Nuglisch, Sophie Die Hässlichen

978-3-492-98287-0

Oktober 2016

© Piper Fahrenheit, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016

Piper Verlag GmbH, München 2016

Covergestaltung und Artwork: Tanja Winkler; Skyline: unsplash

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PROLOG

»Du weißt, wie es sich anfühlt zu sterben, Miles.«

»Ist schon ’ne verdammt abgefuckte Scheiße.«

»Und es tut weh, richtig?«

»Für einen Moment, ja.«

»Wie sehr?«

»Kann ich nicht sagen.«

»Wie sehr, Miles? Auf einer Skala von eins bis zehn.«

»Sagen wir neun.«

»Oh bitte.«

»Okay, zehn. Oder siebenundzwanzig. Scheiße, es ist ’ne verdammte hundert.«

»Du brauchst nicht zu schreien.«

»Ich schreie, wann ich will. Ist doch eh alles egal.«

»Wieso bist du so wütend, Miles?«

»Warum ich wütend bin? Ist das Ihr Ernst?«

»Sag es mir, Miles.«

»Ach, ficken Sie sich doch.«

»Miles, wir brauchen dich jetzt. Du weißt, dass es eine hundert ist und keine neun, und genau deswegen brauchen wir dich.«

EINS

Ich hätte die Finger vom verfickten Alkohol lassen sollen. Hätte ich Sonntagabend nichts getrunken, hätte ich Montagmorgen beim Ausdauerlauf nicht auf die Bahn kotzen müssen. Ich wäre nicht wie eine sterbende, aber durchaus gutaussehende Katze stehen geblieben, die Hände auf die Knie gestützt und würgend. Mein Lehrer wäre nicht zu mir gekommen, hätte nicht das Glas zu viel gerochen, neben dem Gestank von meinem Erbrochenen, und er hätte mich nicht in die Umkleide geschickt. Er hätte mir nicht gesagt, ich solle nach Hause gehen und meinen Rausch ausschlafen, und er hätte mir auch keine null Punkte gegeben, der Penner. Ich wäre nicht in die Umkleide gegangen und hätte nicht meine Sachen geholt. Ich wäre nicht eine Stunde später über die Straße gegangen, und ich wäre nicht von dem schwarzen Audi angefahren worden. Mein Kopf wäre nicht auf die Windschutzscheibe geknallt, mein Schädel hätte das Glas nicht zum Bersten gebracht. Ich wäre nicht zwei, nein, drei Meter durch die Luft geschleudert worden und auf dem Asphalt gelandet. Da wären keine beschissenen Hirnblutungen entstanden. Ach so, das wäre übrigens auch nicht passiert, wenn der Pisser keine verdammten achtzig, sondern dreißig Stundenkilometer gefahren wäre. Zumindest hätte ich vielleicht überlebt. Möglicherweise. Ach, weiß der Geier. Ich werde nie wieder Alkohol trinken. Zumindest, wenn es im Himmel keinen gibt. Kann sonst, ehrlich gesagt, nichts versprechen. Obwohl, kommen nicht eigentlich nur die Guten nach oben? Wo komme ich denn dann hin? Und was ist das hier für eine Freakshow? Ich brauch dringend ’n Kurzen. Oder ganz viele Kurze. ’Ne Flasche Wodka wäre gut.

Hey, da bin ja ich. Da unten. Verdammt, die hat mich echt übel zugerichtet. Und das hier ist doch wohl ein Witz. Ernsthaft, ich schaue doch gerade nicht wirklich auf mich selbst herab, oder? Kommt schon, das ist doch wohl ein Witz. Obwohl ich sagen muss, dass ich trotzdem noch verdammt gut aussehe. Also wenn man jetzt mal von dem Blut absieht und der Tatsache, dass mein Kopf … Ach du Scheiße, habe ich wirklich einen eingedrückten Schädel? Wie behindert ist das denn? Wieso kann ich nicht so sterben, wie ich gelebt habe? Also hübsch. Wieso muss mir das jetzt alles versaut werden? Das ist echt nicht witzig. Obwohl, könnte auch einfach ’ne optische Täuschung sein. So von der Frisur her. Und dem Blut. Ich wusste gar nicht, dass ich davon so viel habe. Da läuft verdammt viel aus mir raus. Ist ja eklig. Gut, machen wir uns nichts vor, ich sterbe mit einem unförmigen Kopf. Vielleicht war das ja schon immer so, und ich habe das einfach nie gesehen. Nein, ziemlich unwahrscheinlich. Das wäre mir aufgefallen. Ah, der Sack, der mich umgebracht hat – nicht der Alkohol –, steigt auch endlich aus. Ach was, eine Frau? Weiber am Steuer, das kann ja nicht gut gehen. Was guckt die denn jetzt so fassungslos? Ist das so überraschend, dass ich die Scheiße nicht überlebt habe? So wie die Fotze gerast ist, ist das ja kein Wunder. Sie beugt sich zu mir herunter und berührt mich an der Schulter. Okay, egal, was das hier ist, so supercool und abgefahren ist es auch nicht, denn ich spüre das nicht. Also ihre Finger an meinem Gesicht. Das ist jetzt enttäuschend. Aber irgendwas passiert. Keine Ahnung, was, aber irgendetwas passiert … Bisher bin ich auf einer Stelle geschwebt, nun steige ich höher. Das war’s dann wohl. Irgendwie ziemlich unspektakulär. Sollte mein Leben mal verfilmt werden, braucht die Szene echt ’ne gute Hintergrundmusik. Das wirkt ja sonst gar nicht. Dass ich ziemlich gut aussehe, reicht denen im Fernsehen ja nicht. Offensichtlich komme ich doch nicht in den Himmel. Es wird nicht hell, sondern dunkel. Verdammte Scheiße.

ZWEI

Meine Fresse, Gott sei Dank habe ich damals, als ich fünf oder so war, den Schwimmkurs nicht abgebrochen. Ich habe echt keine Ahnung, was das bedeutet, aber als die Dunkelheit verschwindet, kommt Wasser. Sehr viel Wasser. Es ist echt arschkalt, und ich rudere mit den Armen wild um mich. Wo zur Hölle bin ich? Es scheint ein See zu sein, ohne Ufer, ohne Anfang und Ende. Ein paar Meter von mir entfernt hängt eine Leiter im Wasser, und da ich keine andere Wahl habe, schwimme ich an sie heran und ziehe mich hoch. Der Blick nach oben ist seltsam. Ich kann nichts sehen. Als wäre das Ganze unendlich. Könnte auch Nebel sein. Ach, was kümmert’s mich. Egal, wo ich hier bin, offensichtlich soll ich da hoch. Oder wo auch immer hin, keine Ahnung. Und deswegen fange ich an zu klettern.

