Kirsten Wendt & Marcus Hünnebeck

Unsere Nachbarn und wir

Roman

Das Buch

Vicky und Simon lieben sich wie am ersten Tag, nur der turbulente Alltag mit zwei Kindergartenkindern macht der Patchworkfamilie zu schaffen. Trotzdem wünscht Vicky sich nichts sehnlicher als ein Kind von Simon, und es zerrt an ihren Nerven, dass sie nicht schwanger wird. Und dann ist da auch noch Pascal, der neue Nachbar: groß, durchtrainiert und immer mit einem lockeren Spruch auf den Lippen. Während Vicky von ihm begeistert ist, findet Simon seine Sprüche dämlich. Vicky kommen Zweifel. Warum ist Simon in letzter Zeit so abweisend? Verbirgt er ein Geheimnis vor ihr?

Die Autoren

Marcus Hünnebeck wurde 1971 in Bochum geboren, studierte an der dortigen Ruhr-Universität Wirtschaftswissenschaften und lebt inzwischen als freier Autor im Rheinland. Nach den ersten Veröffentlichungen ab 2001, bei denen es sich um Thriller handelte, wandte er sich dem Kinderbuchgenre zu. Seit 2013 bringt er als Selfpublisher und auch in Zusammenarbeit mit Verlagen wieder Bücher für Erwachsene heraus. Unter dem Pseudonym Jo C. Parker erschien 2014 der humorvolle Roman 595 Stunden Nachspielzeit von ihm.

Kirsten Wendt, 1970 in Nordfriesland geboren, lebt und arbeitet als freie Autorin in Nienburg an der Weser. Im Jahr 2012 erfüllte sie sich ihren großen Traum und wagte den Sprung in die Selbstständigkeit, nachdem sie zuvor als Vertrieblerin und Sekretärin tätig war. Sie verfasst Liebesromane, Sachbücher und Kurzgeschichten, hin und wieder auch Psychothriller unter Pseudonym. Am liebsten schreibt sie Glossen und Humorvolles.

Ihr erster gemeinsamer Roman Mein Nachbar und ich erschien im August 2015. Im November 2015 folgte Pimp My Dad.

E-Book, 1. Auflage, Februar 2016

Herausgeber:

Marcus Hünnebeck, Kirsten Wendt

Hegelstr. 11

40789 Monheim

Layout: www.ebokks.de

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagmotiv: © www.buerosued.de

Lektorat: Claudia Schlottmann

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit schriftlicher Zustimmung der Autoren zulässig.

Die in diesem Roman geschilderten Ereignisse sind frei erfunden. Personen, ihre Handlungen und Äußerungen sind frei gestaltet und in keinem Fall als Abbilder lebender oder verstorbener Personen gedacht. Etwaige Ähnlichkeiten sind rein zufällig und unbeabsichtigt.

1

Vicky

An den Kosenamen erkenne ich Simons Stimmungslage. Er hat eine Menge Bezeichnungen für mich auf Lager: Schatz natürlich, Süße, Liebling oder Kleine, manchmal auch Sweetheart. Okay, wirklich einfallsreich ist das vermutlich nicht, aber ich fahre total darauf ab. Und wenn er mich Baby nennt, bedeutet das …

»Baby, hast du zufällig fünf Minuten Zeit?«, schnurrt er mir ins Ohr, krabbelt unter meine Bettdecke und nimmt mich in den Arm.

Hm, das fühlt sich himmlisch an. Ich kann nie genug von ihm bekommen, es ist immer noch wie beim ersten Mal.

Er glüht mal wieder wie ein Backofen. Simon ist im wahrsten Sinne des Wortes ständig heiß – was ihn nicht daran hindert, selbst im Hochsommer unter einer Herbstdecke zu liegen. Bestimmt wäre es wahnsinnig romantisch, gemeinsam in Löffelchenstellung einzuschlafen, aber ich habe bereits in der ersten Woche unserer Beziehung kapituliert: viel zu warm. Ich gehe ein beim Versuch, eng an ihn gekuschelt wegzudösen.

»Fünf Minuten? Glaubst du, die Kinder lassen uns noch so lange allein?«, flüstere ich. »Du bist sehr optimistisch. Bestimmt stören sie uns gleich.«

»Ich bin was ganz anderes.«

Der Kuss hat eben erst begonnen. Schätzungsweise fünfzig Sekunden Knutscherei sind uns vergönnt, in denen seine Hände zielstrebig auf Tuchfühlung gehen und für Karussellfahrten in meiner Bauchgegend sorgen. Es ist so wunderschön, ich will mehr von ihm, sofort.

»Jimbo kotzt!«, brüllt Luis und reißt die Schlafzimmertür auf.

Wie auf frischer Tat ertappt, lassen Simon und ich voneinander ab.

»Was? Wo denn?« Ich fahre mir mit den Fingern durchs Haar und richte mich auf. Offensichtlich interessiert meinen Sohn nicht die Bohne, was seine Mutter gerade vorhatte. Tilda wäre da kritischer …

»Amy kotzt gleich mit, wenn sie die Schweinerei sieht«, beschwert sie sich auch schon. Unsere Kinder gibt es eben nur im Doppelpack. Tildas Körperhaltung ist ein einziger Vorwurf. Mit verschränkten Armen steht sie vor unserem Bett und mustert ihren Vater und mich wie zwei Schwerverbrecher.

»Im Flur, aber nicht auf die Fußmatte, sondern daneben. Die Konferenz ist flüssig und gelb«, doziert mein Sohn und springt mit Karacho neben mich aufs Bett.

»Das heißt anders«, sagt Tilda. Ihre Augen verfolgen genau die diskreten Handbewegungen ihres Vaters, der versucht, möglichst unbemerkt unter meinem Nachthemd hervorzukommen. »Was macht ihr da?«

»Konsistenz, meint Luis«, lenke ich schnell ab. »Aber das muss man als Sechsjähriger wirklich noch nicht wissen. Wir hatten neulich darüber gesprochen, als Jimbo sich in der Küche übergeben hat.«

Warum entschuldige ich mich eigentlich dafür, Luis ein Fremdwort untergejubelt zu haben? Simon kritisiert mich manchmal wegen meines angeblichen Grammatikwahns; er meint, ich würde damit nur für zusätzliche sprachliche Verwirrung bei Luis sorgen.

Mein Liebster gibt mir einen Kuss auf die Stirn, kneift mir verstohlen in den Po und verlässt das Bett. Glück gehabt – er wischt die undefinierbare Konferenz unseres Hundes weg. Seine leisen Flüche aus dem Flur klingen wenig erfreut. Kichernd halten die Kinder und ich uns die Hände vor den Mund.

