Haydon, Elizabeth Tochter des Windes

Übersetzung aus dem Amerikanischen von Michael Windgassen

ISBN 978-3-492-98274-0

April 2016

© Elizabeth Haydon 1999

Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Rhapsody«

© Piper Fahrenheit, ein Imprint der Piper Verlag GmbH,

München/Berlin 2016

Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2004

Covergestaltung: Tanja Winkler

Covermotiv: Unsplash

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

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Für

November, Oktober und Dezember

– die drei schönsten Monate des Jahres –, voller Liebe und Dankbarkeit für all das, was sie mir gegeben haben

Die Prophezeiung der Drei

Die Drei werden kommen; früh brechen sie auf, spät treten sie in Erscheinung,

Die Lebensalter des Menschen:

Kind des Blutes, Kind der Erde, Kind des Himmels.

Ein jeder Mensch, entstanden im Blute und darin geboren,

Beschreitet die Erde, wird von ihr genährt, Greift zum Himmel und genießt seinen Schutz,

Steigt indes erst am Ende seiner Lebenszeit zu ihm auf und gesellt sich zu den Sternen.

Blut schenkt Neubeginn, Erde Nahrung.

Der Himmel schenkt zu Lebzeiten Träume – im Tode die Ewigkeit.

So sollen sie sein, die Drei, einer zum anderen.

Die Prophezeiung
des ungebetenen Gasts

Er geht als einer der Letzten und kommt als einer der Ersten,

Trachtet danach, aufgenommen zu werden, ungebeten, an neuem Ort.

Die Macht, die er gewinnt, indem er der Erste ist,

Ist verloren, wenn er als Letzter in Erscheinung tritt. Unwissend spenden die, die ihn aufnehmen,

ihm Nahrung,

In Lächeln gehüllt wie er, der Gast;

Doch im Geheimen wird die Vorratskammer vergiftet. Neid, geschützt vor seiner eigenen Macht –

Niemals hat, wer ihn aufnimmt, ihm Kinder geboren, und niemals wird dies geschehen,

Wie sehr er sich auch zu vermehren trachtet.

OUVERTÜRE

Meridion

Meridion setzte sich an den Zeit-Editor und fing an zu arbeiten. Er justierte die Linsen und überprüfte die Spulen aus aufgewickelten durchsichtigen Streifen unterschiedlicher Stärke – vom dicken, klaren Film der Vergangenheit bis hin zu den hauchdünnen, matten Fasern der Zukunft. Nachdem er die feinen Werkzeuge noch schnell sauber gewischt hatte, wickelte er den Film der Vergangenheitsspule ein Stück ab, führte das Ende durch die Maske der Maschine und klemmte es unter die Linse. Vorsichtig zupfte er die einzelnen Zeitspuren auseinander und arbeitete sich durch Jahrhunderte und Jahre bis zurück zu den Tagen und Augenblicken, bis er schließlich genau den Eintrittspunkt isoliert hatte, den er brauchte.

Er lächelte in sich hinein, als er den Jungen sah, der unbeaufsichtigt und mit selbstsicherem Schritt über den Waldweg stolzierte. Eine solche Art zu gehen bekam man heutzutage nicht mehr zu Gesicht, ebenso wenig wie das helle, frische Drumherum, diesen strahlenden Sommermorgen, der gepriesen sein wollte, wenngleich der Junge mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein schien.

Meridion hielt das Bild an.

Von der prismatisch schimmernden Scheibe, die neben dem Editor in der Luft schwebte, nahm er nun ein kleines Gefäß: eine Phiole aus pechschwarzem Stein. Als er den Korken zog, fuhr Meridion unwillkürlich zusammen. Immer wieder überraschte es ihn, wie beißend der Geruch war, der dem Gefäß entströmte. Tränen stiegen ihm in die Augen; er versuchte, sie wegzublinzeln, weil er sich scheute, die Hände zu Hilfe zu nehmen. Schließlich wusste er um das Risiko, falls die kostbare Flüssigkeit in dem Gefäß durch eine Träne verwässert würde oder gar ein Tropfen, und sei er noch so klein, davon verloren ginge.

Als er wieder klar sehen konnte, langte er nach dem haarfeinen Pinsel, holte damit ein winziges Perlchen schimmernder Flüssigkeit aus der Phiole und tupfte es ganz vorsichtig in die Augen des Jungen auf dem erstarrten Bild. Dann überzeugte er sich davon, dass die wässrige Lösung beide Augen ganz und gar benetzte, von der saphirblauen Regenbogenhaut bis in die Lidwinkel. Die Fenster der Gelegenheit würden klein sein und zeitlich begrenzt. Darum war es wichtig, dass der Junge die Chance hatte, mit scharfem, schnellem Blick die Dinge zu erfassen, auf die es ankam. Als Meridion fertig war, stopfte er den Korken wieder auf die Phiole und stellte sie zurück auf die schillernde Scheibe.

Nun nahm er die Spule aus dem Zeit-Editor und ersetzte sie durch eine zweite, eine andere Vergangenheit, die noch weiter zurücklag. Aus Rücksicht auf ihr hohes Alter und des Ortes wegen, von dem sie stammte – und der längst überflutet war –, rollte er den Streifen noch sorgfältiger ab. Entsprechend lange dauerte die Suche nach der richtigen Stelle. Doch Meridion war geduldig. Er durfte sich keinen Fehler erlauben. Es hing allzu viel davon ab, dass er diese Arbeit richtig machte.

Als er schließlich die gesuchte Stelle gefunden hatte, hielt er das Bild wieder an und griff nach einem anderen Werkzeug. Mit geübter Hand setzte er zu einem glatten, runden Schnitt an, trennte das Bild aus dem Streifen, fügte es vorsichtig an das andere und warf dann einen prüfenden Blick durch die Linse.

Der Junge hatte nicht, wie erwartet, die Besinnung verloren; statt bäuchlings und zuckend auf dem Boden zu liegen und die Hände an die Schläfen zu pressen, wischte er sich hektisch die Augen. Meridion schmunzelte, wenngleich er Mitleid mit dem Jungen hatte. Dass er dagegen ankämpft, hätte ich mir denken können, dachte er. Er lehnte sich zurück, drehte, um sich das Ergebnis seiner Arbeit anzusehen, den Sichtschirm zur Wand und wartete auf die Begegnung. Und auf den Ausgang.

