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2. überarbeitete Auflage, April 2014

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Umschlaggestaltung: Peter R. Hellinger
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ISBN 978-3-9813059-8-2 (epub)

Auch als Print erhältlich.

Inhalt

Peter Hellinger - Bram Stokers Tagebuch

Gabriele Susanne Schlegel - Vampirlegenden

Doreen Kühne & Peter Hellinger - Diebstahl

Gabriele Stegmeier - Mondscheintyp

Gerhard Schmeußer - Vampyrus

Gabriele Stegmeier - Das perfekte Dinner

Gabriele Susanne Schlegel - Entführt

Doreen Kühne & Peter Hellinger - Das Grimoire

Gerhard Schmeußer - Kardulgor

Gabriele Stegmeier - Kleider machen Leute

Gabriele Susanne Schlegel - Das Vampirschwein

Peter Hellinger - Bram Stokers Tagebuch

Gabriele Stegmeier - Budapest

Gerhard Schmeußer - Schützt die Vampire!

Gabriele Stegmeier - Zwischenspiel im Frankenland

Peter Hellinger - Bram Stokers Tagebuch

Gabriele Susanne Schlegel - Emilia

Gabriele Stegmeier - Der Gerberlehrling

Peter Hellinger - Bram Stokers Tagebuch

Doreen Kühne & Peter Hellinger - Der Buchhändler

Gerhard Schmeußer - Henks Auftrag

Gabriele Stegmeier - Die Kraft des Vampyrus

Peter Hellinger - Bram Stokers Tagebuch

Gabriele Susanne Schlegel - Rezept Vampirschweine

Über die Autoren

Peter Hellinger

Bram Stokers Tagebuch

2. Mai 1897, Wien

Verließ Nürnberg mit dem Zug um 20:35 Uhr am 1. Mai und erreichte Wien am frühen Morgen. Wien ist eine wundervolle Stadt, zumindest das, was ich vom Zug aus sehen und per Spaziergang in den Straßen erahnen konnte. Ich bin nicht weit gegangen, der Zug war verspätet, sollte aber pünktlich weiterfahren. Trank einen Mocca in einem der legendären Caféhäuser. Der Ober erzählte mir von einem Buchladen, versteckt in einer Seitengasse, nicht leicht zu finden. Dort soll es viele Bücher über Graf Draculea und sein finsteres Treiben geben. Leider ließ mir der enge Reiseplan keine Gelegenheit, diesen Buchladen aufzusuchen. Werde auf der Rückreise jedoch einige Tage in Wien verbringen und die Zeit nutzen.

Gabriele Susanne Schlegel

Vampirlegenden

Mögen Sie Vampirgeschichten? Ich auch nicht. Da wird das absurdeste Zeug verbreitet. Vampire zerfallen in der Sonne zu Staub. Oder glitzern gar. Kreuze und Knoblauch sollen sie abschrecken. Völliger Blödsinn. Naja, Kreuze oder andere Glaubens-Symbole – vielleicht, wenn man wirklich daran glaubt, könnte klappen – vielleicht …

Und das mit dem Knoblauch. Sind Sie schon mal mit der U-Bahn oder dem Bus gefahren und so ein Knoblauchstinker fuhr mit? Jemand, der sich am Vortag ein Pfund verstärktes Zaziki bei einem Leute hassenden Griechen hinter die Binde geschoben hat? Vielleicht regnet es und der Typ stinkt noch zusätzlich nach nassen, ungewaschenen Haaren. Igitt. Dem wollten Sie auch nicht zu nahe treten. Und nun stellen Sie sich vor, sie wären ein Vampir mit verstärktem Geruchssinn. Wie furchtbar hungrig müssten Sie sein, um den zu beißen? Sehen Sie, genau! Also stimmt das ja vielleicht doch, dass Knoblauch vor Vampiren schützt. Naja, möglicherweise nicht vor griechischen Vampiren, bestimmt gäbe es doch den einen oder anderen, der auf Knoblauch gewürztes Blut steht. Zazikiblut sozusagen.