Da ich aus Erfahrung weiß, dass es kuschelnde Kinder unter blütenweißer Bettwäsche nur in der Werbung gibt, schwinge ich mich ebenfalls aus den Federn. Sonntagmorgens können Simon und ich nur an den kinderfreien Wochenenden all die Dinge tun, die man zu zweit nun mal gerne macht. Wobei … wir werden auch abends gestört, mittags und nachmittags sowieso. Von einem ausschweifenden Sexleben kann nicht die Rede sein. Wenn die Kinder alle zwei Wochen bei unseren jeweiligen Expartnern sind, kommen wir deshalb kaum vor die Tür. Zu groß ist das Nachholbedürfnis. Und zu stark mein Wunsch nach einer Schwangerschaft. Während Simon es nicht ganz so eilig hat, werde ich von Monat zu Monat hibbeliger. Wieso klappt es nicht, obwohl ich die Pille längst in den Müll geschmissen habe? Die Antwort kenne ich selbst – sie umkreist tobend meine Beine. Mit zwei Kindern und zwei Hunden kommt man zu nichts, dabei hätte ich wahnsinnig gern ein gemeinsames Kind mit meiner großen Liebe. Ein Baby mit Simon würde unsere Familie komplett machen, und die Kinder hätten ein Geschwisterchen. Dass ein weiterer Schreihals für mehr Arbeit sorgen würde, blende ich lieber aus. Rein rational betrachtet ergibt es wenig Sinn, ein weiteres Kind zu bekommen. Weder möchte ich im Job kürzertreten, noch habe ich Lust, auf die kinderfreien Wochenenden zu verzichten, und auf schlaflose Nächte bin ich schon gar nicht scharf. Eigentlich ist alles perfekt, wie es ist. Es ist sogar so perfekt, dass ich Angst habe, Simon könnte mir abhandenkommen. Er ist mein Mann, obwohl wir nicht verheiratet sind. Aber es fühlt sich so an. Vielleicht will ich ihn unbewusst mit einem Baby an mich binden – auch wenn ich selbst am besten wissen müsste, was das für ein Quatsch ist. Ach, verdammt, ich habe keine Ahnung, warum ich ständig ein Haar in der Suppe suchen muss. Anstatt einfach nur zufrieden zu sein, zerbreche ich mir manchmal den Kopf darüber, wo der Haken ist. Kein Mann kann schließlich so unglaublich toll sein wie meiner – da muss doch was faul sein.

»Habt ihr Hunger?«, frage ich, um auf andere Gedanken zu kommen, und warte erst gar nicht auf eine Antwort. »Ich mache uns Frühstück.«

»Jimbo hat anscheinend den halben Wald vertilgt, so viel wie er ausge…«, erklärt Simon.

»Kotzen sagt man nicht«, unterbricht ihn Luis. »Gibt es Brötchen? Ich möchte ein Ei. Tilda, willst du auch eins? Darf ich es köpfen?« Oje, Luis ist heute mal wieder in Höchstform.

Im Vorbeigehen werfen Simon und ich uns einen vielsagenden Blick zu, den unsere kleine Klugscheißerin auffängt. Wir machen uns Sorgen um die Entwicklung meines Sohnes. Manchmal benimmt er sich nicht altersgerecht, befürchten wir. Zu wild und spontan, als würde er nicht nachdenken, bevor er plappert oder losstürmt. Oder ist das normal?

Wirklich, ich liebe Tilda wie mein eigenes Kind, aber immer wenn Luis’ Schwächen deutlich werden, fühle ich mich, als stände ich mit dem Rücken zur Wand. Drei gegen einen, das ist unfair. Ich will zu meinem Sohn halten und das Verhältnis in zwei zu zwei umwandeln. Mein Kleiner bekommt nichts von den unausgesprochenen Vorwürfen mit, sondern versieht die Hunde mit ihren blauen und rosa Halsbändern.

»Fein gemacht«, verkündet er stolz. »Ihr seid die bravsten Hunde der Welt.«

Ich drücke ihn an mich. Im Bett zu liegen und Simons Zärtlichkeiten zu genießen, wäre eindeutig der bessere Start in den Tag gewesen. Was soll’s, ich setze Kaffee auf, koche Eier, schiebe Aufbackbrötchen in den Ofen und decke den Tisch.

Simon hat sich zu einem echten Frischluftfanatiker entwickelt. Derselbe Mann, der noch vor einem Jahr Panik wegen fieser Killerbakterien schob, die angeblich durch einen Hund ins Haus kommen, kann jetzt nicht genug kriegen von Spaziergängen bei jedem Wetter und rennt mit Vorliebe in olivgrünen Gummistiefeln durchs Gehölz. Er ist viel lockerer geworden. Ich war sogar diejenige, die darauf bestehen musste, dass Jimbo und Amy nicht ins Schlafzimmer dürfen, damit wir zumindest dort mal ungestört sein können. Mit Betonung auf »mal«. Nun nächtigt Amy bei Tilda und Jimbo bei Luis. Theoretisch. Praktisch losen die Kinder nahezu täglich aus, in wessen Zimmer die Nacht gemeinsam verbracht wird, um dann in einem Knäuel aus Mensch und Tier zu schlafen.

»Bitte die Butter, Mutter«, sagt Luis und hält seine ausgestreckte Hand über den Tisch.

Tilda schlägt mit voller Wucht ein, sodass beide Kinderhände auf dem Wurstteller landen. Kichernd lecken sie sich die Finger sauber.

»Hey, wir sind hier nicht bei den Hottentotten«, schimpft Simon. »Ihr wascht euch jetzt die Hände, und dann gehen wir alle zusammen raus.«

»Und wann erledige ich die Bügelwäsche?«, versuche ich es mit einer Ausrede. Es regnet, sieht kühl und ungemütlich aus – ich will hier bleiben.

»Das Bügeln übernehme ich«, sagt Simon. »Die meisten Sachen können eh einfach so in den Schrank, und meine Hemden müssen nur vorne gebügelt werden.«

»Du kannst nicht bügeln, mein Schatz, bereits vergessen?«

»Doch, ich habe früher meine Hemden immer selbst gebügelt.«

»Dann müsstest du auch wissen, dass man den Rücken nicht knitterig lässt. Wie sieht denn das aus?«

Manchmal reden Männer wirklich so einen Blödsinn.

»Ich ziehe einen Pulli drüber. Das ist die Lösung. Dann muss nur der Kragen gebügelt werden. Vielleicht hilft das auch gegen die Erkältung.« Besorgt fasst er sich an den Hals.

»Du bist doch gar nicht erkältet«, stelle ich fest.

