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Über das Buch:

London im Jahre 1377: Sir John Cranston, der Coroner der Stadt, und sein Gehilfe Bruder Athelstan müssen gleich mehrere geheimnisvolle Morde aufklären. Alle Spuren scheinen in die Vergangenheit zu führen … 

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Prolog

Juni 1362

Der Tag hatte heiß begonnen, und mittags hing die Hitze wie eine Decke über der dreimastigen Karake aus dem zyprischen Famagusta. Schlaff hingen die Segel, und Pech und Teer schmolzen zwischen verschimmelten Planken. An Bord suchten die Passagiere – Pilger, Händler, Reisende und Kesselflicker – Schatten, wo immer sie ihn fanden. Manche zählten die Perlen an ihrem Rosenkranz, andere schützten die rotgeränderten Augen vor der Sonne und suchten den Himmel nach winzigen Vorboten des Windes ab. Die Decks der Saint Mark waren glühend heiß; selbst die Besatzung war vor dem grellen Glast geflüchtet. Der Ausguck döste hoch oben in den Rahen. Ein silberner Christophorus, der über seinem Kopf an den Mast genagelt war, fing das Sonnenlicht ein und warf es zurück wie ein Gebet um Schatten und starken, kühlenden Wind.

Unter dem Ausguck döste ein Ritter in weißem Leinenhemd und schweißfleckiger Hose. Seine ledernen Stiefel bewegten sich rastlos. Der Ritter wischte sich den Schweiß von der Stirn und kratzte sich den schwarzen Bart, der sein Gesicht halb verdeckte. Ein Junge, der im Schatten der Reling Schutz gesucht hatte, betrachtete mit großen, staunenden Augen das Rüstzeug, das sich neben ihm türmte: Kettenhemd, Handschuhe, Brustpanzer und Halsberge. Aber was die Aufmerksamkeit des Jungen fesselte, war der weiße Kattunüberwurf, der mit einem ungefügen, riesigen roten Kreuz bemalt war. Der Junge spähte zum Ritter hinüber, während seine Hände sich verstohlen dem drahtumflochtenen Griff des mächtigen zweischneidigen Schwertes näherten.

»Faß es ruhig an, Knabe«, sagte der Ritter leise, und weiße Zähne blitzten in seinem sonnenverbrannten Gesicht. »Nur los, faß es an, wenn du willst.«

Der Junge tat es und strahlte.

»Willst du Ritter werden, Knabe?«

»Ja, Herr, ein Kreuzritter. Aber ich bin Waise«, antwortete der Junge ernst.

Der Ritter grinste, aber sein Gesicht wurde ernst, als er zum Achterdeck schaute. Der Steuermann hatte den Kapitän gerufen, und beide starrten nun auf das Meer hinaus. Der Kapitän schien sich Sorgen zu machen. Er nahm den großen, breitkrempigen Hut ab, stampfte auf das Deck, und der Ritter hörte seine gemurmelten Flüche. Über ihnen schrie der Ausguck plötzlich: »Ich sehe Schiffe ohne Segel, und sie kommen schnell näher!« Sein Ausruf erweckte das Schiff zum Leben. Schiffe ohne Segel, die über das Meer heranjagten – das konnte nur ein maurischer Korsar sein. Die Menschen an Deck waren aufgestört, Kinder weinten, Männer und Frauen riefen durcheinander. Harte Sohlen trappelten auf den Leitern, Soldaten und Matrosen hasteten an ihre Plätze. Der Chor der Seufzer wurde immer lauter.

»Keine Segel!« rief ein Soldat. »Dann müssen es Galeeren sein!« Das Geschrei verstummte, und Todesangst vertrieb den Verdruß über die sengend heiße Sonne. Der Tag würde zu Ende gehen, die Dunkelheit würde kommen und die Luft kühler werden. Aber die grünbeflaggten Galeeren der Korsaren mit ihren schnittigen Rudern würden nicht verschwinden. Sie umstreiften die griechischen Inseln wie wütende Wölfe, und wenn sie angriffen, gab es kein Entkommen. Genuesische Armbrustschützen kamen an Deck, die Köpfe mit weißwollenen Tüchern umwickelt. Große Armbrüste hüpften auf ihren Rücken, und Jungen mit Köchern voll widerhakiger Bolzen folgten ihnen.

»Eine Galeere!« rief der Ausguck. »Nein, zwei! Nein, vier! Kurs Nordnordost.«

Matrosen, Passagiere und Soldaten stürzten an die Reling, so daß das Schiff wie ein Habicht hinabtauchte.

»Zurück auf eure Posten!« Der braungebrannte Kapitän kletterte hastig die Leiter vom Achterdeck herunter. »Bootsmann!« rief er. »Die Waffen herausgeben! Armbrustschützen aufs Achterdeck!«

Wieder erhob sich eiliges Getrappel; ringsum an Deck wurden schnell große Eimer mit Meerwasser neben Tonnen mit hartem grauen Sand aufgestellt. Matrosen und Soldaten überschütteten die ängstlichen Passagiere mit Flüchen und schickten sie hinunter in die faulig stinkende Finsternis unter Deck.

Der Ritter richtete sich auf, als der Kapitän auf ihn zukam.

»Galeeren«, sagte der Seemann leise. »Der Herr sei uns gnädig – und so viele!« Er blickte in den blauen Himmel. »Wir können ihnen nicht entkommen. Eine würde vielleicht nicht angreifen, aber vier…«

»Wirst du kämpfen?« fragte der Ritter.

Der Kapitän spreizte die Hände. »Vielleicht greifen sie nicht an«, meinte er verzweifelt »Oder sie verlangen nur einen Zoll.«

Der Ritter nickte, aber er wußte, daß der Seemann log. Er wandte sich an den kleinen Jungen, der jetzt neben ihm stand. »Ein guter Tag zum Sterben«, sagte der Ritter leise. »Hilf mir, die Rüstung anzulegen.«

Der Junge rannte zur Reling und kehrte wankend unter der Last des schweren Kettenhemdes zurück. Der Ritter sah sich um, während er sich für die Schlacht ankleidete. Die Mannschaft hatte getan, was sie konnte. Tödliche Stille lag jetzt über dem Schiff, nur unterbrochen vom Plätschern des Wassers an seinen Flanken und dem Gemurmel der herannahenden, dunklen Galeeren.

»Sie bringen den Tod«, murmelte der Ritter.

Der Kapitän hörte ihn und drehte sich rasch um.

»Warum so viele?« fragte er ratlos. »Als hätten sie gewußt, daß wir hier sind.«

Der Ritter streifte mühsam das Kettenhemd über und schnallte sich den ledernen Schwertgurt um den Leib.

»Deine Ladung?«

Der Kapitän zuckte die Achseln. »Fahrgäste«, sagte er. »Einige Faß Obst. Weinschläuche. Ein paar Ellen Tuch.«

»Kein Schatz?«

Der Kapitän zog eine verächtliche Grimasse und suchte aufs neue am Himmel nach einem Windhauch; das goldene Gleißen der Sonne war sein einziger Lohn. Der Ritter betrachtete die Galeeren: lang, schwarz, falkenhaft. Jetzt erkannte er an Deck die angetretenen Soldaten in ihren gelben Baumwollgewändern und weißen Turbanen. Er erstarrte, und seine Augen wurden schmal.