Was ist dann mit den anderen Stinkern? Die nach Schweiß müffelnden, die noch nie ein Deo benutzt haben? Das würde einen Vampir doch auch abschrecken, oder? Wie nah der hin muss, bis an die dampfende stinkende Schicht, igitt. Also kann man sagen, wenn man sich drei Wochen lang nicht mehr wäscht, seine Kleidung nicht wechselt und Knoblauch isst, würde garantiert kein Vampir näher als 10 Meter kommen. Menschen allerdings auch nicht. Das wäre schon ein ziemlich einsamer Vampirschutz. Einsam aber sicher. Ob sich der berühmte Van Helsing wohl so verhalten hat? Ich kann Ihnen sagen, ich bin ihm einmal begegnet und es ist wahr. Er stinkt zum Himmel. Ein schmuddeliger Kerl, kann ich Ihnen sagen. Ich konnte ihm nur entkommen, weil ich ihn schon von Weitem roch. Trotzdem war es knapp, er ist verdammt schnell für einen Menschen. Der Holzpfahl bohrte sich in meinen Arm, kein Problem für mich. Ins Herz jedoch – ja, diese Annahme ist wahr. Ein Holzpfahl ins Herz tötet uns. Aber Sie haben keinen dabei, nicht wahr? Und Sie riechen so köstlich …

Doreen Kühne & Peter Hellinger

Diebstahl

Schritte hallten von den Steinmauern der Burg Bran wider, als eine vermummte Gestalt durch den langen, nur mit Fackeln erleuchteten Gang des alten Gemäuers eilte. Er blieb stehen und spähte links und rechts den Gang hinab. Stille umfing ihn. Entschlossen drückte er auf eine bestimmte Stelle der Wand, vor der er stand. Irgendwo im Inneren mahlte Stein auf Stein, dann öffnete sich die Geheimtür. Mit raschelnden Gewändern trat der Vermummte hindurch. Hinter ihm schloss sich die Geheimtür. Nur das leise Knacken der Fackeln im Gang war noch zu hören.

Behaglich drückte sich Anastasia, die lieber Anastas genannt werden wollte, tiefer in den bequemen Sessel vor dem Kamin und betrachtete im Licht des langsam niederbrennenden Feuers das fein geschnittene Gesicht ihres Gefährten Valerius, der ihr im Sessel gegenübersaß. „Ein Dieb! Zu Hilfe!“ Anastas und Valerius fuhren erschreckt hoch. Das war doch die kratzige Stimme des Bibliothekars? Sofort sprangen beide auf und rannten aus dem Kaminzimmer auf den Gang hinaus. Valerius wies nach rechts und beide hasteten dem Geschrei entgegen. Durch eine offen stehende Geheimtür, die ihnen nie zuvor aufgefallen war, traten sie in einen Raum, in dem unzählige Regale voll mit dicken, in Leder gebundenen Folianten, uralten Schriften und zahllosen Pergamentrollen standen. Mit einer knappen Geste bedeutete Valerius seiner Gefährtin zurückzubleiben. Zuerst wollte er selbst nachsehen, was hier vor sich ging.

Der alte Bibliothekar kauerte vor einer Truhe, deren Schlösser offenbar aufgebrochen worden waren. Als Valerius ihm aufhelfen wollte, stammelte er fassungslos „Fort! Einfach fort! Gestohlen!“

„Was ist gestohlen worden, Alter?“, herrschte Anastas, die inzwischen durch die Geheimtür eingetreten war, den Bibliothekar an. „Wie soll hier ein Dieb hereinkommen, wenn Ihr der Einzige seid, dem dies Gemach bekannt war?“

„Das Grimoire! Es ist weg!“ fauchte der Bibliothekar.

„Ein Zauberbuch?“, fragte Valerius.

Der Bibliothekar blickte abwechselnd Valerius und Anastas an, als wüsste er nicht, ob er ihnen trauen könne. Doch wen, wenn nicht diese beiden, sollte er ins Vertrauen ziehen? Waren nicht sie seit vielen Jahren schon die treuesten Diener seines Herrn? Er gab sich einen Ruck. „Nicht ein Zauberbuch, das Zauberbuch, das mächtigste Zau­ber­buch, das die Welt je gesehen hat!“

Anastas und Valerius warfen sich einen Blick zu.