Die Versunkene Insel

1139, Drittes Zeitalter

Der Schmerz verflüchtigte sich so schnell, wie er gekommen war. Gwydion spuckte den Straßenstaub aus, wälzte sich auf den Rücken und stöhnte laut auf. Als er den Himmel über sich sah, wurde ihm schlagartig bewusst, dass er nicht nur an einen anderen Ort, sondern auch in eine andere Tageszeit geraten war. Einen Augenblick zuvor war es noch früh am Morgen gewesen, jetzt ging es schon bald auf den Abend zu. Und er hatte nicht die geringste Ahnung, wo er sich befand.

Glücklicherweise war Gwydion mit einer praktischen Natur gesegnet. Er ließ den Blick schweifen, stand auf und überlegte, was zu tun war. Was immer mit ihm geschehen war, wie und warum, tat jetzt nichts zur Sache.

Die Luft schien hier dünner zu sein als an dem Ort, wo er herkam, und Gwydion ahnte, dass es eine Weile dauern würde, bis er sich an die Veränderung gewöhnt hätte. Er blickte sich um, entdeckte ein kleines Wäldchen in der Nähe und machte sich eilig auf den Weg dorthin.

Im Schutz der Bäume sank er zu Boden und schloss die Augen, die vor Anstrengung zu tränen angefangen hatten. Zuerst hechelte er in kurzen, flachen Zügen, zwang sich dann aber, langsamer und tiefer Luft zu holen. Als er wieder ruhig durchatmen konnte, tastete er nach den Dingen, die er auf dem Weg in die Stadt bei sich getragen hatte. Dolch und Beutel waren noch da, so auch der Apfel und der Wasserschlauch, den er nun öffnete und an die Lippen führte. Als er den Schlauch wieder verschloss, spürte er eine leichte Erschütterung im Boden, allem Anschein nach von einem Fuhrwerk verursacht, das herbeirollte.

Gwydion duckte sich tiefer. Eine wachsende Staubwolke kündigte die sich nähernde Gruppe an. Er sah drei Männer neben dem Karren gehen, der von zwei Kühen gezogen wurde, denen ein Kalb folgte. Der Karren war mit Getreidefässern und Bündeln Stroh bepackt und wurde von einem vierten Mann gelenkt. Die Männer trugen Kleider, wie Gwydion sie noch nie gesehen hatte, doch war er sich gewiss, dass es sich bei den vieren um Gesinde oder auch Bauern handelte.

Er lauschte angestrengt und versuchte, über das Rumpeln der Karrenräder hinweg etwas von der Unterhaltung aufzuschnappen. Mit brennenden Augen starrte er den Bauern auf die Lippen, die sich – wenngleich der viele Staub seine Sicht behinderte – merkwürdig deutlich bewegten. Plötzlich klarte sein Blick auf, ihm war, als könnte er erkennen, wie sich die Wörter in den Mündern der Männer bildeten. Jedenfalls hörte er sie, als wären sie an ihn gerichtet. Als er das Sprachmuster erfasste, schwirrte ihm der Kopf.

Sie sprachen Alt-Cymrisch. Unmöglich, dachte er. Alt-Cymrisch war eine tote Sprache. Davon machten nur noch einige religiöse Sekten im Rahmen weihevoller Zeremonien Gebrauch – oder Nachfahren in cymrischer Linie. Doch hier unterhielten sich Bauern in dieser Sprache, wie selbstverständlich und an einem ganz gewöhnlichen Tag auf dem Land. Unmöglich, es sei denn …

Gwydion erschauderte. Serendair, das Land der Cymrer, war vor über tausend Jahren untergegangen, verschwunden in vulkanischem Feuer und dem tosenden Meer, das die Insel überflutet hatte.

Seine Vorfahren und auch die Ahnen von einigen seiner Freunde stammten von dieser Insel ab. Die Nachkommen derer, die sich damals hatten retten können, waren ein versprengtes Volk. Konnte es sein, dass sich hier eine Enklave gebildet hatte, in der es so zuging wie vor dreizehn Jahrhunderten?

Als das Fuhrwerk mitsamt seiner Staubwolke an ihm vorübergezogen war, reckte Gwydion den Hals aus dem Gebüsch, um ihm nachzuschauen. Er sah, wie es sich mühsam auf eine Anhöhe im Westen schleppte und dann hinter der Hügelkuppe verschwand. Er wartete, bis er sicher war, dass er den Männern unbemerkt folgen konnte, und schaute sich vorsichtshalber um, ob nicht noch andere Leute auf der Straße waren.

Auf dem Hügel angekommen, legte er eine Pause ein und blickte über sanft geschwungenes Weideland, das von der späten Nachmittagssonne mit goldenem Licht verwöhnt wurde. Das Panorama war eindrucksvoll, und er wusste, dass er hier noch nie gewesen war; an diesen Anblick hätte er sich gewiss erinnert. Üppiges Sommergrün füllte die Luft mit dem würzigen Duft von Leben.

Das bewirtschaftete Land erstreckte sich so weit das Auge reichte. Da und dort standen ein paar Bäume, doch von einem Wald war nichts zu sehen. Von ein, zwei Bächen abgesehen, die die Wiesen durchzogen, gab es keinerlei Hinweis auf größere Wasserläufe, und auch von Meeresluft war nichts zu spüren.

Gwydion hatte keine Zeit, sich den Kopf darüber zu zerbrechen. Das Licht nahm ab, und der Karren war schon fast außer Sicht. Wahrscheinlich steuerte er auf die Ortschaft zu, die hinter der nächsten Talsenke zu erkennen war. Auf dem Weg dorthin lagen mehrere kleine Höfe sowie ein größeres Anwesen. Gwydion nahm sich vor, bei dem ersten Hof anzuklopfen und um ein Nachtquartier zu bitten.

Er zog den goldenen Siegelring vom Finger und steckte ihn in den Beutel. Dann genoss er ein letztes Mal den Ausblick auf die Hügellandschaft und atmete tief durch. Seine Lunge hatte sich inzwischen an die dünne Luft gewöhnt. Sie hatte eine köstliche Süße, in die sich die Düfte der Weiden und Scheunen zu einem wohltuenden Aroma mischten, das ein Glück verhieß, wie er es in seinem kurzen Leben noch nicht erfahren hatte.