»Noch nicht, aber ich spüre schon ein Kratzen. Vermutlich ist in ein paar Tagen meine Stimme weg.«

Tilda und ich werfen uns einen vielsagenden Blick zu. Wir ahnen, was jetzt kommt. Ich zwinkere einmal und sage: »Du solltest besser eine Grippetablette einwerfen. Nur vorsorglich.«

»Hab ich schon. Zwei Stück. Ach, verdammt, wenn ich nicht aufpasse, kann ich übermorgen die Präsentation beim Bauleiter vergessen.«

»Du Armer.« Gleich muss ich losprusten. »An deiner Stelle würde ich auch noch die anderen Medikamente nehmen, das homöopathische Zeug zum Beispiel und natürlich das Öl für deine Stimmbänder, damit du nicht total zusammenbrichst.«

»Lachst du mich etwa aus?«, fragt er grinsend, steht auf und kommt zu mir rüber. Er beißt mir zum Spaß in den Nacken und schneidet Grimassen, was die Kinder zum Kichern bringt.

»Ich würde dich Schwerkranken doch niemals auslachen. Was meint ihr«, richte ich mich an Luis und Tilda, »braucht er ein Fieberzäpfchen oder frische Luft?«

»Frische Luft! Wir kommen mit«, rufen die beiden und springen von ihren Plätzen. Na gut, überzeugt. Wir schnappen unsere Jacken und gehen ins Treppenhaus. Aus zwei übereinanderliegenden Wohnungen haben wir eine große gemacht. Meistens kochen und essen wir unten, weil Simons Küchenmöbel schöner sind als meine. Allerdings stehen meine hochwertigen Küchenmaschinen noch oben bei mir, was dazu führt, dass ich dort backe und dauernd hoch und runter renne. Das Wohnzimmer nutzen wir größtenteils bei ihm, dafür schlafen und waschen wir uns oben. Tilda liebt es, in Luis’ Zimmer die Nacht zu verbringen. Der zusätzliche Platz ist großartig. Anfangs dachten wir, dass wir uns so mal aus dem Weg gehen könnten, wenn wir uns streiten. Aber wir streiten nie und hängen ständig alle beieinander.

»Hey, ich nehme Amy«, ruft Tilda Luis zu, der sich von den angeleinten Hunden die Treppe hinunterziehen lässt.

Hoffentlich fällt er nicht hin, ich sehe es schon kommen. Außerdem machen die Kinder einen wahnsinnigen Lärm. Wenn das Herr Schulze mitbekommt, flippt er aus. Er ist derzeit noch empfindlicher als sonst, weil seine Frau im Krankenhaus liegt. Vermutlich bekommt ein altmodischer Spießer wie er ohne sein Frauchen noch nicht mal eine Dosensuppe aufgewärmt.

»Seid bitte leiser, ihr könnt toben und rennen, sobald wir draußen sind«, mahne ich, doch irgendwie kommt meine Stimme gegen den Krach nicht an.

Jetzt fängt Jimbo auch noch an zu bellen, weil bei Schulzes die Tür aufgeht. Er kann unseren Nachbarn eben nicht leiden und folgt seinem tierischen Instinkt. Abrupt bleibt Luis stehen, sodass Tilda, die ihn fast eingeholt hat, gegen ihn prallt. Die beiden gucken Herrn Schulze in Erwartung eines Riesendonnerwetters schuldbewusst an.

»Guten Morgen«, grüßen Simon und ich überfreundlich, als wir uns direkt vor seiner Wohnungstür befinden. »Entschuldigung wegen des Lärms«, sage ich. »Haben wir Sie geweckt?«

»Nein, nein, das macht nichts«, antwortet er zerstreut und weicht meinem Blick aus. Hat er etwa geweint?

»Dann ist es ja gut. Kommt Kinder, Vicky, Hunde, alle Mann raus hier«, meint Simon und zieht an meiner Hand.

Er ist erleichtert über den ausbleibenden Wutanfall unseres Haustyrannen. Eigentlich wäre ich das auch, aber hier stimmt eindeutig was nicht … So niedergeschlagen kenne ich den Schulze gar nicht.

»Lauft ihr schon mal vor, ich komme gleich nach.« Ich wende mich von Simon ab, der mir augenrollend zu verstehen gibt, dass ich keinen auf Mutter Theresa machen soll. »Wie geht es denn Ihrer Frau, Herr Schulze?«

Ich sehe meiner Familie dabei zu, wie sie durch den Hauseingang verschwindet. Mir wäre auch nicht wohler als Herrn Schulze zumute, wenn mein geliebter Partner wochenlang weg wäre. Das Mitgefühl für den alten Stinkstiefel überrollt mich plötzlich und unerwartet. Noch bevor er leise antwortet, weiß ich es. Ich habe es bereits in seinen Augen gesehen.

»Irmtraud ist gestern gestorben. Nierenversagen.«

»Oh nein, das tut mir leid.«

Ich kann nicht anders, als seine rechte Schulter zu berühren. Sonst regt mich der Kerl auf, doch jetzt wirkt er klein und schutzbedürftig. Der Arme. Ohne seine Frau ist er gar nicht mehr er selbst. Mir wäre lieber, er würde sich über die schlecht erzogenen Patchwork-Gören aus dem ersten und zweiten Stock ereifern, als so traurig dazustehen. Er greift mit der Linken nach meiner Hand und schaut mich an.

»Ich weiß gar nicht, was ich jetzt machen soll, Frau Mahler. Es fühlt sich so unwirklich an. Meine Frau hat sich doch immer um alles gekümmert. Um die Beerdigungen unserer Eltern und meines Bruders zum Beispiel. Ich hab doch keine Ahnung, wie so was geht.«

Schluchzend hält er inne. Vermutlich werde ich es später bereuen, aber ich muss irgendetwas sagen.

»Wenn Sie wollen, helfe ich Ihnen. Das ist gar nicht mehr so schlimm wie früher«, stammle ich. »Also, schlimm ist es natürlich schon, aber soweit ich informiert bin, nehmen einem die Unternehmen das ab … Ach, glauben Sie mir, das bekommen wir hin. Sie sind nicht allein.«

Noch nicht. Simon könnte mich möglicherweise umbringen, wenn er erfährt, dass ich ausgerechnet Günther Schulze unterstütze. Er taucht gerade hinter der gläsernen Tür auf und zeigt mahnend auf seine imaginäre Armbanduhr. Ich hebe die Hände und mache große Augen. Ich kann doch jetzt hier nicht weg und den armen, alten Mann einfach stehenlassen.

»Das ist sehr anständig«, schnieft er. »Von Leuten wie Ihnen erwartet man das gar nicht.«

Ja, nee, ist klar. Schönen Dank auch. Ich schlucke die Beleidigung runter und räuspere mich.

»Ich muss dann mal raus, bevor die Kinder noch irgendwelchen Blödsinn anstellen. Melden Sie sich, wenn wir etwas tun können, ja?«

»Hm. Gott zum Gruße«, nuschelt er, dreht sich um und schließt die Wohnungstür.