»Es ist nicht schön, dich zu sehen, Miles.«

WAS ZUR HÖLLE GEHT DENN JETZT AB?! Wo sind diese scheiß Leiter und dieser behinderte See? Meine Fresse, wieso kann ich nicht wie andere Menschen sterben? Meine Klamotten sind trocken und ich stehe in einem hellen Raum. Auch der scheint keine Grenzen zu haben. Da stehen ein paar Stühle, zu einem Kreis angeordnet, und in der Mitte eine Frau, deren Alter ich unmöglich einschätzen kann. Sie könnte dreißig sein, aber auch sechzig, ich habe echt keine Ahnung. Ihr Haar ist grau, das Gesicht aber verdammt jung. Passt alles nicht so zusammen. Ich bin verwirrt.

»Setz dich doch.« Mit Sicherheit nicht. Ich verschränke die Arme vor der Brust und presse die Lippen aufeinander. Wie ein schmollendes Kleinkind.

»Die anderen kommen auch gleich, Miles. Du brauchst keine Angst zu haben.«

»Ich habe keine Angst«, feuere ich zurück. Wow, tatsächlich wie ein Fünfjähriger. Mürrisch setze ich mich dann doch und beobachte sie. Sie lächelt mich schwach an, dann sieht sie über mich hinweg.

»Keira, setz dich doch bitte«, sagt sie und ich drehe mich um. Okay, es wird immer gruseliger. Da steht ein Mädel an der Stelle, wo ich selbst gerade noch stand, und sie sieht echt übel aus. Ihr Schädel ist kahl und ihre Haut ist so blass, dass man fast durch sie durchsehen kann. Sie scheint nicht weniger misstrauisch zu sein als ich, reicht mir aber die Hand und lässt sich auf dem Stuhl neben mir nieder.

»Ihr dürft euch übrigens auch unterhalten«, belehrt die Frau uns. Sehr lustig. Hi, ich bin Miles, mein Kopf wurde gerade zertrümmert, und ich bin wahrscheinlich verblutet – und wie geht’s dir?

»Das sieht aus, als hätte es weh getan«, stellt Keira fest und erst checke ich nicht, dass sie von mir spricht.

»Was?« Sie zieht die nicht mehr vorhandenen Augenbrauen hoch.

»Na, dein Kopf.« Meine Hand schnellt an die Stirn und ich ertaste das trockene Blut. Und dann die verklebten Haare und die Unebenheiten. Wie Krater. So eine Scheiße.

»Sieht er schief aus?«, frage ich sie. Sie steht auf und mustert mich von oben genau.

»Es geht. Siehst immer noch besser aus als ich«, grinst sie.

»Woher willst du das wissen?«, frage ich zurück.

»Ich habe schon etwas länger Krebs.« Und der Elefant hat den Porzellanladen erfolgreich zerstört. Es wird kurz still, und dann lacht sie und sagt, dass mir das nicht peinlich sein muss. Und dann kommt der Rest. Ein kleines Mädchen, zwei Typen und noch zwei weitere Mädchen.

»Wir sind dann wohl vollständig«, meint die Frau in der Mitte, als der letzte Kerl sich hinsetzt. Jeder starrt jeden an und die Weiber sind echt ziemlich eklig. Also, nicht, dass sie nicht hübsch sind, aber bei fast jeder quillt irgendwo Blut raus, und bei der einen ist der halbe Arm abgetrennt. Und das Bein.

»Mein Name ist Alanna«, stellt sich die Alterslose dann endlich vor. Das hier sieht aus wie ’n Treffen der anonymen Alkoholiker. Einige nicken schwach, die meisten starren sie nur an und verziehen keine Miene.

»Ihr seid alle hier, weil ihr nicht mehr am Leben seid.«

»Ach, echt?«, fragt das Invalidenmädel ironisch.

»Leider ja, Laurie«, entgegnet Alanna völlig ernst und scheint uns alle gleichzeitig schrecklich zu bemitleiden.

»Und das ist jetzt der Himmel, oder wie?«, frage ich, weil wir immer noch nicht wissen, wo wir sind.

»Nicht ganz, Miles. Es ist etwas Besseres. Es ist euer Unterschlupf in der Zeit, in der wir euch brauchen.« Einige lachen trocken, mir ist nicht danach. Soll sie weiter so einen Dünnschiss labern. Am Ende ist das hier doch nur ein beschissener Traum und passiert nur in meinem Kopf. Ich bin gar nicht tot, das hier ist alles nicht wahr.

»Und Sie brauchen mich jetzt wofür?«, werfe ich in den Raum.

»Du weißt, wie es sich anfühlt zu sterben, Miles.«

»Ist schon ’ne verdammt abgefuckte Scheiße.«

»Und es tut weh, richtig?«

»Für einen Moment, ja.«

»Wie sehr?«

»Kann ich nicht sagen.«

»Wie sehr, Miles? Auf einer Skala von eins bis zehn.«

»Sagen wir neun.«

»Oh bitte.«

»Okay, zehn. Oder siebenundzwanzig. Scheiße, es ist ’ne verdammte hundert.«

»Du brauchst nicht zu schreien.«

»Ich schreie, wann ich will. Ist doch eh alles egal.«

»Wieso bist du so wütend, Miles?«

»Warum ich wütend bin? Ist das Ihr Ernst?«

»Sag es mir, Miles.«

»Ach, ficken Sie sich doch.«

»Miles, wir brauchen dich jetzt. Du weißt, dass es eine hundert ist und keine neun, und genau deswegen brauchen wir dich.«

Das kleine Mädchen hat angefangen zu heulen. Sie heult und heult und dann rotzt sie sich ihr weißes Kleidchen voll, das vermischt sich alles mit dem dunklen Blut. Alanna tröstet sie.

