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    Zusammen aufwachen– Buddhistische Weisheit für glückliche Beziehungen– von Wilfried Reuter– in Zusammenarbeit mit Ursula Richard und Holger Wicht– edition steinrich

www.edition-steinrich.de

Alle Rechte vorbehalten

Textgrundlage dieses eBooks ist die gedruckte Version des gleichnamigen Titels

eBook-ISBN 978-3-942085-33-5

eBook-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

Gewidmet allen Menschen von Lotos-Vihara,
in Dankbarkeit und Verbundenheit

Inhalt

Vorbemerkung

1. Die große Sehnsucht

2. Die Beziehung zu dir selbst

3. In Kontakt kommen

4. Wie Beziehungen gelingen können

5. Miteinander reden

6. Blockaden erkennen und auflösen

7. Lust und Last der Sexualität

8. Eifersucht durchschauen

9. Mit Schuldgefühlen umgehen

10. Die befreiende Kraft des Verzeihens

11. Auseinander gehen

12. Was Treue bedeutet

13. Hingabe – ein Schlüssel zu glücklichen Beziehungen

Silas für Paare

Danksagung

Über den Autor

Das Lotos-Vihara-Meditationszentrum

Vorbemerkung

Liebe Leserin, lieber Leser, in diesem Buch spreche ich dich persönlich an. Ich habe dafür die »Du«-Form gewählt, denn ich empfinde sie als direkt und herzlich. Das »Sie« schafft leicht eine Distanz, die nicht gut zur spirituellen Praxis passt. Auch in meinen Vorträgen spreche ich meine Zuhörerinnen und Zuhörer mit »du« an und habe damit gute Erfahrungen gemacht.

Bei der Bearbeitung der Vortragstexte, die diesem Buch zugrunde liegen, habe ich großen Wert darauf gelegt, dass sie möglichst leicht verständlich sind – auch für Menschen, die mit dem Buddhismus bisher nicht vertraut sind. Mit Fachwörtern und manchen buddhistischen Ausdrücken bin ich sparsam und vorsichtig umgegangen. Wenn sie Verwendung finden, dann werden sie im Text erklärt.

Für einige Begriffe aus alten indischen Sprachen gibt es keine deutsche Übersetzung, die dem ursprünglichen Wort genau entsprechen würde. Diese Begriffe haben deswegen Eingang in den allgemeinen buddhistischen Wortschatz gefunden. Die meisten von ihnen stammen aus dem Pali, der Sprache, in der vor mehr als 2000 Jahren die Lehrreden des Buddha niedergeschrieben wurden, und der indischen Gelehrtensprache Sanskrit. Die beiden Sprachen sind einander sehr ähnlich. Folgende Wörter finden in diesem Buch Verwendung:

Dukkha ist ein zentraler Begriff im Buddhismus. Das Wort bedeutet Leiden in einem sehr umfassenden Sinne. Dazu gehört jede Form unangenehmer Geisteszustände, also zum Beispiel auch Unerfülltheit, Nervosität oder Angst. Dukkha erfahren wir in jedem Moment, in dem wir nicht vollkommen zufrieden und erfüllt sind.

Sila bezeichnet Tugendregeln oder ethische Richtlinien. Tugendhaft handeln bedeutet, dass wir alles vermeiden, was Verletzung und Schädigung von uns selbst oder anderen nach sich zieht, und dass wir uns stattdessen darum bemühen, Harmonie, Verständnis und Freude zu fördern. Auf Seite 193 findest du die Silas für Paare, wie wir sie im Lotos-Vihara-Meditationszentrum verwenden.

Dhamma ist der traditionelle Pali-Begriff für die Lehre des Buddha und entspricht dem Sanskrit-Wort Dharma.

Mit Sangha ist hier die Gemeinschaft buddhistisch Praktizierender gemeint.

1. Die große Sehnsucht

Wahrscheinlich kennst du das Gefühl, verliebt zu sein. Du lernst einen Menschen kennen und plötzlich verändert sich alles. Du sehnst dich nach ihm und seiner Nähe. Du fühlst dich lebendig. Große Hoffnungen prägen dein Erleben. Das so lang ersehnte Glück scheint endlich zum Greifen nah. Zugleich kommt vielleicht Angst auf. Was, wenn der oder die Angebetete die Liebe nicht erwidert?