»Janitscharen!«

Der Junge blickte auf. »Was, Herr?«

»Bei den heiligen Gebeinen«, erwiderte der Ritter. »Wieso jagt die Elitetruppe, die Creme der muselmanischen Horden, mit Galeeren einem Schiff hinterher, das nichts als Wein und Obst geladen hat?«

Der Junge schaute stumm hoch, und der Ritter strich ihm über den Kopf.

»Bleib bei mir«, flüsterte er. »Bleib an meiner Seite, und zeige keine Furcht, wenn ich falle. So kommst du mit dem Leben davon.«

Die Galeeren rauschten heran, und der Ritter roch den fauligen Gestank von Hunderten schwitzender Sklaven an den Rudern. Er hörte die Befehle des Maurenkapitäns, rauhe arabische Silben, die über das Wasser hallten. Die Galeeren umzingelten das aufgebrachte Schiff, und die Ruder blitzten weiß und tropfend wie Hunderte von Speeren. Eine Galeere postierte sich achtern, die zweite vor dem Bug, während die dritte und vierte der mächtigen Galeeren die beiden Seiten übernahmen. Der Kapitän der Saint Mark wischte sich mit dem Ärmel seines Wamses den Schweiß aus dem Gesicht.

»Vielleicht greifen sie nicht an«, sagte er leise. Er drehte sich um, und der Ritter sah die Erleichterung in seinem Blick. »Sie wollen verhandeln.«

Behende wie ein Affe kletterte der Kapitän wieder aufs Achterdeck. Die Galeere an Steuerbord schob sich näher heran, und der Ritter erkannte die strahlend bunten Livreen einer Gruppe maurischer Offiziere. Einer von ihnen erklomm jetzt die Reling der Galeere.

»Seid ihr die Saint Mark aus Famagusta?« rief er herüber.

»Ja«, antwortete der Kapitän. »Wir haben nur Passagiere und Dörrobst an Bord. Es herrscht Waffenstillstand«, fügte er flehend hinzu. »Euer Kalif hat einen Eid geschworen.«

Der maurische Offizier griff nach zwei der aufgestellten Ruder, um sich festzuhalten.

»Du lügst!« schrie er. »Du hast einen Schatz an Bord – einen Schatz, der unserem Kalifen gestohlen wurde. Übergib ihn, und laß uns dein Schiff nach dem Schurken durchsuchen, der ihn geraubt hat.«

»Wir haben keinen Schatz«, wimmerte der Kapitän. Der Offizier sprang herunter. Eine beringte Hand durchschnitt die Luft, ein gutturaler Befehl erklang. Der Kapitän der Saint Mark drehte sich um und sah verzweifelt den Ritter an; im selben Augenblick brachen er und der Steuermann unter einem Pfeilhagel zusammen, der von den Galeeren herüberschwirrte. Der Ritter klappte lächelnd das Visier seines Helms herunter und zog den Jungen neben sich. Dann packte er sein großes zweischneidiges Schwert und stellte sich mit dem Rücken zum Mast. »Ja«, flüsterte er. »Es ist ein guter Tag zum Sterben.«

Die Kesselpauken auf den Galeeren schlugen den Rhythmus des Krieges, Becken krachten, Gongschläge hallten. Die genuesischen Bogenschützen auf dem Handelsschiff taten ihr Bestes, aber die Galeeren schoben sich heran, und die gelbgewandeten, von Rauschgift entfesselten Janitscharen stürzten an Deck der Saint Mark. Hier und dort kämpften und starben kleine Gruppen von Pilgern und Kaufleuten. Einzelne versuchten, nach unten in die Dunkelheit zu entkommen; die Janitscharen verfolgten sie, und das Blut strömte wie Wasser über die verpichten Planken des Schiffes. Aber die eigentliche Schlacht wurde am Mast ausgefochten, dort, wo der Ritter stand, die Beine leicht gespreizt, die Füße fest am Boden. Sein großes Schwert durchschnitt die Luft wie eine Sense, bis das Blut knöcheltief stand und neue Angreifer ausglitten und wegrutschten, wenn sie sich mordlustig auf ihn stürzen wollten. Der Junge feuerte ihn schreiend an; aber kein Mensch konnte solcher Macht auf ewig widerstehen. Nach einer Weile erstarb die Schlacht, und die Galeeren zogen ab, das Achterschiff voll beladen mit Raubgut und Gefangenen. Flammen leckten am Holzwerk der Saint Mark, sacht trieb sie in einer zunehmenden Brise dahin und wurde schließlich zu einem lodernden Scheiterhaufen. Als die Nacht kam, war das Schiff gesunken. Hier und dort dümpelte noch eine Leiche auf dem Wasser; sonst gab es keine Spur mehr von dem großen Morden, das hier gewütet hatte.

Dezember 1377

Ein mörderisch kalter Wind trieb den Schnee durch London, und die Eis und Hagelböen waren scharf wie Dolche. Erst waren es nur wenige weiße Flocken gewesen, aber jetzt fielen sie dick und schwer wie Gottes Gnade vom Himmel und bedeckten die Wunden dieser düsteren Stadt. Die Chronisten in den Klöstern am Rande von London kauerten in eiskalten Kammern, versuchten, sich die Finger zu wärmen, und schrieben, daß dieses schreckliche Wetter Gottes Strafe für die Stadt sei.

Strafe Gottes oder nicht, der Schnee fiel unaufhörlich und legte sich wie ein Teppich auf die stinkenden Straßen und die Kotberge der Müllkippen an der Themse, wo die Flußpiraten an den niedrigen Galgen baumelten und schwarz und hart wurden, während der Fluß gefror. Im wüstkalten Dezember schlich der Frost sich wie ein Meuchelmörder in die Stadt, um die Bettler in ihren Lumpen umzubringen. Die Leprakranken, die draußen vor Smithfield in ihrem Dreck kauerten, schrien und stöhnten, als der Frost in ihre offenen Wunden biß. Alte, verlotterte, rötelgeschminkte Huren fand man mit frostfleckigen Gesichtern, kalt und tot, an der Ecke der Cock Lane. Die Straßen waren ausgestorben; nicht einmal die Ratten konnten auf Beutezug gehen, denn die großen Müllhaufen und die offenen Rinnsteine in der Mitte der Straße – sonst voll und glitschig von menschlichem Auswurf – waren steinhart gefroren.

Schneestürme verhüllten den Himmel und machten die Nächte so finster wie die Hölle. Keine gottesfürchtige Seele ging mehr vor die Tür – besonders in Petty Wales und East Smithfield, der Gegend um den großen Tower, dessen schneebedeckte Türmchen trotzig in den schwarzen Nachthimmel ragten. Die Wachposten auf den vereisten Zinnen der Festung gaben ihre Wache auf und verkrochen sich hinter den Mauern. Auch am Gittertor stand kein Wächter, denn Schlösser und Ketten waren eisenhart gefroren: Wer hätte sie öffnen können?

