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Jan Beinßen

 

Tod im Tiergarten

 

Paul Flemmings elfter Fall

 

Kriminalroman

 

 

 

 

ars vivendi

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (Erste Auflage Juli 2016)

 

© 2016 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

 

Lektorat: Stephan Naguschewski

Umschlaggestaltung: FYFF, Nürnberg

Motivauswahl: ars vivendi

Coverfoto: © plainpicture / Staffan Widstrand

Gehegeplan: © Tiergarten Nürnberg

U4: © Heinri Brink/iStockphoto.com

 

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-752-0

 

Inhalt

Gehegeplan

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Nachwort

Der Autor

 

»Wir suchen die Wahrheit, finden wollen wir sie aber nur dort, wo es uns beliebt.«

Marie von Ebner-Eschenbach

 

Gehegeplan

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1

Seit geschlagenen zwanzig Minuten verhandelte er mit Victor Blohfeld telefonisch über einen neuen Job. Dabei kam sich Paul Flemming vor, als feilschte er auf einem arabischen Markt. Der Reporter des Nürnberger Boulevardblatts knauserte wie selten zuvor und wollte Paul nicht einmal den üblichen Minimalpreis für einen Fotoabdruck in der Zeitung zugestehen, obwohl Paul dafür an einem Wochenende unterwegs sein müsste und somit Anspruch auf einen Zuschlag hätte.

»Haben Sie denn nichts anderes für mich als ausgerechnet einen Parteitag? So was zieht sich ewig, und langweiliger geht’s nicht.«

»Wenn Sie den Auftrag nicht nötig haben, soll es mir recht sein«, schnodderte Blohfeld am Telefon. »Es gibt genügend andere, die sich die Finger danach lecken, für uns arbeiten zu dürfen.«

Zu dürfen – wenn er das schon hörte! Als ob es eine Gnade wäre, sich für Blohfelds Schmierblatt einen ganzen Sonntag um die Ohren schlagen. Allzu gern hätte Paul ihm geantwortet, dass er sich zum Teufel scheren sollte. Doch das konnte er nicht, denn Paul war angewiesen auf Jobs wie diesen. Sein Fotoatelier am Weinmarkt warf längst nicht mehr genug ab, um einen erwachsenen Mann davon ernähren zu können. Und wollte er nicht ausschließlich am Geldtropf seiner Frau Katinka, der gut verdienenden Oberstaatsanwältin, hängen, musste er sich zwangsläufig auf faule Kompromisse einlassen und mies bezahlte Gelegenheitsarbeiten wie diese annehmen.

»Also? Was ist, Flemming? Hopp oder top? Ich habe nicht ewig Zeit, um mit Ihnen über ein paar Fotos zu streiten. Da sind Ihre jüngeren Kollegen mehr auf Zack. Und die liefern nicht nur Fotos, sondern auch Filmclips für unseren Onlineauftritt. Fertig geschnitten und vertont.«

Wieder so ein Nadelstich, der Paul schmerzte. Je näher er dem großen runden Geburtstag kam, der die halbe Hundert besiegelte, desto mulmiger war ihm zumute. Das Gefühl des Altwerdens, das ihn bislang nie sonderlich geschert hatte, drängte sich ihm mit einer ungeahnten Heftigkeit auf. Selbst wenn er sein Spiegelbild nach wie vor gar nicht so übel fand und ihm viele attestierten, dass er mindestens zehn Jahre jünger aussehe, konnte Paul nicht abstreiten, dass die Zeit auch an ihm nicht spurlos vorüberging. Am meisten merkte er es – und da hatte Blohfeld den wunden Punkt mit der Präzision eines Chirurgen getroffen – im Berufsleben. Wenn es um Aufträge ging, für die er sich bewarb, galt er trotz all seiner Berufserfahrung und Praxis mit einem Male nicht mehr als erste Wahl, sondern als altes Eisen. Zwar sagte man es ihm selten so direkt ins Gesicht, wie Blohfeld dies gern tat, doch zwischen den Zeilen hörte er immer wieder, dass die nachfolgenden Generationen flexibler und wendiger seien, außerdem deutlich günstiger und vor allem social-media-­affin. Kurzum: Paul dachte einfach nicht mehr modern genug und kassierte deshalb eine Absage nach der anderen.

»Ich frage jetzt zum letzten Mal: Machen Sie es für den genannten Preis oder nicht?«, fragte Blohfeld ungeduldig.