Stoßen deine Gefühle auf Gegenliebe, könnte das Leben nicht schöner sein. Du schwebst wie auf Wolken, alles fühlt sich richtig, leicht und beschwingt an. Endlich bist du angekommen in einem Zustand, nach dem du lange gesucht hast. Du hast das Glück gefunden, und es scheint, als hätte nur dieser andere Mensch gefehlt.

Doch dann, nach ein paar Wochen, Monaten oder Jahren verändert sich etwas. Nach der ersten Begeisterung verliert sich der Überschwang, und es treten erste Schwierigkeiten auf. Der andere widerspricht dir vielleicht plötzlich, schenkt dir nicht genügend Aufmerksamkeit, verhält sich anders, als du es dir wünschst. Die rosarote Brille kommt dir abhanden, und du siehst den anderen nun als ganz normalen Menschen, Schwächen und Marotten inklusive.

An diesen Punkt gelangen fast alle Liebesbeziehungen irgendwann. Auch andere Beziehungen – etwa zu neuen Freundinnen oder dem spirituellen Lehrer – können nach diesem Muster verlaufen. Der Begeisterung folgt Ernüchterung.

Ernüchterung ist im Prinzip nichts Negatives. Wir befinden uns nicht mehr im Rausch der Gefühle und können wieder klar sehen. Sehnsucht kann Beziehungen zerstören oder dir helfen, über dich hinauszuwachsen. Du hast die Wahl. Weil aber das so schöne Gefühl, dass alles stimmt, in diesem Moment verflogen ist, löst du dich jetzt vielleicht aus der Beziehung, in die du eben noch alle Hoffnung gesetzt hast. Möglicherweise beginnst du aber auch, gemeinsam mit deiner Partnerin oder deinem Partner an der Beziehung zu arbeiten, und die Verliebtheit reift zur Liebe. Auch dann bleibt allerdings vielleicht unterschwellig das Gefühl, etwas verloren zu haben. Das Glück, du hattest es doch endlich gefunden – und jetzt ist es dir wieder entglitten, musste dem Alltag mit seinen Schwierigkeiten weichen. Und die Stimme der Sehnsucht wird in dir laut: die Suche nach Erfüllung und Geborgenheit.

Diese Sehnsucht hat die Kraft, Beziehungen zu zerstören, wenn du daraus folgerst, die Beziehung müsse für immer bleiben wie in den ersten Tagen. Sie kann aber auch zum Segen werden und dir helfen, über dich hinauszuwachsen.

Die Stimme der Sehnsucht

Wonach genau sehnen wir uns eigentlich, wenn wir eine Beziehung eingehen? Und warum lassen wir uns immer wieder auf die Herausforderungen ein, die mit Beziehungen verbunden sind?

Die Sehnsucht nach Vereinigung mit einem geliebten Menschen speist sich aus einer noch sehr viel tieferen Sehnsucht, die alle Menschen teilen, wenn auch oft nicht bewusst. Es ist die Sehnsucht nach Überwindung der Vereinzelung, nach Aufhebung von Einsamkeit und Angst.

Psychologen sprechen von einem Urtrauma, das alle Menschen erlebt haben. Vor unserer Geburt waren wir geborgen im Bauch unserer Mutter, wo wir uns vermutlich sicher und behaglich gefühlt haben. Wir befanden uns an einem warmen und geschützten Ort, Geräusche von außen nahmen wir nur gedämpft wahr. Wir hatten keinen Hunger und vermutlich auch keine Angst. Dann kamen wir auf die Welt. Mit der Geburt erlebten wir zum ersten Mal Trennung: Eben noch in unserer Mutter geborgen und versorgt, unter ihrem Herzen, waren wir nun von ihr getrennt. Wenn es gut ging, war die Mutter nah, aber dennoch war sie Nicht-Ich, also anders. Vielleicht kamen Gefühle von Hunger und Kälte hinzu.

Du hast diese Gefühle damals nicht bewusst wahrnehmenMit dir wurde deine Sehnsucht nach Verbindung geboren. und verstehen können. Aber mit diesem plötzlichen Erleben von Trennung kam die Sehnsucht nach Nähe, Wärme und Geborgenheit in dein Leben. Mit dir wurde deine Sehnsucht nach Verbindung geboren.