»Was sollen wir tun?«, fragt der Typ, dem man seine Todesursache nicht sofort ansieht. Keine Ahnung, was es war, ein Autounfall aber eher nicht.

»Ihr bekommt Paten. Menschen, die vorhaben, sich das Leben zu nehmen«, beginnt Alanna und streicht der Kleinen nochmal über das Haar.

»Ihr werdet sie davon abhalten. Ihr dürft zurück, für einen gewissen Zeitraum, um ihn oder sie zu retten. Das ist eine unheimlich ehrenvolle Aufgabe.«

»Wir sind alle tot, wir müssen einen Scheiß tun«, ist Keiras Kommentar dazu. Alanna lächelt leicht, sie ist darauf vorbereitet. Die anderen stimmen Keira weitestgehend zu.

»Wir brauchen euch. Niemand zwingt euch, aber ihr seid Kinder. Keiner von euch hat bisher die Schule beendet. Nina geht noch in den Kindergarten. Ihr habt keine eigene Familie gegründet. Ihr habt noch nicht gelebt. Aber ihr habt die Möglichkeit, noch einmal etwas zu tun, das vollkommen richtig ist.«

»Ist das hier jetzt so ’n Bullshit von wegen Sünden ausgleichen und so? Wenn ja, dann reicht bei mir eine Patenschaft wohl eh nicht«, meint der Kerl, bei dem man auf den ersten Blick nicht glauben würde, dass er tot ist und alle lachen.

»Natürlich nicht, Jeremy. Du kannst gehen, wenn du möchtest. Wir wären dir aber dankbar, wenn du bleibst. Doch niemand wird dich für deine Entscheidung verurteilen.« Und schon steht Jeremy auf. Er tritt aus dem Kreis raus.

»Na dann, adios amigos. Da warten Jungfrauen auf mich. Hundert oder so im Paradies«, grinst er, und dann dreht er sich um und läuft los. In seinem Rücken steckt ein Messer, nein, sogar zwei, und er läuft einfach.

»Auf Wiedersehen, Jeremy«, verabschiedet Alanna ihn, und dann ist er weg. Niemand schließt sich ihm an. Alle bleiben sitzen. Keine Ahnung, was das hier bringt, aber ich glaube nicht an diesen Mist von wegen Leben nach dem Tod. Ich glaube an gar nichts mehr. Im Moment bin ich hier und wenn wir davon ausgehen, dass ich tatsächlich nicht träume, dann passiert gerade das mit mir, was eben passiert, wenn man stirbt. Ich werde nicht leben, aber ich werde auch nicht komplett von der Bildfläche verschwinden.

»Ich nehme an, der Rest von euch bleibt?«, fragt Alanna, und da sie keine Widerworte bekommt, lächelt sie nun breiter.

»Okay, dann lernen wir uns jetzt mal besser kennen.«

»Soll jetzt jeder raushauen, woran er verreckt ist, oder sowas wie Lieblingsfilme und ob man Geschwister hat?«, fragt Keira. Sie gefällt mir.

»Sucht es euch aus, ihr könnt erzählen, was ihr wollt, solange es zu euch gehört«, antwortet Alanna ruhig und lässt sich auf Jeremys Stuhl nieder. Das kleine Mädchen, Nina, beginnt. Sie erzählt von ihrem Daddy – und scheiße, die ist grausamer gestorben als wir alle zusammen.

»Ich wollte lieb sein. Daddy hat gesagt, das machen alle Daddys so. Er hat gesagt, es muss wehtun. Ich glaube, Daddy hat gelogen.« Sie ist so blass und so winzig, und ihre kleinen Locken hüpfen so stark.

»Wie soll ich das denn jetzt noch toppen?«, fragt der andere Typ, der einzige neben mir, und ich weiß nicht, ob ich das lustig finde oder nicht.

»Also, um ehrlich zu sein, habe ich eh keine Ahnung, wieso ich hier bin«, sagt er, und Alanna erklärt es ihm. Sein Kreislauf ist bei einer Blinddarmoperation zusammengebrochen. Man hat alles versucht … aber da er jetzt hier ist, waren die Versuche wohl nicht erfolgreich. Armes Schwein.

»Ich bin in so ’nen Müllschredder reingefallen«, zuckt das bein- und armlose Mädchen mit den Schultern.

»Wie zur Hölle bist du an ’nen Müllschredder rangekommen?«, platzt es aus mir heraus.

»Wenn man blau ist, ist alles irgendwie einfacher«, zuckt sie noch einmal mit den Schultern. Also die eine. Die andere hängt einfach hinab. Vielleicht zieht der halbe Stumpf sie ja runter. Das andere Mädel hatte einen Motoradunfall. Ist mit der Maschine ihres Vaters gefahren und gegen einen Baum gerast. Einen Helm hatte sie zwar auf, aber eine der zahlreichen gebrochenen Rippen hat sich direkt in ihr Herz gebohrt.

»Und du, Miles?«

»Autounfall. Unspektakulär. Und ganz ehrlich, Leute, auch wenn ich hier immer noch am besten aussehe, sind wir doch eigentlich nur eine Ansammlung von hässlichen Kids. Wir sind tot, und das sieht man, und scheiße, das ist alles echt völlig bescheuert«, rede ich mich in Rage.

»Wäre ’n guter Gruppenname«, antwortet Keira irgendwann, weil kein anderer was sagt.

»Was?«

»Die Hässlichen.« Sie ist echt dämlich. Absolut und total dämlich und unsensibel und direkt, also genauso wie ich – und sie hat Recht. Was auch immer das hier ist, wir sind jetzt sowas wie ’ne Gruppe. Eine Gang. Wir sind zumindest in einer Eigenschaft gleich.

»Die Hässlichen also.«

DREI

Alanna drückt Nina ihr Foto in die Hand und das kleine Mädchen betrachtet es ganz genau. Das Blut unter ihrer Nase versucht sie mittlerweile nicht mehr wegzuwischen, weil sie endlich gecheckt hat, dass das ohnehin nicht funktioniert.

»Wie heißt er?«, fragt sie, und Alanna lächelt leicht.

»John.« Jetzt lächelt Nina. Das kleine Mädchen, das gestorben ist, weil sein Vater seine ekelhaften Triebe nicht im Griff hatte, lächelt.