»Das ist zu wenig. Auf Stunden umgerechnet läge ich damit unter dem Mindestlohn.«

»Mit Ihrem Talent zum Verhandeln hätten Sie Gewerkschafter werden können«, ätzte Blohfeld. »Also gut: Ich erhöhe um fünfzig Cent pro Bild. Mehr ist nicht drin.«

»Danke, wie edel von Ihnen! Warum kaufen Sie sich davon nicht lieber einen Heiligenschein?«

»Ich bin Journalist. Ich verteile welche. Sie bekommen vielleicht auch mal einen, wenn Sie kooperieren.«

Das tat Paul nicht. Denn nun hatte sein Stolz das Kommando übernommen, und der verbot es ihm, sich auf Blohfelds Dumpingpreise einzulassen. Dann sollte der alte Knauserer eben einen jungen Hupfer nehmen, der ihm die Fotos für quasi umsonst überließ. Zum Teufel, was soll’s?

Paul war angefressen, als er den Hörer auf die Ladestation knallte und mit ausladenden Schritten durch sein Atelier ging. Mehrmals im Kreis herum, um Dampf abzulassen. Dabei kam er an den vielen Fotografien seiner Wandgalerie vorbei, die einen Abriss aus den fast drei Jahrzehnten seines bisherigen Berufslebens darstellten und durch das ovale Oberlicht von der hochstehenden Frühsommersonne beschienen wurden: darunter Stadtimpressionen für die Tourismuszentrale, Szenenbilder aus dem Opernhaus, längst angestaubte Modefotos für den Quelle-Katalog, ländliche Impressionen für einen Knoblauchslandkalender. Er hatte sehr viel geleistet und war bei seinen früheren Auftraggebern trotzdem mehr und mehr in Vergessenheit geraten – wenn es sie denn überhaupt noch gab. Denn viele hatten längst Pleite gemacht oder kein Budget mehr für aufwendige Shootings. Doch neue Auftraggeber blieben aus und wandten sich lieber an andere. Woran lag das? Musste er den Fehler allein bei sich suchen?

Während seine Wut auf Blohfeld allmählich nachließ, sann Paul darüber nach, was er an seiner momentanen Situation ändern könnte. Und vor allem auch darüber, wie er an seiner Selbstvermarktung feilen und sich besser verkaufen könnte.

Mitten in diese Überlegungen hinein läutete es an der Tür. Noch bevor er öffnen konnte, hörte er am heiseren Bellen, wer ihn da unverhofft besuchen kam.

»Hallo, Mutti. Bist du zum Stadtbummeln in Nürnberg?« Normalerweise besuchten ihn seine Eltern – wenn überhaupt – am Wochenende, aber doch nicht an einem Donnerstag. Paul bückte sich und drückte seiner deutlich kleineren Mutter einen Kuss auf die Wange, während die betagte Pudeldame Bella sich mühte, an seinem Hosenbein hochzuspringen.

Kurz darauf saßen sie bei einem Tee auf Pauls Schlafcouch zusammen, die noch immer in seinem Atelier stand, obwohl er seit dem Umzug in die Kleinweidenmühle nicht mehr hier übernachtete. Paul versuchte aus Herthas eng beieinanderliegenden dunklen Augen zu lesen, was sie auf dem Herzen hatte. Denn dass es sich heute – an einem ganz normalen Werktag – um einen Höflichkeitsbesuch handelte, mochte er nicht glauben. Es kam ohnehin immer seltener vor, dass sich seine Eltern auf den Weg von Herzogenaurach nach Nürnberg machten, erst recht unangemeldet. Doch Paul musste nicht lange herumrätseln, denn auf die ihr eigene sehr offene Art lüftete sie ohne große Vorreden das Geheimnis.

»Ich bin gekommen, weil Hermann und ich der Meinung sind, dass dir mal wieder der Kopf gewaschen gehört.« In ihrem schmalen, von schwarz gefärbter Dauerwelle umrahmten Gesicht zeichnete sich nicht ein Funken Humor ab. Diesen Blick kannte Paul sehr gut. Er besagte, dass er den Mund zu halten und zuzuhören habe.

Bella kuschte sich, als Hertha die Teetasse abstellte und die Stimme erhob: »Wir machen uns Sorgen darüber, dass du dich mehr und mehr an ein Leben im Müßiggang gewöhnst. Dass du nicht der Typ Mensch bist, der einer geregelten Arbeit nachgeht, wissen wir. Das würde dich einengen und unglücklich machen. Dass du aber nur noch am Rockzipfel deiner Frau hängst und dich von ihr aushalten lässt …«

»Was soll das denn heißen?«, begehrte Paul auf.