Ein Gefühl der Ruhe breitete sich in ihm aus. Was immer ihn hierher verschlagen hatte, kümmerte ihn nicht weiter. Er beschloss, einfach das Beste aus seiner Lage machen. Und so rannte er los, auf den Bauernhof in der Senke zu, wo inzwischen Kerzenlicht in den Fenstern schimmerte.

Als er den Hof erreichte, waren gerade mehrere Knechte dabei, Ackergeräte und Zugtiere in den Stall zu bringen. Mit funkelnder Pracht ging die Sonne unter und tauchte das Haus und die Scheunen ringsum in orangeund rosafarbenes Licht.

Die Knechte lachten und scherzten; am Ende des langen Arbeitstages herrschte eine ausgelassene Stimmung. Gwydion glaubte, den Bauern in der Gruppe ausgemacht zu haben. Er war älter als die anderen, hatte schon silbergraues Haar, aber durchaus noch einen kräftigen, muskulösen Körper. Mit sanfter Stimme, die seiner Vorrangstellung gar nicht so recht zu entsprechen schien, befahl er den anderen, was sie zu tun hatten.

Gwydion näherte sich auf dem Fuhrweg, der am Haus vorbeiführte, und hoffte, dass der Bauer von sich aus auf ihn aufmerksam werden würde. Er blieb kurz stehen, doch die Männer wollten offenbar mit ihrer Arbeit fertig werden und achteten nicht auf ihn.

»Partch!«, ertönte plötzlich eine Frauenstimme. Gwydion drehte sich um und sah unter der Traufe des Hauses eine ältere Frau stehen, womöglich die des Bauern. »Du scheinst zusätzliche Hilfe zu bekommen.« Sie meinte den Bauern und zeigte mit ausgestreckter Hand auf ihn, Gwydion. Der erwiderte ihr Lächeln und dachte bei sich: War ja leichter als erwartet.

Der Bauer reichte einem seiner Männer die Zügel des Pferdes, das er gerade als Letztes in den Stall hatte führen wollen, und wischte sich die Hände am Hemd ab. »He, Sam, hallo«, rief er und bot seine Hand zum Gruß an. »Du suchst nicht zufällig Arbeit?«

»Doch, mein Herr«, antwortete Gwydion. Er langte nach der ausgestreckten Hand und hoffte, die richtige Aussprache getroffen zu haben. Dass es nicht seine Muttersprache war, schien dem Bauern auf Anhieb klar zu sein, denn er bemühte sich nun seinerseits um eine deutliche Aussprache. Er winkte einen Mann zu sich, sagte: »Asa, zeig Sam, wo er schlafen kann«, und an Gwydion gewandt: »Fürs Abendessen bist du zu spät dran, tut mir Leid. Aber im Dorf wird heute Abend gefeiert und getanzt. Meine Jungs werden dich bestimmt mitnehmen, wenn du magst. Dort wird es auch jede Menge zu essen geben.«

Die Frau schüttelte den Kopf. »Er kann doch auch bei uns was kriegen, Partch. Komm, junger Mann, komm mit.« Sie drehte sich um und ging ins Haus.

Gwydion folgte und staunte nicht schlecht über das, was er zu sehen bekam. Die Wände waren aus Ziegeln und teilweise mit Holz verkleidet, die Möbel zwar schlicht, aber solide getischlert. Sie verrieten cymrische Handwerkskunst. Die gedrechselten Teile der Stühle und am Treppengeländer sahen genauso aus wie die Sprossen der Altarschranke in der Basilika von Sepulvarta, der heiligen Stadt seiner Heimat. Auch die Tische hier erinnerten ihn an diejenigen, die er im Großen Saal in Tyrian gesehen hatte.

»Hier, mein Junge«, sagte die Bäuerin und reichte ihm einen mit Resten gefüllten Teller. »Das ist noch übrig. Nimm’s mit raus, in den Schuppen. Der Tanz vor der Ernte wird bei uns ganz groß gefeiert. Gibt es dieses Fest auch bei euch, in dem Land, aus dem du kommst?«

Gwydion nahm den Teller lächelnd entgegen. »Nein, gnädige Frau«, antwortete er respektvoll.

»Nun, du wirst bestimmt deinen Spaß haben. Es ist der letzte Tanz vor der Hochzeitslotterie. Vergnüge dich, so lange du’s noch kannst.« Sie zwinkerte ihm zu und machte sich dann wieder an ihre Arbeit.

»Hochzeitslotterie?«

»Du weißt nicht, was das ist?«

»Nein«, sagte Gwydion und folgte ihr nach draußen, wo sie auf zwei Männer zusteuerte, die sich am Brunnen wuschen.

»Vom Lande bist du offenbar nicht, oder?«

»Nein, gnädige Frau«, antwortete Gwydion. Er dachte an sein Zuhause und musste sich ein Schmunzeln verkneifen.

»Wie auch immer, du solltest dich jetzt sputen. Die anderen wollen bald los.«

»Danke«, sagte Gwydion und beeilte sich, den Teller zu leeren. Dann folgte er Asa, der ihm den Schuppen zeigte, in dem die Landarbeiter schliefen.

Noch ehe die Räder zum Stillstand gekommen waren, sprang Gwydion vom Wagen. Die Fahrt war holperig, aber nicht unangenehm gewesen. Und er hatte sich auf Anhieb mit den Knechten verstanden, die recht freundlich, ja, sogar gesprächig waren, auch wenn sie ihm gegenüber ein bisschen reserviert zu sein schienen. Ob es an seinem Fremdsein lag oder daran, dass er ein Mischling war, wusste er nicht zu sagen. Fest stand jedenfalls, dass die Knechte ausnahmslos derselben Menschengattung angehörten, wie auch der Bauer, seine Frau und alle anderen, die er bislang hier gesehen hatte. In dieser Hinsicht war die hiesige Gegend ganz anders als der Rest der Welt, in der eindeutig Mischlinge vorherrschten.

Das Dorf erstrahlte im Licht der Laternen, die von Bäumen herabhingen oder auf Fässern standen und für eine festliche Stimmung sorgten. Die Dorfgemeinschaft machte nicht gerade einen vermögenden Eindruck, doch ihre Mitglieder sahen durchweg gut genährt aus und waren ordentlich gekleidet.

