Estep, Jennifer Black Blade

PIPER

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Lesen was ich will!

www.lesen-was-ich-will.de

 

Wie immer: Für meine Mom, meine Grandma und Andre – für all ihre Liebe, Hilfe, Unterstützung und Geduld mit meinen Büchern und allem anderen im Leben.

Übersetzung aus dem Amerikanischen von Vanessa Lamatsch

ISBN ‎978-3-492-97482-0‎

Oktober 2016

© 2016 Jennifer Estep

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »Bright Blaze of Magic« bei ‎Kensington Publishing Corp., New York.‎

Deutschsprachige Ausgabe:

© ivi, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München / Berlin 2016

Covergestaltung: Zero Werbeagentur, München

Covermotiv: FinePic®, München

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

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Danksagung

Jede Autorin wird erklären, dass ihr Buch ohne die Arbeit vieler, vieler Menschen nicht möglich gewesen wäre. Hier sind einige der Leute, die dabei geholfen haben, Lila Merriweather und die Welt von Cloudburst Falls zum Leben zu erwecken:

Ich danke meiner Agentin Annelise Robey für all ihre hilfreichen Ratschläge.

Ich danke meiner Lektorin Alicia Condon für ihren scharfen Blick und die aufmerksamen Anmerkungen. Sie machen das Buch immer ein Stück besser.

Ich danke allen bei Kensington, die an diesem Projekt mitgearbeitet haben, besonders Alexandra Nicolajsen, Vida Engstrand und Lauren Jennings für ihre Werbung. Und ein Danke geht auch an Justine Willis.

Und schließlich möchte ich all meinen Lesern da draußen danken. Ich schreibe Bücher, um euch zu unterhalten, und das ist mir immer eine besondere Ehre. Ich hoffe, ihr habt genauso viel Spaß dabei, von Lila zu lesen, wie ich, über sie zu schreiben.

Viel Spaß!

1

»Du bist der schlechteste Dieb, den ich je gesehen habe.«

Felix Morales sah mich böse an, stoppte und ließ die große, schwarze Sporttasche, die er trug, auf den Boden fallen. Ich verzog das Gesicht, als die Gegenstände darin aneinanderstießen und dabei lautstark klimperten.

»Wieso sagst du so was?«, fragte er.

»Och, keine Ahnung«, meinte ich. »Vielleicht, weil du durch den Wald stampfst, als würdest du versuchen, jeden Grashalm unter deinen Füßen zu zermalmen. Ganz abgesehen davon, dass du mit deinem Schwert auf Büsche einhackst, als wärst du auf einer Dschungelsafari. Und dann wäre da noch dein Gelaber. Also die Tatsache, dass du ununterbrochen redest. Ein Wunder, dass du nicht wegen Sauerstoffmangel einfach umkippst.«

Felix kniff die Augen zusammen. »Und was ist falsch an ein wenig gepflegter Konversation, während wir durch den Wald gehen?«

»Gepflegte Konversation? Du redest nonstop, seit wir das Herrenhaus verlassen haben.«

»Und?«

Ich riss die Hände in die Luft. »Eigentlich muss man den Mund halten und ruhig sein, wenn man als Dieb arbeitet! Ganz einfach!«

Felix warf mir einen störrischen Blick zu und wollte die Arme über der Brust verschränken – bis ihm auffiel, dass er immer noch sein Schwert in der Hand hielt. Dasselbe Schwert, das er während der letzten zwanzig Minuten geschwungen hatte wie eine Machete. Er sah mich böse an, aber schließlich schob er die Waffe in die Scheide an seinem Gürtel. Nun, das sollte zumindest dafür sorgen, dass ein Teil des Lärms endlich aufhörte. Wenn ich jetzt noch ein wenig Klebeband für seinen Mund auftreiben konnte …

Felix zeigte anklagend mit dem Finger auf den Kerl, der neben uns stand und gerade damit beschäftigt war, seine Sporttasche ebenfalls abzulegen, wenn auch um einiges leiser als Felix. »Und wieso hältst du ihm keinen Vortrag, dass er still sein soll?«

»Weil Devon sich durch den Wald bewegen kann, ohne jeden einzelnen Ast zu zerbrechen, auf den er tritt.«

Felix schnaubte abfällig. »Das sagst du doch nur, weil ihr beide in den letzten Wochen überall im Herrenhaus rumgeknutscht habt.«

Ich verspannte mich, weil ich mich immer noch nicht daran gewöhnt hatte, dass ich jetzt mit jemandem zusammen war. Und noch weniger war ich daran gewöhnt, mit dem besten Freund dieses Jemands darüber zu reden. Aber Devon Sinclair trat vor, legte einen Arm um meine Hüfte und zog mich an sich.

»Und das waren die besten zwei Wochen meines Lebens«, sagte er, bevor er mich breit angrinste.

Mit seinem schwarzen Haar, der bronzefarbenen Haut und seinen dunklen, seelenvollen Augen war Felix ohne Frage ziemlich süß, aber Devon war derjenige, der mein Herz zum Rasen brachte wie einen Baumtroll im Zuckerrausch. Die Strahlen der untergehenden Sonne, die durch das Blätterdach fielen, brachten die honigfarbenen Strähnen in Devons schokoladenbraunen Haaren zum Leuchten, während sein attraktives Gesicht im Schatten lag. Doch es waren seine Augen, die mich jedes Mal fesselten – Augen, die dasselbe tiefe, dunkle Grün aufwiesen wie der Wald um uns herum.

Ich legte meinen Kopf an seine muskulöse Schulter und lehnte mich gegen ihn, um die Wärme seines Körpers an meinem zu spüren und seinen würzigen, frischen Kiefernduft in mich aufzunehmen. Bisher war das Zusammensein mit Devon wie ein wunderbarer Traum und manchmal musste ich mich daran erinnern, dass wir wirklich – endlich – ein Paar waren.

Wer hätte das gedacht? Sicher nicht ich, Lila Merriweather, das Mädchen, das vier Jahre lang auf der Straße gelebt hatte, bevor es Anfang des Sommers begonnen hatte, für die Sinclair-Familie zu arbeiten. Und ich hatte nie damit gerechnet, dass ich mich ausgerechnet in Devon Sinclair verlieben würde, den Wächter der Familie und Sohn von Claudia Sinclair, deren Oberhaupt.