»Ist er lieb?« Keira überschlägt neben mir die Beine und verschränkt die Arme. Entweder sie ist gelangweilt oder ihr ist kalt. Aber hier ist es nicht kalt.

»Was ihr alle bedenken müsst, ist, dass nur euer Pate euch wahrnehmen wird. Daher ist es auch eure Aufgabe, ihn von eurem Dasein zu überzeugen.«

Das checke ich jetzt nicht.

»Sie werden sich selbst für verrückt halten, weil niemand euch sehen kann«, erklärt Alanna noch.

»Die sind ja auch bekloppt. Wie kommen die auch auf die dämliche Idee, sich umbringen zu wollen?«, meint Keira, und man merkt, wie wütend sie ist. Das Mädel wurde wahrscheinlich jahrelang therapiert und hat darum gekämpft zu überleben, und jetzt soll sie einen Bescheuerten davon abhalten, alles mit einem Mal zu beenden.

»Ich verstehe, dass du zornig bist, Keira, das darfst du auch sein. Aber bitte lern deinen Paten erstmal kennen und überlege dir dann, ob du ihm helfen möchtest«, beschwichtigt Alanna sie.

»Klar werde ich helfen, das steht außer Frage. Scheiße darf ich sie doch trotzdem finden.« Ich sehe sie an, und mir fällt ihr Tod immer mehr auf. Die blauen Flecken, die bleichen Lippen, die blutunterlaufenen Augen. Und Narben. Überall Narben.

Laurie bekommt ihr Bild. Sie heult nicht mehr, sie sagt aber auch nichts.

»Sicher, dass die nicht vor mir wegrennen wird?«, fragt sie dann aber und sieht Alanna an.

»Das wird sie nicht. Und wenn doch«, beginnt sie und zwinkert leicht. »bist du schneller.«

Oh, wow. Das ist ja mal ein super Plan. Da kommt auf einmal ein Mädel mit einem halben Arm und einem abgehackten Bein, erzählt dir, sie sei tot, und weil du Angst um dein Leben hast und wegrennst, macht sie ihre kranke Scheiße mit der Teleportation – oh ja, da hat man gleich viel weniger Schiss und fühlt sich sicher. Aber wäre doch voll lustig, wenn man auf Zombie macht und ihr einfach nur ganz langsam und keuchend hinterherläuft. Ich habe eindeutig zu viel The Walking Dead gesehen. Gibt es hier eigentlich einen Fernseher? Ich habe die neue Folge noch nicht geschafft, und Carol wurde doch gerade von diesen Freaks angefahren. Ich muss doch wissen, wie es weitergeht. Das frage ich Alanna besser später. Die redet noch mit Laurie über ihre Patin, und dann geht es weiter mit den anderen, bis sie bei Keira angelangt ist.

»Wie alt ist die? Zwölf?«, fragt sie, betrachtet ihr Foto und zieht verächtlich die Augenbrauen hoch. Mädel mit Brille, Zahnspange, fettige Haare und einer Fresse wie sonst was. Also, nicht dass sie hässlich ist oder so, obwohl sie das schon irgendwie ist, aber die sieht echt nicht gerade gut gelaunt aus.

»Siebzehn«, antwortet Alanna, und das scheint Keira noch mehr aus der Fassung zu bringen.

»Dann kann man ihr echt nicht mehr helfen.« Trotz ihrer Skepsis hört sie sich noch den Vortrag darüber an, dass noch nichts zu spät ist und jeder das Recht zu leben hat und blablabla.

»Versuch es«, bittet Alanna sie noch, und dann bekomme ich mein Bild.

»Wieso kriege ich keine Braut?«, murmele ich enttäuscht. Obwohl, wenn man das Mädel von Keira so betrachtet, will ich das vielleicht doch nicht.

»Sein Name ist Jackson, und du wirst nett zu ihm sein, Miles.« Wieso wird denn bei mir gleich wieder davon ausgegangen, dass ich den Typ fertigmache? Ich bin bestimmt netter als Keira. Und netter als Jeremy sowieso.

»Gib einfach dein Bestes, und du wirst dafür belohnt werden.«

»Was kriege ich denn dann?«, schießt es aus mir heraus, und sie lacht.

»Das Gefühl, etwas Gutes getan zu haben.« Oh wow. Ich dachte, was Cooles.

»Am besten macht ihr euch jetzt auf den Weg.«

»Bekomme ich nicht auch noch irgendwelche coolen Experten-Tipps?«, frage ich und merke, dass ich irgendwie nervös werde. Meine Fresse, ich bin tot, was kann mir schon passieren?

»Ich habe dir schon alles gesagt, was du wissen musst. Der Rest steht hinten auf dem Bild drauf.« Ich drehe um. Ah. Jackson. 37. Unverheiratet. Keine Kinder. Single. Mechatroniker. Manisch depressiv. Loser! Das kann ja lustig werden.

»Stellt euch hin. Es sei denn, ihr wollt auf dem Hintern ankommen. Hat auch mal einer versucht. Der konnte allerdings nicht mehr laufen.« Alanna hält kurz inne und kramt in ihrer Erinnerung. »Armer Kerl, war an einer misslungenen Fettabsaugung gestorben.«

»Deswegen konnte er nicht mehr laufen?«, fragt Laurie verwirrt, und Nina greift nach ihrer Hand.

»Oh, nein, nein, er war querschnittsgelähmt. Er dachte immer, das ständige Sitzen betont seinen Bauch zu sehr, der über der Hose stand.«

»Und der konnte nicht mal hier wieder laufen?«, frage nun ich.

»Das liegt nicht im Rahmen unserer Möglichkeiten.«

»Ach so. Wir verrecken. Schweben aus unseren Körpern. Dann landen wir in einem See, klettern über eine Leiter durchs Nichts hier hoch und gelangen in einen nicht existenten Raum, aber dem armen Schwein seine Beine wiedergeben konntet ihr nicht?«

Alanna legt den Kopf schief und faltet die Hände.

»Tja, wenn du das so sagst, klingt das tatsächlich ziemlich unglaublich.«

»Ziemlich scheiße, meinen Sie wohl«, korrigiert Keira sie.

»Jedenfalls war er der erste unserer Helfer, der im Rollstuhl gesessen hat, und na ja«, sie legt wieder eine beschämte Pause ein, »wir wussten halt noch nicht, ob das so mit dem Hinablassen mit Rollstuhl funktioniert«, gibt sie zu.

