erst als er vor sich eine alte Frau sieht, die auch durch den Park geht, entspannt er sich. Langsam geht Jakob mit ihr mit.

Es ist halb zehn am Abend, und Finn steht im Schlafzimmer seiner Eltern. Der 9-Jährige brüllt wie am Spieß: »Die Monster kommen mich holen!« Durch nichts lässt sich Finn beruhigen, außer dadurch, dass die Eltern ihn ins Bett holen. Tag für Tag geht das nun so. Die Eltern sind völlig genervt von Finns Panikanfällen.

Ob im Klassenzimmer oder im Keller, im Park oder im Bett – überall erleben Kinder dieses Gefühl von Angespanntheit und Erregung, das man allgemein Angst nennt. Eine zutreffende Bezeichnung, denn »Angst« kommt aus dem Lateinischen und ist verwandt mit den Begriffen »angustus« und »anguster«, die Enge und Bedrängnis bedeuten. Wir empfinden Angst in Situationen, die uns einengen und in denen wir offensichtlich aufgefordert sind, etwas zu tun. Angst wird definiert als menschliches Grundgefühl, das sich als Besorgnis und unlustbetonte Erregung äußert. Sie wächst in Situationen, die als bedrohlich empfunden werden und für die eines typisch ist: das Uneindeutige, die Unklarheit gegenüber dem, was als Nächstes folgen und wirklich passieren wird. Anders gesagt: Angst ist ein Grundgefühl, das in uneindeutigen Gefahrensituationen auftritt. Auslöser können zum Beispiel wirkliche oder vorgestellte Bedrohungen der körperlichen Unversehrtheit, der Sicherheit oder der Selbstachtung sein. Ist die Gefahrensituation eindeutig, wissen wir also genau, wer oder was der Auslöser ist – etwa eine Spinne, ein wildes Tier oder ein Auto, das heranrast –, dann sprechen wir nicht mehr von Angst, sondern von Furcht.

Nun haben Reaktionen wie Anspannung und Erregung aber auch einen positiven Effekt: Sie setzen Energien frei und leiten sie in Handlungen um. Dieser wichtige Aspekt wird allerdings kaum wahrgenommen, denn die Angst steht als Gefühl nicht hoch im Kurs. Das zeigen schon Redewendungen wie »vor Angst wie gelähmt sein« und »vor Angst vergehen«. Am liebsten würden wir alle unsere Ängste aus unserem Sein verbannen – angstfrei leben, keine Angst mehr haben, das sind Ziele des modernen Menschen. Und so tauchen auch im pädagogischen Zusammenhang regelmäßig ein Schlagwort und eine damit verbundene Forderung auf: die »angstfreie Schule«.

Aber nicht nur die Angst vor der Klassenarbeit lässt sich so leicht verscheuchen. Ängste treten auf und erfüllen uns, noch bevor wir darüber nachdenken können, oder sie wirken längst in uns, ohne dass wir sie überhaupt wahrgenommen hätten. Ängste sind offensichtlich allgegenwärtig und gehören zu unserem Leben ganz einfach dazu. Daher sollten wir versuchen, sie nicht ausschließlich als negative Grunderregung wahrzunehmen, die wir einfach nur loswerden wollen.

Es gibt viele Beispiele, wie Angst auch als lustvolle Erfahrung gesucht und erlebt wird, etwa in Form des Thrills. Denken wir nur an Kletterer und andere Extremsportler. Was reizt, ist der Kontrast zwischen der aufregenden Gefahrensituation und ihrer Bewältigung. Das führt nicht nur bei Extremsportlern zu einer Steigerung des Lebensgefühls und zu Wohlbefinden, auch das erfolgreich bewältigte Referat vor der ganzen Klasse kann einem Schüler große Befriedigung verschaffen, wenn er seine Redeangst überwunden hat. Immer wieder einen neuen Kick zu suchen gehört zur persönlichen Entwicklung dazu, es kommt aber auf die richtige Balance an. Nicht umsonst gilt die Pubertät als gefährliche Zeit, weil hier oft diese Balance zwischen dem Suchen des Kicks und maßvoller Kontrolle fehlt.