Ich mochte eine tolle Diebin sein, aber in Bezug auf Menschen war ich nicht so toll. Ich räumte ihnen lieber die Taschen aus, als mich mit ihnen anzufreunden. Aber Devon hatte all meine Abwehrmechanismen ignoriert und unterlaufen, indem er einfach der nette, aufmerksame, ehrliche, loyale Kerl war, der er eben war. Ich hatte nicht das Geringste getan, um ihn zu verdienen. Doch jetzt, da er mir gehörte, würde ich ihn so gut beschützen, wie ich nur konnte. Tatsächlich war das als Devons Leibwächterin eine meiner Hauptaufgaben in der Familie, aber er passte genauso gut auf mich auf wie ich auf ihn.

Versteht mich nicht falsch. Es war nicht so, als wäre ich plötzlich weich geworden oder irgendwas in der Art. Ich arbeitete immer noch regelmäßig auf den Straßen von Cloudburst Falls, West Virginia, als Taschendiebin und ich war durchaus nicht zu fein dazu, den Leuten, die es sich leisten konnten, Handys, Fotoapparate und andere glänzende Dinge abzunehmen. Schließlich musste ich in Übung bleiben. Aber inzwischen dienten fast all meine Diebeszüge dem höheren Wohl und wurden von der Mafia unterstützt. Wie mein Job heute Abend. Der Job, dessen Erfolg Felix mit seinem ständigen Gelaber und Getrampel gefährdete.

Felix verdrehte genervt die Augen. »Genug geturtelt«, moserte er, schnappte sich seine Tasche und schwang sie sich über die Schulter, wobei erneut lautes Klirren erklang. »Ich dachte, es gäbe da ein Haus, in das wir einbrechen, und Dinge, die wir stehlen müssen.«

Statt mich loszulassen, schlang Devon beide Arme um mich und zog mich noch näher an sich. »Du bist doch nur eifersüchtig, weil Deah nicht hier ist. Sonst würdest du dasselbe mit ihr tun.«

Felix brummelte leise. »Bitte. Ich wäre bereits damit beschäftigt, mein Mädchen zu küssen und ihr zu versichern, wie wunderbar sie ist – und zwar bevor ich sie auf einen Spaziergang im Mondschein entführe. Im romantischen Spiel gebe ich immer von Anfang bis Ende mein Bestes. Und genau das habe ich auch vor, sobald wir uns aufs Anwesen geschlichen und uns mit ihr getroffen haben. Also, wenn ihr mich jetzt entschuldigen würdet, meine Dame erwartet mich.«

Er hob die Hand zu einem frechen Salut, dann wirbelte er herum und stampfte weiter durch den Wald, wobei er fast genauso viel Lärm machte wie bisher. Er mochte ja sein Schwert weggesteckt haben, sodass er nicht mehr auf die Büsche einschlagen konnte, doch stattdessen murmelte er leise vor sich hin. Felix war einfach nicht glücklich, wenn er nicht redete wie ein Wasserfall – selbst wenn er dabei nur mit sich selbst sprach.

Ich seufzte. »Ich weiß nicht, ob ich ihn erwürgen oder sein Selbstbewusstsein bewundern soll.«

»Entspann dich, Lila.« Devon drehte sich um, sodass wir uns gegenüberstanden, seine Hände immer noch an meinen Hüften. »Felix wird schon den Mund halten, sobald wir uns dem Schloss wirklich nähern. Ihm ist bewusst, wie wichtig unsere Aufgabe ist. Das ist uns allen bewusst.«

Ich nickte. »Du weißt immer genau, was du sagen musst, damit ich mich besser fühle.«

Er grinste. »Das gehört zu meiner Aufgabe als Freund, richtig?«

Ich schlang die Arme um seinen Hals. »Als der wunderbarste Freund.«

Devon sah auf mich herunter und seine grünen Augen funkelten wie dunkle Smaragde. Unsere Blicke trafen sich und meine Seelensicht – meine Magie – schaltete sich ein und ließ mich in die Tiefen seines Herzens sehen. Sofort wärmte reines Glück mein Herz, als würde ich es selbst fühlen. In gewisser Weise war es auch so, da ich exakt dasselbe empfand, wann immer ich Devon ansah – wann immer ich seine Stimme hörte, wann immer ich ihn zum Lachen oder Lächeln brachte oder ihm irgendwie anders den Tag versüßte.

Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und presste meine Lippen auf seine. Devon zog mich enger an sich und erwiderte den Kuss. Wieder und wieder trafen sich unsere Lippen, bis ich mich fühlte, als würden wir uns in schwindelerregenden Kreisen drehen, obwohl wir vollkommen stillstanden.

»Sobald ihr Turteltäubchen bereit seid!«, rief Felix laut genug, dass die Steinhörnchen auf dem Waldboden sich in ihre Höhlen flüchteten.

Devon und ich lösten uns schwer atmend voneinander, doch ohne den anderen wirklich loszulassen.

»Unglücklicherweise ruft die Pflicht«, murmelte er heiser. »Fortsetzung folgt später?«

Ich grinste. »Aber absolut!«

Devon und ich holten Felix ein und zu dritt drangen wir tiefer in den Wald vor. Die Sommersonne war untergegangen, während Devon und ich geknutscht hatten, und schnell ergriff die Dunkelheit Besitz vom Wald. Wir wagten es nicht, Taschenlampen zu verwenden, daher ließen sich Devon und Felix hinter mich zurückfallen, da ich immer noch alles um mich so klar erkennen konnte, als sei heller Mittag. Nicht nur konnte ich mein seltenes Talent für Seelensicht einsetzen, um in Leute hineinzuspähen und zu fühlen, was sie fühlten, sondern ich besaß zusätzlich noch ein normales Talent für Sicht, das es mir erlaubte, alles um mich herum kristallklar zu erkennen, egal wie dunkel es auch sein mochte.

Und der Ort, zu dem wir gerade gingen, war definitiv ein finsterer Ort – das Anwesen der Draconi-Familie, Heim von Victor Draconi, dem mächtigsten Mann von Cloudburst Falls und Erzfeind der Sinclair-Familie.

Dem Monster, das meine Mom ermordet hatte.