Aus deiner ursprünglichen Erfahrung von Trennung entwickelte sich dann mit der Zeit dein Erleben von dem, was du Ich nennst: Auf der einen Seite bist du, auf der anderen Seite die Welt. Du stehst zwar in der Welt und bist mit ihr in Kontakt, aber du empfindest dich als eigenständiges Wesen. Zwischen dir und dem Außen verläuft eine Grenze, und du bist auf das Außen angewiesen. Deswegen fühlst du dich immer auch begrenzt, bedürftig und bedroht. Das Gefühl der Trennung bringt Mangel hervor – und damit Dukkha (siehe Seite 10).

Abhilfe erhoffst du dir von anderen Menschen. Anders formuliert: Aus dem Gefühl der Trennung entsteht dein Begehren. Du sehnst dich nach dem, Begehren entsteht aus dem Erleben von Trennung: Was dir fehlt, suchst du draußen in der Welt.was dir fehlt beziehungsweise zu fehlen scheint, und suchst es draußen in der Welt. Mit Begehren ist dabei nicht nur sexuelles Begehren gemeint, sondern alles, wonach wir ein Verlangen empfinden. Dazu zählt auch die Nähe zu anderen Menschen.

Begehren ist etwas ganz Natürliches

Begehren ist also etwas ganz Natürliches. Es ist wichtig, das festzuhalten, denn in spirituellen Kreisen wird Begehren oft als etwas Negatives gesehen. Der Kern der buddhistischen Lehre wird vielfach verkürzt so wiedergegeben: Weil wir begehren, leiden wir. Geben wir das Begehren auf, endet auch das Leiden.

Es wäre aber ganz und gar nicht im Sinne der Lehre, das Begehren zu verteufeln. Der Buddha lehrt: Was wir ablehnen, können wir nicht verstehen und transformieren. Wenn du das Begehren als etwas Schlechtes betrachtest, wirst du in dieser Bewertung steckenbleiben. Dein Widerstand wird es nicht zum Verschwinden bringen, sondern eher noch steigern. Oft verstärken wir das, wogegen wir kämpfen.

Das Begehren abzulehnen wird also dazu führen, dass du noch mehr unter dem Mangelgefühl leidest. Du wirst weiterhin versuchen, dein Verlangen zu befriedigen, oder du wirst es verdrängen. Wahrscheinlich entwickelst du zusätzlich Schuldgefühle. Deswegen ist es so wichtig zu erkennen, dass Begehren eine natürliche Folge unseres Erlebens von Trennung und Unvollkommenheit ist. Es ist weder schlecht noch gut.

Warum Menschen Beziehungen eingehen

Schon sehr früh im Leben haben wir die Erfahrung gemacht: Die Befriedigung unserer Bedürfnisse kommt von außen. Wenn wir als Baby Hunger hatten, wurden wir von der Mutter gestillt. Wenn uns kalt war, hat sie uns mit ihrem Körper gewärmt, wir bekamen ein warmes Bettchen und Kleidung. Dieses Modell haben wir auf unser ganzes Leben übertragen und in der modernen Konsumgesellschaft auf die Spitze getrieben: Wir haben Durst, also kaufen wir uns ein Getränk. Uns ist langweilig, also schalten wir den Fernseher ein. Wir wollen große Emotionen erleben, also gehen wir ins Kino.

Nähe und Geborgenheit suchen wir bei einem anderen Menschen aus dem tief greifenden Gefühl des Mangels. Wir haben ein Bedürfnis nach liebevoller Bestätigung, Verbindung und Sicherheit. Wir sehnen uns nach Geborgenheit, Erfüllung, einem Leben frei von Angst. Wir streben einen Zustand an, in dem es uns an nichts mehr mangelt und in dem wir keine Angst mehr haben müssen.

Die Kraft der Verliebtheit – in dir!

Ohne Zweifel, wenn du verliebt bist, wird eine große Kraft freigesetzt. Wird die Liebe erwidert, schäumst du geradezu über vor Inspiration und Freude und würdest am liebsten die ganze Welt umarmen. Begegnen dir Herausforderungen, krempelst du die Ärmel hoch und alles geht dir leicht von der Hand. Auf sehr direkte und positive Weise spürst du dich dabei selbst: Ich fühle, also bin ich. In diesen Momenten sind Gefühle der Unvollkommenheit, Begrenztheit und Angst oft wie weggeblasen.