Biologisch gesehen, hat die Angst einiges zu bieten: Sie erhöht die Aufmerksamkeit, sie steigert das Seh- und Hörempfinden, sie erhöht die Muskelspannung und die Reaktionsgeschwindigkeit. »Unnütze« Dinge wie Verdauung, Darm und Blase hält sie für den Zeitraum der zu erbringenden Höchstleistung zurück. Sie bringt die Herzfrequenz in die richtige Position und erhöht den Blutdruck. Überspitzt gesagt: Ohne Angst ist ein gelungenes Leben nicht denkbar.

Angst beherrscht uns Menschen. Daher beschäftigen sich nicht nur psychologische Theorien mit ihrer Funktion und ihrer Bedeutung. Ein Blick auf die menschliche Entwicklungsgeschichte gibt Aufschluss über die wichtige Funktion der Angst. Stellen wir uns vor, wie Menschen vor einigen Millionen Jahren lebten: Eine Gruppe von Jägern und Sammlern wandert durch die Savanne. Mannshohes Gras, plötzlich ein Knistern, ein Knacksen, ein Knurren und Brüllen – die Jäger und Sammler denken nicht mehr nach, sondern rennen augenblicklich zum nächsten Baum, denn sie wollen nur eines: nicht gefressen werden. Dann stellt sich heraus, dass es nur ein kleines Wildschwein war, und ohne nachzudenken, wird zum Angriff übergegangen. Oder bleiben wir im Hier und Jetzt: Eine Wespe will sich auf Ihren Handrücken setzen. Bevor Sie nachgedacht haben, haben Sie sie vertrieben, also angegriffen.

Im Sinne unserer Entwicklungsgeschichte hat Angst eine außerordentlich wichtige Funktion. Sie ist ein die Sinne schärfender Schutzmechanismus, der in tatsächlichen oder vermeintlichen Gefahrensituationen ein angemessenes Verhalten einleitet – und das ganz ohne das Zutun unseres Bewusstseins. Angst ist ein wichtiges Steuerungsinstrument bei gefahrenträchtigem Verhalten und ein Warnimpulsgeber, somit ist sie eine unverzichtbare Grundausstattung des Selbsterhaltungstriebes. Angst ist entwicklungsgeschichtlich deshalb so bedeutend, weil sie die entscheidende Hilfestellung dazu gibt, zu überleben und sicher zu sein. Das gilt für früher genauso wie für heute. Zwar wird sie damals wie heute regelmäßig zu früh ausgelöst – aber sicher ist sicher.

Viele von uns haben aber auch schon die Erfahrung gemacht, dass Angst auch Handeln blockiert, indem es jegliche Gefahren und Risiken ausblendet. Das zeigt sich zum Beispiel beim sogenannten Blackout in Prüfungssituationen. Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts formulierten die Psychologen Yerkes und Dodson das sogenannte Gesetz der Angst. Demzufolge besteht ein simpler Zusammenhang zwischen dem Erregungsniveau eines Menschen und seiner Leistungsfähigkeit. Ob der Mensch herausfordernden Situationen gewachsen ist, hängt von seinem Aktivitätsniveau ab, das durch Erregung so sehr erhöht sein kann, dass sein Handeln beeinträchtigt oder blockiert wird.

Nur wer keine Gefahren spürt, kennt keine Angst. Das Gefühl der Angst ist eine Alarmanlage, die zu unempfindlich, aber auch zu sensibel eingestellt sein kann. Letzteres ist gefährlicher.

Ein Baby kommt bereits mit diesen das Leben schützenden und persönliche Leistungen steigernden Alarminstrumenten auf die Welt. Biologisch vorgegeben reagiert es einfach auf einige Reize schneller. Der Psychologe Martin Seligman beschreibt das so, dass wir von Natur aus auf das Leben vorbereitet sind.