Je länger wir gingen, desto dunkler wurde es und desto stiller wurden wir. Selbst Felix hörte auf zu reden und senkte die Hand auf sein Schwert, wobei er ständig die Bäume um uns herum im Blick behielt, obwohl er durch den dichten Nebel, der langsam von der Spitze des Cloudburst Mountain in die Wälder herabsank, kaum etwas sehen konnte. Ab und zu hörte ich in der Ferne das leise Rauschen eines der vielen Wasserfälle, die sich über die Bergflanken ins Tal ergossen. Die daraus entstehenden Nebelschwaden umhüllte selbst am heißesten Mittag die Bergspitze. Nachts, wenn die Sonne untergegangen war, wurde der Nebel dichter und dichter und sank immer tiefer ins Tal.

Doch auch die weißen Schwaden konnten die Augen nicht verstecken, die uns anstarrten.

Saphirblau, Rubinrot, Smaragdgrün. Die Farben waren dieselben wie bei all den Juwelen, die ich über die Jahre gestohlen hatte. Doch diese leuchtenden Augen gehörten den Monstern, die den Berg als ihr Zuhause betrachteten – Baumtrolle, Steinhörnchen, Kupferquetschen und Ähnliches. Einige waren gefährlicher als andere, doch zwischen den Bäumen lauerten reichlich Monster mit genug Zähnen und Klauen, um uns alle drei in eine Mahlzeit zu verwandeln.

Trotzdem störten mich die kühlen Nebelschwaden und die lauernden Monster genauso wenig wie der Tau, der alles um uns herum überzog. Für uns bedeutete das einfach nur bessere Deckung.

Denn wenn man uns erwischte, würden wir auf der Stelle hingerichtet werden.

Zwanzig Minuten später erreichten wir den Waldrand, kauerten uns nieder und spähten zu dem Gebäude, das sich vor uns erhob. Streng genommen war es ein Herrenhaus, auch wenn der glänzende weiße Stein und seine Architektur es eher aussehen ließen wie ein Schloss. Hohe Buntglasfenster. Weiße Spaliere mit roten Rosen daran. Hoch aufragende Türme mit roten Flaggen, auf denen das Familienwappen der Draconis abgebildet war, ein fauchender goldener Drache. Alles am Schloss wirkte, als sei es direkt aus einem Märchen hierher versetzt worden. Aber hier gab es kein Happy End – nur Gefahren, Verzweiflung und Leid.

Devon, Felix und ich waren in den letzten zwei Wochen jede Nacht hierhergeschlichen. Jetzt folgten wir unserer üblichen Routine, indem wir erst einmal die Wachen auf ihren Patrouillengängen beobachteten. Inzwischen war es fast vollkommen dunkel. Devon und Felix trugen beide schwarze Mäntel, um besser mit den Schatten zu verschmelzen. Ich dagegen hatte den langen, saphirblauen Trenchcoat meiner Mom übergeworfen, der aus Spinnenseide bestand, die es mir ebenfalls ermöglichte, mich perfekt in den aufsteigenden Schatten zu verbergen.

Die Draconi-Wachen trugen schwarze Stiefel, Hosen und Hemden, gepaart mit blutroten Umhängen und Musketierhüten, sodass sie aussahen wie Statisten aus einem Mantel-und-Degen-Film. Allerdings waren sie um einiges gefährlicher. Alle Wachen hatten eine Hand am Heft ihres Schwertes und hielten nach Eindringlingen Ausschau, während sie gleichzeitig die Umgebung nach Monstern absuchten, die sich vielleicht an sie heranschlichen. Mehr als eine unaufmerksame Wache war von Kupferquetschen erwischt und in den Wald geschleppt worden, um dort als Abendessen der riesigen, giftigen Würgeschlangen zu enden.

»Alles okay?«, fragte Felix nach einem Blick auf sein Handy. »Es ist fast schon Zeit, uns mit Deah zu treffen. Ihr wisst doch, welche Sorgen sie sich macht, wenn wir auch nur eine Minute zu spät kommen.«

Aus gutem Grund. Wenn sie dabei erwischt wurde, wie sie dem Feind half, würde Deah gleich mit uns zusammen hingerichtet werden trotz der Tatsache, dass sie Victors Tochter war.

Statt ihm zu antworten, zählte ich die Wachen, die ich sehen konnte. Eine, zwei, drei … Es kostete mich nicht lange, um zu verstehen, dass heute irgendetwas anders war. Mein Magen verkrampfte sich.

»Wartet«, flüsterte ich. »Heute Abend patrouillieren mehr Wachen.«

Devon spähte stirnrunzelnd über die Rasenfläche. »Woher weißt du das?«

»Ich kann sie sehen. Vertrau mir. Es sind mehr Wachen als sonst.«

»Können wir trotzdem unseren üblichen Weg zum Herrenhaus nehmen?«, fragte er angespannt, wobei er mit einer Hand den Griff der schwarzen Tasche zu seinen Füßen umklammerte. »Das ist unser letzter Ausflug. Wenn wir es auch heute ins Haus schaffen, sind wir endlich fertig.«

»Gebt mir eine Sekunde, um das abzuchecken«, meinte ich.

Devon und Felix verfielen in Schweigen, doch sie sahen immer wieder von mir zu den Wachen und zurück. Ich konzentrierte mich und musterte erst eine Wache, dann die nächste. Es kostete mich weniger als eine Minute, um herauszufinden, dass Victor einfach nur die Anzahl der Wachen verdoppelt hatte und sie dafür in Zweierteams patrouillieren ließ. Allerdings hatte er die eigentlichen Routen der Teams nicht verändert, was bedeutete, dass wir auf demselben Weg ins Schloss eindringen konnten wie immer.

»Alles okay«, sagte ich. »Schreib Deah und sag ihr, dass wir unterwegs sind.«

Felix nickte, während sein Daumen bereits über das Display flog. Kurze Zeit später leuchtete sein Bildschirm auf. »Deah sagt, an ihrem Ende ist die Luft rein.«

»Gut«, meinte ich. »Bleibt hinter mir.«

Tief geduckt verließ ich den Wald und eilte über den Rasen, wobei ich mich immer wieder hinter verschiedenen Bäumen und Büschen versteckte und mich nur vorwärtsbewegte, wenn die Wachen mir gerade den Rücken zuwandten. Devon und Felix folgten mir. Beide bewegten sich so leise wie möglich und drückten die schwarzen Taschen gegen die Brust, um das verräterische Klirren zu dämpfen.