Allerdings mied man den Tower auch an linden Sommertagen. Alte Vetteln tuschelten, der Bau sei Teufelswerk, und die schwarzen Raben, die um die grimmigen Türme flatterten, seien Scharen von Teufeln auf der Suche nach menschlichen Seelen. Mit Menschenblut, behaupteten die Weiber, sei der Mörtel der Mauern gemischt, und unter den Felsfundamenten ruhten die Skelette der Menschenopfer, ermordet vom großen Caesar, als er die erste Festung hier erbaut hatte. Die wenigen, die lesen konnten, taten solche Geschichten als Unsinn ab: Der Tower mit seinem großen weißen Bergfried war von William dem Eroberer gebaut worden, um London einzuschüchtern, und sie lachten über Geschichten, die Kindern angst machen sollten.

Trotzdem hatten die alten Vetteln recht: Der Tower hatte seine makabren Geheimnisse. Unter einer seiner Mauern lagen kalte, grün verschleimte Gänge; alte und rußgeschwärzte Fackeln hingen kraftlos in ihren Haltern, die an den Wänden verrosteten. Seit Jahren war niemand mehr unten gewesen; nicht einmal die Soldaten kamen in dieses geheimnisumwobene Tunnelgewirr. Drei Verliese gab es hier, aber nur zwei Türen, und in der mittleren Zelle, einem viereckigen schwarzen Loch, lag ein zerfallendes Skelett. Keine Spur war mehr davon, wie es einst ausgesehen hatte, als Fleisch die Knochen noch umgab und das Blut wie heißer Wein durch Herz und Hirn geströmt war. Das Skelett vergilbte langsam; eine Ratte wieselte durch den Brustkorb und nagte erfolglos in den leeren Augenhöhlen herum, bevor sie am Armknochen entlanghuschte, der unter dem roh gezeichneten Bild eines dreimastigen Schiffes an der Wand lehnte.

Der Meuchelmörder, der sich hinter der gefrorenen Brustwehr auf dem großen Glockenturm versteckte, wußte nichts von solch geheimen Orten, obwohl ihm klar war, daß der Tower viele Geheimnisse barg. Er zog den Mantel fester um sich.

»Die Zeit ist gekommen«, murmelte er, die Bibel zitierend, vor sich hin, »da alles, was im Dunkeln verborgen ist, im hellen Licht des Tages offenbar werden soll.« Er blinzelte zum Himmel. »Blut kann nur gerächt werden«, raunte er, »indem Blut vergossen wird.«

Ja, dieser Gedanke gefiel ihm: Gerechtigkeit und Tod gingen Hand in Hand. Er spähte hinüber zum dunklen Gebirge der Kapelle von St. Peter ad Vincula. Sicher würde Gott das verstehen. Hatte er nicht Kain gebrandmarkt, weil er Abel erschlagen hatte? Warum sollten Mörder ungestraft davonkommen? Der beißende Wind störte ihn nicht und auch nicht die stetig fallenden Schneeflocken oder das einsame geisterhafte Kreischen der Nachtvögel unten am eisigen Fluß.

»Es gibt Dinge, die sind kälter als der Wind«, flüsterte er und wandte sich nach innen, meditierte über seine eigene, trostlose Seele und die große, offene Wunde, die dort schwärte. Bald käme Weihnachten und dann das Fest der Unschuldigen Kinder. Eine Zeit voll Unschuld und Wärme, wo gutes Essen langsam am Drehspieß briet. Grüne Zweige würden die Zimmer schmücken; Mummenschanz würde es geben und Gelage, Spiele, heiße Kuchen und Glühwein. Der Attentäter lächelte. Und wie an jedem Weihnachtsfest würden die Mörder sich hier im Tower versammeln. Sanft wiegte er sich. Der Prozeß würde beginnen; die Warnungen waren schon bereit. Er streckte die Hände zum Nachthimmel empor.

»Das Blut soll fließen«, flüsterte er. »Der Mord soll meine Waffe sein.«

Er bemerkte das Kreuz von St. Peter ad Vincula. »Gott soll mein Richter sein«, endete er und schob die Hände unter den Mantel. Seine Augen starrten hinaus in die schwarze Nacht. Im Gedenken an die Vergangenheit wiegte er sich sachte und sang leise ein Lied, das nur er verstand. Jetzt war ihm warm. Im Blute seiner Opfer würde er die Wunden seiner Seele baden.

1. Kapitel

Bruder Athelstan stand auf dem Turm der Kirche von St. Erconwald in Southwark und starrte in den Himmel. Er nagte an seiner Lippe und fluchte leise. Er hatte gehofft, daß die Wolkendecke aufreißen werde, und für eine Weile war es auch geschehen. Die Sterne hatten gefunkelt wie Juwelen auf einem schwarzen Samtkissen. Athelstan hatte die Sternbilder studieren wollen, da die längste Nacht des Jahres nahte; er hatte sehen wollen, ob der Verfasser von Equatorie of the Planets recht hatte. Aber wie einen undurchsichtigen Schleier hatte der Wind die Schneewolken wieder über den Himmel gezogen.

Der Ordensbruder stampfte in seinen Sandalen auf und blies sich die frierenden Finger. Dann raffte er Tintenhorn, Feder, Astrolabium und Pergamentrolle zusammen, hob die Falltür und stieg vorsichtig die Treppe hinunter. In der Kirche war es eiskalt und finster. Mit etwas Zunder entfachte er die Kienspäne vor der Statue Unserer Lieben Frau, die Fackeln im Kirchenschiff und die dicken, weißen Bienenwachskerzen auf dem Altar. Athelstan ging die Altarstufen hinunter und unter dem neugeschnitzten Chorgitter hindurch, das Huddle gerade mit einem Tableau bemalt hatte: Christus führte die Seelen aus dem Fegefeuer. Athelstan bewunderte die kraftvollen grünen, roten, blauen und goldenen Pinselstriche des Malers.

»Der junge Mann ist ein Genie«, brummte er und trat zurück, um die Figuren genauer zu betrachten. Er wünschte bloß, Huddle wäre ein bißchen zurückhaltender in der Darstellung einer jungen Lady gewesen, deren runde, strotzende Brüste die Hure Cecily als ihre eigenen erkannt hatte.

»Na, dann laß mal sehen!« hatte Tab, der Kesselflicker, gerufen, bevor Ursula, die Schweinebäuerin, ihm einen spitzen Ellbogen in die Rippen gestoßen hatte.

Athelstan schüttelte den Kopf und ging hinüber, um sich die Hände über dem kleinen Holzkohlenbecken zu wärmen, das mit seiner Glut die eiskalte Nachtluft ein wenig linderte. Er blickte auf das Kirchenschiff und sah die immergrünen Zweige von Stechpalmen und Efeu, die die Frau von Watkin, dem Mistsammler, um die dicken Pfeiler gewunden hatte. Athelstan war zufrieden. Das Dach war geflickt, die Fenster mit Horn verglast. »Jetzt sieht's schon eher wie eine Kirche aus«, brummte er, »und nicht mehr wie ein langer dunkler Tunnel mit Löchern in den Wänden.« Bald wäre die Adventszeit vorüber. Das Grün sollte den neugeborenen Christus begrüßen. »Immergrün«, murmelte der Bruder, »für unseren immergrünen Herrn.« Ein kleiner Schatten strich durch den dunklen Gang herauf.

