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»Ein Zufall? Das Leben kennt keine Zufälle.«

In der Souterrainwohnung der Pensionseltern sehnt sich Esau Matt die Woche über nach seinem Niederlausitzer Heidedorf. Der ewige Familienstreit um den Laden kommt in seinen Träumen nicht vor. Nun gehört Esau nicht richtig zu Bossdom und nicht richtig zu Grodk - bis das Motorrad kommt, mit dem er in die verlottertste Zeit seines Lebens hineinbraust.

Erwin Strittmatter

Der Laden

Roman

Zweiter Teil

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Meinem Bruder Heinjak

Nach Grodk bin ich mehrstenteils geworden, weil mir zu Hause das Gezänk um Geschäfte, Geld und Zinsen das Leben vergällte. Auf die hoche Jungsenschule bin ich raufgemacht, weil es geheißen hat, ich kann dort mehr lernen als bei Rumposchen in Bossdom.

Nun wohne ich bis zum Hals unter der Erde in Baltins Kellerwohnung. Die Baltins sind die Freundschaft meiner Mutter und sind die Hausmeisters-Leute von der niederen und der hochen Mädchenschule. Sie nennen sich meine Pensions-Eltern. Er heißt Juro, und sie heißt Mina. Seit ich hier bin, ist Heimweh in mir. Es macht mich ganz krumm. Ich bin seit gestern hier.

Daß ich nicht Esau Matt bin, weiß ich, aber die alte Pobloschen, die Mutter von Mina Baltin, hat beim Tabakschleißen geknurrt, ich soll ein nebenhinausgeheckter Sohn von Juro Baltin sein. Das will sich mir nicht.

Freilich weiß man nicht, was alles geschehen ist, ehe man in die Welt der sichtbaren Dinge hinein strampelte. Wenn Juro Baltin mich wirklich seitlich hinausgeheckt hat, muß er meine Mutter in der Tuchfabrik umgarnt und bezwirnt haben, als sie dort zusammen arbeiteten.

Ich beobachte Juro für und für, um zu erluchsen, ob etwas von mir in ihm ist oder umgekehrt. Juro ist ein Mann mit klassischer Frühglatze, und noch ehe die Resthaare an seinem Unterkopf anzeigen können, von welcher Farbe sie sind, läßt er sie sich abrasieren, und ich kann nicht erkennen, ob sie rot sind wie die meinen.

Als Dienstuniform trägt Juro zu einer dunkelgrauen Tuchhose eine blaue Arbeitsjacke. Aus der rechten Jackentasche lugt der Schweif eines karierten Taschentuchs, und in der linken Jackentasche führt ein Putzlappen sein verschmiertes Leben. Juro geht mit schaukelndem Gang durch die Schulräume und wischt sich Staub und Schweiß von der Glatze, aber zuweilen vertut er sich und bringt mit dem Putzlappen Schmieröl auf sein enthaartes Haupt, dann kommt er stinkend zu Tisch und wird von seiner Mina getadelt. Sie nennt ihren Mann nicht Juro, sie ist eine Deutsche, sie sagt: Aba Geo-rig!

Juro ist findig, versteht von allem ein wenig und dreht an allem ein bißchen. In der Turnhalle gastiert eine Wandertierschau. Der Fliegende Hund wird vorgestellt, pteropus vampyrus, auch Kalong genannt, liebe Kinder. Die Erklärung, die er sich jeden Tag anhören muß, langweilt den Fliegenden Hund, er reißt aus, er macht sich selbständig. Juro muß heran, holt einen Regenschirm, spannt ihn auf und täuscht dem Flughund eine kleine Finsternis vor. Der Vampir fliegt in die Finsternis.

Woher weiß Baltin, daß man einem Flughund mit einem aufgespannten Regenschirm kommen muß?

Wir hatten die Biester in Deutsch-Südwest als Wachhunde, sagt Juro.

Der Kalong in Deutsch-Südwest? Gehört er nicht nach Indien? Freilich, für Leute, die alles genau nehmen.

Juros Lebenserfahrungen sind zwitterig, inländisch und ausländisch; die inländischen sind überprüfbar, die ausländischen sind Glaubensangelegenheiten.

Mit Deutsch-Südwest ist, wie ihr wißt, eine der Kolonien in Afrika gemeint, die sich die braven Deutschen einst aneigneten. Nach dem Weltkrieg Numero eins verloren sie die Kolonien bekanntlich, weil ihnen die Heimat einen Dolchstoß versetzte. Deutsch-Südwest, behauptet Juro, wäre zu retten gewesen, wenn sich die Deutschen in Versailles nich so tumm angestellt hätten.

Juro war Hottentottenaufseher beim Bau der Eisenbahnlinie nach Windhuk. Jetzt ist er Sozialdemokrat, und Deutsch-Südwest liegt als ein hehrer Lebensabschnitt in seinen Erinnerungen. Deshalb empfindet er sein Nachkriegsleben in Grodk zuweilen als fad und versucht, ein wenig Unordnung hineinzubringen. Er tauscht an einem Regentag den Schirm des Lyzeumsdirektors gegen den vom Rektor der Mädchen-Volksschule aus. Die beiden Schul-Hauptleute sind einander nicht gewogen. Sie begegnen sich mit den vertauschten Schirmen auf der Straße und verdächtigen einander, und einer erträgt das Vergehen des anderen mit knirschender Vornehmheit.

Beim nächsten Regen tauscht Juro die Schirme zurück, und die beiden Schul-Öbersten schütteln, wenn sie sich treffen, mit stummer Mißbilligung die Köpfe, wie heutigentags die Autofahrer, wenn einer vom anderen meint, er habe gegen die Straßenverkehrsordnung verstoßen.

Um Juros Nase spielt sich eine Art niederer Gehirntätigkeit ab. Es zuckt dort zu beiden Seiten, wenn er mit jemand spricht, dem er einen Schabernack zu spielen gedenkt.

Er bestreicht die Reckstange in der Turnhalle mit Ofenruß. Fräulein Westerwald, die stramme Turnlehrerin, kommt zebriert in die Kellerwohnung und bittet Juro um Hilfe. Juro reinigt beflissen und grinsend die Reckstange mit Sandpapier und kassiert Dank für seine Alfanzerei.

Juro füllt mein Tintenfaß mit Wasser. Ich hole mir ein Tintenfaß aus einem Klassenraum des Lyzeums. Juro muß sich bekennen. Er bekennt, daß ich nicht so dämlich bin, wie ich aussehe.

Man versteht, daß die Baltins afrikanisch eingerichtet sind, und daß Tier-Reste, deren Heimat Afrika sein soll, die Wohnung verunzieren.

In der Flur-Garderobe hängen die Kleidungsstücke an Gehörnen von Springböcken, der Schirm-Ständer ist aus gebleichten Kamelknochen; die Haken des Handtuchhalters sind präparierte Krabbenscheren; in der Wohnstube ragen Spießgehörne von Säbel-Antilopen in die Kellerluft; an der Gaslampe über dem Stubentisch baumeln drei ausgeblasene Straußen-Eier; auf der Kommode liegen die gefleckten Gehäuse von Muscheln und die Panzer von Wollhandkrabben.

Mina Baltin weiß nicht, wer ihr Vater war. Sie fragt ihre Mutter, die alte Pobloschen. Die alte Pobloschen sagt: Halts Maul, dein Vater war ein feiner Mann!