Nun gibt es eine Reihe Reize, die Ängste auslösen, die wir auch als Urängste bezeichnen: Dunkelheit, Verlust des Gleichgewichts, Körperkontakt von hinten, Spinnen, Schlangen und ähnliche Tiere, wütende Gesichter. Das schützt uns bei sogenannten heimischen Gefahrenquellen. Vorbereitet sind wir auch, auf uneindeutige Situationen zu reagieren, mit dem Ziel, sie zu klären und ihnen aktiv zu begegnen. Auf neuzeitliche Gefahrenquellen wie etwa Schusswaffen oder Elektrokabel, die herumliegen, sind wir hingegen biologisch nicht vorbereitet. Trotzdem empfinden wir Angst beim Anblick eines Gewehrs oder einer Pistole, die auf uns gerichtet wird. Nachdem der Reiz eindeutig ist, nämlich dass ein Gewehr tödlich sein kann, erfahren wir Furcht.

Offensichtlich erlernen wir unser Angstverhalten, indem wir einen Angst auslösenden Reiz, etwa den Termin für eine Klassenarbeit, mit einer entsprechenden Reaktion verbinden. In dem berühmten psychologischen Experiment mit »Little Albert« wurde der Junge darauf konditioniert, vor einem Hasen Angst zu haben, indem man ihn gleichzeitig mit einem lauten Geräusch als aversivem Reiz präsentierte. Ähnlich kann es auch einem Schulkind ergehen, das bestimmte Reize und Reaktionen miteinander verknüpft und so möglicherweise ein Angstverhalten erlernt.

Normalerweise erlernen wir im Laufe unseres Lebens durchaus adäquate Reaktionen auf Angstauslöser, nämlich sogenannte effektive Coping- und Bewältigungsstrategien. Sie helfen uns dabei, uns möglichst optimal zu verhalten. So suchen wir zum Beispiel bei Dunkelheit das Licht auf, passieren verlassene Straßenzüge lieber nicht allein, und Kinder suchen im Kreis ihrer Freunde Schutz vor Rabauken auf dem Schulhof. Nach dem berühmten amerikanischen Psychologen Aaron T. Beck entsteht Angst durch das Einschätzen einer adäquaten Möglichkeit, wie eine Herausforderung gut zu lösen ist. Dabei stoppt uns die Angst und aktiviert zugleich. Dann suchen wir so lange, bis wir die optimale Lösung gefunden haben.

In Momenten der Angst passiert aber auch etwas Eigenartiges. Durch Vermeidung eines Angstreizes oder Angst auslösenden Reizes wird Anspannung reduziert, was irgendwie belohnend wirkt. Das Vermeidungsverhalten wird entsprechend gestärkt, was auch als negative Verstärkung bezeichnet wird. Hinzu kommt die sogenannte Erwartungsangst: Weil wir nun vorher schon Angst haben, dass der Reiz wiederkommt, laufen wir sicherheitshalber gleich davon. Auf diese Weise entstehen pathologische Ängste.

Der Liedermacher André Heller singt in einem Lied anschaulich von zwei Sorten Ängsten: einer, die uns klein und unbedeutend macht und uns ins Eck zurückdrängt, und einer, die uns wachsen lässt und uns von Selbstbetrug frei macht. Mit dieser letzteren Form der Angst beschäftigt sich auch die Schweizer Psychologin und Psychotherapeutin Verena Kast. Ihr zufolge ist Angst wie ein Motor, der da ist, um ein Problem zu lösen. Ist dies geschehen, flacht sie wieder ab. Kast beschreibt diese Einstellung gegenüber Angst als entwicklungsfördernd. Es gibt aber auch noch andere Formen des Umgangs mit Ängsten: Wir können vermeiden, bagatellisieren, verdrängen, leugnen, übertreiben. Auf diese Weise werden Ängste und ihre Folgen unter den Teppich gekehrt oder so übertrieben dargestellt, dass man sie überhaupt nicht mehr spürt. Bewältigungsverhalten dagegen nimmt Angst als das, was sie ist – ein wichtiges Schutzsignal bei uneindeutigen Situationen, das die nötigen Energien mobilisiert, um angemessen reagieren zu können. Nur so stellt sich Erfolg ein. Heroisierungsverhalten nimmt die Angst an und stellt sich ihr. Dann empfindet man dabei sogar etwas Heldenhaftes.