»Du weißt immer, wann der Zeitpunkt günstig ist, Bonaventura.«

Der große Kater tappte herüber, blieb vor Athelstan stehen, streckte sich und rieb sich dann bettelnd an der schwarzen Kutte des Bruders. Athelstan schaute zu ihm hinunter.

»Hier gibt's keine Mäuse«, sagte er leise. »Gott sei Dank.«

Nie würde er vergessen, wie Ranulf, der Rattenfänger, heimlich Fallen in der Binsenstreu auf dem Fußboden versteckt hatte, und Cecily eines Morgens, als sie hier saubergemacht hatte, mit der Zehe hineingeraten war. Athelstan war seit dreißig Jahren auf der Welt und auch Soldat gewesen, aber noch nie hatte er derart saftige Flüche gehört, wie sie sich da aus Cecilys hübschem Munde ergossen hatten.

Der Bruder bückte sich und hob den Kater auf. Er betrachtete das runde, schwarzweiße Gesicht und die zerfransten Ohren. »Bonaventura, der große Mauser«, murmelte er. »Bist du gekommen, um dir deinen Lohn zu holen?« Athelstan ging in einen der dunklen Transepte und nahm eine Schale mit gefrorener Milch und kleingeschnittenen Sprotten vom Fenstersims. »Wessen Leben ist lohnender, Bonaventura?« fragte er, während er sich hinhockte, um das Tier zu füttern. »Das eines Katers in Southwark oder das eines Dominikanermönchs, der die Sterne liebt und im Schlamm rackern muß?«

Der Kater blinzelte ihn an, ließ sich nieder und fraß. Mit einem Auge blickte er wachsam zum Fuß einer Säule, denn dort, wo die Binsen etwas dichter aufgeschüttet waren, raschelte es leise. Athelstan kehrte zur Altartreppe zurück, kniete nieder, bekreuzigte sich und begann mit dem ersten Gebet des Gottesdienstes.

»Veni, veni, Emmanuel!« Komm, oh, komm, Emmanuel.

Wann würde Christus wohl wiederkommen? fragte Athelstan sich. Um Wunden zu heilen und Gerechtigkeit zu üben … Nein. Er schloß die Augen. Er hatte sich geschworen, nicht an Cranston zu denken – nicht an das fette, rote Gesicht und den kahlen Schädel, nicht an die boshaften blauen Augen und den mächtigen Wanst, der einen ganzen Weinberg trockensaufen konnte. Die alte Geschichte vom Teufel fiel ihm ein, der all die halbherzigen Gebete der Priester sammelte und jedes fehlende Wort in einem Sack aufhob, den er dann beim Jüngsten Gericht ausschütteln würde. Athelstan schloß die Augen und atmete tief.

Er beendete seine Psalmen und ging in die kleine, eiskalte Sakristei. »Heute keine purpurnen Gewänder«, sagte er sich und klappte das große Meßbuch auf. »Heute ist das Fest der heiligen Lucia.« Er schloß den verschrammten Schrank auf und nahm das goldüberzogene, mit einem scharlachroten Kreuz bestickte Meßgewand heraus. Im Gegensatz zu dem muffigen Schrank war das Meßgewand neu und duftete zart. Bewundernd betrachtete er die Handarbeit und dachte an die Künstlerin, die Witwe Benedicta. »So schön wie sie«, murmelte er. »Vergib mir, vergib«, bat er flüsternd und sprach dann die Gebete, die jeder Priester beim Ankleiden zur heiligen Messe sprechen muß.

Athelstan kannte sich. Er kannte die dunklen Schatten in seiner Seele, die sich zu erheben und seine morgendliche Routine zu stören drohten. Er durfte nicht an sie denken. Das kleine Sakristeifenster klapperte, als der Fensterladen dagegen schlug. Athelstan schrak auf. Noch lag Dunkelheit über dem Friedhof, dem Gottesacker mit seinen zerbrochenen Holzkreuzen, die Erdhügel bewachten, unter denen die Vorfahren der braven Leute seiner Gemeinde den ewigen Schlaf schliefen und auf Christi Wiederkunft warteten. Aber Athelstan wußte, daß da draußen noch etwas anderes lauerte, etwas Dunkles, Böses, das die schreckliche Blasphemie beging, Tote aus der Erde zu zerren.

Der Bruder schüttelte seine morbiden Tagträume ab. Er öffnete die Kassette und nahm Kelch und Patene heraus. Er legte weiße Hostien auf den Teller und füllte den Kelch zur Hälfte mit Meßwein. Dann hob er den Weinkrug in die Höhe und beäugte mißtrauisch den Inhalt.

»Es sieht so aus«, verkündete er in die leere Dunkelheit, »als unternähme unser Sakristan, Watkin, der Mistsammler, hier kleine Weinproben.« Er füllte die Wasserschüssel für das Lavabo, jenen Teil der Messe, wo der Priester seine Sünden abwäscht, und starrte auf das Wasser, auf dem dünne Eissplitter schwammen. »Was für Sünden?« flüsterte er. Das Alabastergesicht der Witwe Benedicta hinter dem Schleier ihres blauschwarzen Haars kam ihm in den Sinn, und er merkte, wie Bonaventura an seinem Bein vorbeistrich. »Keine Sünde«, flüsterte er dem Kater zu. »Bestimmt ist das keine Sünde! Sie ist eine Freundin, und ich bin einsam.« Er holte tief Luft. »Du bist ein Trottel, Athelstan«, knurrte er. »Du bist Priester – also was erwartest du?« Und er dachte weiter darüber nach, während er sich ankleidete. Er hatte dem Pater Prior gebeichtet – aber warum war er einsam? Trotz seines Jammerns wollte Athelstan von seiner Gemeinde und den Menschen, denen er diente, geliebt werden. Es war sein zweites Amt als Schreiber bei Sir John Cranston, dem Coroner, das ihn bedrückte. Und warum? Geistesabwesend hob Athelstan den Kater hoch und streichelte ihn. Mit den gewaltsamen Todesfällen, mit dem Blut und den klaffenden Wunden konnte er zurechtkommen. Etwas anderes ließ ihm das Blut gefrieren: die geplanten Morde, kühl berechnet von Seelen, die gefangen waren in der schwarzen Nacht der Todsünde. Athelstan spürte, daß wieder ein solches Geheimnis nahte. Irgend etwas warnte ihn, ein sechster Sinn, als warte das Böse, das auf dem einsamen Friedhof lauerte, nur darauf, ihm entgegenzutreten. Er gab Bonaventura einen Kuß auf den Kopf. »Ich muß die Messe lesen.«

Athelstan ging zurück in die Kirche, blickte hoch und sah den ersten Schimmer des Morgengrauens hinter den Hornscheiben der Fenster. Ihn schauderte. Trotz der Kohlebecken war es mörderisch kalt. Er trat an den Altar und schaute hinüber zu der Pyx mit dem heiligen Sakrament, Christus in der Gestalt des Brotes, unter ihrem goldenen Baldachin; eine einsame Kerze auf dem Altar war Symbol für die Gegenwart Gottes. Hinter ihm flog krachend die Tür auf, und Mugwort, der Glöckner, kam hereingewatschelt, den kahlen Kopf und die zitternden roten Wangen unter wollenen Lumpen verborgen.