Wenn der Rausch der Verliebtheit abklingt, kommst du zurück auf den Boden. Eben noch bist du davon ausgegangen, der geliebte Mensch sei die Ursache dafür, dass du dich auf einmal so kraftvoll, lebendig und bewusst spüren konntest. »Du machst mich glücklich!« – so sprechen Verliebte zueinander. Doch sobald du den anderen als normalen Menschen mit Stärken und Schwächen wahrnimmst, fragst du dich vielleicht, ob ein anderer Partner deine Bedürfnisse nicht besser stillen könnte.

Es ist wichtig zu verstehen: Kein Mensch kann die Bedürfnisse eines anderen dauerhaft und vollkommen erfüllen. Wenn wir das von einer Beziehung erwarten, verlangen wir etwas Unmögliches und überfordern den Kein Mensch kann die Bedürfnisse eines anderen vollkommen erfüllen.geliebten Menschen. So entsteht Frust und daraus werden gegenseitige Angriffe geboren. Wahrscheinlich wirst du versuchen, den Partner oder die Partnerin zu verändern. Dabei kann eine Menge Druck entstehen, zum Beispiel durch die unterschwellige Botschaft, der Partner, die Partnerin sei unzureichend. Oder du trennst dich, weil du glaubst, dieser Mensch sei wohl doch nicht der Richtige, und du machst dich auf die Suche nach einem anderen. Mit dem das Spiel dann von vorne beginnt.

Mit anderen Worten: Wenn du glaubst, eine Beziehung werde dich glücklich machen, legst du die Grundlage für Schwierigkeiten. Glücklich können wir nach der Lehre des Buddha nur werden, indem wir uns entwickeln, an den Herausforderungen des Lebens wachsen und erkennen: Die Stillung unserer Sehnsucht über die Sinne im Außen ist nicht möglich.

In Wirklichkeit liegt die Kraft der Liebe nicht im anderen – sondern in dir selbst. Durch die Begegnung mit dem Partner wurde sie kurzfristig aktiviert und deutlich spürbar. Er oder sie war der Türöffner, aber nicht die Ursache deines energiegeladenen Höhenflugs voller Zuversicht. Wenn du glaubst, dass solche Momente an einen anderen Menschen gebunden sind – einen Partner oder eine Partnerin mit einem bestimmten Alter, Aussehen und Fähigkeiten –, dann verpasst du eine große Chance! Die Tür zu deinen inneren Ressourcen wird sich wieder schließen, das Gefühl von Nähe und Einheit wird immer wieder verloren gehen.

Bewusst werden durch Beziehungen

Löse dich also von der Vorstellung, dass der geliebte Mensch für dein Glück verantwortlich sei. Betrachte deine Beziehung stattdessen als eine Chance, deine inneren Ressourcen zu entdecken. Darin liegt ihr wahrer Wert: Sie ist eine hervorragende Gelegenheit, Liebe zu verschenken, bewusster zu werden und begrenzende Vorstellungen von sich und anderen aufzulösen.

Eine lebendige Beziehung zu führen bedeutet, sich zu öffnen. Neben sehr positiven Energien werden in der Nähe zum anderen Menschen unweigerlich auch alte Verletzungen wieder aufbrechen. Schwächen und Ängste lassen sich nicht länger verdrängen, sondern treten an die Oberfläche. Gerade in diesen schmerzhaften Prozessen liegt eine große Chance. Deine Beziehung ist eine Chance, Bewusstheit und Liebe zu entwickeln.Du kannst dir deiner Gefühle und deiner emotionalen Muster bewusst werden, bekommst also Zugang zu dem, was dich bewegt und steuert. Betrachte deine Beziehungen als Gelegenheit, diese Muster nicht als Mangel zu begreifen, sondern mit all dem bewusst und liebevoll umzugehen und dich zu entwickeln. Nimm sie als Übungsfeld, dich auch gegenüber anderen Menschen nicht zu verhärten, nicht aggressiv zu werden oder wegzulaufen, wenn sie sich anders verhalten, als du es möchtest.

Kurz: Nimm die Beziehung als Chance, zu lieben, statt zu kämpfen.