Weniger als drei Minuten später erreichten wir eine der seitlichen Terrassentüren. Ich hob die Hand und drehte vorsichtig den Knauf. Nicht verschlossen. Ein Teil von mir war enttäuscht, weil es einfach keinen Spaß machte, in ein Haus einzubrechen, wenn die Verbündete im Inneren den Zugang offen ließ.

Aber ich schob die Glastür auf und winkte Devon und Felix hinein. Dann glitt ich hinter ihnen ins Schloss und verriegelte die Tür, nur für den Fall, dass die Wachen beschlossen, sie zu kontrollieren. Sofort übernahm ich wieder die Führung der Gruppe, während wir von einem Flur in den nächsten schlichen und eine Treppe nach der anderen nach oben stiegen.

Von außen mochte das Herrenhaus der Draconis ja einem Schloss ähneln, doch der wahre Reichtum fand sich im Inneren. Fast alles um uns herum glänzte golden, von den Kristalllüstern über unseren Köpfen über die vergoldeten Rahmen der Spiegel an den Wänden bis hin zu den Zierleisten an Tischen und Stühlen. Und Victors Wappen mit dem fauchenden Drachen fand sich überall: gemalt, gemeißelt, gestickt oder eingestanzt. In dem Stuckprofil an der Decke genauso wie in den Buntglasfenstern oder den weißen Fliesen auf dem Boden.

All diese Drachen waren schon unheimlich genug, aber mir kam es immer vor, als würde jedes einzelne Monster den Kopf drehen, die Augen zusammenkneifen und Devon, Felix und mich böse anstarren, während wir vorbeischlichen. Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken. Manchmal wäre es mir ganz lieb gewesen, trotz meiner Sichtmagie nicht ganz so gut zu sehen.

Schnell stiegen wir mehrere Treppen hinauf, bis wir das Grünlabor der Draconis erreichten. Auch hier waren die Glastüren unverschlossen. Wir glitten hinein und durchquerten den weitläufigen Bereich, der zum Teil Chemielabor, zum Teil Gewächshaus war, in dem eine Vielzahl von magischen und nicht magischen Pflanzen gezogen und geerntet wurden. Die langen, scharfen Nadeln der Stechstachelbüsche zitterten, als wir an ihnen vorbeieilten, doch wir kamen ihnen nicht nah genug, als dass die Pflanzen mit ihren Ästen hätten ausholen und uns hätten kratzen können, weil wir sie gestört hatten.

Wir erreichten das andere Ende des Grünlabors. Ich schlich mich an die Glastür heran und spähte in den Flur hinaus. In diesem Teil des Hauses herrschte dämmriges Licht, das mehr Schatten schuf als verbannte. Genau, wie ich es mochte.

Da die Luft rein war, trat ich durch die Tür in den Flur …

Und ein Schwert schoss aus dem Zwielicht und sauste direkt auf mich zu.

2

Die Klinge stoppte nur Zentimeter vor meiner Kehle.

Ich erstarrte angespannt, die Augen weit aufgerissen, die Hand auf dem Heft meiner Waffe, obwohl ich wusste, dass ich sie nie schnell genug würde ziehen können, um mich damit zu verteidigen, bevor man mich aufspießte.

»Ihr seid spät dran«, knurrte eine vertraute Stimme.

Deah Draconi trat aus den Schatten, ihr Schwert immer noch an meiner Kehle. Ich sah an der Klinge hinunter auf die Sterne, die in das mattgraue Metall graviert waren. Ein ähnliches Muster zierte auch mein Schwert. Unsere Waffen waren uns jeweils von unserer Mutter gegeben worden, und beide waren Schwarze Klingen.

Deah war ziemlich hübsch mit ihrem goldenen Haar und den dunkelblauen Augen, die dieselbe Farbe hatten wie meine – neben unseren Schwarzen Klingen ein weiteres Zeichen dafür, dass in unserer beider Adern das Blut der Sterling-Familie floss. Deah trug weiße Shorts und Sandalen in Kombination mit einem roten T-Shirt, doch mein Blick fiel sofort auf die goldene Armmanschette an ihrem rechten Handgelenk, auf der das Draconi-Drachenwappen prangte. Deah mochte uns im Moment helfen, aber ein Teil von mir fragte sich, für welche Seite sie sich letztendlich entscheiden würde – wenn Victor seine Pläne in die Tat umsetzte, die darauf abzielten, alle anderen Familien zu vernichten, angefangen mit den Sinclairs.

»Hallo, Cousine«, sagte ich gedehnt. »Ich hatte dich gar nicht gesehen. Du wirst langsam besser im Herumschleichen. Das freut mich. Vielleicht machen wir ja doch noch eine Diebin aus dir.«

Deah verdrehte die Augen, als ich sie Cousine nannte, aber gleichzeitig ließ sie ihr Schwert sinken. Keine von uns hatte gewusst, dass wir verwandt waren. Erst vor ein paar Wochen war die ganze Sache beim Turnier der Klingen aufgeflogen. Wir mussten uns noch an die Idee gewöhnen, dass dasselbe Blut in unseren Adern floss. Und wir mussten herausfinden, welche Art von Beziehung wir pflegen wollten.

»Wo ist Seleste?«, fragte ich freundlicher, womit ich mich auf ihre Mutter und meine Tante bezog.

»Direkt hier, Liebling«, rief eine fast singende Stimme.

Seleste Draconi trat um eine Ecke und sprang fröhlich durch den Gang in unsere Richtung. Sie war wunderschön mit ihrem langen blonden Haar, das ihre Schultern umspielte wie ein Fluss aus Gold. Ein hauchdünnes weißes Kleid umflatterte ihren Körper wie Nebelschwaden. Sie wirkte unwirklich, wie nicht von dieser Welt, als sei sie eine dieser Feenköniginnen aus den Märchen, die meine Mom mir als Kind immer vorgelesen hatte.

Seleste hielt breit lächelnd vor mir an und ihre dunkelblauen Augen leuchteten so hell wie die jedes Monsters. Obwohl sie mich direkt anschaute, konnte ich erkennen, dass sie mich nicht wirklich sah. Wie der Rest der Sterling-Frauen besaß auch Seleste Sichtmagie. Aber ihr Talent ließ sie in die Zukunft sehen, was dazu führte, dass sie manchmal seltsame Dinge tat und sagte. Die meisten Leute hielten sie für verrückt und machten sich über sie lustig, doch mir war sie auf seltsame Art ans Herz gewachsen. Außerdem waren Seleste und Deah die letzten Blutsverwandten, die mir geblieben waren, und ich würde auf sie aufpassen. Das hätte sich auch meine Mom gewünscht.