»Guten Morgen, Pater!« brüllte er mit einer Stimme, die man vermutlich bis an die Grenzen der Pfarrgemeinde hören konnte. Der Bruder schloß die Augen und betete um Geduld, während Mugwort das Glockenseil zog; es klang mehr wie eine Sturmglocke denn wie der Ruf zum Gebet. Endlich war das Geschepper zu Ende. In einen braunen Mantel gehüllt, schlüpfte Benedicta zur Tür herein. Scheu lächelte sie dem Ordensbruder zu, der geduldig wartend am Fuße der Treppe stand. Cecily, die Hure, war die nächste. Athelstan erkannte sie an der Wolke von billigem Parfüm, die ihr stets vorauswehte. Wieder schloß er die Augen und betete, daß Cecily inzwischen nur noch als Näherin für Benedicta und als Putzfrau in der Kirche arbeiten möge. Er mußte an einen Witz denken, den man sich in der Gemeinde erzählte: Cecily habe öfter auf dem Friedhof geruht als der gemeindeeigene Sarg. Pemel, die alte flämische Lady, war die nächste, das Haar rot gefärbt, das Gesicht weiß geschminkt, eine Frau von unbestimmbarer Herkunft und noch weniger klarer Moral. Athelstan schwor sich im stillen, sie im Auge zu behalten. Er hatte munkeln hören, daß Pemel die Hostie nicht herunterschlucke, sondern sie mit nach Hause nehme und in ihren Bienenkorb lege, damit die Bienen gesund blieben. Wenn er sie dabei erwischte, würde er ihr die Eucharistie verweigern, und er würde sich auch nicht mit der albernen Antwort abspeisen lassen, daß die Waben aus ihrem Bienenkorb immer aussähen wie eine Kirche. Endlich erschien auch Watkin, der Mistsammler, Totengräber und Küster von St. Erconwald und Vorsitzende des Gemeinderates. Seine stets wachsende Kinderbrut klapperte in ihren Holzschuhen den Gang herauf; einer der Kleinen, Crim, hatte sich wenigstens die Hände gewaschen, bevor er neben Athelstan auftauchte, um als Meßdiener vor den Altar zu treten. Der Bruder kam sich ein wenig lächerlich vor, zwischen Crim mit seinem schmutzigen Gesicht auf der einen und dem Kater Bonaventura auf der anderen Seite.

Manyer, der Henker, kam als letzter und warf die Kirchentür hinter sich zu. Athelstan holte tief Luft, machte das Kreuzzeichen und beschloß, sich auf die Messe zu konzentrieren, nicht auf das Böse draußen auf dem Friedhof.

Sir John Cranston, Coroner der Stadt London, stand in der Blind Basket Alley, unweit der Poor Jewry. Der Abwasserkanal lag wie eine Scheibe aus Eis zwischen den überhängenden Häusern. Der brave Coroner stampfte mit den Füßen und blies sich auf die behandschuhten Hände in dem vergeblichen Versuch, sie zu wärmen. »Halte die Fackel höher!« blaffte er den Ratsschreiber an. Cranston starrte die Männer an, die ihn umstanden, dunkle Gestalten im trüben Licht, und blickte dann hinauf zu dem verrammelten Fenster des düsteren, trostlosen Hauses. Den giftigsten Blick hob er sich auf für Luke Venables, den Ratsherrn des Bezirks, der ihn aus seinem warmen Bett geholt hatte. Sir John schätzte seinen Schlaf zu jeder Zeit, aber nach einer anstrengenden Woche ganz besonders. Vor zwei Tagen war er in die Kirche von St. Stephen in Walbrook gegangen, um dort den Leichnam eines William Clarke zu beschauen, der in den Glockenturm geklettert war, um nach Taubennestern zu suchen. Der Idiot war von Balken zu Balken gestiegen, schließlich abgerutscht, heruntergefallen und auf der Stelle tot gewesen. Cranston war zu dem Urteil gekommen, daß der Balken schuld sei, und hatte dem erbosten Pfarrer eine Buße von vier Pence auferlegt. Gestern hatte er nach West Chepe gemußt, um die Leiche eines William Pannar zu beschauen, eines Gerbers, der in der Nähe der Wasserleitung gefunden worden war. Pannar war so dumm gewesen, wegen irgendeiner Krankheit zu einem Arzt zu gehen. Natürlich hatte der ihn zur Ader gelassen, und zwar so heftig, daß der arme Hund auf dem Heimweg zusammengebrochen und auf der Stelle gestorben war.

Cranston biß sich auf die Unterlippe und hämmerte von neuem gegen die Tür. Aber es war nicht bloß seine Arbeit, die ihm Sorgen machte. Da war noch etwas anderes: Seine geliebte Frau Maude war nicht ehrlich zu ihm, und Cranston vermutete, daß sie ein furchtbares Geheimnis hatte. Sir John war vernarrt in seine Frau und konnte den Freuden des Schlafgemachs nie widerstehen; aber in letzter Zeit – so auch in der vergangenen Nacht – hatte er sich wohlig an sie geschmiegt und war in seinen Avancen abgewiesen worden. Leise weinend hatte sie im Dunkeln protestiert, wollte ihm aber keinen Grund dafür sagen und sich auch nicht trösten lassen. Und jetzt hatte ihn dieser Idiot Venables in aller Herrgottsfrühe in die Kälte gehetzt, um sich gewaltsam Zutritt in dieses geheimnisvolle Haus zu verschaffen. Cranston hämmerte von neuem an die Tür, aber nichts rührte sich; nur die gedämpften Flüche und stampfenden Füße seiner Begleiter waren zu hören.

»So.« Cranston wandte sich an den Ratsherrn. »Erzählt mir noch mal, was das Problem ist.«

Venables kannte Sir John und schaute ihm ängstlich in das schnauzbärtige, rote Gesicht mit den eisblauen Augen und der gefurchten Stirn unter dem großen, wollenen Hut. Sir John war ein guter Mann, dachte Venables, aber wenn ihm der Kragen platzte, dann konnte er sich in einen leibhaftigen Teufel verwandeln. Venables deutete auf das abgebrochene Schenkenschild über der Tür.

»Die Sache ist die, Sir John: Der Hausherr heißt Simon de Wyxford. Dies ist seine Schenke. Er hatte keine Familie, nur einen Diener namens Roger Droxford. Vor acht Tagen bekamen Herr und Diener einen heftigen Streit, der sich über den ganzen Tag hinzog. Am sechsten Dezember öffnete Roger, der Diener, wie immer die Schenke, stellte die Bänke heraus und verkaufte Wein, aber von Simon keine Spur. Am nächsten Tag fragten die Nachbarn Roger nach seinem Herrn. Er behauptete, Simon sei nach Westminster gegangen, um Schulden einzutreiben.« Venables blies die Backen auf und wandte sich an eine der schattenhaften Gestalten neben ihm.