»Du lebst wie die Made im Speck«, wurde Hertha deutlicher und kniff ihn in die Hüfte. »Und das sieht man auch.«

»Wie Katinka und ich unser Leben regeln, geht Hermann und dich nichts an, Mutti«, protestierte Paul.

»Das ist nicht der einzige Punkt«, meinte Hertha.

»Sondern?«

»Uns geht es vor allem um dein eigentliches Problem.«

»Was sollte das denn für eines sein?«

»Du leidest unter einer zwanghaften Fixierung.«

Paul fiel aus allen Wolken. »Wie bitte? So ein Blödsinn!«

Hertha ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. »Dein Vater hat darüber im Reader’s Digest gelesen. Die Symptome treffen voll und ganz auf dich zu. Darüber sind wir uns einig.«

»Auf was soll ich denn fixiert sein? Etwa auf meine Vorliebe für Nürnberger Rostbratwürste und dunkles Bier aus der Fränkischen Schweiz?«

»Ich kannte einen Arzt, Dr. Borgmann, du kannst dich vielleicht an ihn erinnern.«

»Ja, der Wald- und-Wiesen-Doktor, auf den ihr früher geschworen habt.«

»Borgmann war ein guter Allgemeinmediziner, aber er konnte es auch in der Freizeit nicht lassen, den Leuten auf die Hände und Arme zu starren, weil er immer auf der Suche nach Venen war, in die er notfalls eine Infusion legen konnte.«

»Pech für ihn, doch was hat das mit mir zu tun?«

Sehr viel, behauptete Hertha und erzählte als Nächstes von einem alten Freund Hermanns, einem pensionierten Panzerdivisionskommandeur, der noch als Rentner keinen Kirchturm ansehen konnte, ohne darüber nachzudenken, aus welchem Winkel und mit welchem Geschoss er einen Scharfschützen im Glockenturm erledigen könnte. Und dann fielen ihr auch noch ein drittes und ein viertes Beispiel ein, die in dieselbe Richtung zielten.

»Aha, sehr erhellend, deine Geschichtchen. Aber auf was zum Kuckuck soll meine Fixierung ausgerichtet sein?« Paul fand die Situation dermaßen skurril, dass er lachen wollte.

Doch das Lachen blieb ihm im Hals stecken, als er Herthas Antwort hörte: »Auf Verbrechen! Du würdest hier doch am liebsten so lange untätig herumsitzen, bis du vom nächsten Mord Wind bekommst, und dann nicht ruhen, bevor der Täter gefasst wäre. Das Problem dabei ist aber, dass du weder bei der Kripo arbeitest noch auf irgendeine andere Art dafür legitimiert bist. Ganz zu schweigen von den Gefahren, denen du dich bei ähnlichen Aktionen in der Vergangenheit bereits wiederholt ausgesetzt hast.«

Da ist etwas Wahres dran, musste sich Paul eingestehen. Weil seine Mutter selten nur mit Vorwürfen daherkam, sondern meist eine Lösung zur Hand hatte, wartete Paul den Schluss ihrer Standpauke ab.

»Was du brauchst, ist ein neuer Fotoauftrag, Bub«, stellte sie fest. »Und mehr frische Luft. Du bist ganz blass.«

Paul schmunzelte. »Ja, Mutti«, sagte er gelassen, weil er den verspäteten Erziehungsversuch seiner Mutter nicht wirklich für voll nehmen konnte. »Hast du eine Idee, wo ich beides finden kann?«

Hertha fackelte nicht lang, klappte ihre Handtasche auf und entnahm ihr ein bunt bedrucktes Faltblatt. Wie sich herausstellte, ein Übersichtsplan des Nürnberger Tiergartens.

»Die suchen jemanden wie dich«, erklärte Hertha. »Es geht um Bilder für eine neue Broschüre und das Internet. Zwar nur befristet und mit dem mageren Salär des öffentlichen Dienstes, aber immerhin. Hast du die Anzeige im Stellenteil der Nürnberger Nachrichten etwa nicht gesehen?«

Hatte er nicht. Und er konnte auch nicht behaupten, dass er sich sonderlich für die eingezäunte Tierwelt am Schmausenbuck interessierte.

»Bewirbst du dich?«, wollte Hertha wissen.

»Ich glaube, das ist nichts für mich«, antwortete Paul.

»Hast du denn etwas anderes in petto?«, fragte Hertha, die die Antwort natürlich genau kannte.