»Lila, Liebes!« Seleste nahm meine Hände in ihre. »Komm, geh ein Stück mit mir!«

Zusätzlich zu ihrer Sichtmagie besaß Seleste noch ein Stärketalent, das es ihr erlaubte, mich durch den halben Flur zu zerren, bevor ich meine Turnschuhe tiefer in den Teppich grub. Und selbst dann schaffte sie es noch, mich herumzuwirbeln wie in einem Tanz, bevor ich sie davon abhalten konnte.

»Hallo, Seleste«, sagte ich sanft. »Ich freue mich auch, dich zu sehen.«

Sie packte meine Hände fester, um mich mit ihrer Magie an Ort und Stelle zu halten. »Ich bin so froh, dass du hier bist, Liebling. Ich muss mit dir reden.«

Trotz der Tatsache, dass wir uns nur wenige Schritte von Deah, Felix und Devon entfernt hatten, die sich leise miteinander unterhielten, sah Seleste sich um, als rechnete sie damit, dass sich jemand in den Schatten versteckte und uns belauschte. Als sie davon überzeugt war, dass niemand zuhörte, beugte sie sich vor und schenkte mir ein verträumtes Lächeln, wobei sie mir tief in die Augen sah. Die Magie in ihrem Blick brannte noch heller als zuvor.

»Hab keine Angst vor den Blitzen«, flüsterte sie eindringlich. »Sie sind deine Freunde, genauso wie die Monster. Monster sind deine Freunde. Das darfst du nie vergessen.«

Seleste hatte in den letzten paar Wochen immer wieder seltsame Dinge zu mir gesagt, besonders während des Turniers der Klingen, als ich sie gerade erst kennengelernt hatte. Aber das hier war einfach nur bizarr. Was für Blitze? Und wieso glaubte sie, die Monster seien meine Freunde? Sie waren einfach nur Monster. Ich zahlte ihren Zoll und sie ließen mich in Frieden. Nicht mehr, nicht weniger.

Sobald sie ihre Botschaft überbracht hatte, ließ Seleste meine Hände los und trat zurück. Dann schenkte sie mir ein weiteres träumerisches Lächeln, wandte sich ab und hüpfte den Flur entlang zurück zu den anderen.

»Seleste!«, zischte ich, weil ich genauer wissen wollte, was sie damit gemeint hatte. »Seleste!«

Aber sie winkte mir nur und sprang weiter, vorbei an Deah und den Jungs.

»Mom!« Diesmal war es Deah, die zischend nach ihr rief. »Mom!«

»Mach dir keine Sorgen, Liebling!«, rief Seleste über die Schulter zurück. »Ich gehe jetzt sofort ins Bett! Versprochen! Viel Spaß mit deinen Freunden!«

Im nächtsen Moment verschwand sie um die Ecke des Flurs.

Ich ging zurück zu den anderen, die alle in die Richtung starrten, in der Seleste verschwunden war.

»Also«, meinte Devon und brach damit das Schweigen, »auf jeden Fall war sie sehr … fröhlich.«

»Wie macht sie sich?«, fragte ich.

Deah sah mich an. »Tatsächlich geht es ihr in den letzten zwei Wochen viel besser. Es ist, als hätte es sie beruhigt, dass sie dich beim Turnier gesehen hat und dass wir jetzt zusammenarbeiten. Sie wirkt klarer, konzentrierter, weniger verwirrt.«

Ich nickte, wobei ich mich immer noch fragte, was ich mit Selestes seltsamer Warnung anfangen sollte. Blitze und Monster. Sorge stieg in mir auf. Was für eine Vision meiner Zukunft sie auch gesehen haben mochte, offensichtlich erwartete mich nichts Gutes.

»Ähm, ich will ja nicht rumjammern, aber können wir jetzt mal weitermachen?«, fragte Felix, der nervös von einem Fuß auf den anderen trat. »Diese Taschen sind schwer.«

Deah sah Felix an und ihr Blick wurde sanft. »Weißt du, eigentlich gefällt es mir, dich jeden Abend zu sehen – auch wenn es nur wegen meinem Dad und seinen Plänen ist.«

Felix’ Augen leuchteten. »Ich mag es auch, dich zu sehen.«

Dann grinste er, trat vor und legte einen Arm um ihre Schulter. »Habe ich dir schon gesagt, wie wunderschön du heute Abend aussiehst …«

Er flüsterte ihr etwas ins Ohr, während sie vor uns den Flur entlanggingen. Devon grinste und stieß mich mit dem Ellbogen an. Ich verdrehte die Augen, doch gleichzeitig grinste ich zurück. Es freute mich, dass Deah und Felix ihr Glück gefunden hatten. Allerdings brachte ihre Beziehung beide in große Gefahr.

Zusammen gingen wir zu Victors Büro. Deah wedelte auffordernd mit der Hand in Richtung der Doppeltür, deren Türknäufe zwei fauchende Drachen darstellten. Die Kreaturen sahen aus, als könnten sie jeden Moment zum Leben erwachen und jedem die Finger abbeißen, der versuchte sie anzufassen.

»Verschlossen«, sagte sie. »Tut mir leid, aber ich habe es einfach noch nicht geschafft, den Schlüssel zu besorgen. Ich habe vorhin mal versucht, sie mit den Dietrichen zu öffnen, die du mir gegeben hast, aber ich kann damit einfach noch nicht so gut umgehen wie du.«

»Kein Problem«, meinte ich lächelnd. »Endlich darf ich auch mal Spaß haben.«

Deah schüttelte den Kopf. »Du bist ernsthaft seltsam, Merriweather.«

Mein Lächeln wurde nur noch breiter. »Du hast ja keine Ahnung, Draconi.«

Während die anderen Wache hielten, zog ich zwei dünne Stäbe aus meinem Pferdeschwanz. Sie waren schwarz wie meine Haare, aber eine kurze Drehung enthüllte die darin versteckten Dietriche. Diese Werkzeuge waren mir so vertraut wie meine eigenen Finger und ich summte fröhlich vor mich hin, als ich mich vorbeugte, um sie ins Schloss zu schieben.