Mina fühlt sich verpflichtet, eine feine Frau zu sein. Sie läßt sich Frau Hausmeisterin titulieren, und wer Frau Schuldiener zu ihr sagt, ist ein Prolet. Wenn es Gerechtigkeit gäbte, sagt sie, müßten wir Oberhausmeisters sein, weil wir zwei Institute, die Mädchen-Volksschule und die hoche Mädchenschule, das Lyzeum, bemeistern.

Mina weist mir in der Wohnung den Platz an, an dem ich meine Schularbeiten machen soll. Sie unterweist mich auch anderweitig, zum Beispiel, daß ich nicht die Berliner Morgenpost, sondern Klosettpapier nehmen soll. Ich als deine Pensionsmutter, sagt sie, könnte, müßte, dürfte, sollte, hätte … Zwischen ihr und mir ist Fremde, weil sie mich nur unter der Bedingung in Pension nahm, daß meine Hemdsärmel nach dem Ärmelmuster der Rektorssöhne gekürzt werden, daß von meinen Hosenbeinen je ein Stück abgeschnitten wird, daß ich nicht mehr zwei rechts, zwei links gestrickte Wollstrümpfe tragen darf, daß ich meinen Pony, den Haarklecks über der Stirn, zu einer Frisur mit Scheitel anwachsen lasse, daß ich mit Bitte und Danke rischer bei der Hand bin.

Meine Schularbeiten soll ich am Tisch in der Wohnstube machen, aber ich soll nicht Wohnstube, sondern Wohnzimmer sagen, sagt sie.

Auf dem Wohnstubentisch liegt eine dicke Plüschdecke, und auf der Plüschdecke liegt quer von der linken unteren zur rechten oberen Tisch-Ecke eine Häkeldecke.

Es heißt diagonal und Tischläufer, belehrt mich die Baltin.

Ja bitte, sage ich eingeschüchtert.

Läufer und Decke müssen so liegenbleiben, wie sie liegen, sagt die Baltin, weil Lehrer und feine Leute hier aus- und eingehen, die nicht vom Anblick eines nackten Tisches erschreckt werden dürfen. Du bist alt genung und kannst sehr wohl Obacht geben, daß beim Schreiben nischt auf die Decke kommt.

Ja bitte, sage ich.

Ja danke, muß es heißen, sagt sie.

Ja danke, sage ich.

Mina Baltin hat nur eine Tochter. Einen Jungen hat sie nicht in die Welt gedrückt, deshalb will sie mich so haben, wie ihr Junge hätte sein sollen. Sie will mich umarbeiten. Auch auf der hochen Schule werde ich umgearbeitet. Sie sagen, ich wäre jetzt ein Sextaner.

Mina Baltin geht mit mir eine Schülermütze kaufen. Sextanermützen sind dunkelgrün und haben überm unteren Rand eine goldene Borte.

Ich wollte mir die Schülermütze selbsttätig kaufen gehen, aber Mina Baltin wollte mit. Du hast so schont abstehende Ohren, sagt sie, und wenn die Mütze, falls du sie zu groß käufst, noch auf diesen ruht, werden sie so seitlich werden wie Ziegen-Ohren.

Wir gehen zu Mützenhändler Rau, und ich gewahre, daß Mina nicht meiner abstehenden Ohren wegen mit zum Mützenkauf ging. Sie will sich aufspielen. Es handelt sich bei diesem Jungen um meinen Pensionär, sagt sie zum Mützenhändler, und ich als seine Pensionsmutter möchte, daß er in einer anständigen Verfassung herumlöft. Vor fremden Leuten drechselt Mina Baltin ungeheuer an dem, was sie sagt, aber zuweilen entrutschen ihr Worte ins Grodkische, und ihre Sätze sind wie schöne Pferde mit abfallenden Kruppen.

Der Mützenhändler tut uns eine Mütze her. Die ist mir zu dunkelgrün, sagt die Baltin, ich hätte gern eine olivere.

Sehr wohl, gnädige Frau, eine oliv-farbene, sagt Mützenhändler Rau. Er weiß, die Sextanermützen der ganzen Sendung gleichen einander in der Farbe, nur die Kunden gleichen einander nicht. Er weiß auch, daß er die Frau vom Schuldiener Baltin vor sich hat, aber er tituliert sie gnädige Frau. Mina schüttelt sich vor Wohligkeit wie ein Sperlingsweibchen nach dem Hahnentritt.

Die nächste Sextanermütze ist der Baltin in der Paspelierung zu glänzig.

Jawohl, gnädige Frau. Mina Baltin scheint für Mützenhändler Rau von Beanstandung zu Beanstandung herrschaftlicher zu werden. Herrschaft und Mäkelei kommen aus einem Ei. Leute, die in Gastwirtschaften das Essen bemäkeln, es zurückschicken und wiederkommen lassen, werden von Kellnern und vom Küchenpersonal gehaßt, aber für hoche Herrschaften gehalten.

Die sechste Mütze, die mir Mützenhändler Rau über das schmutzig-rote Haar stülpt, ist Mina Baltin endlich genehm. Sie bezahlt sie aus meinem kleinen Portemonnaie. Mützengeld ist im Pensionspreis nicht inbegriffen.

Nun bist du priviligisiert, sagt Mina Baltin und beklopft mein Mützenschild. Ich kenne das Wort nicht, aber etwas wirds schon bedeuten. Trotzdem weiß ich nicht, ob ich es tue. Die hoche Jungsen-Schule hieß in Grodk früher Realschule, und die Jungsen, die auf sie raufgehen, werden bis heute Real-Ochsen genannt. Eine Schülermütze zeigt an, daß der Vater von dem, der sie trägt, einen Sack voll Geld in der Speisekammer hat. Das ist im Falle meines Vaters eingelogen. Ich soll mich nach der Mütze verhalten, sagt Mina Baltin. In Bossdom lassen sich nur der Gendarm und der Postbote von ihren Mützen ihr Verhalten vorschreiben. Soll ich so steif umhergehen wie diese?

Der dritte Mensch, mit dem ich jetzt in einer Familie zusammen leben muß, ist, wie ich erwähnte, die alte Pobloschen. Ich soll Großmutter zu ihr sagen. Das will sich mir nicht. Den Titel Großmutter darf nach meiner Meinung nur die wirkliche Nachzucht einer alten Frau benutzen. Ich bin keine Nachzucht von der alten Pobloschen.

Die alte Pobloschen wechselt dreimal täglich ihre Frisur, das heißt, ihr Haar tut es von selber. Morgens ist es zu einem Knoten aufgesteckt, um Mittag sind einige Haarsträhnen aus dem Knoten herausgerutscht und bilden eine Windstoßfrisur, und am Abend sieht die Pobloschen aus wie ein Meerweib. Sie sitzt in einem mit Kissen gepolsterten Rohrstuhl in der Küchen-Ecke rechts vom Fenster und leidet an tauben Füßen und aufgerissenen Augen. Hinter den aufgerissenen Augen steht Angst oder Wut, Über-Angst oder Über-Wut. Sie arbeitet wochentags und sonntags. Ihre Arbeit wird Heim-Arbeit genannt. Sie zerreißt getrocknete Tabakblätter, trennt das braune Blattheu vom Stengel. Durch die Baltinsche Küche ziehen Tabakblätter aus fernen Ländern, auf ihnen funkelt feiner Sand, und den ganzen Tag durchzittert ein leises Trenngeräusch die Küchenluft.

