Nadine Wojcik

Wo der Teufel wohnt

Besessene und Exorzisten in Polen

ein mikrotext

Fotos: Nadine Wojcik (wenn nicht anders angegeben)

Coverdesign: Andrea Nienhaus

Coverfoto: pixaby.com (Lizenz CC0 1.0)

Covertypo: PTL Attention, Viktor Nübel

Erstellt mit Booktype

www.mikrotext.de – info@mikrotext.de

ISBN 978-3-944543-39-0

Alle Rechte vorbehalten.

Die Recherche für diesen Titel wurde mit dem Programm Reporters in the Field der Robert Bosch Stiftung unterstützt.

© mikrotext 2016, Berlin

Inhalt

Waren es vor 20 Jahren gerade einmal vier, beläuft sich die Zahl der Exorzisten in Polen im Jahr 2016 bereits auf rund 130. Sie werden direkt vom Bischof ernannt, die Nachfrage ist groß. Die Journalistin Nadine Wojcik hat vor Ort recherchiert, sich mit Exorzisten, Besessenen, Theologen und Publizisten wie dem Herausgeber des Magazins Der Exorzist getroffen und mit ihnen über dieses stark tabuisierte Thema gesprochen.


Nadine Wojcik

Wo der Teufel wohnt

Besessene und Exorzisten in Polen


Prolog

Er werde nicht mit mir reden.

Ich packe gerade Block, Stift und Aufnahmegerät aus, der Reißverschluss des Rucksacks klemmt, ich nicke automatisch. Mit einer Journalistin werde er „darüber“ nicht reden, wiederholt Herr A., nun bestimmter. Ich verharre: „Das hatten wir doch in vier Telefonaten ausführlich besprochen. Sie hatten mir versichert, reden zu wollen.“ „Reden schon. Aber nicht darüber.“ Sonst könnte ihm Schaden zugefügt werden – und zwar nicht von Menschen. Ich verliere die Fassung. „Das ist jetzt nicht Ihr Ernst! Sie befürchten, dass der Teufel Sie für unser Gespräch bestrafen könnte?“ Herr A. legt den Kopf schräg, er lächelt in Zeitlupe. Ich sammle mich. Derart laut werde ich selten gegenüber Interviewpartnern, eigentlich nie. Herr A. kann ja nichts dafür, dass ich jetzt schon seit acht Monaten nach Besessenen suche, die es tausendfach in Polen geben muss. Schließlich sollen hier mindestens 130 Exorzisten praktizieren. Doch offensichtlich ist alles einfacher, als einen der Beteiligten zum Reden zu bringen.

Im August 2015 stolperte ich über einen Zeitungsartikel in Die Welt über boomende Teufelsaustreibungen in Polen. Als Tochter polnischer Auswanderer sind mir so einige religiöse Merkwürdigkeiten vertraut, manche liebenswert wie die kollektive Wasserschlacht „Śmigus-dyngus“ an Ostermontag, manche sonderbar wie das landesweite „Radio Maryja“ mit stündlichen Rosenkranzgebeten. Doch dass ein Phänomen, welches ich zusammen mit der Hexenverbrennung irgendwo im tiefsten Mittelalter abgespeichert hatte, ein derartiges Revival erfährt, war mir nicht bewusst. Der Bedarf an Teufelsaustreibern schießt dabei sogar durch die Decke. Zunächst dümpelten die Zahlen jahrzehntelang wie in vielen europäischen Ländern gen Null, in den 1990er Jahren soll es gerade einmal vier Exorzisten gegeben haben. Vergleicht man diese Zahl mit den heutigen 130, so entspricht das einer Steigerung von mehr als 3.000 Prozent.

Meine bisherige Erfahrung mit Teufelsaustreibern beschränkte sich auf den Horror-Film Der Exorzist von 1973. Nun fragte ich mich: Gibt es etwa tatsächlich Besessene, die schreiend durch die Luft fliegen und Priester bespucken? Bei meiner Internetrecherche entdeckte ich einen weiteren Film, den polnischen Dokumentarfilm Kampf mit dem Satan von 2015. Hier spricht ein echter Exorzist – und zwar im Religionsunterricht. Er hat den Schülern eine Plastikschachtel mit rostigen Nägeln mitgebracht und erklärt den verängstigten Schülern, dass diese von Besessenen ausgespuckt worden seien. Einige Szenen später sieht man, wie ein tatsächlicher Exorzismus in Polen aussieht: Vermeintlich Besessene schmeißen sich schreiend durch den ganzen Raum. Auch wenn vor laufender Kamera niemand Nägel ausspuckt und ich auch ansonsten nichts Übernatürliches in den Szenen entdecken kann, so bin ich doch geschockt. Derartige Anfälle, nur durch ein Kruzifix ausgelöst, hatte ich noch nie zuvor gesehen.