„Es gehörte einst der Hexe Báthory, die unseren Herrn durch Magie bezirzt hatte“, fuhr der Bibliothekar fort. „Nachdem ihre Liebestränke den Geist unseres Herrn verwirrt hatten, fiel er in einen tiefen Schlaf. Die Hexe nahm eine Athame, eine dünne und sehr scharfe Zeremonienklinge, und schnitt ihm ein Stück Haut aus dem Rücken. Das Blut unseres Herrn fing sie in einer Phiole auf und versteckte es zusammen mit dem Stück Haut an einem sicheren Platz.“ Der Alte hustete und fuhr danach mit seinem Bericht fort. „Wie ihr wisst, kann unser Herr nicht durch normale Waffen verletzt oder gar getötet werden, solcherart Wunden schließen sich einfach wieder. Also wollte die Hexe warten, bis das Stück Haut auf dem Rücken nachgewachsen sei, ehe sie unseren Herrn wieder erweckte.“

Wieder hustete der Alte und Valerius goss ihm einen Kelch voll Wein ein, der in einer Karaffe auf dem Arbeitstisch bereitstand. Dankbar nahm der Bibliothekar das Gefäß, nippte mit geschlossenen Augen und fuhr mit seiner Erzählung fort.

„Doch die besonderen Kräfte, über die unser Herr verfügt, ließen ihn vorzeitig erwachen, und als er bemerkte, was die Hexe getan hatte, kam es zum Kampf zwischen den beiden. Schließlich floh Báthory in höchster Bedrängnis und ließ ihr Hab und Gut zurück. Unser Herr durchsuchte das Schloss der Hexe und fand das Grimoire, welches er mir zur Verwahrung übergab. Nur das Stück Haut und die Phiole mit Blut konnte er nirgends entdecken.“ Wieder hustete der Alte.

„Was macht das Buch denn so gefährlich?“, fragte Anastas und berührte den Bibliothekar an der Schulter, um ihn zum Weitererzählen zu ermuntern. Der nippte noch einmal an seinem Wein und begann wieder zu sprechen.

„Ein Zauberspruch darin ist mächtiger als alle anderen, gefährlich nicht nur für das Geschlecht der Draculea, sondern für jeden, ob Mensch, Magier oder Vampir. Ich kenne den Spruch nicht genau, denn unser Herr verbat mir, das Grimoire je zu lesen. Aber soviel habe ich verstanden: Wer auf die Haut eines Vampirs den Namen einer Person mit deren eigenem Blut schreibt und dabei jene Worte spricht, erlangt für alle Zeit Macht über den Willen dieser Person.“

Valerius warf Anastas einen erschreckten Blick zu und diese entblößte als Antwort ihre spitzen Vampirzähne. „Alter, wisst Ihr, was Ihr da sagt? Wenn dieser Dieb nun Macht über unseren Herrn erlangt …“ Valerius riss den Bibliothekar hoch, sodass dessen Beine in der Luft baumelten und der Weinkelch polternd zu Boden fiel. „Wer hat das Buch gestohlen? Antwortet mir sofort!“

„Ich weiß es nicht!“, wimmerte der Alte, „Vielleicht ein Magier? Nur einem Magier wäre es möglich, unbemerkt in die Festung der Draculea einzudringen …“

„Wir müssen den Dieb finden und das Buch wiederbeschaffen!“ Anastas Stimme klang fest, als sie ihre Hand auf Valerius Arm legte. „Du weißt, was der Fürst mit uns anstellt, wenn er erfährt, wie wenig wir auf seine Schätze achtgaben. Ein Holzpfahl durchs Herz dürfte noch das Angenehmste dabei sein.“ Zum Bibliothekar gewandt zischte sie „Dass Ihr auch nicht das geringste Wort darüber verliert!“

Ängstlich nickte der Bibliothekar, während Valerius ihn wieder auf seine Füße stellte. „Sucht nach einem Magier, vielleicht einem aus dem Geschlecht der Báthory“, flüsterte er, „Ich werde mir für Eure Abwesenheit eine Erklärung ausdenken!“

Valerius blickte den Alten durchdringend an. Zu Anastas gewandt meinte er „Wir haben Reisevorbereitungen zu treffen. Komm!“ Dann verließen die beiden Vampire das geheime Gemach, ohne zurückzublicken.