Keine Ahnung, wie ich das Simon beibringen soll, der mich ungeduldig empfängt.

»Boah, Süße, viel länger hätte ich die Bande nicht ruhighalten können. Warum hat der blöde Querulant dich denn so ewig vollgequatscht? Der muss doch gesehen haben, dass du keine Zeit hast. Na ja, der interessiert sich ohnehin nur für sich und seine unterdrückte Frau. Du bist wirklich zu gut für diese Welt, mein Schatz. Jetzt komm.«

Männer.

2

Simon

»Letzter Tag, letzter Tag, letzter Tag«, singen Tilda und Luis abwechselnd am Frühstückstisch.

Amy und Jimbo jaulen passend zu den schiefen Tönen, die unsere Kinder von sich geben. Eins steht fest: Bei den Regensburgern Domspatzen können wir Luis unter keinen Umständen anmelden. Tilda hat zwar etwas mehr Talent – eine zweite Rihanna wird sie jedoch wahrscheinlich auch nicht.

Ich sehe Vicky an, und sie zwinkert mir zu. Diese stumme Verständigung gehört zum Repertoire unserer Liebessprache, vor allem, wenn die Kinder anwesend sind. Vielleicht klingt es komisch, aber sobald mir Vicky liebevoll zuzwinkert, bekomme ich ein warmes Gefühl im Bauch. Außerdem kriegen die beiden Kids das meist nicht mit. Nenne ich Vicky hingegen ›Baby‹ oder ›Süße‹, schneidet Tilda gern eine Fratze, während Luis Würgegeräusche von sich gibt.

»Ist heute irgendetwas Besonderes?«, fragt Vicky mich.

»Lass mich überlegen«, erwidere ich. »An einem Mittwoch kann ja eigentlich nichts Großartiges passieren.«

»Wieso hat Mami so viel gebacken«, sagt Luis und klingt dabei total altklug, »wenn heute alles furzstinkignormal ist?«

Tilda prustet sofort los. Ich habe sie schon mehrfach gebeten, Luis nicht in dieser Wortwahl zu bestärken, doch anscheinend kommt sie nicht dagegen an. Sie hält ihn einfach für den lustigsten Jungen der Welt.

Vicky verzichtet diesmal auf eine Ermahnung. »Ich hatte einfach Lust dazu.«

Tatsächlich stehen in ihrer Küche verschiedene Cupcakes, eine Erdbeertorte und Waffeln.

»Mami, veräpfel mich nicht«, beschwert sich Luis.

»Das würde ich mir nie erlauben.« Theatralisch legt sie sich drei Finger der rechten Hand aufs Herz. »Schließlich bin ich deine Mutter.«

»Und Mütter verbirnen ihre Kinder höchstens«, füge ich hinzu.

Nun sieht Luis mich kritisch an, sagt aber keinen Ton. Offensichtlich überlegt er, was ich damit gemeint haben könnte.

»Heute ist unser letzter Kindergartentag«, erinnert uns Tilda. »Habt ihr das echt vergessen?«

Ich schlage mir gegen die Stirn. »Wie konnte ich bloß? Natürlich!«

Obwohl die Einschulung erst nächste Woche Donnerstag ist, haben wir gemeinsam beschlossen, den Kindern ein paar Ferientage zu gönnen, um Ausflüge mit ihnen und den Hunden zu unternehmen, ehe der sogenannte Ernst des Lebens anfängt. Vicky ist wegen des bevorstehenden Großereignisses extrem besorgt – immer wieder äußert sie Bedenken, ob Luis mit seiner unruhigen Art überhaupt stundenlang stillsitzen kann. Ich hingegen bin ziemlich optimistisch, dass sich die beiden Kleinen in der Schule gegenseitig helfen werden und Vicky zu schwarzsieht. Moderne Grundschullehrerinnen werden ja wohl wissen, wie man einen lebhaften Jungen bändigt!

»Oh, das ist jetzt ein Problem«, sagt Doro – Tildas und Luis’ Erzieherin –, als wir eine Dreiviertelstunde später zu viert den Gruppenraum betreten. Skeptisch betrachtet sie die zwei Tabletts, die wir hereintragen.

»Das ist kein Problem, sondern Kuchen«, erwidere ich leicht gereizt.

»Und Waffeln«, ergänzt Tilda.

»Und Pupskeks«, gluckst Luis.

»Cupcakes«, korrigiert Vicky ihn.

Wie so oft in den letzten Monaten habe ich den Eindruck, dass Doro mir und Vicky das Leben absichtlich schwer macht. Zwar leiden die Kinder nicht darunter, aber ständig legt sie uns Erwachsenen Steine in den Weg, seit wir während des Kitastreiks im vergangenen Jahr aneinandergeraten sind.

»Haben Sie denn nicht unseren Zettel gelesen?«

»Wir haben keine Benachrichtigung bekommen«, entgegne ich.

Doro guckt Luis scharf an. »Hast du deiner Mutter das Schreiben nicht gegeben?«

Er zieht die Unterlippe über die Oberlippe, scheint kurz nachzudenken und zuckt dann mit den Schultern. »Ich kann mich an keines Zettels erinnern«, murmelt er abwesend.

»An keinen Zettel«, verbessert ihn seine Mutter.

»Was stand überhaupt da drauf?«, frage ich.

»Ab sofort darf von den Eltern nichts Selbstgebackenes mehr mitgebracht werden.« Beinahe angewidert mustert sie die Tabletts, als wollten wir eine potenziell tödliche Biowaffe einschmuggeln. »Das sieht ziemlich selbstgebacken aus.«

»Was ist denn der Zweck dieser Vorschrift?«, erkundigt sich Vicky.

»Sie wissen doch, wie das heutzutage ist. Man muss extrem vorsichtig sein. Das eine Kind verträgt keine Nüsse, das andere leidet unter Lactoseintoleranz. Nur bei industriell verpackten Lebensmitteln sind die Zutaten penibel aufgeführt.«

»Dafür ist dieser Industriekram total ungesund«, regt sich Vicky auf.

»Das ist Ihre Meinung«, erwidert Doro abweisend.

»Wie oft habe ich schon für irgendwelche Feste oder sonstige Anlässe gebacken? Hat jemals ein Kind etwas nicht vertragen?«

»Einmal ist immer das erste Mal.«

Mir wird die arrogante Art der Erzieherin zu bunt. »Warum habe ich den Zettel nicht bekommen? Tilda hätte ihn mir garantiert gegeben.«

»Sie, äh, was … Sie haben noch nie gebacken, ich meine, für uns«, stammelt Doro.

»Und deshalb geben Sie ihr den Zettel erst gar nicht mit? Ich fühle mich als alleinerziehender Vater diskriminiert. Am besten, wir klären das mit Ihrer Chefin.« Ich wende mich wütend ab.