In den letzten zwei Wochen hatte ich eine Menge Übung mit diesem Schloss bekommen und schon dreißig Sekunden später öffnete es sich mit einem leisen Klick. Trotzdem spannten wir uns alle an, weil wir wussten, dass wir jetzt die Höhle des Drachen betraten – und dass er jederzeit auftauchen und uns erwischen konnte.

Ich schob mir die Dietrich-Stäbe zurück in den Pferdeschwanz, dann packte ich die Türknäufe. »Jetzt geht’s los«, flüsterte ich und öffnete die Tür.

Zu viert schlichen wir voran und ich verriegelte eilig die Tür hinter uns. Victors Büro war so luxuriös eingerichtet wie der Rest des Herrenhauses, doch ich ignorierte das funkelnde Gold überall und ging direkt zu der Wand hinter dem Schreibtisch. Dort befand sich das riesige Steinrelief eines Drachen. Flammen wanden sich um seinen Körper, als habe er vor, sich selbst anzuzünden.

Ich hielt einen Moment inne und starrte den faustgroßen Rubin an, der das Auge des Drachen bildete. Wieder lief mir ein kalter Schauer über den Rücken. Egal, wie oft ich mich in diesen Raum schlich, ich gewöhnte mich einfach nicht daran, diesen speziellen Drachen zu betrachten – und mich von ihm anstarren zu lassen. Aber vielleicht war es auch das, was hinter dem Relief versteckt lag, was mir solche Sorgen bereitete.

Ich verdrängte mein Unbehagen, trat vor und drückte den Rubin, bis er in den weißen Stein einsank. Einen Augenblick später glitt die Wand zur Seite und gab den Blick auf ein großes Geheimzimmer frei, das bis unter die Decke mit Waffen gefüllt war.

Die Beleuchtung schaltete sich ein und enthüllte die verschiedenen Schwerter, Dolche und anderen Waffen, die alle aus demselben Metall bestanden wie unsere Schwarzen Klingen. Sie waren in Regalen aufgereiht, die sich an drei Wänden des Raumes entlangzogen. Jede Waffe hing an einem eigenen Haken und war sorgfältig beschriftet, mit Codes wie BT29, KQ2 und SH55 – für all die Baumtrolle, Kupferquetschen und Steinhörnchen, die Victor gefangen und getötet hatte.

Schwarze Klingen bestanden aus Bluteisen, einem besonderen Metall, das mit jedem Tropfen Blut, der mit ihm in Kontakt kam, schwärzer wurde. Außerdem konnte Bluteisen Magie aufnehmen, speichern und von einer Person auf eine andere übertragen. Victor hatte diese Waffen eingesetzt, um Monstern ihre Magie aus dem Körper zu reißen, damit er ihre Talente für seinen bösartigen Plan zur Vernichtung der anderen Familien einsetzen konnte. Ich konnte die Macht der Kreaturen in den Klingen spüren. Jede einzelne von ihnen war ein Beweis für Victors Grausamkeit und sein Vergnügen an sinnlosem Morden. Das eisige Feuer der Magie sorgte dafür, dass mir ganz übel wurde.

»Lasst uns loslegen«, flüsterte ich. »Ich will keine Sekunde länger hier drin verbringen als unbedingt notwendig.«

Devon und Felix stellten ihre Taschen auf den Boden und öffneten sie, sodass die Schwerter, Dolche und anderen Waffen darin zum Vorschein kamen. Sie schnappten sich die Waffen, gaben sie an mich und Deah weiter und wir tauschten die echten Schwarzen Klingen gegen Fälschungen aus. Außerdem markierten wir jede Waffe mit einem kleinen Aufkleber, der mit Victors Code beschriftet war.

Dasselbe hatten wir an jedem Abend in den letzten zwei Wochen getan. Langsam hatten wir die mit Magie gefüllten Waffen gegen normale ausgetauscht. Wir hatten einen Großteil der Schwarzen Klingen verschwinden lassen, aber nicht alle. Der Gedanke, Victor auch nur eine einzige Klinge zu lassen, missfiel mir tief, doch er besaß eine Menge Talente und ich hätte darauf wetten können, dass er Magie genauso spüren konnte wie ich. Also mussten wir ein paar der echten Waffen zurücklassen, weil er sonst bemerkt hätte, was wir getan hatten. Allerdings hatte ich darauf geachtet, dass wir nur Klingen zurückließen, in denen die Magie schwach pulsierte.

Wir arbeiteten schnell und es kostete uns nur zehn Minuten, die letzten Waffen auszutauschen, auch wenn es mir viel länger vorkam. Als wir fertig waren, schwitzten Devon und Felix beide unter ihren langen, schwarzen Mänteln. Auch Deah schwitzte, obwohl sie nur Shorts und T-Shirt trug. Ich hatte dieses Problem nicht, aber dafür hob sich wegen all der Magie in der Luft – und dem, was Victor getan hatte, um sie zu bekommen – immer wieder mein Magen.

Devon und Felix verschlossen die Taschen mit den echten Schwarzen Klingen und schwangen sie sich über die Schultern. Ich drückte erneut das Rubinauge des Drachen und die Wand glitt wieder an ihren Platz, um das Geheimzimmer vor neugierigen Blicken zu verbergen.

»Nun, das war’s dann wohl«, sagte ich, wobei ich versuchte möglichst locker zu klingen. »Keine nächtlichen Ausflüge mehr, um Victors geheime Waffenkammer auszuräumen.«

Für einen Moment standen wir schweigend da.

Dann sah ich Deah an. »Danke noch mal, dass du uns geholfen hast.«

Sie nickte, starrte dabei aber auf den Boden, statt mich anzusehen. Ihre Familie und ihren Vater zu verraten war ihr nicht leichtgefallen, egal wie böse Victor auch sein mochte.

Ich warf Devon und Felix einen kurzen Blick zu, die mir daraufhin zunickten. Wir hatten mehrere Tage darüber diskutiert und jetzt war es Zeit, Deah noch eine letzte Frage zu stellen.

»Komm mit uns«, sagte ich.