»Offensichtlich nicht«, stellt Nina fest und klingt plötzlich nicht mehr so klein. Das muss sie aufgeschnappt haben, als sie irgendwelchen Erwachsenen zugehört hat.

»Ja, daran haben wir auch gearbeitet«, beendet Alanna das Thema und wünscht sie uns viel Erfolg.

»Müssen wir irgendwas machen?«, fragt das Motoradmädchen.

»Nein, das erledigt sich von ganz alleine. Aber schließt besser die Augen. So ist es einfacher.«

»Und wenn wir zurück wollen? Geht das auch einfach so? Abends oder wann?«, fragt Laurie. Sie scheint ziemlich nervös zu sein.

»Ihr könnt hochkommen, wann ihr wollt. Schlaf braucht ihr rein körperlich gesehen nicht mehr, aber eine Pause ist manchmal für die Seele ganz gut. Das müsst ihr entscheiden. Wir werden euch weder sitzen lassen noch aus irgendeiner Situation rausreißen.«

Alle nicken nur leicht und noch ehe ich die Augen schließen kann, ist es schon passiert. Es dauerte nicht mal ’ne Sekunde. Und dann stehe ich vor einer Haustür, direkt auf einer Fußmatte. Ich sag’s ja, abgefuckte Scheiße. Kann ich überhaupt Sachen anfassen? Ah cool, mit der Klingel funktioniert das auf jeden Fall schon mal. Es dauert eine Weile, bis die Tür geöffnet wird. Der Kerl ist in echt noch pummliger und hat sich nicht rasiert. Jogginghose, schmutziges Shirt, man, ist der arm dran!

»Äh … hi«, bringe ich nur hervor, und er blinzelt müde. Er mustert mich, dann fällt ihm mein Kopf auf und seine Augen weiten sich.

»ACH DU SCHEISSE.« Und – BÄÄM – ist die Tür wieder zu. Genervt stöhne ich auf. Wie geht denn jetzt eigentlich beamen? Ah, so, sehr interessant. Eigentlich muss ich nur einmal blinzeln und schon bin ich dort, wo ich hinmöchte. Die Wohnung ist unaufgeräumt, aber groß. Überall brauner Teppich und alte Möbel, die nicht zusammen passen. Rechts führt eine Treppe in die zweite Etage und geradeaus liegt das Wohnzimmer. Der Fernseher ist an und – HEILIGE KACKE, DA LÄUFT THE WALKING DEAD! Ohne nachzudenken gehe ich auf den Flatscreen zu. Links sitzt Jackson auf der Couch mit dem Telefon in der Hand.

»Ich schwöre es Ihnen, der Typ ist zugerichtet wie ein beschissener Zombie «, flüstert er ins Telefon, bevor er mich bemerkt. Er schreit erneut auf und zuckt dabei so dämlich zusammen, dass das Handy hochfliegt. Ich fange es auf.

»Okay, Jackson, Mann, du musst mir jetzt mal kurz zuhören«, fange ich an, aber er springt auf und weicht zurück, bis er über den rumliegenden Staubsauger fliegt und auf seinem Arsch sitzen bleibt. Sehe ich so schlimm aus?

»Du bist gar nicht real, das ist alles nur Einbildung, DU BIST GAR NICHT DA, DAS IST ALLES NUR EINBILDUNG.« Wieso muss der denn so brüllen? Verdammter Mist!

»Ich sag’s ja nur ungern, aber du hast echt unrecht«, verbessere ich ihn, und er scheint mir immer noch nicht zuzuhören. Er schüttelt den Kopf und hat den Mund offenstehen. Wieso habe ich den Freak abbekommen? Oh halt, stimmt nicht – das sind alles Freaks.

»Du musst mir nur einen Moment zuhören«, bitte ich ihn, und er beruhigt sich langsam. Und jetzt? Was soll ich sagen?

»Äh, setz dich doch erstmal.«

»Ich sitze.«

Ich schüttele den Kopf. »Auf die Couch oder einen Stuhl«, biete ich ihm einen Platz in seinem eigenen Haus an, und er rappelt sich umständlich wie ein Maikäfer, der auf dem Rücken liegt, auf. Dann steht er und lässt sich auf einem Stuhl in der Essecke nieder.

»Bist du da, um mich zu holen?«

»Was?! Nein!«, schießt es aus mir heraus, und ich verziehe verwirrt das Gesicht.

»Oh, Gott sei Dank«, atmet er erleichtert auf und nickt. Dann verkrampft er sich aber doch wieder und zeigt mit dem Wurstfinger auf mich.

»Scheiße, habe ich dich umgefahren? Letzte Woche vor dem KFC? Scheiße, tut mir echt leid, Mann, aber es war dunkel und meine eine Lampe am Auto ist doch kaputt, und ich hatte noch keine Zeit das zu reparieren, verdammte Scheiße, ich dachte, das war ein Tier«, plappert er, und ich bin überfordert.

»Hey, jetzt reg dich mal ab. Ich war das nicht. Also, denke ich.« Der Typ hat was totgefahren und ist abgehauen? Im Ernst jetzt? »Wir müssen auch eigentlich echt nur reden.« Ich trete von einem Bein aufs andere. Wie soll ich das denn erklären?

»Was ist das da an deinem …«, beginnt er und weist auf mein Gesicht.

»Äh ja, das ist eine sehr interessante Geschichte und ähm … das kann ich dir auch erklären. Aber du musst mir erstmal versprechen, dass du nicht wieder die Polizei anrufst«, fordere ich ihn auf.

»Bist du wahnsinnig? Du hast mein Handy, als ob ich dich anfasse«, keucht er und hebt abwehrend die Hände.

»Also nicht, dass du hässlich wärst oder so oder stinken würdest, aber scheiße, Alter, du siehst echt übel aus!«

»Ich bin tot, Jackson. Verstehst du?« Und wieder geht die Kinnlade runter und er verhakt die Finger ineinander. Schweiß tritt auf seine Stirn und er wird käseweiß.

»Und ich weiß, dass du dich umbringen willst.« Jetzt runzelt er die Stirn und setzt sich gerade hin.

»Will ich nicht!«, entgegnet er.