Der Keller der Mädchenschule ist so groß wie ihr Grundriß. Wer will, kann sie sich ansehen gehen; sie steht noch. Der größte Teil der Stadt wurde im letzten Krieg von englischen Tieffliegern zertrümmert. Die Engländer hätten es mit ihren Tieffliegern vor allem auf ihre lästigen Konkurrenten, die Grodker Tuchfabrikanten, abgesehen, heißt es. Man soll da nicht so sicher sein; wenn die Deutschen in einem Krieg, den sie anzündelten, Dresche kriegen, lassen sie Legenden aufblühen.

Der große Schulkeller ist durch Wände in Abschnitte unterteilt. Ich rede von dem Abschnitt Hausmeisterwohnung: Zwei Stuben, Küche und das Heizerstübchen, in dem die alte Pobloschen wohnt.

In den Korridor hinter der Hausmeisterwohnung fällt nie ein Strählchen Taglicht. Alles Taglicht wird von den Stuben verbraucht. Im Korridor brennt Tag und Nacht eine verdorrte Gaslampe; er ist eine Zwischenstation; es halten sich dort Dinge auf, die weiterwandern, in die Schule hinein oder zur Schule hinaus. Da steht zum Beispiel eine alte Wandtafel, die nicht ahnt, daß sie in einigen Tagen zu Kleinholz zerhackt werden wird. Da steht ein neuer Kathederstuhl, der noch nicht weiß, daß täglich mehrere Lehrer-Ürsche über ihn hinscheuern werden, und da ist ein Fahnenstiel, der auf ein schwarz-rot-goldenes Tuch wartet, das an ihm befestigt werden und wehen und politische Feierlichkeit verbreiten soll.

Da gibts in diesem Korridor auch einige fixe Dinge: Das Klingelbrett zum Beispiel. Die Klingelknöpfe sind angeordnet wie die Knöpfe an einem Herrenzweireiher. Ein altes Nachtschränkchen lebt ebenfalls für ständig im dunkelsten Korridor der Welt. Es dichtet einen Eimer und einen Nachttopf geruchsicher ab und stellt das Behelfsklosett der Pobloschen dar. Die Alte bewältigt den Anmarschweg zu den allgemeinen Klosetts nicht mehr.

Und schließlich hängt in diesem Korridor das große Schlüsselbrett. An seinen Haken baumeln über hundert Schlüssel und träumen von ihrem Glock. Das Glück eines Schlüssels ist, eine Tür aufzuschließen, und jeder Schlüssel, der aufschließt, bildet sich ein, die Welt um ein paar Quadratmeter Raum vergrößert zu haben. An jedem Schlüssel zittert ein kleines Schild, das schriftlich ausweist, mit welcher Tür man ihn glücklich machen kann.

Rektor Heide holt sich den Schlüssel zum Rektoratszimmer. Er tauscht mit Mina Baltin gespreizte Sätze aus. Kein Lehrer und kein Rektor kann ein Wort mit Mina Baltin reden, das ich nicht höre. Ich sitze in der Wohnstube am Tisch auf meiner Schülermütze. Die Schülermütze habe ich unter der Wasserleitung genäßt; sie soll sich verkrümpeln und nicht so neu aussehen. Ich muß nicht nur alles anhören, was der Rektor und die hoche Lehrerschaft mit Mina Baltin bereden, ich will es. Ich will gebildet werden. Je schneller ich gebildet werde, desto rischer kommt das Leben heran, das ich nach meiner fertiggestellten Bildung führen werde.

Denken Sie, Frau Baltin, sagt Rektor Heide, sie haben mir wieder zwei Mädchen ins Institut geschleust, die nur Hilfsschulreife besitzen. Jetzt weiß ich, weshalb Mina Baltin von Instituten spricht, wenn sie die Mädchenvolksschule und das Lyzeum meint.

Ich kann Ihnen verstehen, sagt Mina Baltin zum Rektor, Mädchen mit Hilfsschulreife drücken auf das Niveau.

Ich versuche auf dem Schulhof die hilfsschulreifen Kleinweiber herauszusuchen. Mein Großvater hat mich gelehrt, im Marktgetümmel Pferde mit Dummkoller herauszufinden, aber hier schiebt Gott meiner Sucherseele einen Riegel vor, er will mir beibringen, daß man Pferde und Weiber nicht vergleichen soll. Ich finde die Hilfsschulmädchen nicht.

Mina hat mir verboten, von einem Keller zu sprechen, wenn ich die Baltinsche Wohnung meine. Wir wohnen im Souterrain, sagt sie. Souterrain? Wer nicht weiß, was das ist und wie tief unten das ist, meint, wer weiß wie hoch wir leben.

Nach dem Kriege wurden im Keller zwei Notschulräume eingerichtet. Man rechnete mit vielen neuen Kindern in der deutschen Welt. Leider waren die meisten neuen Kinder nicht Mädchen, sondern Jungen. Rektor und Lehrer beachteten die Theorie von Stellmacher Schestawitscha in Bossdom nicht, der da behauptete, das Leben weisch, wasch den Deutschen frommt, siegreich wolln wir Frankreich schloagen, Gott stroafe England!

So wurden die Notschulräume, die vollständig eingerichtet waren, zu Ausleihen für Dinge, die in den oberen Schulräumen zum Fehlen kamen. Geh mal rasch runter nach Kreide, hieß es. Oder es hieß, holt mal einen Stuhl von unten, falls der Rektor uns besucht.

Doktor Kümmel zerschlug ein Katheder. Es mußte ein heiles von unten geholt werden. Doktor Kümmel ist Pazifist und Mitglied der Stadtverordneten-Versammlung. Seine Wahl war ein Versehen, heißt es jetzt. Man will ihn wieder raus haben. Pazifisten sind bei Sozialdemokraten, Deutschnationalen, sogar bei Kommunisten unbeliebt. All diese Bünde sind Kampfbünde, und der Kampf braucht Kämpfer. Doktor Kümmel zerschlug das Katheder, als er seinen Mädchen auseinandersetzte, daß nie wieder ein Krieg stattfinden dürfe. War das nicht kämpferisch genug?

Es kommt vor, daß schon am Nachmittag in Mina Baltins Wohnstube ein Damenkränzchen stattfindet. Dann mache ich meine Schularbeiten in einem der Notschulräume. Ich setze mich ans Katheder und spiele Lehrer, ich träume mir ein hübsches Mädchen in eine der Bänke hinein und sage: Diesmal wollen wir es noch hingehen lassen, Elfi, und ich genieße Elfis dankbaren Blick.

Als Rektor Heide nach Grodk kam, hatten sie nicht gleich eine passende Wohnung für ihn, und er mußte eine Weile die Notschulräume als Wohnung benutzen. In jener Zeit wurde dort ein Spülklosett eingebaut. Manchmal gehe ich auf dieses ehemalige Rektoratsklosett. Das ist mein Geheimnis.

Meine Schulbücher darf ich mir selber kaufen. Wer weiß, was Mina Baltin an ihnen herumzumäkeln gehabt hätte. Vielleicht wäre ihr das Französische zu unverständlich, wären ihr die Rechenaufgaben zu leicht und die Geschichten im Lesebuch nicht lang genug gewesen.