Auffällig war jedoch das völlige Fehlen von jedwedem Luxus. Gwydion musterte die Dekoration, die aus einfachsten Dingen bestand – aus frisch geschnittenen Zweigen immergrüner Bäume und duftenden Blumen, die das große Gebäude schmückten, das den Dörflern offenbar als Bethaus, Festhalle und Schule diente. Lange Tische, beladen mit Backwaren und Feldfrüchten, waren an den Längsseiten der Halle aufgestellt, deren Boden aus festgestampftem Lehm bestand. Als Zierde dienten große Schleifen aus Musselin.

Obwohl an weit mehr Reichtum und Pracht gewöhnt, fand Gwydion großen Gefallen an dem einfachen Schmuck des Raumes. Hier herrschte eine Bescheidenheit, die leicht und beschwingt machte und im krassen Gegensatz zum Protz und Prunk jener Feste stand, die er von zu Hause her kannte.

Fröhliche Stimmung machte sich unter den Gästen breit, die in Scharen zusammenkamen – junge Frauen in hellen Baumwollkleidern und Burschen in frisch gewaschenen Musselinhemden. Unter ihnen war auch ein Musiker mit einem Saiteninstrument, das Gwydion nicht zu benennen wusste, sowie zwei weitere mit Minarellos, die man bei ihm zu Hause auch ›Grunzkisten‹ nannte. Fass um Fass wurde herbeigerollt. Hier stand ein wirklich großes Fest zu erwarten, dessen Anlass ein doppelter war: die bevorstehende Ernte und die Vermählung der jungen Leute.

Der Raum füllte sich mehr und mehr, und Gwydion spürte, dass er nicht unbemerkt blieb. Immer wieder schlenderten junge Frauen an ihm vorbei, die ihn vom Scheitel bis zur Sohle taxierten und dann kichernd miteinander tuschelten. Zuerst machte ihn das ganz befangen, aber dann entspannte er sich, weil anscheinend nicht zu befürchten war, dass eines der Mädchen auf ihn zukam. Sie schwirrten alle weiter und nahmen andere junge Männer in Augenschein. Die Mädchen schienen, seiner Schätzung zufolge, in seinem Alter zu sein – ungefähr vierzehn –, während die Jungen in der Mehrzahl um vier oder fünf Jahre älter waren. Gwydion trat an einen der Tische heran und wurde von einer älteren Frau aufgefordert, sich zu bedienen, was er nur zu gern tat. Niemand fragte, wer er sei, obwohl jedem klar sein musste, dass er hier fremd war. Unter den anderen jungen Männern gab es offenbar auch etliche, die von außerhalb kamen, denn alle, die den Dörflern fremd waren, wurden mit den Namen Samuel oder Jakob angeredet. Jetzt verstand Gwydion auch, warum der Bauer ihn Sam genannt hatte.

Ein älterer Mann kam mit einer großen Holzkiste in den Raum, was die Menge merklich in Erregung versetzte. Während er die Kiste zu einem der Tische schleppte, machte sich die Frau, die dahinter stand, eilig daran, auf der Platte Platz zu schaffen für das, was die Kiste enthielt, und das waren, wie sich herausstellte, zahlreiche Pergamentblätter, Tintenfässer und Federkiele zum Schreiben.

Das junge Volk teilte sich nun dem Geschlecht nach auf. Während die Mädchen weiterhin umherschwirrten, eilten die Jungen an den Tisch, langten nach den Federkielen, suchten sich einen Bogen Pergament und kritzelten etwas darauf. Gwydion wusste nicht, was da getrieben wurde, und dachte, dass diese Zettel womöglich als Lose für die Wahl einer Tanzpartnerin herhalten sollten. Und weil ihm nach Tanz nicht zumute war, hielt er es für besser, hinaus an die frische Luft zu gehen.

Inzwischen war stockfinstere Nacht hereingebrochen. Im Licht der Lampen und Laternen sah er immer mehr Leute eintreffen, die viel Lärm und Heiterkeit mit sich brachten. Sie strömten an Gwydion vorbei und nahmen keinerlei Notiz von ihm.

Ihm wurde zunehmend bewusst, dass das Fest ungemein wichtig war, denn bei aller Ausgelassenheit, die hier herrschte, war ein ernster Unterton zu spüren. In einer Dorfgemeinschaft wie dieser waren Vermählung und Familiengründung von alles entscheidender Bedeutung.

Gwydion entfernte sich von der Festhalle und suchte einen dunklen Ort auf, an dem die Sterne zu sehen sein würden. Er verstand sich recht gut auf die Himmelskunde und hoffte, anhand der Sterne Auskunft über den eigenen Standort zu gewinnen.

Die Laternen leuchteten so hell, dass er ein gutes Stück gehen musste, ehe er die ersten Lichtpunkte am Himmel entdeckte. Aber auch als er endlich das gesamte Firmament erblickte, war ihm nicht geholfen. Er erkannte keine einzige Konstellation wieder, geschweige denn einen bestimmten Stern, der ihm als Orientierung hätte dienen können. Da war zwar einer, der sehr markant und hell über dem Horizont schwebte, doch er kannte seinen Namen nicht.

Ihm lief ein kalter Schauer der Angst über den Rücken. Bislang war er davon ausgegangen, dass er, sobald er seinen Standort bestimmt hätte, ganz einfach wieder nach Hause zurück finden würde. Aber wenn ihm sogar die Sterne fremd waren, so war er viel weiter von zu Hause entfernt, als er angenommen hatte, wenngleich hier wie dort dieselbe Jahreszeit herrschte. Das ergab alles keinen Sinn. Gwydion setzte sich auf eine Bank aus Fässern und kämpfte gegen die aufkommende Panik an, die ihn zu lähmen drohte.

Auf der anderen Straßenseite bewegte sich etwas, das seine Aufmerksamkeit erregte. Da kauerte jemand hinter Fässern, die genauso aufgereiht waren wie diejenigen seiner Bank, und dieser Jemand spähte über deren Rand in Richtung Festhalle. Gwydion wurde neugierig. Er hatte seine Sachen auf dem Bauernhof zurückgelassen, trug aber den Dolch bei sich, den er nun zur Hand nahm, während er geduckt im weiten Bogen auf die andere Seite der Straße schlich.