»Bist du dir da sicher? Ich meine, ach verdammt. Im Ernst jetzt, Mann?« Er nickt und dann überlegt er.

»Also, eigentlich nicht, nein. Wieso sollte ich mich umbringen wollen? Das ist doch völlig krank.« Ich starre ihn an, versuche, aus ihm schlau zu werden.

»Und du erzählst mir hier keinen Scheiß, ja?« Er nickt und irgendwie sieht er ehrlich aus.

»Äh, tja, dann wünsche ich dir alles Gute, und mach was aus deinem Leben«, fällt mir nur noch ein, und ich nicke ihm einmal zu.

»Dann bin ich jetzt weg.« Er hebt die Hand und bewegt langsam die Finger.

»Hau rein«, meint er, und das tue ich. Ich verlasse das abgeranzte Haus und schließe wieder die Augen. Es funktioniert. Als ich sie öffne, stehe ich in der Mitte des Kreises und Alanna sitzt auf einem der Stühle. Sie hat die Beine überschlagen und blättert in einem Buch.

»Miles, brauchst du schon eine Pause?«, fragt sie, als sie mich bemerkt. Ich zucke mit den Schultern.

»Der Typ wollte gar nicht abkratzen. Da muss irgendwo ein Missverständnis sein«, antworte ich ihr, und ihre Augen weiten sich.

»Es gibt keine Missverständnisse, Miles«, ruft sie dann und steht auf. Sie ist nicht sauer, aber geschockt. Sie fährt sich durch die Haare, lässt das Buch fallen und überwindet die wenigen Schritte zu mir. Sie greift meine Schultern und hält meinen Blick mit ihrem fest.

»Der Mann ist manisch depressiv, Miles. Jetzt ist er glücklich, gleich wieder unglaublich deprimiert.« Ach, verdammt!

»Und jetzt?«, krächze ich.

»Du musst zurück. Jetzt!« Ich nicke, und wenn ich schwitzen könnte, würden jetzt ganze Sturzbäche aus mir herauslaufen. Und dann bin ich wieder bei ihm. Diesmal stehe ich schon im Flur, der Fernseher läuft immer noch. Hey, die Folge kenne ich nicht! Ist das Beth? Scheiße, ist Beth tot? Ach kacke, konzentrier dich, Miles.

»Jackson?«, rufe ich, er antwortet nicht. Das kann jetzt echt nicht sein Ernst sein. Ich war gerade mal fünf Minuten weg, wenn überhaupt. Ich brülle nochmal seinen Namen, aber er ist nicht da. Oder er reagiert nicht. Vielleicht ist er geflüchtet. Ich sehe nach rechts. OKAY, OKAY, ER IST NICHT WEG. Ach du heilige Scheiße, was ist denn bei dem schiefgelaufen? DAS IST NICHT SEIN ERNST. FÜNF VERDAMMTE MINUTEN, MEINE FRESSE! Da hängt er. Fünf Minuten … Hätte nicht mal gedacht, dass der in der Zeit überhaupt aufstehen kann. Aber um sich zu erhängen, hat es offensichtlich gereicht. An der Gardinenstange. Die muss übrigens echt fest verschraubt sein.

VIER

»Das ist wirklich sehr unglücklich gelaufen, Miles, aber du bist noch ungeübt und konntest nicht wissen, was Jackson für ein Mensch ist.« Nein, überhaupt nicht, schließlich hatte ich nur den megacoolen Steckbrief plus Foto.

»’N Tipp oder so wäre echt ganz geil gewesen«, murmele ich in mich hinein. Ich starre auf meine Hände und Alanna, die neben mir sitzt, legt mir eine Hand auf die Schulter und redet weiter auf mich ein.

»Beim nächsten Mal wird es besser.«

»Oh ja, da wird sich mein Pate nicht gleich aufhängen.«

»Du darfst das nicht so negativ sehen.« ER HAT SICH UMGEBRACHT.

»Immerhin hast du was aus der Situation gelernt. Und Jackson war schon ein sehr schwieriger Fall.« Ja. Danke. Danke, dass ich den größten Bekloppten bekommen habe.

»Was genau habe ich denn bitte gelernt? Lass die Fetten nie mit ’ner Folge The Walking Dead alleine? Wer weiß, vielleicht ist ja gerade Beth abgekratzt und er hat sich deswegen erhängt.«

»Tatsächlich trifft das den Nagel ziemlich auf den Kopf.« IM ERNST JETZT?

»Das war jetzt erstens ein mieser Spoiler und zweitens sollte der Typ echt andere Prioritäten setzen. Also … hätte er tun sollen.«

Alanna nickt nur. Sie gibt mir Recht, weil ich einfach mal Recht habe, und andererseits findet sie das bestimmt furchtbar tragisch.

»Du machst jetzt erstmal eine Pause. Leg dich hin oder sieh etwas fern. Wenn du was essen möchtest, kannst du das auch tun«, bietet Alanna plötzlich sehr mütterlich an.

»Ich hab keinen Hunger«, grummele ich, und ja, irgendwie bin ich eingeschnappt.

»Miles, mein Lieber, du wirst nie wieder Hunger haben. Aber manchmal beruhigt es, etwas zu tun, das du als Lebender auch getan hast. Selbst wenn du tot bist.«

»Genau, Miles, schon vergessen, dass du tot bist?« Plötzlich taucht Keira auf, die den letzten Satz wohl noch mitbekommen hat. Sie lässt sich auf meiner anderen Seite auf einem Stuhl nieder und verliert jegliche Körperspannung. Ihr Oberkörper kippt zur Seite und sie macht sich auf zwei Sitzflächen breit.

»Wir haben auch Betten, Liebes«, sagt Alanna sanft, doch Keira schüttelt mit geschlossenen Augen den Kopf und verdeckt mit den Händen ihr Gesicht.

»Will mich nicht auch mal jemand fragen, wie es gelaufen ist?«, nuschelt sie durch ihre Finger.

»Wie ist es gelaufen, Keira?«, fragt Alanna, um sie glücklich zu machen.

»Perfekt. Sie hat mich geschlagen. Und getreten. Und das war irgendwie echt dämlich.«

»Sie hat was?« Ich muss lachen.