Drüben über der Straße umkreisen Mauersegler kreischend eine langweilige Tuchfabrik. Ich blättere meine Schulbücher durch: Das französische Lehrbuch bringt mir eine Enttäuschung bei. Ich hatte mir ausgedacht, in besonderer Weise schnell Französisch zu lernen. Niemand hatte vor mir dieses System herausgefunden. Die Menschheit überließ mir, es zu finden: Ich wollte das französische Alphabet lernen, so wie ich das deutsche Alphabet gelernt hatte, und wollte mir dann aus dem französischen Alphabet die französischen Wörter wie Tisch, Baum und Maikäfer zusammensetzen. Nun sehe ich, daß das französische Alphabet, bis auf ein paar Kleinigkeiten, dem deutschen Alphabet gleicht. Es ist mir versagt, französische Wörter im eigenen Backofen herzustellen.

Die Franzosen haben sich ausgedacht, bei offener Nase so zu reden, als wäre sie verstopft. Ich vermute, sie haben diesen Nasallaut erfunden, um es Fremdländischen schwer zu machen, Französisch zu lernen. Sie wollen ihre Sprache für sich behalten und die Besten in ihr sein.

Wenn du zu einem richtigen Nasallaut kommen willst, mußt du dir mit Daumen und Zeigefinger die Nasenflügel zusammenquetschen. Wenn du es selber nicht fertigbringst, muß dein Banknachbar dir behilflich sein, so verlangt es Studienrat Schraube. Schraube ist klein, gut in Futter, abgedreht wie ein Doppelpony und wird Petit Garçon (Kleiner Knabe) genannt. Den Namen haben ihm Schüler gegeben, die längst Rechnungsräte, Amtsanwälte, Hauptleute oder Prokuristen sind.

Petit Garçon spricht das Französische lässig aus. Er schmeißt es wie mit der linken Hand hin: Repete lä cläss!, sagt er, wenn wir einen Satz nachreden sollen, den er uns vorsprach. Mein Nasallaut wäre noch nicht lässig genug, meint Petit Garçon, mein Banknachbar möge Druck auf meine Nasenflügel ausüben! Die Finger meines Banknachbarn Marosnik stinken nach Radiergummi. Gummi strahlt jenen Geruch aus, der meine Nase von allen Mißgerüchen am eifrigsten beleidigt. Schweinsjauche ist mir ein Wohlduft dagegen. Ich will meine Nase Marosniks Fingern entziehen, aber der greift nach; ich kriege einen Vorgeschmack vom Erstickungstod, aber ich will noch leben und hau ihm eine runter. Petit Garçon bewertet, heutig gesagt, benotet meinen Nasallaut als unzureichend, drei minus oder so. Sie geben einem hier für alles, was man sagt und tut, eine Nummer. Selbst, was du über den Reichspräsidenten Ebert denkst, wird numeriert wie heutigentags. Na, mäg!

Ich bin älter als die anderen Sexta-Krebse. Das Schuljahr geht von Ostern zu Ostern, ich aber bin im August geboren, ich habe falsche Jahre, ich passe mit meiner Geburt nicht ins Schuljahr. Überdies bin ich ein Jahr zu spät auf die hoche Schule geworden. Alles Angelegenheiten, die mich etwas nach außen rücken. Eigentlich dürften die anderen nur ein Jahr dümmer sein als ich, aber das reicht nicht: In der Erdkundestunde, die sie hier Geographie nennen, geht es wieder mit der Mark Brandenburg los, mit dem Niederlausitzer Grenzwall und mit dem Fläming, den ich in Bossdom an vielen Nachmittagen mit der Laubsäge maßstabgerecht aussagen half.

Haben mich meine Arbeit daheim im Laden und mein eigenes Geschäftsunternehmen damals so nach vorn gebracht, daß ich mich immerzu umgucken muß, ob die anderen nachkommen?

In der Biologiestunde, die wir in Bossdom Naturkunde nannten, schwärmt Studienrat Martschinek vom edlen Roß, das seinen Reiter mutig in die Schlacht trägt. Das soll sich ein Pferdemann anhören, ohne Bauchschmerzen zu kriegen, einer, der weiß, daß ein Pferd beim ersten Knall, den es zu hören kriegt, umdreht und flüchtet, wenn kein mutiger Reiter auf ihm draufsitzt. Ein Pferd hat eine gute Witterung, aber es kann nicht riechen, daß der deutsche und der russische Kaiser Händel miteinander haben. Ein Roß prescht nicht aus Liebe zu Kaiser Wilhelm in die Schlacht.

Nur in der Turnstunde wird hier mehr von mir verlangt als bei Rumposchen. Wir müssen uns an den verrücktesten Geräten abstrampeln, als wäre das Leben eine einzige Leibesübung. Sie haben hier ein Pferd aus Leder, ein Pferd ohne Kopf. Wenn es um Reiten ginge, wollte ich ihnen schon was vormachen, aber man soll auf diesem kopflosen Tier herumjampeln, und sie nennen das grätschen. Außerdem soll ich nicht nur an einem Strick, sondern auch an einer Stange hochkriechen. Ich sei gerätemäßig unterbegabt, sagt Turnlehrer Feldmann, unzensierbar.

Mir wäre lieber, sie ließen mich in den Turnstunden das Unkraut im Garten des Direktors wieten. Unser Studiendirektor hat kein bißchen landwirtschaftliche Ehre. Er kroamt mit der Tochter vom Tuchfabrikanten Pieplack, mit einem schönen blonden Fräulein. Der Tuchfabrikant, heißt es, stemmt sich gegen eine Heirat. Er will keinen Gelehrten, er will seiner Tochter einen Textilkaufmann anhängen. Die Fabrikantentochter aber ist verrückt nach unserem Studiendirektor mit seinen hervorquellenden Augen. Sie besucht ihn sogar am Vormittag, obwohl der Direktor in der Schule zu tune hat. Er stellt dem Fräulein einen Liegestuhl in den Garten, mitten ins Unkraut hinein. Die Fabrikantentochter sitzt nicht ungern im Unkraut. Für sie ist alles, was blüht, eine Blume, besonders, wenn sich die Oberprimaner, denen schon ein bißchen Bart wächst, am Gartenzaun für sie wichtig machen und tun, als wären sie erfahrene Verführer.

Der Geschichtsunterricht wird uns von Doktor Trutzburg verabreicht. Er hat ein schönes Gesicht, aber zwei tiefe Bösfalten an der Nasenwurzel. Die Bösfalten werden vom Klemmer seines Kneifers verdeckt. Kneifer-Brillen sind zu jener Zeit die beliebtesten Augenbekleidungen. Auch Mina Baltin verstärkt die Sicht aus ihren kalten Augen mit einem Kneifer.

Doktor Trutzburg prügelt nicht schlechter als Rumposch in Bossdom, aber man weiß nie, wann er losprügeln wird. In dieser Hinsicht ist er liederlich und unzuverlässig. Manchmal fängt er an zu träumen und erwägt, wie die Deutschen heute dastünden, wenn sie eine bestimmte Schlacht gewonnen hätten, als sie noch Germanen waren. Er fragt zum Beispiel meinen Klassenbruder Kulpock, was geschehen wäre, wenn die Römer in ihren Eisenuniformen und die Germanen in ihren Fellen in den Schnee-Alpen aufeinandergetroffen wären. Wenn die Römer, was die Wärme gewöhnt sind, möchten auf die schneebedeckten Alpen kommen, antwortet Kulpock, möchten sie frieren und zittern, und die Deutschen, was in warme Felle eingepackt sind, möchten die Perons von Römer ganz schön verdreschen, nicht wahrrr.