Hinter den Fässern angekommen, richtete er sich auf und war überrascht, eine junge Frau vor sich zu sehen, die von ihrem Versteck aus das Kommen und Gehen der Gäste beobachtete.

Ihr Gesicht war nicht zu erkennen. Sie hatte langes, glattes Haar, das nur ganz leicht gewellt war und wie ein seidenes Tuch auf ihren Rücken herabfiel. Es schimmerte hell im Dunklen, und Gwydion wunderte sich über sein spontanes Bedürfnis, mit der Hand darüber zu streichen.

Stattdessen tippte er ihr auf die Schulter. Erschrocken fuhr sie herum, wobei sie fast eins der leeren Fässer umgestoßen hätte. Die Schreckensmiene vermochte seinen ersten Eindruck von ihr nicht zu trüben: Sie war zweifellos das schönste Wesen, das er je gesehen hatte. Das Gesicht war ungemein fein geschnitten. Lange, dunkle Wimpern umkränzten die großen, dunklen Augen, und die Oberlippe war wie ein Langbogen geschwungen. Im Unterschied zu all den anderen Mädchen auf dem Fest war sie offenbar ein Halbblut wie er. Und zierlich. Beim Zurückweichen war ihr das Haar über die Schulter gefallen, das nun einen Großteil des Oberkörpers und den Blumenschmuck an der Brust verhüllte.

»Keine Angst«, sagte Gwydion betont sanft. »Tut mir Leid, wenn ich dich erschreckt habe.«

Das Mädchen holte tief Luft und starrte ihn mit großen Augen an, die plötzlich zu flattern anfingen, als gälte es, brennende Tränen wegzuwischen. Es dauerte eine Weile, ehe sie antworten konnte, und als sie schließlich den Mund öffnete, löste ihre wundervolle Stimme einen Schauer der Erregung bei ihm aus.

»Du bist ein Lirin«, hauchte sie.

»Ja, zum Teil. So wie du, nicht wahr?« Sie nickte.

Gwydion hüstelte und versuchte zu verbergen, dass ihm das Blut in die Wangen schoss. »Hm, gibt es hier noch mehr von dir, ich meine, Lirin?«

»Nein«, antwortete sie, immer noch mit Verwunderung in der Stimme. »Da sind nur noch meine Mutter und meine Brüder. Von ihnen abgesehen, bist du der erste Lirin, den ich in dieser Gegend sehe. Wer bist du?«

Gwydion überlegte, was er sagen sollte, wusste er auf diese Frage doch selbst keine verlässliche Antwort.

»Man nennt mich Sam«, sagte er schließlich. »Und wer bist du?«

Er sah die junge Frau nun zum ersten Mal lächeln und verspürte dabei eine seltsame Regung, die er an sich noch nicht kannte und die ihm den Kopf schwirren ließ und ihm Angst machte. Er fürchtete, die Kontrolle über Mimik und Stimme zu verlieren.

»Emily«, antwortete sie und warf dann einen Blick über die Schulter zurück, als zwei junge Männer aus dem Dunkel auftauchten. Sie plauderten miteinander und schauten suchend in die Runde. Die junge Frau wich zurück und ging wieder hinter den Fässern in Deckung. Gwydion tauchte ebenfalls ab.

Gemeinsam beobachteten sie die beiden Männer, die die Straße entlang und über die Felder spähten. Plötzlich setzte Musik ein, und als aus dem Festsaal Gelächter und Applaus nach draußen schallten, drehten sie sich um und kehrten ins Haus zurück. Kaum waren sie verschwunden, stieß Emily erleichtert einen Schwall Luft aus.

»Du kennst die beiden?«, fragte Gwydion irritiert.

»Ja«, antwortete sie kurz angebunden. Um besser sehen zu können, richtete sie sich ein Stück weiter auf. Als sie sicher war, unentdeckt geblieben zu sein, entspannte sie sich, stand auf und klopfte den Staub von ihrem Rock.

Auch Gwydion erhob sich. Gewöhnlich hatte er mit Frauen nicht viel im Sinn. Sie waren ihm fremd, zumal er ohne Mutter groß geworden war. Aber dieses Mädchen interessierte ihn. Er war fasziniert von ihr, vor allem von den klugen, rätselhaften Augen. Aber vielleicht war er auch nur deshalb so von ihr angetan, weil sie als einziges Mädchen weit und breit seine Hautfarbe hatte. Wie auch immer, er konnte den Blick kaum von ihr abwenden und hoffte inständig, dass sie nicht wegging.

»Warum versteckst du dich? Tanzt du nicht gern?«

Sie wandte sich ihm zu, was bei Gwydion wieder diese eigentümliche Empfindung auslöste, die von seinen Lenden ausging, sich dann rasend schnell bis in den Kopf und in die Hände ausbreitete und dazu führte, dass er zu schwitzen anfing.

»Doch, ich tanze sehr gern«, antwortete sie fast wehmütig.

»Na dann, wie wär’s? Ich meine, würdest du auch mit mir tanzen wollen?«, fragte er und geriet über den Klang der eigenen Stimme in Verlegenheit.

Emily schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich kann nicht«, sagte sie traurig.

»Was ist denn?«

Sie blickte sich wieder um, sah aber nichts, was sie besorgt hätte, und schaute ihm direkt in die Augen. »Kommt dir all das hier nicht, nun ja, barbarisch vor?«

Gwydion lachte verwundert auf, nahm sich aber sofort wieder zurück, um sie nicht vor den Kopf zu stoßen. »In der Tat«, sagte er, »da ist was dran.«

»Na, dann kannst du dir ja vorstellen, wie ich mich fühle.« Sein Gefallen an ihr nahm schlagartig zu. Er reichte ihr die Hand und sagte: »Komm mit.«

Nachdem sie sich noch einmal umgesehen hatte, griff sie nach der ausgestreckten Hand und ließ sich von ihm über den Schutt helfen, der sich am Rand der Fässer häufte. Sie gingen ein Stück die Straße hinunter und sahen sich dann nach der Festhalle um. Drinnen wurde offenbar ausgelassen getanzt; muntere Musik und fröhliche Stimmen drangen zu ihnen. Die Nacht war wunderschön, und es wehte ein laues Lüftchen.