»Hören Sie«, appelliert Vicky unterdessen an Doros Vernunft. »Die beiden sind heute quasi den letzten Tag hier. Und die anderen Eltern müssen davon doch gar nichts mitbekommen. Zur großen Abschlussfeier nächste Woche halten wir uns an die Regel. Versprochen.«

Ich habe mittlerweile mit dem Tablett in der Hand fast die Tür erreicht.

»Okay, meinetwegen«, seufzt die Erzieherin. »Stellen Sie den Kuchen auf den Tisch da vorne.«

Nun drehe ich mich wieder um. »Geht doch«, sage ich und marschiere an ihr vorbei, um den Erdbeerkuchen abzustellen. Vicky folgt meinem Beispiel. Dann wünschen wir unserem Nachwuchs einen tollen letzten Kindergartentag.

Während Vicky ins Büro fährt, mache ich mich auf den Weg nach Hause. Als freier Architekt habe ich den Vorteil, einen großen Teil meiner Arbeit im Homeoffice erledigen zu können. Deswegen bin ich auch meistens derjenige, der die vormittägliche Gassirunde mit Amy und Jimbo übernimmt. Bis die Hunde unruhig werden und hinauswollen, bleibt mir allerdings noch etwas Zeit, die ich nutzen werde, um bei den Nachbarn Geld einzusammeln. Vicky hat mich überzeugt, dass die Hausgemeinschaft für das Begräbnis von Frau Schulze einen Kranz kaufen sollte. Ich habe mich breitschlagen lassen, die Kohle zu besorgen, meine Süße wird den Kranz in einem Blumengeschäft bestellen. Da Irmtraud am Montagvormittag unter die Erde kommt, muss ich allmählich tätig werden. Viel Arbeit wird das zum Glück nicht, denn seit Uta und Kai ausgezogen sind, wohnen aktuell neben Herrn Schulze und uns nur Gloria Höfer und die vietnamesische Familie Nguyen im Haus.

»Was soll das denn?« Als ich mich unserem Haus nähere, sehe ich, dass ein protziger SUV meinen Parkplatz blockiert. Am Kofferraum macht sich gerade ein Mann zu schaffen, er hebt einen Karton heraus.

Ein neuer Nachbar?

Ich stelle meinen Wagen auf Vickys Platz ab, steige aus und mustere ihn. Er ist ein paar Zentimeter größer als ich, schlank und hat einen glatt rasierten Schädel. Das Gesicht zieren eine schwarze Designerbrille und ein stoppeliger Bart. Seine Kleidung ist unauffällig: Jeans und dunkelblaues T-Shirt.

»Hi«, begrüße ich ihn freundlich. Den Fauxpas, dass er auf dem falschen Parkplatz steht, werde ich großzügig übergehen.

»Hallo«, erwidert er lächelnd.

Mit offener Körperhaltung streckt er mir die Hand entgegen, die ich direkt schüttle. Sein Händedruck ist übertrieben fest, doch natürlich erwidere ich ihn genauso stark. Ehrensache!

»Ziehen Sie hier ein?«

»Clever kombiniert. Ich bin Pascal. Pascal Weinbusch.«

»Simon Deerberg. Dann wohnen Sie demnächst uns gegenüber.«

»Der Vermieter war sich nicht sicher, welcher Stellplatz zu der Wohnung gehört. Dieser?«

»Nein. Die Nummer drei. Aber Sie müssen nicht sofort umparken. Meine Lebensgefährtin kommt eh erst am Nachmittag wieder.«

»Wunderbar. Bis dahin bin ich längst weg. Richtig einziehen werde ich am Wochenende.«

Er holt eine Tasche aus dem Kofferraum, die er ebenfalls abstellt.

»Soll ich helfen?«, frage ich.

»Das wäre großartig. Vielleicht nehmen Sie das Werkzeug und die Stehlampe. Vorausgesetzt, Ihnen ist das nicht zu schwer.«

Wirke ich etwa so schwächlich? Okay, seit ich mit Vicky zusammen bin, habe ich ein bisschen zugelegt; trotzdem sollte ihm eigentlich auffallen, wie trainiert ich bin. Schließlich verbrenne ich allein bei den täglichen Hunderunden unzählige Kalorien. Anscheinend reicht das nicht aus, um die Folgen von Vickys Backkünsten auszugleichen.

»Kein Problem.«

Nachdem er seinen Wagen verschlossen hat, gehen wir gemeinsam Richtung Hauseingang.

»Ziehen Sie mit einer Partnerin ein?«, erkundige ich mich neugierig, denn ich ahne, was Vicky hören will, wenn ich ihr von der Begegnung erzähle.

»Ich habe mich gerade getrennt. Deswegen der Umzug.«

»Das tut mir leid.«

»Muss es nicht. Die Trennung ging von mir aus. Und Sie? Traute Zweisamkeit?«

»Zwei plus zwei plus zwei plus zwei«, erkläre ich.

Verständnislos sieht er mich an.

»Zwei Erwachsene, zwei Kinder, zwei Hunde, zwei Wohnungen. Patchwork«, löse ich schmunzelnd das Zahlenrätsel.

»Klingt stressig.« An der Haustür angekommen, sucht er seinen Schlüssel heraus.

»Nein. Ganz im Gegenteil. Ich finde es wunderbar.«

»Das mit den beiden Wohnungen verstehe ich allerdings nicht.«

»Ich wohne in der ersten Etage, Ihnen gegenüber. Meine Frau im Dachgeschoss. Wir haben die Wohnungen im Maisonettestil umgebaut.«

»Und falls Sie sich mal trennen?«, fragt er skeptisch.

»Das wird nicht passieren.«

»Sie sind entweder schrecklich naiv oder total romantisch. Aber ich drücke Ihnen die Daumen, Kumpel.«

Lachend schlägt er mir auf die Schulter, wodurch mir fast die Lampe entgleitet.

Ein paar Minuten später betrachte ich missmutig die an der Schlafzimmerdecke angebrachte Klimmzugstange, über die Vicky einige Kinderkleidungsstücke zum Trocknen gehängt hat. Kein Wunder, dass mein Sportprogramm in letzter Zeit zu kurz kommt, wenn es dermaßen torpediert wird.

Ob ich wie früher dreißig Liegestütze, ebenso viele Sit-ups und mindestens fünfzehn Klimmzüge schaffe? Ich beschließe, mit den Liegestützen anzufangen. Während ich mich auf den Boden lege, kommen die Hunde angelaufen. Jimbo ist ein Bordercollie-Mischlingsrüde, Amy ein Jack-Russell-Terrier. Beide waren Tierheimbewohner gewesen, die nun endlich ein schönes Leben haben. Neugierig schauen sie mich an und hoffen wahrscheinlich, dass ich mit ihnen spiele oder irgendein Leckerli hervorzaubere. Stattdessen ignoriere ich sie und begebe mich in die Ausgangsposition für einen perfekt ausgeführten Liegestütz.