Die Zornfalten von Doktor Trutzburg vertiefen sich; sein Kneifer fängt an zu wackeln. Er nimmt den Stock her und verschreibt Kulpock eine Dresche, die auf dessen Ursch kaum Platz hat, weil der sich oberschlesisch ausgedrückt hat. Was soll da aus einem Halbsorben wie mir werden?

Die Zungen der Blossdomer waren vordem auf die sorbische Sprache eingestellt. Durch den Verkehr mit den Leuten in den Glashütten von Däben und Friedensrain, durch den Verkehr mit den Behörden in der Kreisstadt Grodk mußten sie sich uff das Deitsche bissel einstelln ooch. Aber sie bogen es sich so zurecht, daß es ihren Zungen bequem war. Manche auswärtigen Wörter erschienen ihnen gespreizt. Kein Bossdomer Bergmann nimmt Stullen, Schnitten, Bemmen oder Brote mit zur Arbeit, sondern Schnieten. Kein Bossdomer sammelt die Blätter aus den geernteten Blaubeeren – er pietweit sie aus.

Die Sprache, die wir in den halbwendischen Dörfern sprechen, ist ein sogenanntes Ponaschemu, eine Unter-Uns-Sprache, eine Zwischensprache. Die Kleinstädter belächeln und verspotten sie, und in den halbwendischen Dörfern wird belächelt und verspottet, wer kein Ponaschemu spricht.

Ich verfalle in Furcht und übersetze die Antworten auf alle Fragen von Doktor Trutzburg, ob ich sie geben muß oder nicht, sogleich ins Hochdeutsche. Bei Rumposchen haben mir Prügel zuletzt nichts mehr ausgemacht, aber auf der hochen Schule verprügelt zu werden, ist mir peinlich. Ich bin nicht hierhergegangen, um mich verdreschen, sondern um mich wissenschaftlich anmästen zu lassen.

Später werde ich wissen, weshalb Doktor Trutzburg so unausrechenbar war: Seine Liederlichkeit im Prügeln wurde vom Wahnsinn hervorgerufen. Der Wahn trat später aus Trutzburg heraus, und der Doktor mußte in die für uns zuständige Irrenanstalt nach Sorau eingeliefert werden. Sorau ist für uns eine viel zitierte Stadt. Leute, in denen sich die Gedanken nicht folgerichtig abwickeln, nicht so, wie es sich die Durchschnittsleute wünschen, werden bei uns Sorauer genannt. Wer über eine Sache anders denkt als die Mehrzahl seiner Mitmenschen, ist ein Sorauer. Ich wurde oft so genannt. Aber das war damals; jetzt nennt mich meine liebliche Gefährtin, zärtlich, einen niederschlesischen Neurotiker.

Als Doktor Trutzburg nach Sorau geliefert wird, tut er mir leid. Sorau liegt in Niederschlesien. Wenn Trutzburg die oberschlesische Redeweise nicht gefiel, wird ihm auch die niederschlesische Redeweise nicht zusagen, und er wird auf seinen niederschlesisch sprechenden Wärter losgehen, wird ihn verprügeln wollen, und der Wärter wird es sich nicht gefallen lassen und wird Doktor Trutzburg verprügeln. Das täte mir leid, denn ich bin Doktor Trutzburg zu Danke; er hat mein Deutsch mit Hilfe von Beängstigung auf eine höhere Stufe gehoben, wies heutzutage heißt.

In Bossdom waren unsere Bänke aus rohem Holz, hatten eine durchgehende Sitzfläche, und wir saßen zu viert in einer. Die Bankpulte hatten tiefe Rillen. Ihr Holz war so alt wie die Balken vom Bock der alten Windmühle. Wenn wir uns langweilten, kratzten wir mit Stecknadeln Schmutz aus den Rillen. Der Schmutz war so alt wie die Großväter des Dorfes, die auf Ausgedinge saßen.

Aber weshalb erzähle ich von den schmutzigen Bossdomer Bänken? Ich habe Sehnsucht, muß ich euch sagen.

Hier auf der hochen Schule sitzen wir zu zweit in einer Bank. Die Bankpulte sind gestrichen und lackiert, nicht ein Stäubchen auf ihnen zu finden. Eigentlich ein guter Ort, mich von meiner Abklopf-Sucht zu befreien. Wieder peinigt mich eine Krankheit wie damals die Gotteskrankheit. Es ist eine Putzsucht, aber keine Schwester der Eitelkeit. Sie verlangt mir nicht ab, meine Mütze so schief aufzusetzen, daß ein Ohr drin verschwindet; sie verlangt mir nicht ab, die Sohlen meiner Holzpantoffel mit weißer Fensterfarbe zu vervornehmen; sie verlangt mir nicht ab, die Zähne mit goldenem Stanniolpapier zu bekleben. Das waren vorübergehende Moden in der Dorfschule, die auch andere Mitschüler gepackt hatten.

Meine neue Krankheit, diese Sonderputzsucht, wurde von meiner Mutter ausgelöst, aber die Sucht muß in mir auf der Lauer gelegen haben, um loslaufen zu können.

Es fing damit an, daß meine Mutter verlangte, ich möge am Abend täglich meine Kleider ausbürsten. Jetzt biste lank und groß genung, dir selber zu besäubern und reene zu halten. Ich hoabe zu tune, das weeßte.

Ich warte nicht, bis der Abend und die Zeit heran ist, meine Kleider auszubürsten, ich achte schon tagsüber drauf, daß ich mich nirgendwo anschmutze. Wenn ich in der Backstube mitarbeite, läßt es sich nicht vermeiden, daß ich da oder dort anstoße, und das Anstoßen bewirkt (als würde sich in mir, ob an der rechten, ob an der linken Hand, je nach der Gegebenheit, ein Haken lösen), daß die Hand herumfährt und die Stelle meines Hemdes, meiner Jacke, meiner Hose beklopft, die mit den Geräten oder mit den Wänden der mehlverstaubten Backstube in Berührung kam.

Aber dabei bleibt es nicht. Wenn ich draußen beim Mistfahren oder in den Ställen wo anstoße, oder wenn mich ein Windstoß mit einer Prise Felderstaub überschüttet – ich klopfe, klopfe, und ich klopfe auch, wenn mich irgend jemand streift.

Bevor ich nach Grodk auf die hoche Schule werde, ermahnt mich die Mutter aufs neue und noch dringlicher, mir reene zu halten. Sie ahnt nichts von meiner Abklopf-Qual, und daß sie sie mit ihrer Mahnung vergrößert

Ich beleidige in Baltins Kellerwohnung Leute, die zu Besuch kommen, Leute, die mich unabsichtlich anstoßen. Ich beklopfe mich vor deren sichtliche Oogen, verdächtige sie, Dreckmätze zu sein. Es hilft nicht, daß Mina Baltin mich erst leise, dann laut und schließlich derb ausschimpft. Ihr Hals bläht sich dabei, und blaue Adern treten hervor: Kannst du dir das nicht endlich abgewööhnen? brüllt sie.