»Ich schaue mich um«, wich Paul aus.

»Mit anderen Worten: Du sitzt hier herum und wartest darauf, dass endlich der Abend kommt und du dein Bier trinken kannst.«

Paul wollte widersprechen und erklären, dass er keinerlei Erfahrung mit Tierfotografie hätte, als ihm ein Gedanke kam: Hatte er nicht neulich einen Radiobeitrag über den Zoo gehört, in dem es um das mysteriöse Verschwinden einiger Tiere gegangen war? Ein Schaf aus dem Streichelpark fehlte, auch einige Präriehunde wurden vermisst. Mit Mord hatte das zwar nichts zu tun, aber wenn er dort als Fotograf unterwegs wäre, könnte er sich wenigstens ein wenig umsehen …

Hertha deutete das Funkeln in Pauls Augen richtig und lächelte zufrieden: »Du hast es dir also überlegt?«

»Ich bin noch dabei.«

Hertha erhob sich. »Danke für den Tee«, sagte sie und pfiff nach Bella.

 

2

Die Aprilsonne schien maiwarm vom Himmel, die Vögel zwitscherten, überall sprießte es. Dementsprechend gut gelaunt ging Paul die neue Herausforderung an: Pünktlich um acht am Montagmorgen meldete er sich zum Dienst und war gespannt darauf, was ihn erwarten würde.

Christian Schulte, zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit beim Tiergarten und somit bis auf Weiteres Pauls Chef, entpuppte sich als äußerst geschäftige Persönlichkeit. Seine leicht gedrungene Figur überspielte der resolut auftretende Pressesprecher, dessen Alter Paul auf Mitte dreißig veranschlagte, durch forschen Kurzhaarschnitt und laute Stimme. Über einer dunklen Bluejeans trug er ein weißes Hemd und ein dunkelblaues Sakko, verzichtete aber auf einen Schlips, womit er seine Lässigkeit betonte. Schon am großen Tor, dem Haupteingang mit Kassenhäuschen, nahm er Paul in Empfang. »Was für ein Glück, dass Sie so kurzfristig zur Verfügung stehen, Herr Flemming. Folgen Sie mir bitte«, sagte Schulte und ging schnellen Schrittes voran.

Auch wenn er im ersten Moment von Herthas Vorschlag nicht gerade angetan gewesen war, freute sich Paul auf seinen ersten Besuch des Tiergartens seit etlichen Jahren. Natürlich war er mit der Straßenbahn gekommen, denn diese Tour wollte er sich nicht entgehen lassen: Die Linie 5 brachte ihn vom Hauptbahnhof auf kurvenreicher Fahrt bis zum Zooeingang, wobei der letzte Abschnitt durch ein Waldstück führte. Einfach herrlich! Und schon am Eingang die erste Attraktion: Totenkopfäffchen turnten vergnügt in den Wipfeln, auf einem quergelegten Baumstamm huschten sie über Pauls Kopf hinweg.

Sein Begleiter hatte für all diese Details keinen Blick. Christian Schulte beschäftigten ganz andere Dinge. Der Termin mit dem Neuen, den er für heute früh vereinbart hatte, passte ihm eigentlich gar nicht ins Konzept. Denn Schulte stand unter Druck. Ein Druck, unter den er sich allerdings selbst setzte. Vieles lief nicht so, wie er es sich wünschte. Privat kriselte es schon lange: Seine Dauerfreundin Denise wünschte sich ein Kind oder die lange versprochene Heirat. Am besten wohl beides. Aber darauf mochte er sich nicht einlassen – nicht, solange seine Karriere weiter so vor sich hin dümpelte. Leiter der tiergarteneigenen Pressestelle zu sein – eine Einmannabteilung – konnte doch nicht das Ende der Fahnenstange bedeuten. Oder etwa doch? Fest stand, dass er seit Jahren auf diesem Posten verharrte und nicht weiterkam. In Bewerbungen für andere Unternehmen sah er wenig Sinn, denn da müsste er wieder ganz von vorn anfangen. Hier aber gab es zumindest theoretisch die Chance für einen Aufstieg in der Tiergartenhierarchie. Daran wollte er arbeiten und aufpassen, dass ihm niemand Knüppel zwischen die Beine warf. Denn er war nicht der Einzige mit Ambitionen.