»Eins«, sage ich selbstsicher.

Bevor ich mich in Vicky verliebt habe, habe ich jeden Tag trainiert. Mein Körper war wie eine gut geölte Maschine und wird sich nun bestimmt wieder schnell an der Belastung erfreuen.

Doch nachdem ich »sieben« herausgepresst habe, spüre ich keinerlei Freudenfunken. Dafür zittern meine Arme stärker als früher. Vielleicht sollte ich mir zu Beginn lediglich zwanzig Wiederholungen vornehmen. Man kann ja bekanntlich beim Wiedereinstieg viel falsch machen, wenn man es übertreibt.

Jimbo läuft um mich herum und schaut mich mit seinen intelligenten Augen an.

»Du hast Mundgeruch«, stöhne ich. »Acht.«

Seine Zunge fährt über mein Gesicht, wodurch ich völlig aus dem Rhythmus komme und zusammensacke.

»Jimbo, aus!«, schimpfe ich.

Erschöpft bleibe ich liegen, was Amy allerdings als Aufforderung versteht, mir die Pfoten auf den Rücken zu stellen.

»Ihr nervt!«, entfährt es mir kichernd.

Nach ein paar Sekunden Verschnaufpause drehe ich mich um, strecke die Beine unters Bett und verschränke die Füße. Kaum habe ich den ersten Sit-up schwungvoll hinter mich gebracht, fahren die beiden Hunde schweres Geschütz auf. Ihre Pfoten landen auf meinem Bauch, gleichzeitig versuchen sie, mich abzuschlecken. Lachend sinke ich zurück und raufe mit ihnen, bis es an der Wohnungstür klingelt.

Zunächst vermute ich, dass der neue Nachbar etwas ausleihen möchte, aber zu meiner Überraschung steht Gloria Höfer aus dem Dachgeschoss im Flur. Die alte, esoterisch angehauchte Frau, der ich zu verdanken habe, dass Vicky und ich trotz gewisser Schwierigkeiten zusammengekommen sind, sieht mich beunruhigt an. Wie fast immer trägt sie ihre grauen Haare zu einem Dutt hochgesteckt, aus dem sich einige Strähnen gelöst haben. Ihre ständig geschminkten Lippen schimmern heute in einem dunkelvioletten Ton, der durch silberne Farbsprenkel aufgehellt wird.

»Du musst schnell zu mir hochkommen«, sagt sie atemlos.

»Das wollte ich gleich eh machen. Vicky hatte die Idee, für die Beerdigung einen Kranz zu besorgen. Beteiligst du dich? Dann würde ich mein Sportprogramm absolvieren und …«

»Das kann nicht warten!«, unterbricht sie mich.

»Was?«, frage ich verständnislos. Sie wird ja wahrscheinlich nicht den Blumenkranz meinen.

»Ich muss dir sofort etwas zeigen. Steck deinen Schlüssel ein und komm mit.«

Normalerweise erlaube ich niemandem, so mit mir umzuspringen. Doch Gloria hat mich schon einmal gezwungen, in ihre Wohnung mitzukommen – wovon ich am Ende sehr profitiert habe. Deswegen folge ich ihr ohne größeres Murren.

Ihre Tür ist nur angelehnt, und als ich die Wohnung betrete, muss ich sofort husten.

»Du hast wieder Räucherstäbchen angezündet«, sage ich vorwurfsvoll. »Du weißt, wie schlecht die für meine Atemwege sind. Das riecht man immer im ganzen Hausflur.«

»Ruru wollte das so«, entgegnet sie.

»Ruru? Dein ausgestopfter Vogel?«

»Sie ist viel mehr als das.«

Gloria führt mich ins Wohnzimmer, das jedoch nicht sonderlich wohnlich wirkt. Was vor allem an der riesigen ausgestopften Eule liegt, die mitten im Raum auf einem hohen, runden Tisch steht. Ihre grauen Federn sind mit einer dicken Staubschicht bedeckt, und sie sieht mich mit ihren roten Glasaugen an.

»Wann hast du eigentlich das letzte Mal gelüftet?«, frage ich hustend, während ich mich in dem düsteren Zimmer umsehe. Seit meinem letzten Besuch hat sich nichts geändert. Auf den grünen Polstermöbeln liegt allerlei Zeug herum, und vor den Fenstern baumeln massive Kreuze an Wollfäden und dünnen Seilen.

»Schau dir das an!« Gloria deutet auf einen Sessel. Auf den Lehnen entdecke ich Tarotkarten.

Mit geheucheltem Interesse starre ich ein paar Sekunden darauf. »Interessant«, murmle ich schließlich.

»Das findest du interessant? Ich nenne das schrecklich!«

Tatsächlich klingt sie ziemlich besorgt.

»Was siehst du denn darin?«

»Der Gemeinschaft stehen Schicksalsschläge bevor«, warnt sie mich.

»Hmm«, brumme ich. »Das ist doch schon passiert. Immerhin ist die arme Frau Schulze gestorben.«

»Richtig«, sagt Gloria und nimmt eine der Karten auf. »Aber guck hier. Das Rad des Schicksals in Verbindung mit dem Teufel. Mein Lieber, ich fürchte, mit Irmtrauds Tod haben die Veränderungen zum Schlechten erst angefangen.«

»Aha«, erwidere ich nicht besonders beeindruckt. »Übrigens, was würdest du zu dem Kranz beisteuern? Findest du zwanzig Euro okay?«

3

Vicky

Keine Ahnung, warum ich so schnell Muttergefühle für Menschen entwickle, mit denen ich nicht verwandt bin. Irgendetwas muss da bei mir schiefgelaufen sein. Vielleicht habe ich zu wenig Liebe von meinen Eltern bekommen oder einen sonstigen Dachschaden erlitten. Anders kann ich mir nicht erklären, warum jeder, der auch nur ansatzweise unter meiner Obhut steht, von mir begluckt wird. Das war schon früher so, aber seit ich Mutter bin, ist es noch viel schlimmer geworden. Einmal schoss mir sogar die Milch ein, als ich das Neugeborene einer Bekannten im Kinderwagen bewunderte – dabei war Luis bereits seit zwei Jahren abgestillt und der Säugling noch nicht mal hübsch. Die übertriebene Fürsorge beschränkt sich nicht nur auf Babys und Kleinkinder. Man muss lediglich jünger sein als ich, das ist alles.