Ich ziehe es vor, nicht zu antworten. Ich müßte nein sagen, weil ich auch nein sagen müßte, wenn sie fragen würde: Kannst du dir diese Lungenentzündung nicht abgewöhnen?

Ich lasse mich als Fünfzigjähriger in diese Zeit der Schulkrankheiten zurückfallen und suche zu ergründen, wo sie sich hernahmen, und wo sie schließlich blieben. Psychosen, Schmutzophobie, erklären mir wissenschaftlich gebildete Freunde, aber was ist mit einem Namen bewiesen? Seelische Zwänge, sagen die Freunde rasch, weil sie glauben, ihre lateinischen Fachausdrücke wären mir fremd. Seelische Zwänge – zwei deutsche Worte, die mir auch nichts erklären. Ein gewisser Freud, Sigmund und Professor, sagen die Freunde, habe erklärt, solche Zwänge wüchsen aus dem Sexuellen; andere sagen, sie wüchsen aus dem Unterbewußtsein, und das Unterbewußtsein ist ein Bewußtsein, von dem ich nichts wissen kann. Ich fange an, das für eine Möglichkeit zu halten, obwohl damit immer noch nichts bewiesen ist.

Manchmal meine ich, daß ich meiner Abklopf-Krankheit ledig wurde, als ich mit dreizehn Jahren meine erste kleine Geschichte schrieb, die veröffentlicht wurde. Wenns so wäre, hätte mich die verwandelte Abklopf-Krankheit niemals mehr verlassen, und ich stehe bis heute unter ihrem Zwange.

Wir sitzen auf Klappsitzen, und die fahren nach hinten, wenn wir aufstehen. Man kann sich so erheben, daß der Sitz leise zurückfährt, und auch so, daß er nach hinten knallt.

Wenn Doktor Eekbrett, der Mathematiklehrer, in die Klasse kommt, müssen die Sitze knallen, aber es darf sich nicht so anhören, als ob eine Kuh mistet: klack, klack, klack; unsere Ursche müssen sich einig sein, wünscht Eekbrett, und ihn mit einem großen Knall begrüßen. Manchmal, wenn Eekbrett die Alkoholfahne herausgesteckt hat, üben wir nach seinem Kommando fünf bis zehn Minuten den großen Sitzknall.

Bei Doktor Benedikt, dem Geographier, sollen wir so aufstehen, als ob wir gar nicht da wären. Der rötlichblonde Doktor schleicht geduckt in die Klasse und erzeugt dabei mit den Lippen jenen fistelnden Ton, mit dem man Stille von anderen fordert. Es wird erzählt, Doktor Benedikt ist auf Stille aus, weil er ein lautes Familienleben hat. Redereien, von denen man nicht weiß, ob sie wahr sind. Sie sind wie Märchen, die man gern hört.

Jeder Lehrer will, daß wir ihn auf die von ihm erwünschte Weise begrüßen. Wir müssen unser Temperament von Dreiviertelstunde zu Dreiviertelstunde umstellen. Ich fürchte, wir werden gescheckte Persönlichkeiten werden. Das Leben ist nicht einfach, und manch eener weeß erscht goar nich, wenn die Schlacht bei Fehrbellin woar, sagt Nagarkans Paule in Bossdom, wenn er drei Cottbuser Korn und drei Biere getrunken hat.

Wenn ich in der Stadt Mühlenkutscher Stopra oder Petroleumkutscher Brando treffe, lächle ich ihnen zu, als wären sie entfernte Verwandte von mir. Ihre Fuhrwerke haben vor unserm Hause gestanden, und die Kutscher haben mit meinem Großvater gesprochen; sie tragen ein bißchen Bossdom mit sich herum. Sehnsucht.

Das Dunkel unter der Schreibplatte meiner Bank ist mir ein kleines Zuhause; weil dort der aufgearbeitete Schultornister meiner Mutter liegt. Leider kann der Tornister mir nur die ersten zwei, drei Tage in der Fremde zu Troste sein, denn alsbald entdecken ihn meine Mitschüler, vor allem seinen Plüschdeckel. Sie kommen alle bremsig wie Büroleute mit Aktentaschen zur Schule, und ich mit meinem Plüschdeckel-Tornister bin ihnen außergewöhnlich. Sie fangen an, auf meinen Ranzen drauf zu hacken.

Ich habe gesehen, wie frisch geschlüpfte Küken nach einem roten Pünktchen auf der Zehenhaut eines Mitkükens pickten und pickten, bis dem ein Blutstropfen aus der Zehenhaut trat, und wie dieses Küken danach erst recht bedrängt und behackt wurde, bis es sich in eine Ecke hockte, matt wurde und umkam.

Ich begriff nicht, wie das, was wir Roheit nennen, schon in den Eintagsküken stecken konnte, auf die noch nicht ein Strählchen Sonne gefallen war. Da muß die Roheit schon im Ei in ihnen gewesen sein oder noch früher, vielleicht schon im Hahnensamen, als der die Henne betrat. Die Welt ist voller Rätsel, und mancher weeß erscht goar nich, daß Kaiser Willem een zu kurzen Arm hutte, sagt Paule Nagorkan.

Meine Klassengenossen nennen meinen Tornister mit dem plüschbezogenen Deckel einen Weiberranzen und klopfen mit den Fäusten drauf, und der Ranzen antwortet mit dumpfem Gebell. Ich gehe meinen Weg und verhalte mich ruhig wie ein Pferd, das bei einer berittenen Musikkapelle die Kesselpauke trägt.

Studienrat Laude, unser Religionslehrer, kommt mit langen Schritten, mischt sich ein und erklärt meinen Kameraden, es sei vernünftig, die Bücher auf dem Rücken zu tragen; das Tragen von Aktentaschen führe zu Rückgratverkrümmungen. Er tröstet mich, ich hätte die besten Aussichten, ein aufrechter Soldat zu werden, dann geht er mit seiner Aktentasche aufrecht und mit langen Schritten davon. Er ist zufrieden, seine Seele ist ruhig, und er ist entzückt von sich wie die meisten Bekehrer und Moralisten, die da glauben, ihr Gerede habe ihre Mitmenschen verändert.

Aber meine Mitschüler sind nicht bekehrt. Sie pauken weiter auf meinem Tornister: Weiberranzen, Weiberranzen!

Am nächsten Tag benutzen mich auch Schüler der Quinta und Quarta als Kesselpauke.

Mir fallen die Sastupeit-Jungen in Bossdom ein, die nie einen Tornister besaßen. Ich mache meinen Atlas zur Unterlage, packe die übrigen Schulbücher drauf und stemme den Packen gegen die Hüfte. Ein Junge, der auf der Bossdomer Schule drauf war, weiß sich zu helfen. Meine Schulkameraden reißen die Augen auf. Nichts mehr zu beklopfen an mir. Sie staunen über die sastupeitsche Art, Schulbücher umherzuschleppen.