»Erzähl du Sir John den Rest.«

»Vor vier Tagen…«, begann der Mann, ein kleiner Kerl, in weite Mäntel gehüllt. Cranston sah nur ein paar schüchterne Augen und eine tropfende Nase über einem Schal.

»Lauter!« befahl er. »Und nehmt den Schal vom Mund.«

»Vor vier Tagen«, fuhr der Mann fort und gehorchte Sir John bereitwillig, »ist Roger von hier fort. Er trug ein Bündel auf dem Rücken. Wir dachten, er wollte flüchten, aber er ging zu einem Nachbarn, zu Hammo, dem Koch, und sagte, er wollte Simon, seinen Herrn, suchen gehen. Dann gab er Hammo den Schlüssel, falls de Wyxford plötzlich zurückkehrte. Gestern abend« – er räusperte sich – »kam Francis Boggett, ein Schankwirt, um eine Schuld zu kassieren, die Master Simon bei ihm hatte.«

»Weiter! Weiter!« unterbrach Cranston.

»Boggett ging ins Haus«, schaltete der Ratsherr sich geschmeidig ein, »und fand keine Spur, weder von Simon noch von seinem Diener. Da nahm er sich drei Faß Wein zum Ausgleich für seine Forderung.«

»Wie ist er reingekommen?« wollte Cranston wissen.

»Hammo, der Koch, hat ihm den Schlüssel gegeben.«

Sir John schürzte die Lippen. »Boggett zahlt fünf Pence Buße für unerlaubtes Eindringen, und der Koch zwei Pence wegen Beihilfe.« Er funkelte den Ratsherrn an. »Habt Ihr den Schlüssel dabei?«

Venables nickte. Cranston schnippte mit den Fingern, und der Ratsherr gab ihm den Schlüssel. Der Coroner richtete sich zu voller Größe auf.

»Als Coroner dieser Stadt«, verkündete er großartig, »und angesichts der geheimnisvollen Ereignisse, von denen mir berichtet wurde, ermächtige ich uns nunmehr, dieses Haus zu betreten, um die Wahrheit festzustellen. Ratsherr, Ihr werdet mich begleiten.«

Als Venables sich von einem seiner Begleiter ein Stück Zunder geben ließ, entstand neue Verwirrung. Sir John schloß die Tür auf und betrat die kalte, dunkle Taverne. Es roch schmutzig und muffig. Sie stießen gegen Fässer, Schemel und Tische, bis Venables seinen Zunder entfacht und zwei Pechfackeln damit angezündet hatte. Eine davon reichte er Cranston. Sie gingen von Zimmer zu Zimmer und dann in den ersten Stock. Die beiden Kammern dort waren verwüstet, Kisten und Truhen aufgebrochen, die Deckel beiseite geworfen. Aber keine Spur von einer Leiche.

»Ihr wißt, wonach wir suchen?« fragte Cranston leise.

Venables nickte. »Aber bis jetzt – nichts, Sir John.«

»Gibt's einen Keller?«

Der Ratsherr führte Cranston die Treppe hinunter. Sie suchten den dunklen Schankraum ab, bis sie eine Falltür fanden. Venables klappte sie auf. Vorsichtig stiegen die beiden Männer eine Holzleiter hinunter. Der Keller war ein langgestrecktes Loch. Am hinteren Ende befand sich noch eine Falltür, damit die Karren von der Straße ihre Fässer herunterrollen lassen konnten. Cranston befahl Venables stehenzubleiben und ging durch den Keller; im trüben Schein der Fackeln sah sein mächtiger Wanst grotesk aus. Am Ende blieb er stehen, senkte die Fackel und spähte hinter drei große Weinfässer. Im Lichtschein schimmerten die Spinnweben an den Fässern wie goldene Schleier. Cranston beugte sich vor und betastete die klebrige Masse, die er entdeckt hatte. Dann hob er die Hand in den Lichtschein und betrachtete das Blut, das an seinen Fingern klebte. Er zwängte den Arm wieder hinter die Fässer und tastete umher.

»Sir John?« rief der Ratsherr. »Ist alles in Ordnung?«

»Soweit wie möglich, Master Venables. Ich habe den Wirt gefunden – oder wenigstens einen Teil von ihm.« Cranston hob den rumpflosen Kopf hinter den Fässern auf und hielt ihn in die Höhe wie der städtische Henker. Der Ratsherr warf einen Blick auf das blauweiße Gesicht, die halbgeschlossenen Augen, den schlaffen blutigen Mund und den ausgefransten Stumpf, der früher einmal ein Hals war. Dann ließ er sich auf einen Stein sinken und würgte heftig. Cranston legte den Kopf wieder hin und kam zurück; unterwegs wischte er die Finger an der modrigen Wand ab. Im Vorbeigehen klopfte er Venables sanft auf die Schulter.

»Nehmt einen Schluck Rotwein, mein Bester. Der beruhigt den Magen und stärkt das Herz. Und dann schreibt Ihr einen Haftbefehl für Roger Droxford. Laßt nach ihm fahnden, und setzt…«

Cranston verdrehte die Augen. »Ja, setzt zehn Pfund Belohnung auf seinen Kopf aus – tot oder lebendig. Das Haus laßt versiegeln; sollte kein Testament und kein selbsternannter Erbe auftauchen, wird der Rat der Stadt vielleicht ein wenig reicher.« Er kletterte die Leiter zum Schankraum hinauf und trat hinaus auf die bitterkalte Straße.

»Wir haben den Wirt gefunden«, gab er bekannt. »Ermordet. Ich glaube, der gute Ratsherr braucht eure Hilfe, um die Leiche zusammenzusetzen.«

Die Hand auf dem langen walisischen Dolch, stapfte Sir John dann durch vereiste Gassen und Straßen zurück. Er bog in die Mercery ein und schnappte nach Luft. Der eisige Wind verschlug ihm den Atem. »Ach, wäre doch Sommer!« dachte er wehmütig. »Mit grünen Pflanzen und schönem, fettem Gras!« Er schlitterte über das vereiste Kopfsteinpflaster und lehnte sich grinsend an das Holz eines Hauses.

»Athelstan müßte hier sein und helfen«, dachte er. »Wenn schon nicht bei enthaupteten Leichen, dann sollte er wenigstens mich auf dem Glatteis stützen.«

Er wanderte die Cheapside hinauf. Eine dunkle Gestalt löste sich aus dem Schatten und kam auf ihn zu. Cranston zog den Dolch halb aus der Scheide.

»Sir John, um der Liebe Christi willen!«

Cranston betrachtete das grobknochige Gesicht des einbeinigen Bettlers, der sonst an einem wackligen Stand an der Ecke der Milk Street billigen Glitzerschmuck verkaufte.

»Nicht im Bett, Leif? Auf der Suche nach ’ner Lady, was?«

»Sir John, man hat mich beraubt!«

»Geh zum Sheriff.«

»Sir John, ich habe kein Geld und nichts mehr zu essen.«

»Dann bleib im Bett.«

Leif lehnte sich an die Wand. »Ich habe die Miete nicht bezahlt. Da bin ich aus meiner Dachkammer geflogen«, klagte er.