Glücklich kannst du nur werden, indem du die Bedürftigkeit hinter dir lässt. Und das kannst du tun, indem du deren Ursache verstehst – das Gefühl der Trennung. Indem dir klar wird, Glück in der Liebe finden wir, indem wir Liebe nicht fordern, sondern verschenken.dass du in Wirklichkeit nicht vom Rest der Welt getrennt bist, und du die Liebe in dir entfaltest. »Das Einzige, was bedeutsam ist, ist die Liebesfähigkeit des Herzens so zu entwickeln, das es nichts anderes mehr empfinden kann«, hat meine Lehrerin Ayya Khema gesagt. Dein Partner, deine Partnerin kann dir nicht abnehmen, diesen Weg zu gehen, aber deine Beziehung kann dir sehr dabei helfen, dich auf den Weg zu machen.

Die Stimme der Sehnsucht wird dir helfen, in deinen Beziehungen über dich hinauszuwachsen. Ich betrachte die Sehnsucht als treue Freundin. Sie will dich zu Erfüllung und wahrer Freiheit führen. Das ist die große Chance, die in Beziehungen liegt.

2. Die Beziehung zu dir selbst

Es gibt einen Menschen, mit dem du ganz sicher dein ganzes Leben lang zusammen bist. Dein Verhältnis zu ihm prägt alle deine anderen Beziehungen. Dieser Mensch bist du selbst. Indem du die Beziehung zu dir selbst pflegst, gibst du Beziehungen zu anderen eine Chance. Der Weg zum inneren Frieden führt über Akzeptanz und Verständnis.Im Umgang mit dir kannst du Bewusstheit, Liebe und Vertrauen hervorbringen – die wichtigsten Voraussetzungen gelungener Beziehungen. Andere Menschen wirst du dank der Auseinandersetzung mit deinen eigenen Gefühlen und Gedanken besser verstehen, so dass du in schwierigen Situationen auf heilsame Weise reagieren kannst. Dir selbst viel Aufmerksamkeit zu schenken ist also keineswegs egozentrisch. Im Gegenteil: Es kommt allen Menschen zugute, mit denen du zu tun hast.

Die große Sehnsucht und das Ego

Im Wesentlichen wird die Beziehung zu dir selbst von zwei Kräften geprägt. Zum einen gibt es tief in dir die Sehnsucht, dich heil und aufgehoben zu fühlen. Zugleich versucht aber ein anderer Teil von dir ständig, dir einzureden, die Erfüllung dieser Sehnsucht sei im Außen zu finden. Diese Auffassung ist nach der Lehre des Buddha der Grund für viele unserer Schwierigkeiten im Leben.

Die Ursache dafür liegt, wie bereits erwähnt, in der Wahrnehmung, vom Rest der Welt getrennt zu sein, und der daraus entstehenden Bedürftigkeit. In den ersten Jahren nach deiner Geburt hast du die Welt immer mehr aufgeteilt: auf der einen Seite du selbst, auf der anderen Seite der Rest, Ich und Nicht-Ich. Die Mutter war dir zwar nah, aber sie war nicht du, sondern da draußen, und du warst auf sie angewiesen. Du allein konntest dich nicht in Sicherheit fühlen, hast dir selbst nicht genügt. Dementsprechend blieb ein Gefühl von Unvollkommenheit und Begrenztheit. Damit entstand das Erleben von Bedürftigkeit, daraus wiederum dein Verlangen.

Schon nach wenigen Wochen beginnen Babys, die Objekte in ihrer Umgebung zu fixieren, unterscheiden also Dinge voneinander und erkennen sie wieder. Das geschieht zunächst durch Sehen, Hören, Schmecken, Riechen und Fühlen. Später kommen die Gedanken hinzu. Die Gedanken benennen, was wir erleben, und setzen es mit Wissen und Erfahrungen in Beziehung.

Auf diese Weise entwickelt sich dein Verstand. Dieser ordnet das Wahrgenommene nicht nur, sondern bewertet es auch. Ist uns nützlich und angenehm, was wir erleben? Glauben wir, dass es unsere Bedürfnisse befriedigt? In diesem Fall werden Menschen, Objekte und Vorgänge positiv bewertet, und wir wollen mehr davon. Oder halten wir sie für unangenehm, bedrohlich? Dann wenden wir uns dagegen. So entstehen Urteile, die sich mit der Zeit zu komplexen Auffassungen und Meinungen erweitern.