Das klingt jetzt vielleicht alles ein wenig nach Schönreden, denn Angst ist nun einmal qualvoll und unangenehm. Eigentlich kann man auch nichts dagegen tun, wenn sie auftritt, sondern ist ihr ausgeliefert. Am besten ist es dann, sich gleich zu ergeben.

Natürlich kann Angst auch einen krankhaften Zug haben oder krankhaft werden. Und zwar dann, wenn sie nicht mehr gezielt Aktivität fördert, sondern im Gegenteil zu hektischer oder gar keiner Aktivität mehr führt. Dann erstarrt man vor Angst. Eine solche Angstkrankheit beginnt immer im Kopf. Sie ist nicht genetisch vorgegeben. Angst im Kopf entsteht durch Lern- und Verstärkungsprozesse – durch Imitationsverhalten, durch Bewertungen, Fehlbewertungen, Überbewertungen –, so kommt es zu einem fatalen Teufelskreis. Die vom emotionalen Gehirn geschickten nützlichen Impulse, um adäquates, zielführendes Handeln vorzubereiten, werden nicht ausgeführt. Stattdessen werden Impulse zurückgeschickt, welche die Angstzentren auf Dauerbetrieb schalten. Nicht selten, wie wir im zweiten Kapitel sehen werden, führt dies zu nachhaltigen Schädigungen in bestimmten Gehirnregionen. Die erfreuliche Nachricht ist aber: Ängste können nicht nur erlernt, sondern auch wieder verlernt werden. Auf die verschiedenen Formen der Schulangst, die in diesem Buch behandelt werden, trifft dies eindeutig auch zu. Ihre erfolgreiche Bewältigung steht im Mittelpunkt des Interesses.

Angst ist weit mehr als nur ein unangenehmes, zu vermeidendes Gefühl. Gewiss, Angst kann ein Monster sein, aber Monster haben sehr hilfreiche Seiten. Grundsätzlich sollten wir Angst verstehen, denn sie ist ein wichtiges Signal, um herausfordernde Lebenssituationen erfolgreich zu bewältigen. Dazu gehören eben auch Schul- und Lernsituationen. Ängste sind der Startimpuls für die erfolgreiche Bewältigung von Herausforderungen, da sie die nötige Energie zum Handeln bereitstellen.

Ab wann hemmen Ängste nicht mehr, sondern fangen an zu inspirieren? Wie gelingt es, dass sie einen kraftvollen Prozess in Gang setzen? Ängste sind, wie im nächsten Kapitel gezeigt wird, sozusagen das Vorstadium erfolgreicher Leistungen. Ohne sie, ohne den lästigen »kleinen Stress« kommt nichts Großes zustande.

Gewiss kann Angst manchmal »monströs« wirken. Gerade in der Schule, wo die verschiedensten Ungeheuer aktiv sind, greifen sie um sich. Sobald wir ihnen aber begegnen und sie von ihren Abenteuern erzählen lassen, wenn wir ihre Kraft spüren und sie bitten, diese einzusetzen, dann werden die Monster zu hilfreichen Gefährten. Angst ist in diesem Sinne ein unverzichtbarer Bestandteil der schulischen Entwicklung. Von den Möglichkeiten der Positiven Psychologie, den Angstmonstern zu begegnen und sie zu verwandeln, wird im Folgenden ausführlich die Rede sein. Also: Haben Sie keine Angst vor Ängsten!

2. Kleine Neurobiologie der Angst

Was passiert in unserem Gehirn, wenn wir Angst haben? Bevor wir einen Blick auf diesen Prozess werfen, stellen Sie sich folgendes Szenario vor: Sie spielen eines dieser uralten Computerspiele und versuchen, eine Maus mithilfe zweier Balken, die durch zwei Knöpfe bedient werden, in eine Ecke zu drängen, wo sie dann in einem Loch verschwinden kann. Wahrscheinlich gelingt Ihnen das schon nach kurzer Zeit. Hätte ein Computer diese Aufgabe zu erfüllen, bräuchte man auch heute noch eine Anlage in der Größe von vier Quadratmetern. Warum kann der Mensch eine solche Aufgabe in kürzester Zeit lösen und der Computer nicht?