»Larissa gefällt mir nicht«, flüstere ich Simon zu, der sich in ein weißes Oberhemd zwängt, das ihm am Bauch offenbar zu eng ist. »Seit sie mit diesen komischen Typen aus der Hippieszene rumhängt, hat sie sich verändert. Hätte sie die bloß nicht auf dem Stadtfest kennengelernt.«

Unsere Babysitterin spielt im Wohnzimmer mit den Kindern, während wir die Klamotten für Frau Schulzes letzten Gang raussuchen. Ich sitze auf dem Bett und ziehe mir eine schwarze Strumpfhose an.

»Du machst dir viel zu viele Gedanken um Larissa. Sie ist ein junges Mädchen, das sich eben ausprobiert. Außerdem hat sie Eltern, die eingreifen würden, wenn es nötig wäre. Oder hat sie irgendwas mit den Kindern falsch gemacht? Äh, wieso trägst du eigentlich keine halterlosen Strümpfe?«

Simons Gedankensprüngen zu folgen, ist eine Kunst für sich. Ich kontere mit einer Gegenfrage.

»Wieso kaufst du dir nicht ein Hemd in deiner Größe?« Er schubst mich rücklings auf die Matratze und hält mich an den Handgelenken fest. »Hey, loslassen, heute ist ein trauriger Tag, an dem wir ausnahmsweise nicht an Sex denken sollten! Und außerdem sind die Sorgen um unsere Babysitterin nicht unbegründet. Mit den Kleinen ist sie klasse wie eh und je, aber sie betrinkt sich inzwischen fast jedes Wochenende mit ihren neuen Freunden. Meinst du, ich kann sie darauf ansprechen? Oder wäre das übergriffig?«

Er tut zwar so, als hörte er mir zu, doch tatsächlich küsst er meinen Hals. Seufzend entspanne ich mich und genieße das spontane Verwöhnprogramm.

»Baby, glaubst du, wir könnten kurz …?«

»Auf gar keinen Fall. Wir müssen gleich los, und es könnte jeden Moment jemand reinkommen. Los, runter von mir, du Lustmolch. Ach, und übrigens sind halterlose Strümpfe unbequem.«

Schmollend zieht er mich hoch und gibt mir einen Klaps auf den Hintern. »Damals in der Teeküche hattest du welche an, ich erinnere mich genau.«

Oh ja, an unsere Anfänge erinnere ich mich ebenfalls genau. Aber nicht nur er lässt sich seitdem ein klitzekleines bisschen gehen, sondern auch ich.

»Du kultivierst deine Wampe, ich trage bequeme Strumpfhosen. Das ist nur fair.«

»Hast du Wampe gesagt, du Zimtzicke? Du hast das Hemd zu heiß gewaschen, nur darum spannt es. Ich habe überhaupt nicht zugenommen. Ich bin bestens in Form.«

Kichernd zwicke ich ihn in den minimalen Speckansatz am Bauch. Ich finde, ihm stehen die drei zusätzlichen Kilos prima, aber zu oft darf man das einem Mann nicht sagen, sonst bekommt er Höhenflüge.

Von unten höre ich die Kinder juchzen. Wenn Larissa bei ihnen ist, haben sie immer Spaß. Sie schafft es, aus normalen Dingen wie dem Knacken von Nüssen oder dem Säubern des Tuschkastens lustige Events zu machen. Ginge es nach Luis und Tilda, wäre ihre Babysitterin täglich hier; ginge es nach uns Eltern, auch. Leider können wir die zehn Euro stündlich nur begrenzt aufbringen, dennoch gönnen wir uns den Luxus mindestens einmal die Woche für Kino- und Restaurantbesuche. Oder wie heute für die Beerdigung unserer Nachbarin, für die ich mir einen ganzen Tag Urlaub nehmen musste.

Ach, wenn Larissa nur nicht auf die schiefe Bahn gerät … Seit sie im Frühjahr ihr Abitur bestanden hat, macht sie nichts. Weder hat sie sich um eine Ausbildungsstelle bemüht, noch will sie studieren. Sie scheint sich nur noch fürs Feiern und Ausschlafen in Gesellschaft höchst zweifelhafter Gestalten zu interessieren. Der Vorteil an ihrem derzeitigen Lebensstil ist die zeitliche Flexibilität. Sobald wir sie brauchen, kommt sie angerauscht. Simon ist der Meinung, mich ginge das alles nichts an, so lange die Kinder nicht darunter leiden. Ich weiß nicht so recht. Für mich ist sie fast wie eine jüngere Schwester. Okay, das ist gemogelt. Eher wie ein eigenes großes Kind.

»Du siehst aus wie mit Kacka!«, hören wir Luis jubeln. Noch bevor Simon mir diesen ganz bestimmten Dein-Sohn-Blick zuwerfen kann, stimmt Tilda begeistert ein: »Oder wie mit Pipi!«

Er wirft sein schwarzes Jackett über, ich knöpfe meine Bluse zu, und gemeinsam stürzen wir die Treppe hinunter. Unsere mahnenden Worte gehen im Gelächter und Gebell unter. Larissa versucht es ebenfalls mit Strenge, gackert jedoch selbst wie ein aufgescheuchtes Huhn.

»Ihr dürft das nicht sagen, das wisst ihr doch, hahaha, hey, das kitzelt an der Nase, Luis, nicht so fest, Tilda, hier muss auch noch was rum …«

»Stillhalten!«, befiehlt mein Sohn und kümmert sich um Larissas Gesicht.

Wir trauen unseren Augen kaum. Unsere Babysitterin sitzt mit angewinkelten Beinen auf dem Fußboden und ist von Kopf bis Fuß in Toilettenpapier eingewickelt. Kein Zentimeter ihres Körpers ist mehr zu erkennen, stattdessen überall das teure weiße Klopapier. Luis und Tilda sind damit beschäftigt, zusätzliche Lagen um sie zu schlingen. Überall im Raum fliegt das Papier herum, ein einziges Chaos.

»Herrje, seid ihr verrückt geworden?«, flucht Simon.

Larissa dreht den Kopf in unsere Richtung, kann aber nichts sehen, weil inzwischen auch ihre Augen verbunden sind. Genau wie ihr Mund.

»Huldihung«, nuschelt sie. »Hir häumn ha hieer hauf.«

»Nicht bewegen!«, ordnet Tilda an, schiebt Larissa in ihre Ursprungsposition zurück und arbeitet weiter.

»Es ist nur Klopapier«, tröstet Simon mich oder sich selbst. »Am besten, wir verschwinden und hoffen, dass es sich nur um eine Fata Morgana handelt.«

Er hat recht. Larissa wird bestimmt für Ordnung sorgen, sobald der Spuk vorbei ist. Außerdem haben die Kleinen solch einen Spaß. Sie nehmen uns überhaupt nicht wahr und haben vor Eifer rote Bäckchen.