Nun jedoch musste er sich erst einmal um diesen Neuzugang kümmern: jemand, der ihn und seine Arbeit in einem besseren Licht dastehen lassen sollte. Im wahrsten Sinne des Wortes, denn Schulte erhoffte sich von dem Neuen ein umfassendes Aufmöbeln der angestaubten Fotodatenbank. Dieser Flemming, wie er hieß, genoss einen recht guten Ruf als Fotograf. Also würde er es mit ihm probieren.

»Sie wissen ja, dass wir einen Fotografen nur befristet einstellen können. Für etwas Festes ist der Personaletat einfach nicht groß genug«, machte Schulte jegliche Erwartungshaltung zunichte. »Aber immerhin, gell?«

Paul wusste nicht so recht, was der Pressemann ihm damit sagen wollte. Dass er froh sein könnte, überhaupt einen Job bekommen zu haben?

Um diese Uhrzeit war im Tierpark kaum etwas los, weshalb Paul freien Blick auf die Gehege hatte: Links sah er Kängurus und Emus, rechts reckten einige Giraffen ihre ohnehin langen Hälse, um sich am Laub der Bäume zu laben. Jetzt, da der Tiergarten so gut wie menschenleer war, bemerkte Paul seine Weitläufigkeit. Die Gehege waren äußerst großzügig bemessen und gingen ins dichte Grün des umgebenden Lorenzer Reichswaldes über. Dazwischen setzten kaminrote Sandsteinblöcke markante landschaftliche Akzente. Dass der Tiergarten mitten in eine bewaldete Felsenlandschaft gebaut worden war, vermittelte auf sehr intensive Weise die Naturverbundenheit. Zäune und Gräben, die die Tiere an der Flucht hindern sollten, fielen dadurch weit weniger auf als in anderen Zoos. Im Strom der vielen Hundert Besucher, die sich tagsüber über das parkartige Gelände ergossen, war Paul diese besondere Wirkung nie so aufgefallen wie heute. Auch die Tiergeräusche, exotisch wie bei einem Afrikatrip, hatte Paul nicht so eindrücklich erlebt wie jetzt. Ohne den Lärmbrei, den die Menschenmassen verbreiteten, erklangen klar und deutlich die Stimmen der Tiere: zwitschernd und krähend, fauchend und kreischend, trompetend und zischend.

»Herr Weinbauer erwartet uns an der Uferpromenade«, rief ihm der zwei Meter vor ihm gehende Pressesprecher zu.

Weinbauer? Musste ihm dieser Name etwas sagen, fragte sich Paul.

»Unser leitender Direktor hat Urlaub, aber der Vize wird Ihnen eine kurze Einweisung geben«, erklärte Schulte, woraus Paul schloss, dass Weinbauer ebendieser Vize sein musste. »Er wird Ihnen unser Reglement darlegen: die Vorschriften und Pflichten«, redete er weiter und führte Paul am Reich der Paviane vorbei. Diese saßen auf einem rindenlosen Baum, beäugten die beiden Passanten und gaben Kommentare in Form von Grunzlauten ab. An dieser Stelle hatte Paul früher so manches Mal gestanden und sich gefragt, wer hier wen beobachtete: die Menschen die Affen oder eher die Affen die Besucher? Er war zu dem Schluss gekommen, dass beides der Fall war und die Paviane sich über die Zoobesucher mindestens genauso lustig machten wie umgekehrt. Auch diesmal war es nicht anders: Denn Paul bemerkte, wie ein besonders lebhafter, offenbar junger Pavian ihn erst anstarrte, sich dann mit drei gekonnten Schwüngen zu einem dicken, trägen Artgenossen auf die Krone ihres toten Baums schwang und dem Älteren mit aufgeregten Gesten etwas mitzuteilen schien. Daraufhin verfolgte auch der Alte Paul und Begleiter mit Argusaugen.

»Ich werde Sie mit ihm allein lassen und Sie danach wieder abholen«, kündigte Christian Schulte an, während er Paul am Delphinarium und dem alten Flusspferdhaus vorbeiführte.

»Mit wem?« Paul war in seinen Gedanken noch bei den Pavianen.

»Mit Herrn Weinbauer.«

»Ach so.«

Besonders hell im Kopf schien dieser Flemming ja nicht zu sein, dachte sich Christian Schulte, war aber nicht böse darum. Es kam ihm sogar sehr zupass, wenn der Neue nicht allzu viel von dem mitbekam, was personell im Tiergarten vor sich ging. Flemming sollte seine Fotos machen und nicht großartig darüber nachdenken, was hier sonst noch lief. Zu viele Fragen wären schädlich. Und wenn er doch welche hatte, sollte er sie Weinbauer stellen. Schulte hätte nichts dagegen, wenn der Vize in die Bredouille käme. Im Gegenteil: Das würde seinen Interessen zuarbeiten. Ja, dachte Schulte, vielleicht könnte er sich diesen Flemming zunutze machen.