Der Verstand hat dabei die starke Neigung, sich zu identifizieren. Das Wort »identifizieren« stammt vom lateinischen Begriff idem facere, was zum Gleichen machen bedeutet. Sich identifizieren heißt also, sich mit etwas gleichzusetzen.

Unsere stärkste Identifikation ist die mit unserem Körper. Unser Körper, das sind wir selbst. Unser Geschlecht, unser Gesundheitszustand, unser Aussehen, unsere körperlichen Fähigkeiten betreffen uns unmittelbar. Darüber hinaus identifizieren wir uns mit unseren Gefühlen, Wahrnehmungen, Meinungen, unseren Reaktionen und Handlungsimpulsen sowie mit unserem Bewusstsein. Auch in unserer Sprache kommen diese Identifikationen zum Ausdruck: Wir sind Mann oder Frau, wir sind fröhlich oder wütend, wir sind einer Meinung. Identifikation bedeutet Selbstbegrenzung.Mit der Identifikation reduzieren wir uns auf Teileaspekte unserer selbst und unserer Wahrnehmung und reduzieren damit unsere Möglichkeiten drastisch.

Das Ego drängt auf Erfüllung

Das Ego ist die Summe aller dieser Identifikationen, die wir als unsere Persönlichkeit betrachten. Es entspringt letztlich dem Verlangen, unsere Bedürftigkeit zu überwinden, deswegen ist seine Mission, für Befriedigung zu sorgen – zum Beispiel durch einen geeigneten Partner, von dem wir annehmen, dass er uns glücklich machen könnte.

Da unsere Bedürftigkeit nie ganz gestillt wird, glauben wir ständig, dass unser Leben sich ändern müsse. Wir sehnen uns zum Beispiel nach einer anderen Partnerin oder mehr Sex, wollen schmerzhafte Gefühle möglichst schnell beseitigen oder glauben, dass wir selbst uns verändern müssen. Auf jeder Ebene gilt: Unangenehmes soll verschwinden, Angenehmes soll her – und zwar so schnell wie möglich. Zufriedenheit lässt sich aber auf diese Weise nicht herstellen, weil Unangenehmes zwangsläufig zum Leben gehört und Angenehmes vergänglich ist. Wir geraten in Widerspruch zur Realität.

Indem wir dagegen ankämpfen oder zu entfliehen versuchen, machen wir alles nur noch schlimmer. In unseren Beziehungen äußert sich der Kampf zum Beispiel durch Forderungen gegenüber dem Partner oder subtilen Druck, etwa indem wir demonstrativ leiden. Für die Flucht nutzen wir viele Möglichkeiten – vom Fernseher über Alkohol bis hin zur Trennung. Manche Paare leben auch viele Jahre distanziert nebeneinander her. Nichts von alledem ist geeignet, die Harmonie und Nähe herzustellen, nach der du dich sehnst.

Sich selbst nicht als Feind sehen

Du trägst beide Seiten in dir: das Potenzial für absolute Klarheit und vollkommene Liebe ebenso wie die Neigung, dir und anderen das Leben immer wieder schwer zu machen. Wie kannst du nun dir selbst näher kommen und dich entwickeln?

Die wichtigste Voraussetzung ist ein ehrliches Interesse an dir. Es äußert sich zunächst in der Bereitschaft, dich dir selbst liebevoll zuzuwenden.

Bisher geht es dir vermutlich wie den meisten Menschen: Du beurteilst dich häufig. Immer wieder glaubst du, dass du etwas nicht gut genug machst oder, schlimmer noch, dass du nicht gut genug bist: Wieder einmal bist du zu spät aufgestanden, deine Wohnung sieht unmöglich aus, du vernachlässigst deinen Partner und meditierst zu selten. Mit einer solchen Salve an Urteilen kannst du dir im Handumdrehen den Tag verderben. Und kommst vielleicht zu dem Schluss: Ich werde es nie lernen. Ich bin einfach nicht gut genug. Mit mir stimmt etwas nicht.

Beurteilungen blockieren Entwicklung.Überlass solchen Gedanken und selbstschädigenden Einflüsterungen nicht das Feld! Bewertungen blockieren liebevolles Verständnis – die Voraussetzung für Entwicklung.