Ich halte das vier Wochen durch. Ich werde mir selber ein Held. Vier Wochen lang haben neu eingestellte Knechte und Mägde den Bauernhof, in dem sie eingestellt wurden, nicht zu verlassen. Das gilt auch für Dienstboten, die in Grodk eingestellt werden. Die Kleinstadt ist ein größeres Dorf. Auch Mina Baltin pocht auf die Regel. Vielleicht bin ich in ihren Augen ein Kleinknecht. Um mich zu trösten, gehe ich mehrmals in der Woche an der Schloßmauer entlang. An einer Stelle kann ich über die Mauer hinweg die vergitterten Zellen-Fensterchen der Strafgefangenen sehen. Es ist mir zu Troste, daß ich es besser habe als sie. Ich muß keinen gestreiften Anzug tragen und kann mir eine Eiswaffel kaufen.

Ich halte im Gewühl des Wochenmarktes Ausschau nach jemand aus Bossdom. Nirgendwo wer. Bossdom liegt an der Ostgrenze des Kreises. Die meisten Leute in Grodk wissen nicht, wovon man redet, wenn man sagt, man kommt aus Bossdom.

Und dann doch eines Tages, krumm und ledern, die große Kiepe, den Tragkorb, auf dem Rücken und ein Netz voll junger Tauben in der Hand – die alte Sastupeiten. Sie ist auf einem Kohlenfuhrwerk nach Grodk geworden und sucht nach einem Fuhrwerker, der nach Jessen, in den Westteil des Kreises fährt, nach Jessen, dem Dorf, aus dem sie stammt. Die Alte ist für mich ein Engel mit Kiepe. Ich gehe auf sie zu. Guden Tag, sage ich, kennt Ihr mir, Mutter Sastopeiten, nich?

Die alte Sastupeiten sucht einen Fuhrwerker und nicht mich. Nee, kenn ich dir nich, sagt sie. Das kann die Wahrheit sein, und wenn es nicht die Wahrheit ist, dann bin ich der Sohn von der Konkurrenz, aber dann wird es schon wieder die Wahrheit, denn sie kennt mich nicht als Einzelmenschen. Ich bin eena von die neie Bäckersch, die hoam ja ganz Neegchen Kinder. Soll ich darüber traurig sein? Ich bin es gewohnt, als Konkurrenz von den alten Sastupeits unangesehen durch die Welt zu gehen.

Ich lauf der Alten hinterher und unterhalte mich stumm mit den jungen Tauben. Die alten Tauben, die diese hier im Netz erheckt haben, sind gewiß mit unseren Tauben daheim bekannt. Sie sind über unseren Hof geflogen, und vielleicht haben die jungen Tauben schon ein bißchen Duft von Unter Eechen in ihren Flügelfedern. Und nun reisen sie, ohne ihre Flügel zu benutzen, mit der alten Sastupeiten nach Jessen. Doa bin ich, wird die Alte sagen, die fünfzehn Jahre nicht in ihrem Heimatdorf war. Ich bringe eich Teibchinne für Süppchen.

Die Verwandten werden ihr danken und den Tauben die Köpfe abreißen … Vorgeträumte Wirklichkeit. Die alte Sastopeiten schreckt mich auf. Sie ruft ins Marktgetümmel: Fährt daß hier keener von eich nach Jessen? Von Jessen bin ich, von Jessen, ja!

Eine andere Weise, mich zu trösten und mein Heimweh zu dämpfen: ich erforsche die Mädchenschule, diese Burg aus roten Klinkern. Juro Baltin nimmt mich mit auf den Dachboden. Er kontrolliert den Speicher der Hauswasserleitung. Ich soll ihm leuchten, soll die Taschenlampe halten.

Der Dachboden, das ist die Grundfläche des Schulgebäudes, ununterteilt von Wänden, fünfundzwanzig, dreißig Meter über dem Erdboden. Er wird für viele Nachmittage mein Reich. Ich hake mir den wenig beachteten Dachbodenschlüssel vom Schlüsselbrett und steige treppan. Es gibt dort präparierte Vögel, Fische und Säugetiere, von den Lehrern Lehrmittel genannt. Sie sind abgestellt worden. Sie sind nicht mehr imstande, zu veranschaulichen. Sie sind reparaturbedürftig. Der ausgestopfte Fuchs hat die Motten im Fell, dem Großwiesel fehlt der Schwanz. Mich stört das nicht. Mir ist, als hätten sich all die Tiere, bis ich eintrat, munter getummelt, und als verhofften sie nun wie Wildtiere, die man im Freien überrascht. Mit Hilfe meiner Phantasie tummeln sie sich nach dem ersten Schreck weiter. Ich unterteile sie in Vierbeiner, Zweibeiner und Flossenfüßler. Später wird mir Studienrat Martschinek, unser Biologielehrer, beibringen, daß man von Säugetieren, Vögeln und Fischen, noch besser von Amphibien und Lurchen spricht, und daß meine Einteilung der Tiere eigenwillig und nutzlos ist. Studienrat Martschinek ist der erste, der mich verdächtigt, ein Selbstdenker, vom wissenschaftlichen Standpunkt aus gesehen, also ein kranker Mensch zu sein. Später werden mich einige über und über überzeugte Literatur-Wissenschaftler einen Selbstdenker nennen und in die Gilde der Narren einreihen.

Juro Baltin rettet zuweilen als zerlesen aus der Schulbibliothek ausgesonderte Bücher vor dem Reißwolf. Sie liegen in der Kellerwohnung umher. Ich darf sie lesen. Mina Baltin erlaubt es mir. Sie hält es mit dem Ausspruch von Rektor Heide, den der bei Tolstoi gelesen haben muß: Wenn Bücher auch nicht gut oder schlecht machen; besser oder schlechter machen sie doch!

Ich lese den Roman eines Dichters, der mit seinem Nachnamen so heißt wie mein Onkel Hugo. Onkel Hugo haben sie im Kriege erschossen. Der Roman heißt: Der Glöckner von Notre Dame. Der Glöckner heißt Quasimodo. Er ist verwachsen, wirkt unheimlich und lebt im Dachgebälk eines Domes in Paris.

Ich weiß bis heute nicht, ob es rechtens ist, sich in die Helden und Unhelden, die ein Buchschreiber anfertigt, einzuleben. Nach dem, was der listige Augsburger von Schauspielern verlangt, müßten die Leser neben den Helden der Romane stehen, die sie lesen, und sie mit ihrem Intellekt beschießen. Ich weiß nicht, wie das gehen soll. Ich habe den listigen Augsburger gefragt. (Ich weiß noch, wo es war: Wir fuhren gleich hinter Weißensee unter einer S-Bahn-Brücke hindurch.) Und der Augsburger antwortete mir: Ja, das ist so eine Sache! Ehrliche Schauspieler versicherten mir, man müsse schizophren sein, wenn man die Forderung des Augsburgers erfüllen wolle. Von dem Buchschreiber, der ich bin, weiß ich, daß die von mir geschaffenen Figuren Versuche sind, zu ergründen, wie es mit mir ausgegangen wäre, wenn dieser oder jener meiner schwach ausgebildeten Charakterzüge ausgeformter und kräftiger mein Leben beherrscht hätte. Es liegt mir fern, meine Leser mit Helden zum Nachbauen zu versorgen.