Sie gingen in Richtung des großen Sees, der von allerlei Wasservögeln besiedelt war. Allen voran die Vielzahl der Flamingos, die Paul mit ihren charakteristischen Rosatönen ein ums andere Mal an die Fernsehserie Miami Vice erinnerten. Auch hier bewunderte er die große Fläche des Areals und lauschte dem krächzenden Geplapper der stolzen Vögel.

Vis-à-vis den Stelzenvögeln platzierte ihn der Pressesprecher bei einer Sitzgruppe, die während der Öffnungszeiten Zoogästen zum Vespern diente. »Er ist gerade beschäftigt, wird aber sicher gleich kommen«, sagte Schulte und wandte sich zum Gehen.

»Wer? Herr Weinbauer?«

»Ja.« Christian Schulte machte einen leicht genervten Eindruck. Paul fragte sich, ob es an seinen wiederholten Nachfragen lag.

»Und Sie wollen nicht so lange warten?«

»Keine Zeit, leider.« Schulte sparte sich weitere Erklärungen und ließ Paul mit einem knappen »Bis später!« zurück.

Der Mann ist ziemlich busy, dachte sich Paul, legte seine Kameratasche ab, setzte sich wie befohlen auf die Bank und sah Schulte nach. Dieser hatte es wirklich sehr eilig. Ob er zum nächsten Termin hetzte oder bloß keinen Wert darauf legte, dem Zoovize zu begegnen?

Darüber hätte Paul nur spekulieren können, aber das wollte er gar nicht, denn es war ihm herzlich egal. Lieber mochte er sich den Flamingos widmen und ungestört von anderen Besuchern ihre Kolonie bewundern. Paul hatte etwas übrig für diese großen Vögel, schätzte ihre Eleganz und auch die Lässigkeit. Stundenlang auf einem Bein im lauwarmen Wasser zu stehen und eigentlich gar nichts zu tun hatte etwas für sich. Paul hätte nichts dagegen einzuwenden, im nächsten Leben als Flamingo wiedergeboren zu werden.

Während er noch über seine Perspektiven als Vogelinkarnation nachsann, hörte er Schritte auf sich zukommen. Herr Weinbauer, wie er annahm. Doch als Paul sich umsah, erkannte er einen Mann in der Kleidung eines Tierpflegers. Zumindest nahm er an, dass graubraune Hosen, beigefarbenes T-Shirt, grüne Jacke und kniehohe Gummistiefel nicht dem üblichen Outfit eines Zoomanagers entsprachen. Obwohl: Vielleicht ging Weinbauer seine Aufgabe hemdsärmelig an und beschränkte seine Tätigkeiten nicht bloß auf den Verwaltungskram.

Da er es nicht wusste, wartete Paul ab, bis der Mann bei ihm angekommen war, stand auf und nickte ihm zu. Sein Gegenüber war etwa so groß wie Paul, hatte braunes, leicht zerzaustes Haar, neugierige Augen in der gleichen Farbe und einen Teint, der Paul sagte, dass er viel an der frischen Luft zu tun hatte. Also wohl doch ein Tierpfleger.

»Ich warte auf Herrn Weinbauer«, sagte Paul, um auf Nummer sicher zu gehen.

Der andere nickte und sagte: »Müsste gleich da sein, der Chef.« Er unterzog Paul einer flotten Musterung. »Du musst der Neue sein. Fängst heute an, ja?« Er streckte seine Rechte aus. »Ich bin der Günter. Günter Kleeberger.«

Paul schlug ein und spürte den kräftigen Händedruck des Tierpflegers. »Freut mich. Ich bin der Paul.«

»Ist er wohl schon weg?«, fragte Günter, noch bevor er Pauls Hand wieder freigab.

»Sie meinen Herrn Schulte?«

»Du! Du kannst du zu mir sagen. So halten wir es hier unter Kollegen.«

»Okay. Du meinst Herrn Schulte?«

Günter nickte. »Ist ja klar, dass er sich dünnmacht, kaum dass der Vize im Anmarsch ist. Dicke Luft zwischen den beiden, verstehst du?« Er zwinkerte Paul verschwörerisch zu.