»Na, dann geh betteln bei St. Bartholomew«, kläffte Cranston und ging weiter. Er hörte, wie Leif hinter ihm herhumpelte.

»Sir John, helft mir.«

»Verpiß dich.«

»Danke, Sir John«, rief der Bettler, als die Münzen klimpernd zu Boden fielen. Leif kannte den dicken Coroner gut genug, um zu wissen, daß Sir John es haßte, wenn man ihn bei Mildtätigkeiten beobachtete.

Cranston blieb vor seinem Haus stehen und schaute hinauf zu den erleuchteten Fenstern. Leif wäre fast gegen ihn geprallt, und Cranston schüttelte ihn ab. Was ist los mit Maude? fragte er sich. Er hatte die Ehe immer mit dem Griff in einen Sack voller Aale verglichen: Was man herauszog, war eine Frage des Glücks. Aber er hatte doch solches Glück gehabt. Er betete Maude an, vom mausfarbenen Haar auf ihrem Kopf bis zur Sohle ihrer winzigen Füße.

Während er noch gedankenverloren dastand, kam eine Gestalt aus der Gasse auf sein Haus zu.

»In drei Teufels Namen!« rief er. »Schläft denn niemand in dieser Stadt?«

Der Mann trat näher, und Cranston erkannte die Livree des Bürgermeisters.

»In drei Teufels Namen!« wiederholte er. »Noch mehr Ärger.« Mit klappernden Zähnen und heiserer Stimme überbrachte der junge Bote seine Nachricht.

»Sir John, der Lord Mayor und seine Sheriffs wünschen Euch unverzüglich im Rathaus zu sehen.«

»Geh zum Teufel!«

»Danke sehr, Sir John. Der Lord Mayor hat gesagt, Eure Antwort würde so ähnlich lauten. Soll ich auf Euch warten?« Der junge Mann schlug die Hände zusammen. »Sir John, mir ist kalt.«

Unter weiteren Beschimpfungen hämmerte Cranston an seine Haustür. Eine schmalgesichtige Magd öffnete. Hinter ihr stand Maude, vollständig angezogen, das liebe Gesicht tränenverschmiert. Sir John grinste sie an, seine Beunruhigung verbergend.

»Liebes Weib, ich muß zum Rathaus – aber nicht ohne Frühstück.« Er zog den jungen Boten ins Haus. »Der hier muß auch essen. Er sieht aus, als hätte er's nötig.«

Cranston machte auf dem Absatz kehrt, ging noch einmal hinaus und packte Leif beim Kragen. »Dieser faule Hund leistet uns ebenfalls Gesellschaft. Danach gibst du ihm was zu tun. Er bleibt über Weihnachten bei uns.« Nun klopfte er sich auf den dicken Bauch. »Für uns alle heiße Hafergrütze und Würzkuchen.« Er schnupperte. »Und etwas von dem frischgebackenen Weißbrot.« Er warf seiner Frau einen gerissenen Blick zu. »Und Rotwein, heiß und gewürzt. Und dann sag dem Hausknecht, ich brauche mein Pferd.« Er grinste breit, sah aber, allem Gepolter zum Trotz, wie blaß und krank seine Frau wirkte. Er schaute weg. O Gott, dachte er, werde ich Maude verlieren? Er warf den Mantel ab, ging an seiner Frau vorbei und berührte dabei sanft ihre Schulter.

Athelstan teilte die Kommunion aus und legte seinen Gemeindekindern die dünnen weißen Hostien auf die Zungen. Crim hielt ihnen dabei den Silberteller unters Kinn, um jeden Krümel aufzufangen, der vielleicht herunterfiel. Der Gemeinderat war fast vollständig erschienen; einige waren noch hereinspaziert, als die Messe schon halb vorbei war.

Der Ordensbruder wollte gerade zum Altar zurückkehren, als er an der Außenmauer des Seitenschiffes ein Klopfen hörte. Natürlich! Er hatte die Leprakranken vergessen, die beiden unglückseligen Aussätzigen, denen er erlaubt hatte, im muffigen Beinhaus auf dem Kirchhof unterzukriechen. Athelstan versorgte sie mit Essen und Trinken sowie mit einer Schüssel Wasser mit Maulbeeren, damit sie sich waschen konnten. Noch nie hatte er ihre schorfigen weißen Gesichter gesehen. Den Kleidern nach zu urteilen, war einer fraglos ein Mann. Gern hätte er mehr für sie getan, aber das kanonische Recht war unerbittlich: Ein Aussätziger durfte nicht zusammen mit der übrigen Gemeinde die Kommunion empfangen, sondern nur durch den Lepraspalt, ein kleines Loch in der Kirchenmauer.

Crim besann sich auf seine Pflichten, nahm einen kleinen Eschenzweig und reichte ihn dem Ordensbruder. Der legte eine Hostie auf das Ende und schob sie durch den Lepraspalt. Das wiederholte er und kehrte nach einem geflüsterten Gebet zum Altar zurück, um die Messe zu Ende zu bringen.

Nachher legte Athelstan in der Sakristei seine Gewänder ab, und er schloß seine Ohren vor dem Krach aus der Kirche: Watkin, der Mistsammler, schob die Bänke zusammen für die Sitzung des Gemeinderates. Athelstan kniete auf seinem Betstuhl, betete zu Gott und hoffte, daß seine Gemeinde die grausigen Vorgänge auf dem Friedhof übersehen werde.

Als er in die Kirche hinaustrat, wußte er, daß seine Gebete fruchtlos gewesen waren. Watkin saß auf dem Ehrenplatz, die anderen Gemeindemitglieder kauerten rechts und links von ihm auf den Bänken. Crim hatte Athelstans Stuhl aus dem Chorraum geholt; als er Platz nahm, sah Athelstan, daß Watkin eine höchst wichtige Miene aufgesetzt hatte. Sein Blick flackerte geheimnisvoll, und der Mund war geschürzt, als gälte es, etwas sehr Bedeutendes zu verkünden.

Auch Ursula, die Schweinebäuerin, war gekommen; sie hatte, den Protesten der anderen zum Trotz, ihre große fette Sau mitgebracht. Das Tier watschelte behaglich grunzend umher. Athelstan war sicher, daß das ärgerliche Geschöpf ihn angrinste, aber er erhob keine Einwände. Besser hier als draußen. Ursula war ein streitsüchtiges, aber gutherziges altes Weib. Dennoch hegte der Bruder blinden Haß gegen ihre große, fettbäuchige Sau, die in regelmäßigen Abständen über seinen Garten herfiel und alles Gemüse wegfraß, das er dort anzupflanzen versuchte. Athelstan sprach ein Gebet zum Heiligen Geist und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.