Gwydion hatte so viele Fragen, dass er nicht wusste, womit er beginnen sollte, zumal er fürchtete, sie mit seinem Wissensdurst womöglich zu belästigen. Er deutete auf die Ansteckblumen. »Bist du in Begleitung gekommen?«

Emily legte die Stirn in Falten. Als sie aber seinem Fingerzeig folgte, ging ihr offenbar ein Licht auf.

»Nein«, sagte sie lächelnd. »Die sind ein Geschenk von meinem Vater. Und außerdem … zum Vorherbsttanz kommt man als Mädchen nicht in Begleitung. Das wäre nicht im Sinne der Veranstaltung.«

»Verstehe.« Im Licht der Laternen nahm Gwydion die Gelegenheit wahr, Emily ein wenig eingehender zu mustern. Sie trug ein Kleid aus Samt, dunkelblau, wie es schien, und am Hals tief ausgeschnitten. Den Ausschnitt bedeckte ein Busenstreif, dessen Muster der Borte am Saum entsprach und mit einer Reihe kleiner silberner Knöpfe verziert war. Ein dazu passendes Band fasste die Haare der Schläfen am Hinterkopf zusammen, damit sie ihr nicht ins Gesicht fielen.

Dass sie von lirinschem Blut war, zeigte sich am deutlichsten an ihrem schlanken Wuchs und der Feingliedrigkeit. Dabei war sie nur eine Handbreit kleiner als er. Abgesehen von den Schwielen an den Händen und einer kleinen Narbe am Handgelenk, deutete bei ihr nichts darauf hin, dass sie wie andere Bauernmädchen körperlich schwer arbeiten musste. Stattdessen strahlte sie eine Würde aus, die sich mit ihrer Jugend gar nicht so recht zu vertragen schien. Er wünschte, den Teint ihrer Haut und die wunderschönen dunklen Augen besser sehen zu können, doch dazu reichte das Licht nicht.

Zum ersten Mal war er wahrlich dankbar dafür, dass ihn sein Vater mit Nachdruck dazu angehalten hatte, Cymrisch zu studieren. »Was hast du jetzt vor? Zum Feiern hast du ja anscheinend keine Lust.«

Emily schaute zur Festhalle zurück. »Vielleicht sollte ich einfach warten, bis mein Bruder kommt und mich abholt«, antwortete sie, und ihre Stimme klang ein wenig betrübt.

»Ist doch ziemlich traurig, einen so schönen Sommerabend mit Warten zu verbringen.«

»Nun, es gibt verschiedene Grade von Traurigkeit und gewiss Schlimmeres als langes Warten.«

Gwydion nickte verständnisvoll. Er vermutete, dass ihre Familie besser gestellt war als die anderen, da sich die Tochter Kleiderschmuck leisten konnte. Gleichwohl würde sie in den Kreisen seiner eigenen Familie als armes Mädchen vom Lande angesehen. Der gute Stand ihrer Familie und ihr blendendes Aussehen machten sie anscheinend zum begehrten Ziel für die jungen Jäger in der Festhalle. Im Unterschied zu den anderen Mädchen hatte sie aber offenbar keine Lust, sich einfangen zu lassen, und das gefiel Gwydion an ihr.

»Ich habe eine Idee«, sagte er und ließ seinen Blick schweifen.

»Nicht weit von hier ist eine offene, ebene Fläche. Bis dahin trägt die Musik allemal. Wir könnten dort ein Tänzchen wagen – oder zwei. Nur wenn du willst, versteht sich.« Die Anstandserziehung, die man ihm über viele Jahre hatte angedeihen lassen, machte ihn so befangen, dass er sich fast verhaspelte.

Aber dann sah er zu seiner Erleichterung, wie Emilys Gesicht sich aufhellte. »Eine schöne Idee«, rief sie. »Ich bin einverstanden.«

Er gab ihr wieder die Hand, überquerte mit ihr die Straße und führte sie über einen Acker auf einen kleinen Wiesenfleck zu, den er zuvor ausfindig gemacht hatte. Als sie dort ankamen, ging gerade eine Mazurka zu Ende. Betreten schweigend standen sie für eine Weile einander gegenüber. Endlich setzte die Musik wieder ein. Gwydion schlang seinen Arm um ihre Taille – und drohte aus dem Gleichgewicht zu geraten, so heftig war das Prickeln, das ihm durch die Finger und den Arm bis in den Kopf fuhr. Er nahm ihre Hand, die den Saum des Kleides gerafft hielt, und drehte sich mit ihr im Rhythmus der Musik im Kreise.

Schon bald gab es ein Problem. Der Tanz war zwar ganz einfach, aber die beiden hatten offenbar auf unterschiedliche Weise zu tanzen gelernt mit dem Ergebnis, dass Emily ihm bei jedem vierten Schritt auf die Zehen trat und darüber in große Verlegenheit geriet. Gwydion versuchte darüber hinwegzusehen, aber es passierte immer wieder, sodass sie schließlich entnervt stehen blieb.

»Entschuldigung«, sagte sie und wandte sich ab. »Ich bin ein Trampel. Es wäre wohl besser, du suchst dir eine andere Partnerin.«

Gwydion legte ihr eine Hand auf die Schulter und drehte sie zu sich herum. »Was redest du da? Ich bin es doch, der nicht tanzen kann. Bitte tu nicht so.«

»Wie bitte?«

»Tu nicht so, als wäre ich einer von denen.« Er deutete mit dem Kopf in Richtung Festhalle. »Ich fühle mich wohl in deiner Gesellschaft, Emily, und du bist alles andere als ein Trampel. Welcher Tanz kommt wohl als Nächstes?«

Emily lächelte wieder. »Wahrscheinlich ein Freiersreigen.«

»Versuchen wir’s noch mal? Ich glaube, ich schaff’s jetzt.«

Sie nickte. Gwydion bemerkte, dass er immer noch ihre Hand umfasst hielt, und weil sie nichts dagegen zu haben schien, ließ er sie nicht los und wartete mit ihr auf den nächsten Tanz. Als die Musik wieder aufspielte, beschränkte er sich auf die Grundschritte und verzichtete auf all das, was er bei Hofe an eleganten Verzierungen gelernt hatte.

Die beiden harmonierten nun schon sehr viel besser miteinander, und er sah, wie sie in Hochstimmung geriet, während er mit ihr, von der Musik begleitet, übers Feld schwebte. Ihre Augen strahlten vor Vergnügen, so als leuchteten sie von innen heraus.