Vor einigen Jahren erfand ich einen Mann, der in unserer Zeit nach den Grundsätzen eines alten chinesischen Weisen lebt. Zeitchen später schrieb ein mir Wohlwollender: Er wird diesem Weisen da, den er uns vorgeführt hat, immer ähnlicher, je älter er wird. Das war Futter für meine Alterseitelkeit, auch ein Trost, als mich einige junge Dichter, auch ein oder zwei meiner Söhne, einen alten Kacker nannten, der nicht mehr richtig tickt. Vielleicht ist was dran? Wir lernen auf Erden eine Menge Menschen kennen, aber am wenigsten uns selber.

Damals aber war ich ein Leser, und ein junger Leser dazu, und ich machte mich für Tage zu Quasimodo, einer Gestalt, an der Victor Hugo wahrscheinlich eine seiner Möglichkeiten ausprobierte. Ich machte mich zum Glöckner von Notre Grodk.

Da liegt in meinem Quasimodo-Reich der große Wasserspeicher, den ich schon erwähnte. Er sorgt dafür, daß die vielen Wasserhähne im Schulgebäude wässerig ausspeien können. Der Tank hat die Größe einer Bauernkate, in der es plauderig zugeht, wenn Juro mit dem Leuchtgas-Motor aus einem Brunnen, von dem ich nicht mehr weiß, wo er lag, frisches Wasser hochpumpt. Es geht mir auf, daß hier Wasser, das sonst natürlicherweise als Dunst von Erden in die Himmel steigt, um schwerkräftig als Regen niederzufallen, von Juro mit Motorkraft hochgetrieben wird, um, gebündelt und von Röhren begrenzt, niederzufallen. Das ist meine Art, Physik zu betreiben.

Dohlen sind für mich, der ich aus dem Lande Bossdom komme, fremde Vögel. In unseren Fluren lebten sie nicht. Hier in Grodk sehe ich begierig ihren Flugspielen zu, sehe, wie sie sich in Pappelwipfeln niederlassen, wieder auffliegen, wie sie bald zänkisch, bald lustig miteinander umgehen. In meinem Quasimodo-Reich auf dem Dachboden bin ich ihnen ganz nahe. Sie haben im Dachgebälk ihre Geniste, reden miteinander und hauen aufeinander ein. Sie sind für mich kleine Menschen mit langen Nasen und verständigen sich mit einem Wort. Das Wort heißt: Kiak! Sie sprechen es in verschiedenen Tonhöhen aus. Sie verständigen sich musikalisch. In jedweder Tonlage und in jeder Lautstärke gewinnt das Kiak eine andere Bedeutung. Es kommt vor, daß alles Dohlengerede für Augenblicke verstummt. Es wird still in meinem Quasimodo-Reich, und es reizt mich, die Dohlen zu reizen. Kiak! sage ich laut und weiß nicht, was mein Kiak für die Dohlen bedeutet. Die Dohlen werden wild. Ich muß ihnen etwas Unanständiges zugerufen haben.

Eines Tages hüpft eine fast flügge Dohle zwischen den ausgestopften Vögeln umher. Sie ist aus dem Nest gefallen. Ihr mühsames Gefieder ist noch mit gelben Daunen durchsetzt. Sie hebt ihre Flügel zitternd und bettelt mich an, sperrt den Schnabel auf und will gefüttert sein, sie hält mich für eine große Dohle. Ich stecke ihr meinen Zeigefinger in den geöffneten Schnabel. Das ist nicht, was sie will. Sie schüttelt sich. Ich fange dicke Fliegen und stopfe die Jungdohle damit an, bis sie satt ist und schläfrig zwinkert, doch als ich mich zurückziehe, fahren mit eins alte Dohlen aus dem Gebälk und hacken nach meinem Pflegling Ich weise sie zurecht: Was seid ihr für Eltern und Verwandte!

Ich setze mein Dohlenkind in ein ausrangiertes Aquarium und decke es mit Fliegendraht ab. Ich stapfe treppab und hole aus einer Fleischerei ein Viertel Gewiegtes, so wird bei uns Hackfleisch genannt. Meine Dohle hat schon wieder Hunger und schlingt gierig.

Zwei Tage lang gehts gut. Ich füttere die Dohle, und sie frißt, doch sobald ich mich abwende, kommen die alten Dohlen herunter und hacken gegen die Wände des Aquariums. Brecht euch die Schnäbel, ihr Rohlinge! Meine Phantasie tobt sich aus: Wie oft waren wir in Bossdom drauf aus, junge Krähen zu ernten, sie aufzuziehen und ihnen menschliche Worte beizubringen. Wir kriegten keine zu packen. Aber nun werde ich mit einer gezähmten Dohle ins Dorf einfahren, sie wird auf meiner Schulter sitzen und die staunenden Bossdomer begrüßen: Tag ooch, gun Tag!

Nach zwei Tagen verwelken meine Träume. Die Dohle kränkelt. Sie will kein Gewiegtes mehr; ihr Schlund, der rot war, ist blaß, ist grau; die Fleischkügelchen, die ich ihr hineinzwinge, stößt sie mit heftigem Kopfschütteln aus. Nein, nein! Sie begrüßt mich nicht mehr, wenn ich mich dem Aquarium nähere. Sie dämmert dahin. Den nächsten Tag ist sie tot.

Die tote Dohle liegt in meiner Hand. Ihre Schnabelnase weist nach oben zu den anderen Dohlen hin. Mit eins ist mir, als ob mein Pflegling doch noch lebt. In der Nähe seines Afters bewegt sich das Gefieder, aber da sehe ichs: Es entstehen schon andere Lebewesen aus dem toten Vogel; die Larven von Fliegen – Maden. Gott weiß, wie die junge Dohle sich im Nest verletzte. Den Schmeißfliegen war die Wunde recht. Sie legten ihre Eier drin ab. Die Dohlen-Eltern warfen ihr Kind aus dem Nest, so sind ihre Bräuche.

Ich habe den Tod der jungen Dohle verzögert, nicht verhindert, und habe mich menschlich in einen Naturvorgang eingemischt. Ich werde das erste Mal, obwohl es mir damals noch nicht bewußt wird, an eine Frage herangeführt, die mich mein Leben lang plagen wird: Darfst du dich in Naturvorgänge einmischen, darfst du dich überhaupt in Vorgänge einmischen, die dich nicht betreffen? Darfst dus, darfst dus nicht? Wann darfst dus, wann darfst dus nicht? Ich habe die Antwort bis heute nicht gefunden; vielleicht gibt es keine bündige, vielleicht bilden wir uns nur ein, wir müßten auf alle Fragen eine klare Antwort finden, weil wir auf Ordnung aus sind?

Damit geht meine Quasimodo-Zeit zu Ende. Andere Ereignisse beschäftigen mich: Eine Vogelfeder wird vom Wind aufgehoben, über die Dächer der Kleinstadt hingetragen und verschwindet. Ein Ereignis!

In einem Käfig auf einem Hinterhof in der mittelalterlichen Töpfergasse tummelt sich ein Meerschweinchen, scheckig wie eine halb ausgereifte Kastanie. Ein Ereignis! Ich besuche es oft. Es hilft meine Sehnsucht nach Bossdom zu stillen. Reisende Puppenspieler, die nach Bossdom kamen, hielten sich zuweilen in kleinen Kästen unterm Wohnwagen ein oder zwei Meerschweinchen, unerreichbare fremdländische Tiere für uns Dorfjungen.

Selbst die Fliege an der Wand, die sich mit ihrem dritten Beinpaar die Flügel putzt, kann aus Bossdom stammen, und ist ein Ereignis.