»Jaaah, sie hatte Angst vor mir und dachte wohl, dass ich verschwinde, wenn sie mich drangsaliert. Hat ’ne ganze Weile gedauert, bis wir beide festgestellt haben, dass sie mich nicht weiter verunstalten kann. Weh getan hat’s auch nicht besonders.«

»Vielleicht war die einfach nur schwach«, werfe ich ein.

»Alter, die hatte ’n Baseballschläger in ihrem Zimmer. Ich frag mich zwar, wer bei der einbrechen würde, um sie zu vergewaltigen, aber sie ist auf jeden Fall darauf vorbereitet.« Keira ist seltsam. Sie sagt so grausame Sachen und trotzdem finde ich es lustig.

»Was ist dann passiert, Keira?«

»Keine Ahnung, viel mehr war da nicht. Als sie irgendwann aufgehört hat, war sie der festen Überzeugung, ich bin ein Geist aus der Zukunft, der ihr futuristisches Ich darstellt. Und dann hat sie geheult wegen der Krebs-Sache. Also, weil sie dachte, dass sie das bekommen wird. Völlig dämlich, ich bin ja selbst tot und ohne Haare noch hübscher als sie, also kann ich gar nicht ihr Zukunfts-Ich sein.«

Alanna hört schweigend zu, nickt nur manchmal. Jaaah, ja, genau, Keira.

»Und dann?«

»Bin ich abgehauen. War mir zu dumm.«

»Hast du ihr gesagt, dass du wiederkommen wirst und nicht sie bist?«, fragt Alanna, und man sieht, wie sehr sie auf ein Ja hofft.

»Ich hab gesagt, dass ich nächstes Mal als Miss Piggy erscheine, damit die Scheiße, die sie gelabert hat, etwas glaubhafter wird.« Alanna schüttelt den Kopf, Keira zuckt mit den Schultern und dann sehen sie beide zu mir.

»Wie war’s bei dir?«

Ich winke ab und stehe auf.

»Wo ist die Küche? Ich will mir einbilden, was essen zu müssen«, murmele ich, und Alanna findet ihr Lächeln wieder.

»Da, wo du sie haben möchtest, findest du sie. Das gilt hier für alles, Miles.«

Wieso sagt sie immer unsere Namen? Völliger Psychoscheiß.

»Ooooh, jetzt sind wir also bei Harry Potter und dem Raum der Wünsche.«

»Das hast du gelesen?«, frage ich Keira und ziehe die Augenbrauen hoch.

»Süßer, ich hatte mein halbes Leben lang Scheißkrebs. Da liest man mehr, als dir ’ne Bücherei anbieten kann. Und außerdem ist Harry Potter ja wohl ’n Klassiker«, antwortet sie völlig selbstverständlich. Es könnte mir peinlich sein, sie auf ihre Krankheit gebracht zu haben, aber was soll’s, wir sind alle tot.

»Bin beim Film eingeschlafen.«

»Welcher Teil?«

»Dritter oder so.«

»Dann können wir keine Freunde mehr sein«, stellt Keira fest, steht auf und geht aus dem Kreis. Sie verschwimmt und dann ist sie weg.

»Sie ist schlafen«, klärt Alanna mich auf.

»Geh was essen, Miles. Man fühlt sich dadurch normaler.«

Carter, der Blinddarmtyp, schiebt sich ein riesiges Sandwich in den Mund, und Erdnussbutter mit Marmelade tropft auf den Boden. Er wischt sich über den Mund und beißt nochmal ab. Von allen hier sieht er noch mit am besten aus. Laurie ist noch nicht zurück, das Motoradmädel auch nicht und Nina schaut auf dem Kinderkanal irgendwas mit Dinos. Carter und ich essen, schon seit Stunden.

»Irgendwie ist das echt geil. Man hat zwar keinen Hunger, wird aber auch nicht satt«, schmatzt er und hat völlig Recht – das ist verdammt geil!

»Hab gehört, deiner ist tot?«, fragt er mich dann, und ich nicke.

»Tja, dumm gelaufen«, lacht er. Es ist seltsam, tot zu sein und über andere Tote zu reden. Man ist nicht mehr so ehrfürchtig. In der High School, als ich gerade von der Elementary School gekommen bin, hat sich ein Mädel aus der Oberstufe ’ne Überdosis Heroin gespritzt. Goldener Schuss oder so. Sie war, so wie ich das mitbekommen habe, die Schulnutte und hat regelmäßig Blowjobs pro bono im Jungsklo verteilt. Aber darüber hat niemand geredet, als sie tot war. Meine damalige Freundin hat mir das einmal erzählt und dann nie wieder, weil sie der Meinung war, man dürfe nicht schlecht über jemanden reden, der gestorben ist. So wie alle anderen auch. Auf ihrer Beerdigung hat keiner darüber geredet, dass sie jedem, der wollte, gratis einen geblasen hat. Keiner hat das erwähnt. Jetzt ist das anders. Es ist nicht mehr tragisch, wenn jemand verreckt, den man nicht kennt, weil man selbst auch tot ist. Im Endeffekt sind wir alle in der Scheiße stecken geblieben. Niemand kommt da mehr raus, und wir bleiben alle hässlich bis zum Schluss. Wer ’ne Cracknutte war, als er aufgehört hat zu leben, der wandelt ewig als Cracknutte rum. Wer keine Haare mehr am Körper hatte, der kann sich nie wieder ’ne Frisur machen. So ist das einfach. Wir sind alle verloren, und es gibt kein Zurück. Wir müssen wohl wirklich versuchen, irgendwas Gutes aus dieser Situation zu machen. Sonst wird es ja langweilig.

»Und bei dir?« Carter zeigt mir einen Daumen hoch.

»Alles fit. Hab so ’ne Oma abbekommen, und die liebt mich echt über alles, hab ich das Gefühl.« Er schlingt den Rest seines Brots herunter und spült mit Milch nach.

»Gibt nur ein Problem.« Er macht eine Pause. »Kann absolut verstehen, dass sie sterben will.« Er leckt seine Finger ab, und ich kippe Cornflakes in eine Schüssel.

»Hat ihren Mann im zweiten Weltkrieg verloren und keine Kinder. Die Frau muss hundert sein oder so. Sie möchte nach Oregon wegen der legalen Sterbehilfe. Halt mal so ’ne einsame Granny davon ab, sich legal das Leben nehmen zu lassen, bevor sie womöglich so oder so unter starken Schmerzen stirbt.«

Okay, der ist ärmer dran als ich. Tut mir ja fast schon ein bisschen leid.