Teufelsaustreiber im Religionsunterricht, Szene aus dem Dokumentarfilm Kampf mit dem Satan. Foto: ZK STUDIO

Exorzisten sind katholische Priester, vom Bischof ernannt. Man beruft sich dabei auf das Markus-Evangelium: „Dann rief er (Jesus, Anm. d. A.) seine zwölf Jünger zu sich und gab ihnen die Vollmacht, die unreinen Geister auszutreiben und alle Krankheiten und Leiden zu heilen.“ Diese Vollmacht haben im Verständnis der katholischen Kirche heute die Bischöfe, als Nachfolger der Apostel. Und weil sie sich nicht um alles selbst kümmern können, übertragen sie diese per Dekret an ausgewählte Priester: die Exorzisten.

Während das deutschsprachige Internet beim Begriff Exorzismus viele esoterische oder schamanische Seiten ausspuckt, beantwortet das polnischsprachige Netz schnell und ausführlich meine Fragen. Zum Beispiel woran ich einen Besessenen erkenne: übernatürliche Kräfte, obszöne Beschimpfungen von Geistlichen und dem Göttlichen, Abscheu gegenüber Sakramentalien wie Kreuz oder Weihwasser, Sprechen in fremden Sprachen oder in unnatürlichen Stimmlagen, Hellseherei, Schwierigkeiten beim Beten, Selbstverletzung.

Der letzte öffentliche Fall in Deutschland, auf den diese Kriterien zugetroffen haben sollen, war 1976 der Exorzismus der Studentin Anneliese Michel. Sie wuchs in einer streng religiösen Familie auf, litt unter Epilepsie, aus der sich dann vermutlich eine Psychose entwickelte. Für Eltern und Priester galt sie als besessen und wurde 67 Mal in ihrem Elternhaus exorziert – bis sie mit 31 Kilo an Unterernährung und Erschöpfung starb. Die Details ihrer Leidensgeschichte sind schwer zu ertragen, beispielsweise dass sie sich die Zähne ausbiss. Auch die Tonaufnahmen ihrer Exorzismen, auf denen sie sich als Hitler, Nero oder Kain ausgibt, sind gruselig anzuhören. Im Gerichtsprozess, der ihrem Tod folgte, wurden die Eltern und auch die Exorzisten zu Freiheitsstrafen verurteilt. Deutsche Bischöfe genehmigen Exorzismen seitdem nur in Ausnahmefällen. Es soll eine hohe Dunkelziffer geben, aber aus dem offiziellen Bild der katholischen Kirche sind Exorzisten in Deutschland verschwunden.

„So möchte ich nicht enden“, sagt Herr A. „Anneliese Michel war krank. Sie hätte ins Krankenhaus gebracht werden müssen“, erkläre ich. Herr A. ist da ganz anderer Meinung. Dann verstummt er. Er will nicht mehr als nötig sprechen und fragt nur verschwörerisch: „Und woher kommen Krankheiten? Gott hat sie jedenfalls nicht erschaffen.“

Todesfälle in Folge von Exorzismen sind mir in Polen nicht bekannt. Teufelsaustreibung, so sollte ich während meiner achtmonatigen Recherche von Januar bis August 2016 lernen, ist in Polen recht institutionalisiert und findet vorwiegend in kirchlichen Räumlichkeiten statt. Wer aber kontrolliert den Ablauf des Rituals? Wie genau sieht der berufliche Alltag eines Exorzisten aus? Und warum ist der Bedarf so groß? Wohnt der Teufel in Polen?