»Emmy, was treibst du da draußen? Komm endlich rein.«

Sie wirbelte herum. Gwydion blickte über sie hinweg und entdeckte mehrere junge Leute, die am Feldrand standen und ihnen zusahen. Der Sprecher war ein dunkelhaariges Halbblut, vermutlich ihr Bruder. Er war in Gesellschaft von zwei jungen Frauen und jenem Burschen, der schon vor einiger Zeit nach Emily Ausschau gehalten hatte. Sie alle machten kein Hehl daraus, wie ungehalten sie waren.

»Man wartet auf dich, Emmy. Du hast schon drei Tänze ausgelassen, und dein Los ist mittlerweile für die Katz. Komm endlich.«

Emily straffte die Schultern. »Keine Bange, Ben, ich werde schon noch kommen«, antwortete sie spitz. »Und das mit dem Los ist mir herzlich egal. Ich hab ohnehin keines in den Korb geworfen. Was soll’s?«

»Aber es muss doch jede ein Los abgeben«, protestierte der andere junge Mann, der nicht weniger verärgert war als sie.

»Außerdem hatte ich ein Anrecht auf den ersten Tanz. So, und jetzt komm her!«

Gwydion sah, wie Emily ganz steif wurde. »Was unterstehst du dich, so mit mir zu reden, Sylvus?«, herrschte sie ihn an. »Ich komme, wann es mir passt.« Gwydion musste an sich halten, um nicht laut loszuprusten, als er das Entsetzen in den Gesichtern der beiden Mädchen und den verblüfften Ausdruck des Bruders und Sylvus’ sah. Ben lächelte schließlich und wandte sich dem anderen zu.

»Hab ich’s nicht gesagt? Bist du immer noch sicher, mit der den Rest deiner Tage zu fristen?« Er zwinkerte der Schwester zu und machte sich mit den beiden Mädchen auf den Weg zurück zum Fest. Sylvus zögerte noch und starrte Emily unverwandt an.

»Beeil dich, Emily, ich warte«, sagte er schließlich. Dann trollte auch er sich und warf Gwydion im Gehen einen wütenden Blick von der Seite zu.

Gwydion hörte sie vor sich hin murmeln: »Selber unausstehlich.«

Er beugte sich an ihr Ohr. »Gut für dich«, flüsterte er aufmunternd. »Wollen wir uns ein bisschen die Beine vertreten?«

»Gern«, antwortete sie spontan. »Komm, ich zeig dir den Platz, der mir auf der ganzen Welt am liebsten ist.«

Der Mond ging gerade auf, als die beiden den Hang eines sanft ansteigenden Hügels hinaufliefen und den Lärm und die Lichter des Festes weit hinter sich ließen.

Seit eh und je hielt sich Gwydion lieber im Freien auf als hinter verschlossenen Türen. Darum verbrachte er viel Zeit mit ausgedehnten Streifzügen durch die Welt, doch obwohl er gut in Form war, fiel es ihm schwer, mit Emily Schritt zu halten, die, ungeachtet ihres festlichen Gewands und der leichten Schuhe, den Hügel im Laufschritt erstürmte, fast ohne zu atmen, wie es schien.

Gwydion hingegen hatte sich immer noch nicht ganz an die dünne, warme Luft gewöhnt und musste all seine Kraft aufbieten, um den Anschluss nicht zu verlieren. Ab und an erinnerte sie sich daran, dass er auch noch da war, und dann verlangsamte sie ihren Schritt oder blieb stehen, um ihm die Hand zu reichen. Die ließ er am Ende nicht mehr los, und sooft der Übermut mit ihr durchging, hielt er sie zurück. Hand in Hand und in mäßigem Tempo legten sie den Rest des Anstiegs zurück.

Kurz vor dem Ziel blieb sie stehen und sagte: »Wir sind gleich da.« Das Mondlicht ließ ihr Haar silbrig glänzen. »Mach die Augen zu.«

Gwydion gehorchte und folgte ihr blindlings auf die Kuppe, wo sie sich rechts hielt und ihn hinter sich herzog.

»Sieh dich vor, da vorn ist ein Loch.«

Er wich dem Hindernis aus und spürte, dass sie plötzlich anhielt. Sie ließ seine Hand los und holte tief Luft.

»So, jetzt kannst du die Augen wieder aufmachen.«

Der ohnehin kurz gewordene Atem stockte ihm angesichts der Aussicht, die sich ihm hier bot. Vom Mondlicht überflutet, dehnte sich das Tal vor ihm aus, so weit das Auge reichte. Kleine Ackerparzellen, gepflügt oder brachliegend, musterten die Landschaft, und in der Mitte ragte eine mächtige Weide auf, die sich über einen Bach beugte. Trotz der Dunkelheit erkannte Gwydion die Schönheit dieses Ortes, der ihm als Emilys Lieblingsplatz umso schöner erschien. »Wo sind wir hier?«

Emily ließ sich auf den Boden nieder, was er ihr dankbar nachtat. »Das ist einer der Hügel, die unseren Hof überblicken«, antwortete sie. »Meine Mitgift sind die Felder dort in der Mitte, am Bach, wo die Weide steht. Ich nenne sie meine Flickendecke, denn bei Tage sehen sie aus wie die Steppdecke auf meinem Bett: zusammengesetzt aus verschiedenfarbigen Vierecken.«

Gwydion schaute ihr in das vom Mond beschienene Gesicht und spürte die Tür zu seinem Herzen aufgehen. Dahinter steckte indes ein tiefes Gefühl oder auch Bedürfnis, das intensiver war als alles andere. Ihm war, als würde er sie schon sein ganzes Leben lang kennen oder als hätte sein Leben erst jetzt richtig begonnen, da sie ihm begegnet war. Wie und warum auch immer – er wusste, dass er sich nicht mehr von ihr würde trennen können. Und ihr Blick verriet, dass sie gerade in ihrem eigenen Herzen dieselben eigentümlichen und zugleich wundervollen Gefühle verspürte.

Sie wandte sich ab und schaute wieder ins Tal. »Gefällt’s dir denn?«, fragte sie ein wenig befangen.