Zwei Gestalten, zu Pferde und in dunkle Umhänge gehüllt, verließen lange vor Morgengrauen Burg Bran, fest entschlossen das Grimoire wiederzubeschaffen, wie lange es auch dauern und was es auch kosten möge.

Gabriele Stegmeier

Mondscheintyp

Er sei anders, sagte er. Na klar, aber sagen das nicht alle Typen? Jeder will anders sein als die Masse der Kerle. Mal abgesehen davon, dass selbstverständlich jeder Mensch einzigartig und damit anders ist. Aber darüber haben solche Typen wahrscheinlich noch gar nicht nachgedacht, denn das Einzige, woran sie denken, ist der Onenightstand, auf den sie hinbaggern.

Gut sah er ja aus, der Typ. Ausnehmend gut sogar für meinen Geschmack. Er hatte fast schwarze Haare, hinten ganz kurz, vorne etwas länger fetzig in die Stirn hängend. Auch seine Augen waren sehr dunkel, und ich glaubte, in ihnen eine anziehende Tiefe zu spüren. Seine Lippen wirkten sehr rot im blassen Gesicht. Sein Körper war okay, schlank, aber kein Hungerhaken. Sein Po gefiel mir auch. Gut gerundet wirkte er ziemlich knackig in der engen Jeans. Ich hatte ihn vorhin, als er zur Toilette gegangen war, bewundern können. Dass er Kasi hieß, hatte er mir auch noch verraten. Keine Ahnung, wovon das die Abkürzung war; es hatte mich nicht interessiert.

Er forderte mich zum Tanzen auf, und ich war gespannt, welche Figur er auf der Tanzfläche machen würde. Er schlug sich ganz gut, weder stampfte er nur einfallslos herum, noch gehörte er zu den Typen, die sich ein Eck sichern, um dann breitbeinig wie die Irren zu headbangen. Kasi hatte Rhythmusgefühl, bewegte sich mal geschmeidig, mal abgehackt, je nachdem wie er die Musik empfand. Ich nahm wohlwollend zur Kenntnis, dass er beim Fear von Fear of the Dark nicht den Arm mit geballter Faust gegen die Lichtorgel schmetterte, wie manche Typen, die immer noch beim Fight des letzten Stücks oder des Englischen nicht mächtig waren. Schließlich kam ein langsamerer Song, er wurde zutraulicher, setzte einen Dackelblick auf, und wollte seine Streicheleinheiten. Zeit, ihn abzulenken. „Warum bist du anders, Kasi?“

„Das ist etwas schwierig zu erklären“, er sah mir direkt in die Augen und meine flapsige Bemerkung „Mit ein bisschen Mühe, wirst du es vielleicht schaffen!“ blieb mir im Hals stecken.

„Ich leide an Xeroderma pigmentosum, der Mondscheinkrankheit, meine Haut kann keine Sonne vertragen. Ich lebe daher nachts und verkrieche mich tagsüber.“

Ich sah ihn entgeistert an. Das musste ich erst verarbeiten. Ich schnappte mein Glas und wir gingen ins Freie, um eine zu rauchen. Die angebotene Zigarette lehnte Kasi ab.

„Ich habe von solchen Leuten gehört, aber ich kann mir nicht im entferntesten vorstellen, wie man mit dieser Krankheit umgeht und lebt.“

„Nun, ich habe mich daran gewöhnt. Ich habe es von Geburt an, es ist ein genetischer Defekt. Ich darf eben kein ultraviolettes Licht abkriegen. Also habe ich mir ein Leben als Nachtwächter eingerichtet.“ Er lachte mich so offen an, dass auch ich lächeln musste, obwohl mich seine Worte ziemlich betroffen gemacht hatten. Mann, Mann, Mann! Kasi war wirklich anders!

„Ich nehme an, das beeinträchtigt dein Leben ganz schön“, schob ich das Thema von der emotionalen Schiene, die mich gepackt hatte, in neutrales Gebiet.