Der Schlüssel, so formuliert es der kalifornische Psychologe John Welwood1, liegt darin, dass wir unsere Persönlichkeitsstruktur nicht als Problem oder Feind sehen. Das ist ein sehr wichtiger Gedanke: Du musst deine Persönlichkeit nicht beurteilen, reparieren oder sogar auslöschen.

Versuch dir stattdessen mit einer Haltung von Interesse, Aufmerksamkeit und Mitgefühl zu begegnen. »Schwächen« sind in Wirklichkeit keine Schwächen. Wenn du deinen augenblicklichen Entwicklungszustand als »Schwäche«, »Unfähigkeit« oder »Versagen« bezeichnest, nimmst du eine Wertung vor und wertest deine eigene Bedürftigkeit ab. Damit machst du dir das Leben noch schwerer. Wäre es nicht sehr erleichternd anzuerkennen, dass dir bestimmte Sachen einfach (noch) nicht möglich sind und dass du auch überhaupt nicht perfekt sein musst? Bestimmte Dinge nicht zu können ist etwas vollkommen Natürliches!

Gelegentlich bin ich mit meiner Großnichte Amalia im Auto unterwegs. Sie ist noch ein kleines Kind und dementsprechend sitzt sie hinten auf der Rückbank in ihrem Kindersitz. Stell dir vor, nun würde jemand sagen: »Lass doch die Amalia auch mal fahren!« Würdest du das für eine gute Idee halten? Angenommen, dieser Jemand würde auf seinem Vorschlag beharren: »Wie, das kann sie nicht? Was für ein unbegabtes Kind!« Würdest du dem zustimmen?

Wir sind uns vermutlich einig: Amalia muss noch nicht Auto fahren können, denn sie ist noch ein Kind. Eines Tages wird sie Auto fahren (und lesen, schreiben und rechnen) können, aber zurzeit braucht sie noch besonders viel Unterstützung und muss zum Beispiel in den Kindergarten gefahren werden. Ihre Bedürftigkeit betrachten wir nicht als Makel, sondern als ihrem Alter angemessen.

Wenn du deine »Unvollkommenheit« und Bedürftigkeit genau so gütig betrachten kannst wie die eines Kindes auf der Rückbank im Auto, wird das sehr befreiend wirken. Mehr noch: So wird Entwicklung erst möglich.

Im nächsten Schritt kannst du dann auch die » Schwächen« deines Partners oder deiner Partnerin auf diese Weise betrachten.

Achtsamkeit entwickeln

Achtsamkeit ist eine unverzichtbare Grundlage, um zu mehr Verständnis und Klarheit zu gelangen. Man kann sogar sagen: Der buddhistische Weg zu Verständnis und zu Klarheit ist Achtsamkeit.

Die Achtsamkeitspraxis beginnt bei dir selbst und besteht nach meinem Verständnis aus drei wesentlichen Aspekten. Du übst sie am besten zunächst nacheinander, um sie dann allmählich miteinander zu verbinden.

Akzeptierende Selbstbeobachtung

Liebevolle Selbsteinfühlung

Bewusster Verzicht auf sofortige Einordnung und Deutung

Achtsam zu sein bedeutet, sehr aufmerksam und offen wahrzunehmen, was im Moment gerade geschieht, ohne es zu bewerten oder beeinflussen zu wollen. Wenn es etwas Angenehmes ist, Achtsamkeit beinhaltet sowohl Selbstbeobachtung als auch Selbsteinfühlung.nimmst du dies wahr, versuchst aber, es nicht festzuhalten, wenn es wieder verschwinden will. Wenn es etwas Unangenehmes ist, versuchst du, dich nicht dagegen zu wehren, sondern es einfach nur wahrzunehmen.

Indem du achtsam bist, legst du die Grundlage für Verständnis und Mitgefühl dir selbst und anderen gegenüber – und damit für heilsames Handeln. Denn was du akzeptierst, kannst du klar sehen und verstehen. Und was du verstehst, kannst du auf heilsame Weise verändern. Auf diese Weise löst du die Fesseln, die die Identifikation mit Gefühlen und Gedanken dir anlegt.

Verlange nicht von dir, dass es dir auf einen Schlag gelingt, permanent völlig achtsam zu sein. Es wird dir zunächst sicher nicht leicht fallen, dir selbst ohne Bewertung zu begegnen. Das macht nichts, auch diese Praxis darf sich langsam entwickeln.