Der wunderte sich darüber, wie schnell er in den internen Klatsch und Tratsch einbezogen wurde. Doch das kam ihm ja auch gelegen: Je eher er wusste, mit wem hier gut Kirschen essen war und mit wem nicht, desto besser.

»Mögen sich die beiden generell nicht oder gab es einen Anlass?«, erkundigte sich Paul und setzte sich wieder.

Günter tat es ihm gleich und streckte die Beine aus. Von seinen Stiefeln tropfte brackiges Wasser auf den Boden. »Beides. Schulte ist der Spezi vom Boss. Das schmeckt dem Vize nicht, denn er hält sich selbst für den besseren Pressemann«, plauderte Günter munter drauflos. »Früher hat Weinbauer den ganzen Pressekram nämlich selbst gemacht. Das ging so lange gut, bis Flocke geboren wurde und sich plötzlich die ganze Welt für den Tiergarten interessierte. Da kamen Kamerateams aus aller Herren Länder.«

»Flocke? Das Eisbärbaby?«, versuchte Paul mitzukommen.

»Genau. Das hat vor ein paar Jahren einen echten Hype ausgelöst. Weinbauer war mit den vielen Presseanfragen überfordert, und deswegen wurde Schulte eingestellt.«

»Der seitdem einen Teil seiner Kompetenzen übernommen hat.«

»Korrekt. Erst war Schulte ja nur in Teilzeit bei uns, aber er hat sich schnell unabkömmlich gemacht und gibt in der Verwaltung den Ton an – nicht nur wegen seines lauten Organs. Pass also auf, dass du dich mit dem gut stellst, wenn das mit deinem Job hier was werden soll.«

»Danke für den Tipp«, sagte Paul. »Aber du hast angedeutet, dass es einen weiteren Grund dafür gibt, warum sich die beiden aus dem Weg gehen.«

»Kannst du dir das nicht denken?« Günter lehnte sich zurück und verschränkte die Arme hinterm Kopf. Dabei ächzte er, als hätte er bereits einen ganzen Tag harter körperlicher Arbeit hinter sich. »Momentan macht der Tiergarten ja eher Negativschlagzeilen.«

»Wegen des seltsamen Tierschwunds? Die Zeitungen kolportieren ja, dass die Sicherheitsvorkehrungen zu lax sind.«

Günter nickte und verriet, dass sich Rolf Weinbauer und Christian Schulte gegenseitig die Schuld für die schlechte Presse zuschoben. Schulte halte Weinbauer vor, dass er sein Sicherheitsproblem nicht in den Griff bekomme, umgekehrt werfe Weinbauer Schulte vor, auch nach so vielen Jahren kein Vertrauensverhältnis zu den Medienvertretern aufgebaut zu haben. Die ganze Belegschaft wisse von dem Knatsch der beiden, meinte Günter, denn sobald sie sich begegneten, würden sie sich angiften, ganz egal, ob es einer der Kollegen mitbekäme oder nicht.

»Es fehlt nicht viel, dann gehen sich die beiden an die Gurgel«, spitzte Günter zu.

»So schlimm?«, fragte Paul.

»Schlimmer«, meinte Günter, diesmal jedoch mit einem Augenzwinkern.

»Es würde mich interessieren, was mit den Tieren passiert ist«, sagte Paul. »Einfach in Luft auflösen können sie sich ja nicht. Und durch Fluchttunnel zu entkommen klappt nur dann, wenn ihnen ein paar Maulwürfe dabei helfen.«

»Oder gewiefte Pinguine«, warf Günter lachend ein.

Als Paul nicht gleich verstand, erklärte der Tierpfleger, dass er auf den Film Madagaskar angespielt hatte. Darin hätten Tiere aus dem Zoo in der Bronx mit Unterstützung der Pinguine das Weite gesucht. Doch dann nahm Günter Pauls nicht ganz ernst gemeinten Gedanken zum Anlass, um ihm seine eigene Theorie zu unterbreiten: »Mit dem Helfen liegst du gar nicht mal so weit daneben: Dass es einem unserer Tiere gelingt, aus eigener Kraft aus einem Gehege zu entkommen, ist sehr, sehr unwahrscheinlich. Weder ein Schaf ist dazu in der Lage noch ein Zwerghirsch und erst recht nicht eine ganze Kolonie Präriehunde. Viel größer stehen die Chancen, dass da jemand die Hände im Spiel hat. Allerdings kein anderes Tier wie im Film, sondern ein Mensch.«

»Wer sollte ein Interesse daran haben, ein Schaf aus dem Streichelzoo zu klauen?«, fragte Paul und suchte selbst nach einer Antwort: »Könnten es Tierschützer sein?«

»Und was stellen die dann mit unseren Präriehunden an? Einfach im Wald aussetzen? Unser Muntjak, der abgängige Zwerghirsch, würde innerhalb kürzester Zeit vom heimischen Wild weggebissen. Nein, nein, die seriösen Tierschutzverbände wissen, dass es unseren Zöglingen bei uns gut geht.«

»Wer sollte sonst dahinterstecken? Vielleicht jemand, der sich einen schlechten Scherz auf Kosten der Tiere erlaubt?«, spekulierte Paul weiter.