„Es ist ein ziemlich einsames Leben. Das Fehlen jeglicher Unternehmungen tagsüber trägt nicht dazu bei, dass ich mich bei alten Freunden beliebter mache oder neue kennenlerne.“ Der Dackelblick wurde intensiver und die beiden vertikalen Stirnfurchen über der Nase verstärkten den Eindruck abgrundtiefer Traurigkeit. „Dann ist es doch umso schöner, dass du den Weg hierher gefunden hast.“ Spontan drückte ich seine Hand. Eine sehr kühle Hand für eine laue Sommernacht, zumindest ich war vom Tanzen noch erhitzt.

„Da hast du recht, und vor allem habe ich dich getroffen. Er legte den Arm um mich und zog mich an sich. Obwohl ich die Anziehungskraft seines Körpers als angenehm empfand, fröstelte ich und die Härchen an meinen Armen und im Nacken stellten sich auf. Trotzdem schmiegte ich mich an ihn.

„Lass uns tanzen“, beendete ich die angespannte Situation und zog ihn mit mir. Wir tanzten, bis wir uns am Ende von Skandal im Sperrbezirk lachend in die Arme fielen. Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn. „Ich brauche noch was zu trinken, soll ich dir was mitbringen?“

Er schüttelte den Kopf und ich ging zur Theke. Während ich auf meine Cola wartete, wurde mir klar, dass Kasi den ganzen Abend noch nichts getrunken hatte. Als er gekommen war, hatte er den Barkeeper nach True Blood gefragt, aber der hatte nur Red Bull und Power Point. Wie auch immer, manche Leute trinken eben wenig, obwohl das gar nicht gesund ist.

Das Omega musste um Mitternacht schließen. Das war so eine Anwohnersache wegen des Lärms. Kasi lud mich zu einem Spaziergang ein. Vorbei an Wohnblocks und Supermärkten stießen wir auf die Friedhofsbegrenzung. Er stieg über den Zaun und deutete zwischen Bäumen und Gräbern nach links. „Da steht eine Bank. Wollen wir uns setzen?“

Ich nickte und kletterte auch über den Zaun. Als wir uns so zwischen den Gräbern hindurchschlängelten, musste ich an den Friedhof der Kuscheltiere denken. Wir lachten beide etwas zu laut für die leere Friedhofsstille, und Kasi schlurfte mit hängenden Schultern und baumelnden Armen in Zombiemanier zur Bank. „Schau, heute ist Vollmond. Ich liebe es, in seinem Licht zu baden.“ Kasi deutete in die Richtung, in der die Scheibe des Mondes gerade hinter einer vorbeiziehenden Wolke hervorkam. Der klare Schein des Mondlichts überzog Kasis Gesicht mit einem silbrigen Schimmer. Er sah sehr blass und traurig aus, als er mich küsste. Er war wirklich anders!

Gerhard Schmeußer

Vampyrus

Du spinnst, hatte ich gesagt. Vampire gibt’s nicht. Okay, Okay. Schau nicht so. Also gut, zeig mir deinen Freund. Nein, Bekannter, hatte mein Kumpel gesagt, nur ein Bekannter. Also dann zeig mir deinen Bekannten. Mal sehen, sagt mein Kumpel, wie siehts nächsten Mittwoch aus? Wenn’s sein muss. Für einen echten Vampir gehe ich auch mittwochs aus. Mittwoch im Flamboyant.

Nun sitzen wir hier im Flamboyant. In dieser Bar ist es eindeutig zu finster. Der Tresen ist schwarz, der Fußboden ist schwarz, die Wände sind schwarz, einfach alles. Das Pils wird in Null-Dreier Flaschen ausgeschenkt. Der Barmann sieht aus wie der kleine Bruder von Robbie Williams. Über dem Regal mit den Whisky- und Cognacflaschen sind Flachbildschirme aufgehängt, auf denen ein namenloser amerikanischer Tanzfilm läuft. Aber der Ton ist ohnehin abgestellt.