Deah riss den Kopf hoch und starrte mich aus großen Augen an. »Was?«

»Du hast mich schon richtig verstanden. Komm mit uns. Pack eine Tasche, hol Seleste und komm mit uns. Jetzt sofort.«

Sie sah mich weiter unverwandt an und meine Seelensicht schaltete sich ein, sodass ich all ihre Gefühle spüren konnte. Tiefe Betroffenheit. Scharfe Sorge. Magenverkrampfende Angst. Für einen Moment mischten sich warme Glücksgefühle unter die anderen Emotionen, aber sie wurden schnell unter kalter Trauer erstickt. Ich wusste schon, wie ihre Antwort lauten würde, bevor sie auch nur den Mund öffnete.

Sie schüttelte so heftig den Kopf, dass ihr blonder Pferdeschwanz um ihre Schultern peitschte. »Das kann ich nicht. Du weißt, dass ich das nicht kann.«

Felix trat vor und ergriff ihre Hand. »Bitte, Deah«, sagte er. »Du bist nicht wie die anderen Draconis. Du gehörst hier nicht her.«

»Aber ich bin eine Draconi.« Sie sah für einen Moment zu mir. »Zumindest zum Teil. Doch das spielt keine Rolle. Ich kann nicht mit euch gehen. Mein Dad würde ausflippen, wenn er bemerkt, dass Mom und ich verschwunden sind. Und ihr alle wisst, was er tun würde, wenn er herausfindet, dass wir zur Sinclair-Familie übergelaufen sind.«

Jeder Einzelne von uns zog eine Grimasse. Victor würde die Sinclairs jede Wache auf den Hals hetzen, die in seinen Diensten stand, um Deah und ihre Mom zurückzuholen. Deahs Imitationsmagie und Selestes Hellsicht waren Talente, die er selbst nicht besaß und die er sich niemals nehmen lassen würde.

Aber Deah bedeutete Felix zu viel, als dass er so schnell aufgab. »Bitte«, wiederholte er. »Komm einfach mit uns! Für den Rest finden wir später schon eine Lösung. Lass uns dich und deine Mom von hier wegbringen, solange noch die Chance dazu besteht.«

Deahs Blick richtete sich fest auf ihn und ich sah und fühlte die warme Liebe, die sie für Felix empfand. Sie biss sich auf die Lippen und verlagerte ihr Gewicht, als denke sie ernsthaft darüber nach, ihre Meinung zu ändern und uns zu begleiten …

Einer der Türknäufe drehte sich und die Tür klapperte in ihrem Rahmen.

Wir alle erstarrten.

Jemand versuchte, ins Büro zu kommen.

3

Wieder rüttelte jemand an der Tür, diesmal noch fester.

Devon, Felix und Deah starrten nur, aber ich sprang nach vorne, schnappte mir Devon und Felix und zog sie an ihren Mänteln durchs Büro.

»Versteckt euch!«, zischte ich und schubste beide hinter eine lange, rot-goldene Couch im hinteren Teil des Raums.

Devon und Felix ließen die Taschen mit den echten Schwarzen Klingen fallen und ich verzog das Gesicht, als die Waffen darin klimperten. Aber immerhin duckten sich beide schnell außer Sicht. Es gab hinter der Couch nicht genug Platz, als dass ich mich auch dort hätte verstecken können, also rannte ich zur Bar in der Ecke und kauerte mich hinter das glänzende Holz. Dann spähte ich um die Bar herum zu Deah, die unbeweglich mitten im Büro stand, direkt vor Victors Schreibtisch. Sie erwiderte meinen Blick und ihre heiße Panik erfüllte meinen Körper. Deah durfte sich genauso wenig hier aufhalten wie wir anderen, aber trotzdem zeigte ich mit dem Finger auf die Flügeltür.

»Mach auf!«, zischte ich. »Und denk immer dran, das hier ist dein Herrenhaus!«

Deah hielt meinen Blick noch einen Augenblick, dann presste sie die Lippen zusammen und schenkte mir ein zögerliches Nicken. Sie hatte meine Worte verstanden und wusste, was ich von ihr erwartete. Deah holte tief Luft, straffte die Schultern, stiefelte zur Tür, entriegelte sie und riss sie auf.

Ein Kerl in schwarzer Cargohose und einem roten T-Shirt mit einem goldenen Drachen darauf stolperte durch die Öffnung. Sein goldenes Haar war ein wenig dunkler als das von Deah und sein breiter Körper schien nur aus Muskeln zu bestehen. Er hätte gut aussehend sein können, wären da nicht seine braunen Augen gewesen, die so kalt und leer wirkten wie bei all den Drachenschnitzereien im Herrenhaus.

Blake Draconi. Deahs älterer Bruder, Victors Stellvertreter. Und der Kerl, der dabei geholfen hatte, meine Mom zu ermorden.

Blake straffte sich und zischte seine Schwester an: »Was treibst du hier drin? Und hinter verriegelter Tür? Du weißt, dass Dad es nicht mag, wenn jemand sich in seinem Büro herumtreibt, wenn er nicht da ist.«

Deah kaute auf der Unterlippe. Ich konnte förmlich sehen, wie sich die Rädchen in ihrem Kopf drehten, als sie versuchte, eine Erklärung zu finden, die Blake nicht noch misstrauischer machen würde, als er sowieso schon war.

Meine Hand sank auf den Knauf meines Schwertes. Ich würde die Waffe ziehen, auf die Beine springen und Deah verteidigen, falls es nötig werden sollte. Doch für den Moment wollte ich einfach abwarten, wie sich die Situation entwickelte. Devon, Felix und ich mussten immer noch mit den echten Schwarzen Klingen von hier verschwinden und ich wollte mich lieber ungesehen davonschleichen, als mir den Weg freizukämpfen, vorbei an Blake und allen Draconi-Wachen.

Aber Deah hatte sich schon ihr gesamtes Leben mit Blake auseinandergesetzt und sie wusste genau, wie sie mit ihrem Halbbruder umgehen musste. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und bedachte ihn mit demselben bösen Blick, den er ihr auch schenkte. »Erst einmal: die Tür war nicht verschlossen.«

»Doch, war sie«, beharrte er. »Ich habe sie nicht aufbekommen, egal wie sehr ich mich angestrengt habe.«

»Vielleicht hatte sie sich einfach verklemmt«, antwortete Deah kühl und ein wenig spöttisch. »Oder du musst vielleicht einfach öfter Gewichte stemmen.«

Blake wurde so rot, dass seine Wangen förmlich glühten. Er besaß ein Stärketalent, also hätte es ihm leichtfallen müssen, die Tür zu öffnen. Und das wusste Deah genau. Blake kniff bei der Beleidigung die Augen zusammen und öffnete den Mund, doch sie schnitt ihm das Wort ab.