»Tschüss!«, rufe ich und schlüpfe in unbequeme, schicke schwarze Pumps. »Es wird einige Stunden dauern, und während der Trauerfeier stellen wir die Handys auf Lautlos.«

»Hüss! Heine Horge!«, brummt die Mumie.

Simon schüttelt den Kopf, teils wegen des ohrenbetäubenden Lärms, teils wegen meiner Schuhe. Ich kann seine Gedanken lesen.

»Los, spucks’s aus«, fordere ich ihn auf, als wir rausgehen. »Dein Hinweis ist allerdings unnötig, du wirst schon sehen.«

»Süße, das letzte Mal, als du diese Schuhe anhattest, musste ich mir hinterher tagelang dein Gejammer anhören. Oh, diese Blasen an meinen Füßen tun so weh! Warum ziehst du die Dinger trotzdem wieder an? Du weißt doch, dass sie unbequem sind.«

»Natürlich weiß ich das. Aber heute ist es ganz was anderes, da wir nur ein paar Schritte gehen werden. Neulich hatte ich sie zu lange an, das war der Fehler. Es sind halt Sitzschuhe.«

»Sitzschuhe? Das ist doch ein Widerspruch in sich. Man trägt etwas an den Füßen, um zu laufen. Begreife einer die Frauen.«

Herr Schulze sitzt in der Mitte der u-förmig angeordneten Tische und führt mechanisch seine Kaffeetasse an den Mund und wieder zurück, an den Mund und wieder zurück. Dabei scheinen die Worte seines Tischnachbarn gar nicht bei ihm anzukommen, obwohl der eindringlich auf ihn einredet.

So ein Leichenschmaus ist wirklich eine seltsame Angelegenheit. Simon und ich sitzen den Nguyens und Gloria aus unserem Haus gegenüber, ansonsten kennen wir keinen Menschen. Insgesamt sind etwa dreißig Personen nach der Beisetzung mit in das Lokal gegangen. Schweigend futtern wir Butterkuchen und Schnittchen und schnappen Wortfetzen des Gesprächs links von uns auf.

»Ob das der Sohn ist?«, frage ich Simon leise. »Und daneben die Schwiegertochter?«

»Vermutlich. Komisch, ich wusste gar nichts von seiner Existenz. Hast du ihn jemals bei den Schulzes gesehen? Klar, das muss der Sohn sein. Der hat die buschigen Augenbrauen der Mutter geerbt, schau mal genau hin.«

Er hat recht. Der vielleicht vierzigjährige Mann sieht der Verstorbenen ähnlich. Sympathisch wirkt er nicht gerade, was den Verdacht erhärtet, dass Herr Schulze sein Vater ist.

»Oha, es riecht nach Ärger …«

Nicht nur wir bekommen mit, wie Schulze junior die Stimme hebt. Auch die anderen Gäste starren entweder neugierig zu den beiden hinüber oder tun so, als wäre ihnen der Wortschwall egal.

»… Mutti hätte das auch gewollt, das weißt du ganz genau. Du bist ohne sie doch komplett aufgeschmissen. Wir können dir aber unmöglich helfen, wir müssen schließlich arbeiten gehen. Ihr habt Silke als Schwiegertochter nie akzeptiert, das rächt sich jetzt. Nun bist du alt und kannst nicht für dich allein sorgen. Jemand aus der Verwandtschaft, der sich um dich kümmert: Fehlanzeige. Das hast du dir selbst zuzuschreiben. Ist doch so!«

Herr Schulze ist nicht mehr der Alte. Noch vor wenigen Wochen hat er jeden zusammengestaucht, der nur in seine Nähe kam, hat auf falsches Parken oder Einhaltung der Mittagsruhe hingewiesen und seine Mitmenschen an überflüssigen Lebensweisheiten teilhaben lassen. Jetzt ist er ein Häufchen Elend, das bei den Worten des Sohnes innerlich zusammenzuzucken scheint. Er tut mir leid.

»Wehe, du hast Mitleid«, errät Simon meine Gedanken und legt den Arm um mich. Ich liebe es, wenn er das tut. Man sollte glauben, ich würde mich langsam daran gewöhnen, aber dem ist nicht so. Jede seiner Berührungen macht mich glücklich und stolz. Ich gehöre zu ihm. »Der Typ ist das Produkt seiner missratenen Erziehung, Vicky. Klar, man lästert nicht über Tote – schon gar nicht auf deren Beerdigung. Doch die Schulzes sind beziehungsweise waren beide fürchterlich.«

»Ich weiß«, pflichte ich ihm schuldbewusst bei, bedauere den armen alten Mann aber trotzdem weiter. Sein Spross bearbeitet ihn in einer Tour.

»Es gibt eine passende Residenz, gar nicht weit von hier. Da kriegst du dreimal täglich Essen, vielleicht sogar viermal, wenn man den Kuchen am Nachmittag mitzählt. Wir könnten uns das am Wochenende mal gemeinsam anschauen. Dann siehst du, dass dir niemand etwas Böses will.«

»Du meinst ein richtiges Altersheim?«, fragt Herr Schulze, als wäre er gerade erst aufgewacht. Während der Trauerzeremonie hat er ebenfalls seltsam abwesend gewirkt, als stände er unter dem Einfluss von Beruhigungsmitteln.

»Kein Altersheim. Das ist eine Seniorenwohnanlage.«

»Unmöglich, Bernhard, ich bleibe in unserer Wohnung. Das bin ich Irmtraud schuldig. Ich kann nicht einfach sang- und klanglos verschwinden.«

»Mutti ist auch sang- und klanglos verschwunden«, erklärt der unsensible Fritze.

Was für ein Blödmann!

»Begreif mal langsam, dass sie tot ist. Du musst an deine Gesundheit und an deine Zukunft denken.«

Schulze senior donnert die Kaffeetasse auf den Tisch und schaut seinem Sohn ins Gesicht. Endlich ist er wieder da, unser alter Kotzbrocken. Frau Nguyen und ich grinsen, ich strecke den Daumen in die Höhe. »Hör gut zu, mein Kind. Unser Zuhause steckt voller Erinnerungen an die glücklichste Zeit meines Lebens. Ich werde mich unter keinen Umständen davon trennen, um in ein Altersheim oder meinetwegen eine Seniorenwohnanlage zu gehen. Ist das klar?«

Simon beugt sich zu mir und raunt in mein Ohr: »In der DDR nannte man das Feierabendheim. Klingt noch eindrucksvoller. Mann, was für ein Arschloch. Wollen wir uns verdrücken? Ich esse sonst den ganzen Butterkuchen auf.«

»Ja, lass uns abhauen. Ich kann es kaum länger ertragen, wie Herr Schulze auf der Beerdigung seiner eigenen Frau ins Heim abgeschoben werden soll. Schlimm.«

Wir verabschieden uns diskret und verlassen das Lokal.