Der Typ auf dem Hocker rechts von mir ist angeblich der Vampir. Das behauptet jedenfalls mein Kumpel, der links von mir sitzt. Mein Kumpel sagt heute nicht viel, was vielleicht daran liegt, dass seine rechte Hand in einem dicken Verband steckt. Habe mich beim Autoreparieren geschnitten, sagt er. Warum ist er nur so komisch drauf, immerhin ist er die Woche krankgeschrieben.

Es gibt ein paar Typen am Ende des Tresens, die Bier trinken. Eine türkische Tussi, die irgendwie zum Barmann gehört, glotzt blöd durch die Gegend. Ich schaue mir den Vampir an. Er sieht bedauernswert aus. Klapperdürr. Leidend. Grau wie ein Kettenraucher. Ein jämmerlicher Vampir und nicht gerade furchterregend. Sagen tut er auch nichts.

Also, wie soll ich anfangen? Ich könnte sagen, hey, ist das nicht verrückt, mein Kumpel behauptet, du seist ein Vampir. Also, ich wollte schon immer mal einen Vampir kennenlernen. Ich überlege eine Sekunde zu lange. Seine Augen irritieren mich. Irgendwie ist der Typ doch furchterregend. Ich halte den Mund und bestelle noch ein Pils. Der angebliche Vampir spiegelt sich im Spiegel hinter dem Tresen. Wie will der denn damit durchkommen? Lächerlich. Ich hätte wissen müssen, dass der Abend ein Scheiß werden würde.

Der Vampirtyp ist seit einer Viertelstunde auf dem Klo verschwunden. Dann macht sich mein Kumpel auf den gleichen Weg. Ich sitze allein herum und langweile mich mit meinem Bier. Nach weiteren fünf Minuten habe ich die Schnauze voll. Auf dem Gang zur Toilette riecht es nach Pisse und diesen Steinen, die sie immer zur Desinfektion einsetzen. Ich stoße die Tür zu der Herrentoilette auf. Mein Kumpel steht gequält vor mir. Verkrampft hat er seine rechte Hand unter den Arm geklemmt. Von dem Vampir ist nichts zu sehen. Blut tropft auf den gekachelten Boden. Ich frage ihn, was los ist. Er starrt mich verstört an. Die beiden hatten wohl Zoff. Ich frage, ob der Andere noch da ist, und ernte ein Kopfschütteln. Ich fluche und drehe mich um. Der Bursche kann noch nicht weit gekommen sein.

Auf der Straße ist nichts los. In hundert Metern Entfernung steht eine krumme Gestalt und schaut zu mir her. Ich renne los. Die Scheinwerfer eines Wagens blenden mich. Da ich nicht hinfallen will, bleibe ich stehen. Meine Augen brauchen ein paar Sekunden, um sich wieder an das Licht zu gewöhnen. Da vorne ist niemand mehr. Ich blicke mich um. Eben stand er noch da und nun ist er weg. Der Kerl hat sich irgendwie in Luft aufgelöst. In diesem Moment beginnt es zu regnen. Fluchend schlage ich den Kragen meiner Jacke hoch und trete den Rückweg an.

Mein Kumpel ist nicht mehr im Flamboyant. Der Barmann hat ihn rausgehen sehen. Hatte schon Angst um die Zeche. Die Gäste schauen mich etwas seltsam an. Ich will ja auch nicht bleiben. Ich zahle alles. Auch für den Vampir, was mich ärgert. In einer Schale liegen Werbe-Streichholzschachteln. Ich stecke eine ein. Als ich die Bar endgültig verlasse, verstehe ich nicht, warum ich meinen Kumpel nicht gesehen habe, als er das Gleiche tat.

Das Telefon rastet in die Halterung ein und geht dann in Stand-by. Meinem Kumpel geht es nicht gut. Was gestern passiert ist, will er nicht sagen. Wirkt völlig daneben. Behauptet, eine Stimme in seinem Kopf zu hören. Er will mich nicht sehen. Keinen Menschen. Was hat er mit Vampyrus gemeint?

Wenn ich eine Internetsuchmaschine benutze, denke ich immer, dass dies der einzige Aspekt der Science-Fiction ist, der Realität geworden ist. Und Horror? Ist da auch etwas Realität geworden?