»Außerdem, wäre die Tür wirklich verschlossen gewesen, wie bin ich dann hier reingekommen?«, höhnte sie. »Es ist ja nicht so, als wäre ich eine Diebin oder irgendwas.«

Ich verdrehte die Augen. Das war einfach nur fies.

»Ach? Und wieso waren die Türen nicht verriegelt?«, blaffte Blake, der ihr offensichtlich noch nicht ganz glaubte.

Deah zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Vielleicht hat Dad vergessen, sie zu verschließen, bevor er zu seinem Treffen mit Nikolai Volkov aufgebrochen ist. Er hatte es ziemlich eilig, erinnerst du dich?«

Blake verschränkte die Arme und musterte sie erneut voller Misstrauen. »Das erklärt aber immer noch nicht, was du hier treibst.«

»Ich habe Mom vor ein paar Minuten ins Bett gebracht und bin auf diesem Weg zurückgegangen, um sicherzustellen, dass im Grünlabor alles in Ordnung ist. Mir ist aufgefallen, dass einer der Türflügel einen Spalt offen stand, also bin ich reingekommen, um zu kontrollieren, ob alles okay ist.« Sie öffnete weit die Arme. »Und das ist es, wie du sehen kannst.«

Blake musterte sie abschätzend aus braunen Augen, bevor sein Blick durch den Rest des Büros huschte. Er sah in meine Richtung. Ich hielt mich im Schatten der Bar verborgen und bewegte mich keinen Zentimeter. Ich konnte nur hoffen, dass Devon und Felix hinter der Couch dasselbe taten.

Schließlich drehte Blake seinen Kopf Richtung Schreibtisch. Allerdings musterte er weder den geschlossenen Laptop noch die Briefbeschwerer aus Kristall oder die teuren Füller auf dem Tisch, um festzustellen, ob etwas fehlte oder durcheinandergebracht worden war. Stattdessen saugte sich sein Blick an dem Drachen fest, der hinter Victors Schreibtisch in den Stein gemeißelt worden war. Er kniff die Augen zusammen und starrte unverwandt auf den Drachen, betrachtete jeden Quadratzentimeter des Reliefs und suchte nach dem kleinsten Hinweis darauf, dass irgendwer sich daran zu schaffen gemacht hatte. Ich erstarrte schockiert.

Er weiß es.

Blake wusste von Victors geheimem Zimmer und all den Schwarzen Klingen, die darin versteckt lagen. Das war der einzige Grund, der mir einfiel, warum er das Drachenrelief so lange und intensiv ansah. Blake stellte sicher, dass Deah weder den Raum noch die Waffen entdeckt hatte, dass nichts den Plan seines Vaters in Gefahr bringen konnte, die anderen Familien zu massakrieren.

Das hätte mich nicht überraschen sollen. Als Wächter der Familie war Blake Victors Stellvertreter und ich hatte bereits vermutet, dass er Victor dabei geholfen hatte, die Monster einzufangen, die getötet worden waren. Außerdem war Blake genauso grausam wie sein Vater – das hatte er bewiesen, indem er Victor dabei geholfen hatte, meine Mom in Stücke zu hacken. Aber trotzdem war ich schockiert. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass Victor irgendwem erzählt hatte, was er wirklich plante. Dass er vorhatte, diese Sammlung von Schwarzen Klingen mit dem Ziel einzusetzen, seinen Wachen zusätzliche Magie zu verleihen, damit sie alle anderen Familien angreifen und töten konnten.

Aber offensichtlich hatte er Blake eingeweiht. Ich fragte mich, warum. Weil Blake sein Sohn und Nachfolger war? Oder gab es noch einen anderen, unheilvolleren Grund? Hatte Victor vor, seinen Plan schon bald in die Tat umzusetzen?

Dieser beängstigende Gedanke sorgte dafür, dass ich mein Schwert fester packte, bis der fünfzackige Stern im Heft gegen meine Haut drückte wie ein kaltes Brandzeichen.

Endlich wandte sich Blake von dem Drachenrelief – und dem Geheimzimmer – ab und erneut seiner Schwester zu. »Okay, also stand die Tür offen und du bist reingegangen, um nachzusehen. Das erklärt aber trotzdem nicht, wieso du so lange hier drin geblieben bist.«

Wieder kaute Deah auf der Unterlippe, wobei ihr Blick auf der Suche nach einer weiteren Ausrede durch den Raum schoss. Inzwischen stand Blake mit dem Rücken zu mir, also schob ich mich vorwärts, bis sie mich sehen konnte. Deah sah mich an und ich deutete auf die Regale an den Wänden. Sie drehte leicht den Kopf und ihr Mund wurde hart, als ihr klar wurde, worauf ich deutete. Meine Idee gefiel ihr nicht, aber trotzdem griff sie den Vorschlag auf.

»Ich habe mir meine Trophäen angesehen«, sagte sie leise.

Blake schnaubte und stampfte an ihr vorbei. Er schnappte sich einen massiven Goldpokal mit einer Draconi-Wappen-Gravur von einem der Regale und hielt ihn in die Höhe.

»Oh, du meinst diese Trophäe? Diejenige, die dir Lila Merriweather während des Turniers der Klingen geschenkt hat?«, höhnte er. »Ich habe Dad gesagt, dass er das Ding zusammen mit all dem anderen Müll wegwerfen soll. Aber er hat nicht auf mich gehört.«

Sein Hohn sorgte dafür, dass Tränen in Deahs Augen glänzten. Aber sie blinzelte dagegen an, verschränkte die Arme vor der Brust und schob das Kinn vor. »Na ja, zumindest bin ich im Turnier weiter gekommen als du. Aber so ist es ja immer. Poppy Ito hat dich dieses Jahr in weniger als einer Minute erledigt.« Sie lachte harsch und spöttisch. »Und dabei besitzt sie nur ein Talent für Geschwindigkeit.«

Blake packte die Trophäe fester und er hob den Pokal ein wenig höher, als wollte er den Arm zurückreißen und das schwere Goldgefäß nach Deah werfen. Doch sie blieb unbeweglich stehen und hielt seinen bösen Blick, als wollte sie ihn quasi herausfordern, etwas Dummes zu tun.