»Brüder und Schwestern«, begann er, »willkommen zu unserer Versammlung am Fest der heiligen Lucia.« Er ignorierte Watkins Flackerblick. »Wir haben einiges zu besprechen.« Er lächelte Benedicta zu und sah dann erschrocken, daß Watkins Frau die Hure Cecily wütend anfunkelte. Zwischen diesen beiden Frauen herrschte heftige Antipathie; Watkins Frau hatte sich in der Vergangenheit oft laut gefragt, weshalb ihr Mann eigentlich so oft mit Cecily die Reinigung der Kirche besprechen mußte. Huddle, der Maler, starrte mit leerer Miene auf eine kahle Wand; wahrscheinlich träumte er von dem Bild, das er darauf malen würde, wenn Athelstan ihm das nötige Geld gäbe. Der größte Teil der Gemeindegeschäfte waren profane Angelegenheiten. Die Tochter von Pike, dem Grabenbauer, wollte den ältesten Sohn von Amisias, dem Walker, heiraten. Das große Buch des Blutes wurde befragt, ob zwischen den beiden Familien eine Blutsverwandtschaft bestand. Zu seiner Freude konnte Athelstan bekanntgeben, daß es keine gab, und man wandte sich den Fragen der nahenden Weihnachtszeit zu, sprach über die Sternenfeier, die in der Kirche stattfinden würde, über die drei Messen am Weihnachtstag, über die Nichtbezahlung von Begräbnisgebühren und über die Angewohnheit der Kinder, aus dem Weihwasserbecken zu trinken. Tab, der Kesselschmied, erbot sich, neue Kerzenhalter zu machen, zwei große, mit Löwen. Der Schreiber Gamelyn war bereit, zum Ende jeder Weihnachtsmesse ein schönes Lied zu singen. Athelstan war einverstanden mit dem Mummenschanz, der am St.-Stephans-Tag in der Kirche stattfinden sollte, und es gab einige Diskussionen über die Frage, wer am 28. Dezember, dem Fest der Unschuldigen Kinder, die Rolle des Kinderbischofs spielen sollte.

Athelstan sah jedoch mit wachsender Verzweiflung, wie Watkin auf seiner Bank hing, ungeduldig in die Runde schaute, sein Gemächt zurechtrückte und mit den lehmbeschmierten Stiefeln scharrte. Benedicta bemerkte Athelstans Blick und sah besorgt den Mann an, den sie liebte, aber niemals haben durfte, weil er ein geweihter Priester war. Endlich wußte Athelstan nichts mehr zu sagen.

»Also, Watkin«, bemerkte er trocken, »du hast eine sehr dringende Angelegenheit vorzubringen?«

Watkin richtete sich zu voller Größe auf. Die fettige Stirn runzelte sich unter dem leuchtend roten Schopf, der immer mehr zu einem buschigen Haarkranz wurde. Die hellblauen Augen, die neben der Knollennase um Platz zu kämpfen schienen, funkelten in die Runde.

»Der Friedhof ist geplündert!« platzte er heraus.

Athelstan stöhnte auf und senkte den Kopf.

»Wie meinst du das?« fragte Ranulf, der Rattenfänger, mit dem scharfgeschnittenen Gesicht unter der schwarzen Teerkappe.

»In den letzten paar Tagen«, verkündete Watkin, »sind Leichen ausgegraben worden.«

Bestürzung allenthalben. Athelstan erhob sich und klatschte in die Hände, so lange, bis der Lärm sich legte. »Ihr wißt«, begann er, »daß auf unserem Friedhof von St. Erconwald oft Fremde begraben werden – Bettler zum Beispiel, deren Leichen niemand beansprucht. Die Gräber von Gemeindemitgliedern sind nicht angerührt worden.« Er holte tief Luft. »Trotzdem-Watkin hat recht. Aus drei Gräbern sind die Toten verschwunden. Alle drei waren eben erst bestattet worden. Eine junge Bettlerin, ein Söldner aus Brabant, der nach einer Prügelei im Wirtshaus tot gefunden wurde, und ein alter Mann, den man vor dem Hospital des Heiligen Thomas hatte betteln sehen; er wurde erfroren im Hof des Gasthofs Zum Wappenrock gefunden.« Athelstan fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Der Boden ist hart gefroren«, fuhr er dann fort. »Watkin weiß, wie schwer es ist, mit Hacke und Schaufel so tief zu graben, daß es für ein Grab reicht. Die geringe Tiefe der Gräber hat also den frevelhaften Räubern die Arbeit erleichtert.«

»Dann muß man eine Wache aufstellen«, rief Pike, der Grabenbauer.

»Willst du das übernehmen?« fragte Benedicta sanft. »Willst du die Nacht auf dem Friedhof verbringen, Pike, und auf die Grabräuber warten?« Ihre dunklen Augen musterten den Gemeinderat. »Wer will Wache stehen? Und wer weiß«, fuhr sie fort, »ob diese Grabfrevel nachts begangen werden? Vielleicht geschieht es nachmittags oder abends?«

Athelstan warf ihr einen dankbaren Blick zu. »Ich könnte Wache halten«, schlug er vor. »Ich habe es schon getan, wenn ich… äh …«Er brach ab.

»Wenn du die Sterne studierst, Bruder«, sagte Ursula, die Schweinebäuerin; leises Gelächter war die Folge, denn die ganze Gemeinde wußte natürlich von der seltsamen Beschäftigung ihres Priesters.

Huddle, der Maler, regte sich. »Du könntest Sir John Cranston bitten, uns zu helfen. Vielleicht könnte er Soldaten schicken, die die Gräber bewachen?«

Athelstan schüttelte den Kopf. »Der Lord Coroner hat nicht die Macht, die Soldaten des Königs hierhin und dorthin zu schicken«, sagte er.

»Und die Büttel?« fragte Watkins Frau. »Die Bezirkswache?« Ja, was ist mit denen? fragte Athelstan sich betrübt. Der Rat und die Beamten des Bezirks kümmerten sich kaum um St. Erconwald und schon gar nicht um seinen Friedhof, und daß die Gräber dreier Unbekannter ausgeräumt worden waren, würde sie einen Dreck interessieren.

»Wer tut so etwas?« fragte Benedicta leise. »Und warum? Was wollen sie?«

Auf ihre Fragen folgte Schweigen. Alle Gesichter wandten sich wortsuchend dem Priester zu. Diesen Augenblick hatte Athelstan gefürchtet. Der Friedhof war ein Gottesacker. Als er vor neun Monaten in diese Gemeinde gekommen war, hatte er sehr streng reagiert, wenn jemand dort einen Marktstand aufstellen wollte oder die Kinder mit von streunenden Hunden oder Schweinen ausgegrabenen Knochen spielten. »Der Friedhof«, hatte er erklärt, »ist Gottesland; hier warten die Gläubigen darauf, daß Christus wiederkommt.« Athelstan hatte damals nicht alle Gründe für seine Strenge benannt. Insgeheim teilte er die Angst der Kirche vor denen, die Satan, den Herrn des Kreuzwegs und Meister des Galgens, anbeteten und ihre schwarzen Künste auf Friedhöfen ausübten. Er hatte von einem Fall in der Gemeinde von St. Peter Cornhill gehört, wo ein Schwarzer Magier das Blut solcher Leichen benutzt hatte, um Dämonen und Skorpione heraufzubeschwören.

Athelstan hustete. Was sollte er antworten? Da flog die Tür auf, und Cranston, sein massiger Erretter, kam hereingerauscht.

2. Kapitel

Sir John warf seinen Mantel zurück und schob sich den Biberhut in den Nacken.