Ihm war klar, was sie mit dieser Frage zu erfahren wünschte, und er antwortete seinerseits doppelsinnig: »Etwas Schöneres ist mir noch nie zu Gesicht gekommen.«

Schüchtern beugte er sich vor und hoffte, dass sie ihm mit ihren Lippen entgegenkäme. Außer bei freundschaftlichen Begrüßungen hatte er noch nie geküsst, und so wurde ihm, als er ihr quälend langsam näher rückte, zunehmend bange, dass sie verschreckt vor ihm zurückweichen könnte.

Doch als sie seine Absicht erkannte, schloss sie lächelnd die Augen und drückte ihm schnell und entschlossen einen Kuss auf den Mund. Ihre Lippen waren überraschend weich und warm, und trotz der milden Nacht spürte er einen kalten Schauer über den Rücken laufen. Bevor sich ihre Lippen teilten, berührte sie sein Gesicht in einer sanften Geste, die ihn tief bewegte.

Als ihn das beglückende Gefühl ganz und gar einzunehmen begann, mischte sich eine andere, eine frostige Wahrnehmung dazu. Er blickte auf das Tal, und das Bild vor seinen Augen verwandelte sich: Über den silbrigen Glanz der mondbeschienenen Landschaft legte sich das stumpfe Grau ätzenden Rauchs.

In seiner Vorstellung sah er das Tal von einem schrecklichen Feuer verwüstet, die Weiden schwelen und die Häuser und Ställe bis auf die Grundfesten niederbrennen. Ströme von Blut ergossen sich über Felder und Äcker. Gwydion fing heftig zu zittern an, als die rote Flut mit unwiderstehlicher Gewalt näher wogte, hügelan.

»Sam?«, fragte Emily alarmiert. »Hast du was? Was ist los mit dir?«

Gwydion rief sich mit aller Kraft aus seinen Wahnvorstellungen zurück. Das Schreckensbild verblasste, und das Tal zeigte sich wieder in friedlich silbrigem Mondlicht. Emily aber war sichtlich bestürzt und langte nach seinen zitternden Händen.

»Sam?«, fragte sie wieder.

»Wo sind wir, Emily? Ich meine, wie heißt dieser Ort?«

»Myrfeld.«

Schlagartig schnürte sich ihm die Kehle zu. Myrfeld war zwar kein ungewöhnlicher Name für eine Ortschaft; sie mochte wer weiß wo gelegen sein. Doch auf den alten Landkarten, an die er sich erinnerte, war ein Dorf dieses Namens inmitten der Weiten Marschen eingezeichnet, in jener ausgedehnten Tiefebene, die einen Großteil des Ostens von Serendair ausmachte. Die Marschen waren im Krieg mit all ihren menschlichen Siedlungen verwüstet worden. Und als endlich wieder Frieden eingezogen war und mit dem Wiederaufbau begonnen werden konnte, versank das ganze Inselreich.

»Wie heißen die nächsten größeren Städte?«

Emilys Besorgnis nahm zu. »Größere Städte gibt’s hier nicht. Die Nächste liegt über hundert Wegstunden weit entfernt. Mein Vater geht einmal im Jahr dorthin, und dann ist er immer einen ganzen Monat lang unterwegs.«

»Und ihr Name? Wie heißt diese Stadt, Emily?«

Sie drückte seine Hand, um ihn zu beruhigen; doch ihr war anzusehen, dass sie von der Ursache für seine Verstörung nicht die geringste Ahnung hatte. »Genauer gesagt, befinden wir uns hier in der Mitte von zweien. Im Westen, jenseits des Großen Flusses, liegt Traunhaven, im Südosten liegt Ostend, die, soweit ich weiß, größte Stadt des Landes.«

Gwydions Augen begangen zu brennen. Das kann doch nicht sein, dachte er entsetzt, das kann doch nicht sein. Beide Städte, die sie genannt hatte, hatte es auf Serendair gegeben.

»Sam?« Emily schien von seiner Panik angesteckt zu sei. Er sah sie an. Sein Blick schärfte sich wieder; die nüchtern-praktische Stimme der Vernunft setzte sich der Verzweiflung gegenüber durch.

Natürlich, dachte er, und die Angst ließ sofort von ihm ab. Er war hier, um sie vor dem Untergang der Insel zu retten. Er wusste auch, wie und an wen er sich wenden musste und wann es Zeit sein würde, die Insel zu verlassen. Offenbar hatte ihn ein gnädiges Schicksal in die Vergangenheit verschlagen, um ihm diese Chance zu geben, wenngleich er sich den Grund dafür nicht erklären konnte.

Er blickte ihr wieder ins Gesicht und lächelte. Auch diese Einsicht war ihm jetzt so gewiss wie sein Name: dass seine Seele und die ihre zusammengehörten. Das konnte er sehen. Und mit dieser Gewissheit stellte sich ein Gefühl von ruhiger Zuversicht und Freude ein. Emily war seine Seelengefährtin, daran konnte kein Zweifel bestehen, und er hatte sie schon jetzt tief im Herzen lieb.

Gwydion nahm ihren Kopf in beide Hände und gab ihr einen Kuss. »Entschuldige, dass ich dir solche Angst eingejagt habe«, sagte er und ließ wieder von ihr ab. »Ich muss dir etwas erzählen.«

Sie rückte ein Stück von ihm ab. »Worum geht es denn?«

Er versuchte zu verhindern, dass seine Stimme brüchig wurde, was sie häufig tat, wenn er aufgeregt oder irritiert war. »Wir müssen so schnell wie möglich von hier fort und nach Osten reisen. Für den Fall, dass wir uns aus irgendeinem Grund aus den Augen verlieren sollten, musst du mir versprechen, einen gewissen MacQuieth beziehungsweise Farrest oder Garael aufzusuchen. Bitte, versprich mir das.«

Emily starrte ihn verwundert an. »Was redest du da?«

Gwydion überlegte, wie er es ihr erklären konnte, und musste einsehen, dass das unmöglich war. Wie sollte er sich bloß verständlich machen? Auf den bevorstehenden Krieg gab es hier noch keinerlei Hinweise, geschweige denn auf den Untergang der Insel. Und dann kam ihm plötzlich der verstörende Gedanke, dass er womöglich dazu ausersehen war, selbst auf der Insel zurückzubleiben und hier, in der Vergangenheit, sein Leben zu beenden.