1) Pteropus Vampyrus. Die Vampirfledermaus, verdeutlichend auch Kalong-Flughund genannt, ist eine Säugetierart aus der Familie der Flughunde (Pteropodidae). Er gilt als eines der größten lebenden Fledertiere. Die Flügelspannweite beträgt bis zu 1,7 Meter und das Gewicht bis zu 1 Kilogramm.

2) Vampyrus. Eine Art Pergament, das aus der Haut eines Vampirs hergestellt wird. Nach der Legende kann man damit Seelen von Menschen fangen, indem man ihre Namen mit Blut darauf schreibt. Ursprung und Verbreitung sind nicht erforscht.

Ich will nur mal nachsehen, wie es ihm geht. Mein Kumpel sieht schlecht aus, unrasiert, die Wangen eingefallen, blass. Er liegt im Bett und ist nicht ansprechbar. Auf dem Nachttisch liegen blutige Spritzen. Der Anblick macht mir Angst. Ich spreche ihn darauf an, aber er gibt keine Antwort. Ich frage ihn noch, ob ich etwas für ihn tun kann. Er antwortet nur, dass ich gehen soll, da er nun schlafen will. Ich zögere. Er springt plötzlich auf und geht mit einer der Spritzen auf mich los. Schreit dabei ein Wort, das sich wie „Vampyrus“ anhört. Die Nadel bohrt sich brennend in meine Schulter. Ich schenke ihm eine ein, dass er zurück auf sein Bett fliegt. Dort bleibt er zusammengekrümmt liegen. Fluchend verlasse ich die Wohnung.

Im Treppenhaus ziehe ich mein Sweatshirt hoch, begutachte meine Wunde. Ein paar Blutstropfen quellen heraus, ansonsten harmlos. Ich bin mir sicher, dass Drogen im Spiel sind. Soll ich ihm helfen? Kann ich ihm helfen?

Der Weg vom Kino zum Parkplatz ist immer etwas seltsam. Die Nacht ist kühl. Ich bin froh, dass ich die neue Jacke angezogen habe. Unter den Brücken durch mit den schwachen Straßenlampen. Gelbes Licht. Holzgeländer. Geruch von Kanalisation. Stinkt der Fluss dermaßen oder ist hier ein Rohr undicht? Da vorne geht eine dürre Gestalt. Hier unten treiben sich oft Punks rum. Betteln einen um einen Euro an, den ich ihnen meistens gebe. Aber irgendwas stimmt mit dem Typ da vorne nicht. Der bewegt sich irgendwie komisch. Als würde ihn der Wind vorantreiben.

Ich bin mir sicher, dass es der Pseudo-Vampir von letzthin ist. Mit dem habe ich noch eine Rechnung offen. Ich beschleunige meine Schritte. Er verschwindet im Schatten des Brückenkopfes. Mir ist nicht ganz wohl, da ich das Gefühl habe, dass er mir auflauert. Auf alles gefasst biege ich um die Ecke.

Der Typ ist verschwunden. Ich stehe vor einem mit dichtem Gestrüpp bewachsenen Hang. Kein Mensch kann da so schnell hochkommen. Da liegt ein Zettel auf dem Kopfsteinpflaster. Auf dem Zettel stehen zwei Namen. Der meines Kumpels und meiner. Ich weiß nicht, was es ist, aber das ist kein Papier. Und die rotbraune Tinte sieht auch nicht wie Tinte aus. Vampirhaut, wo soll man denn so was herkriegen! Soll man einen Vampir fangen und ihm die Haut abziehen? Ich verbiete mir solche Gedanken. Doch der Zettel ist nun einmal da. Fühle mich schwindelig. Meine Gedanken rasen im Kreis. Ich muss mich hinlegen und schlafen. Vielleicht geht es mir dann besser.

Ich denke Dinge, die ich nicht will. Tagsüber bin ich müde und schlafe. Sobald die Sonne untergegangen ist, wache ich auf. Meine Gedanken drehen sich um Blut. Ich tue Dinge, die ich nicht will. Ich esse Dinge, die ich nie gemocht habe. Der Zettel! Ich trage ihn immer noch bei mir. Warum sollte ich nicht machen, was ich will?