»Vielleicht stirbt sie ja über Nacht. Im Schlaf. Das soll echt angenehm sein«, meine ich und zucke mit den Schultern.

»Ist bestimmt wie in der Narkose. Da kriegt man gar nichts mit.« Carter muss echt entspannt gestorben sein.

»Und weißt du, was krass ist? Es gibt doch Menschen, die während einer OP mehrere Minuten tot sind und danach behaupten, ihren Körper von oben gesehen zu haben. Also, nachdem sie reanimiert und aufgewacht sind. Das ist wirklich so. Nur glaubt denen keiner. Ich kann es bestätigen, aber ich bin ja tot«, stellt er am Ende fest und wirkt fast etwas enttäuscht.

»Sag doch deiner Oma, dass sie den anderen von dir erzählen soll. Dann ist sie sozusagen dein Bote.«

»Oh ja, klar, einer steinalten, fast toten und völlig verrückten Frau wird man das bestimmt abkaufen«, meint er sarkastisch und hat wahrscheinlich recht. Die Welt wird sie für verrückt erklären. Aber sie ist ja eh bald tot, das kann ihr ja egal sein.

»Ich rede mir jetzt ein, müde zu sein. Hau rein«, gähnt er und steht auf. Dann ist er weg und ich bin alleine in der Hightech-Küche. Alanna kommt nach ein paar Minuten des Nichtbewegens und Denkens meinerseits zu mir. Sie setzt sich dahin, wo Carter gesessen hat, und gießt sich ein Glas Wasser ein.

»Wir haben eine neue Patin für dich, Miles.«

FÜNF

Das hier ist eindeutig zu viel »Twilight«. Also nicht, dass ich den Scheiß gesehen hätte oder so, aber meine Ex stand da total drauf … und jaah, da hat sich das dann halt irgendwie ergeben. Wie gesagt, die Situation gerade ist der im ersten Teil, als Bella von Edward beim Schlafen beobachtet wird, sehr ähnlich. Nur, dass meine Patin nicht annähernd so wenig bekleidet ist wie die junge Miss Swan. Sie hat die Decke bis an den Kopf hoch gezogen und von ihrem Gesicht sieht man so gut wie gar nichts, weil sie auf dem Bauch liegt. Naja, ’n fetten Arsch hat sie schon mal nicht. Die Haare sind hell und unglaublich lockig. Also nicht solche zarten, fließenden Locken. Mehr solche krausen Afrolocken. Nur halt in einem überhaupt gar nicht in den Augen stechenden Blond. Ist das Platin? Oder Grau? Vielleicht ist sie ja gar nicht siebzehn, sondern achtundsiebzig und ich bin im falschen Haus. Ich sitze auf ihrem Stuhl und einem Berg schmutziger Klamotten. Irgendwie eklig, aber die andere Möglichkeit wäre ihr Bett gewesen und darauf verzichte ich lieber. Wieso sollte ich eigentlich jetzt schon kommen? Also, warum war Alanna der Meinung, ich muss vier Uhr nachts meine Bekloppte kennenlernen.

»Nein, lass mich … lass mich in Ruhe«, nuschelt sie plötzlich. Ah, deswegen. Ihre Hände krallen sich in die Decke und sie zieht sie sich nun vollständig über den Kopf. Schon wieder so ’ne Bescheuerte. Sie schreit laut auf, schlägt die Decke weg und sitzt kerzengerade im Bett. So hässlich ist sie gar nicht. Kleine Nase, Sommersprossen, durchschnittliche Lippen. Sie keucht laut auf und die Locken fallen ihr ins Gesicht. Ihr Atem lässt sie fliegen und sie starrt geradeaus an die Wand. So ungefähr zehn Sekunden, dann wandert ihr Blick langsam und mechanisch nach links. Zu mir. Badumz. Und schon schreit sie wieder. Fantastisch. Ich verdrehe die Augen und stehe auf. Beschwichtigend hebe ich die Hände und gehe jetzt doch zu ihr.

»Hey, hey beruhig' dich.« Meine Güte, ist die laut. Sie übertönt mich, schüttelt den Kopf und rutscht mit dem Rücken bis an die Wand. Mittlerweile schreie ich auch, die soll mir schließlich endlich zuhören.

»MEINE GÜTE JETZT HALT DOCH ENDLICH DIE KLAPPE.«

»VERSCHWINDE, VERSCHWINDE VON HIER, DU FREAK.« Oh wow, das hat mich jetzt echt getroffen. Das war fies. Keine Ahnung, ob das Mädel keine Eltern hat oder die keine Ohren, aber niemand kommt. Sie streckt die Hände nach vorne aus und schlägt mit den Beinen nach mir. Okay, das reicht doch jetzt aber wirklich. Ich weiche ihren Tritten aus und das bringt sie aus der Fassung. Das nutze ich und werfe mich auf sie. Sie muss winzig sein, kann sich kaum wehren. Ihr Schlafanzug mit kleinen Elefanten drauf ist echt einnehmend, ich komm’ gar nicht klar, dass sie sowas trägt, und bin eine Sekunde abgelenkt.

»Geh runter von mir«, quiekt sie dann aber auf und ich sehe sie an.

»Klar, wenn du den Mund hältst, gerne«, befehle ich, und sie wird ganz rot im Gesicht vor Aufregung. Ich halte ihre Arme fest und sie versucht schon gar nicht mehr, mich wegzustoßen.

»Wer zur Hölle bist du?« Bevor ich antworten kann, rieche ich es. Meine Güte, wie kann man nur so ein beschissenes was auch immer tragen?

»Benutzt du Parfüm, bevor du schlafen gehst?«, frage ich und drehe mein Gesicht von ihr weg. Das ist so eine ganz üble Mischung aus ’ner Milliarde Blumen und irgendwas anderem.

»Das ist mein Shampoo«, rechtfertigt sie sich entrüstet und sieht etwas beleidigt aus. Ich lasse sie los und sie setzt sich wieder gerade hin.

»Glättet die Haare«, fügt sie noch hinzu und ich ziehe die Augenbrauen hoch.