Die Antwort scheint leicht: Weil wir ein Gehirn haben, mit dem wir planen, kombinieren, vorausdenken und eine passende Logik entwickeln können. Innerhalb von Minuten und mithilfe weniger Übungszüge ist der Mensch in der Lage, ein Konzept zu entwickeln, wie die Aufgabe gelöst werden kann. Damit ein Computer das ebenso gut bewältigt, müssten zuerst alle möglichen Problemlösungsstrategien einprogrammiert werden, während jeder von uns einfach seine eigene Problemlösungsstrategie kreiert. Dies ist nicht von Geburt an möglich, bei Kindern jedoch ab dem achten oder neunten Lebensjahr zu beobachten. Technologisch ausgedrückt, könnte man sagen, dass unser Gehirn ein Computer ist, der sich selbst programmieren kann, indem er für überraschend auftretende Herausforderungen neue Lösungswege entwickelt. Natürlich erfordert dies etwas Übung. Hat man jedoch einmal einen adäquaten Lösungsweg für ein Problem gefunden, verwendet man diesen auch sehr lange, quasi so lange, bis er automatisch funktioniert. Denken Sie dabei zum Beispiel ans Autofahren.

Unser Gehirn ist ohne Zweifel ein Wunderwerk. Es kann Zellen und Nervenknäuel bilden, die dann über riesige Schaltzentren für unser Überlegen von Strategien und unser Handeln nötig sind. Das wissen wir spätestens seit dem vermehrten Einsatz bildgebender Verfahren, mittels deren sich unsere elektrochemisch ablaufenden Gehirnaktivitäten betrachten lassen. Dabei wurde etwas Bahnbrechendes herausgefunden, das schon lange vermutet wurde, nun aber erst nachgewiesen werden konnte. Unser Gehirn ist ein Organ, das nicht von Geburt an fix verdrahtet und verschaltet ist, sondern es ist plastisch, sozusagen flexibel. Früher wurde davon ausgegangen, dass die Verschaltungsarbeit mit dem achten Lebensjahr beendet sei, jedoch können sich unser ganzes Leben lang Zellen oder Kernansammlungen bilden, vernetzen, verschalten und verbinden. Und zwar immer dort, wo sie gerade benötigt werden.

Insgesamt haben wir etwa hundert Milliarden Gehirnzellen, wobei zwischen dem neunten und zehnten Lebensjahr noch einige hundert Millionen dazukommen. Daraus ergeben sich unendlich viele Möglichkeiten an Nervenzellenverbindungen, die man auch als synaptische Verbindungen bezeichnet. Das Ganze wird durch sogenannte klinische Botenstoffe, auch unter der Bezeichnung Neurotransmitter bekannt, moderiert. Ihre Aktivität entscheidet darüber, welche Art von elektrischen Reizen in unserem Nervensystem weitergeleitet wird.

An dieser Stelle seien nur die wichtigsten Neurotransmitter genannt: Serotonin ist ein Botenstoff, welcher die Stimmung reguliert. Dopamin aktiviert, Noradrenalin alarmiert, Cortisol versorgt uns mit Energie, Acetylcholin fördert die Wachsamkeit und das Lernen. Auch Glutamat und Gamma-Aminobuttersäure (GABA) sind wichtige Neurotransmitter in unserem Gehirn. Darüber hinaus verfügen wir über körpereigenes Morphium, Opioide genannt, die uns den nötigen Entspannungszustand vermitteln, während das Bindungshormon Oxytocin fürsorgliches Verhalten gegenüber anderen bekannten Personen fördert. Heute gehen wir also nicht ausschließlich davon aus, dass ein fix verdrahtetes, genetisch determiniertes Hirn unser Tun und Handeln bestimmt, sondern unser Tun und Handeln bestimmen auch, wie unser Gehirn aussieht. Wir Menschen selbst haben es in der Hand, auf die Qualität unseres Gehirns einzuwirken.