Günter winkte ab. »Daran hatte ich anfangs auch gedacht, aber dafür hat das Ganze zu viel Methode. Ich denke, das Schaf, das als Erstes verschwand, diente bloß als Versuchsballon. Aber eigentlich hat er es auf die Tiere, die danach kamen, abgesehen.«

Paul horchte auf. »Wer ist er? Und wozu braucht dieser Jemand den Hirsch und die Hunde?«

Günter, der sich sichtlich darüber freute, dass sich Paul für seine Überlegungen interessierte, setzte zu einer Erklärung an, als sich ihnen ein groß gewachsener Mann in grauem Anzug näherte. Er war sportlich schlank, beinahe dünn, trug sein graues Haar kurz geschnitten und eine markante, schwarz geränderte Brille auf der Nase. Mit zügigen Schritten hielt er auf sie zu.

Kaum hatte er ihn bemerkt, gab Günter seine lässige Sitzhaltung auf. Mit einem Ruck war er auf den Beinen und sagte: »Das ist er, unser Vize.« Er nickte dem Chef zu. »Ich muss dann mal wieder«, sagte er zu Paul und entfernte sich schnell. »Wir unterhalten uns ein andermal.«

Nur zu gern hätte Paul den redseligen Tierpfleger aufgehalten, um sich dessen Theorie über die mysteriösen Tierabgänge zu Ende erzählen zu lassen. Doch da war er schon weg, und an seiner Stelle stand Rolf Weinbauer. Als Paul ihm die Hand drückte, registrierte er das vorstehende Kinn des Zoovizes ebenso wie seine listig blitzenden Augen.

Dank Günter war Paul ausreichend gebrieft, um Weinbauers Gedanken erahnen zu können: Paul war von Schulte eingestellt worden, also stand der Vize dem Neuen von vornherein kritisch gegenüber. Und das ließ Weinbauer Paul mit einem äußerst frostigen Willkommensgruß deutlich spüren.

»Herr Flemming? Mein Name ist Weinbauer. Ich führe momentan den Laden, so lange unser Direktor nicht anwesend ist. Über Ihre Aufgaben lassen Sie sich vom Kollegen Schulte informieren.« Er drückte Paul einen Schnellhefter in die Hände. »Dem entnehmen Sie alles, was wichtig ist, wenn Sie sich auf dem Gelände bewegen. Bei uns gelten besondere Vorschriften, wie Sie sich denken können. Arbeiten Sie das Material sorgsam durch. Wenn Fragen auftreten, wenden Sie sich an Ihren Fachvorgesetzten.«

»An Herrn Schulte?«, fragte Paul überflüssigerweise.

»Ja«, sagte Weinbauer mit einem Gesicht, das jedweder Freundlichkeit entbehrte. Und dann wiederholte er das, was Paul heute schon einmal zu hören gekriegt hatte: »Ihnen ist bewusst, dass es sich um eine befristete Einstellung handelt? Auch innerhalb dieser Frist nehmen wir uns heraus, das Einstellungsverhältnis vorzeitig zu beenden, sollten wir Ihre Leistung für nicht ausreichend halten.«

Eigentlich hätte sich Paul umdrehen und gehen sollen. So jedenfalls war ihm zumute. Andererseits spornte ihn Weinbauers Arroganz zum genauen Gegenteil an. Mit einem Lächeln auf den Lippen sagte er dem stellvertretenden Zoodirektor: »Aber sicher weiß ich Bescheid. Das ist genau das, was ich gesucht habe, denn Flexibilität liegt mir im Blut. Sie werden zufrieden sein.«

Damit nahm er Weinbauer den Wind aus den Segeln, denn auch dieser sah sich nun genötigt, ein wenig mehr Empathie zu zeigen. Zwar reichte es nicht für ein Lächeln, doch zumindest der verbissene Gesichtsausdruck verschwand.