Der riesige Jesus: Reise durch ein katholisches Land

Jesus erscheint uns 70 Kilometer hinter der Grenze. Riesig. Weiß. Der Korpus mit goldener Krone ragt weit über die Plattenbauten von Świebodzin. Die Christus-König-Statue wurde 2010 auf die Felder dieses bislang unbekannten Städtchens gesetzt, mit ausgebreiteten Armen wie auf dem Zuckerhut in Rio de Janeiro. Doch Polen will das gläubige Brasilien nicht einfach nur imitieren, es setzt noch einen drauf: Mit 36 Metern ist die Statue in Świebodzin die weltgrößte.

Jesus kommt uns immer näher. Ich klebe gemeinsam mit den zwei Herren, mit denen ich mir das Abteil im Berlin-Warschau-Express teile, am Fenster. „Jesus schaut nach ... Deutschland!“, kommentiert der Geschäftsmann im Anzug ironisch. „Da gibt’s ja auch viel zu tun.“ Die Statue ist tatsächlich Richtung Westen ausgerichtet, als ob der grellweiße Jesus das sündhafte Nachbarland umarmen möchte. Der Zug kommt zum Stehen, niemand steigt aus. „Kennt ihr den schon?“, fragt der ältere Mann mit festem Kugelbauch. Der Geschäftsmann und ich schauen auf: „Wie lange gibt es den Tesco-Markt in Świebodzin?“ Kollektives Schulterzucken. „Seit 2 n. Chr. – zwei Jahre nach Christi Geburt.“ Wir lachen, der Zug fährt an, Jesus verschwindet.

Polnischer Zuckerhut: Jesus von Swiebodzin. Foto: Lukas Plewnia/www.polen-heute.de auf flickr (Lizenz CC BY-SA 2.0)

In welchem Land werden heutzutage noch derartige religiöse Monumente errichtet?, denke ich. Es ist meine erste von später insgesamt sieben Recherchereisen nach Polen, auf der Suche nach Exorzisten. Der Ritus zur Teufelsaustreibung ist integraler Bestandteil des katholischen Glaubens, der in Polen bekanntlich einen hohen Stellenwert hat: LautStatistischem Institut der Katholischen Kirche bezeichnen sich 92 Prozent der Bevölkerung als Katholiken, 40 Prozent gehen regelmäßig in die Kirche. Aus deutscher Sicht beachtlich: Hier bezeichnen sich gerade einmal 60 Prozent der Bevölkerung als Christen (katholisch und evangelisch), davon besuchen schlappe 11 Prozent regelmäßig den Gottesdienst (Daten der Evangelischen und der Katholischen Kirche). Während in Deutschland am Sonntag die Läden geschlossen sind, schätzt man im Nachbarland einen gepflegten Sonntagsbummel durch die gigantischen Shopping-Malls, die Öffnungszeiten am heiligen Ruhetag werden aufs Schärfste verteidigt. Ein Widerspruch? In Polen gilt eben selten nur das eine oder das andere, Polen sind Multitasker.

Wer den polnischen Glauben besser verstehen will, dem empfehle ich eine polnische Oma. Meine reiste genau wie ich jetzt vor mehr als dreißig Jahren auf dieser deutsch-polnischen Zugstrecke, jedoch in umgekehrter Richtung, von Ost nach West, von Katowice über Posen nach Essen. Nach rund zwanzig Stunden stieg sie kerzengerade aus dem Waggon, gekleidet im lilafarbenen Mantel mit Pelzkragen und passendem Hut. Meine Eltern waren ins Ruhrgebiet ausgewandert, dort bin ich geboren. Babcia kam oft für drei Monate zu uns und passte dann auf mich auf – Senioren konnten relativ einfach aus der Volksrepublik raus.

Babcia Zosia betete mit mir vorm Schlafengehen, vor dem Bett kniend. Babcia Zosia zündete vor Altarbildern Teelichter an, die wir mit einigen Pfennigen in metallenen Büchsen bezahlten. Babcia Zosia nahm in kleinen Plastikflaschen Weihwasser mit nach Hause und baute mit mir einen kleinen Altar im Kinderzimmer – das kam mir ungeheuer subversiv vor, wo doch Deutsche niemals solche Freestyle-Einlagen brachten. Babcia Zosia brachte mir aus Polen kleine, silberne Anhänger der Muttergottes und Heiligenkärtchen in der Größe von Panini-Bildern mit, vorne mit einem angeblichen Stück Originalflies des Heiligtums. Babcia Zosia ist mein Glaube. Im Religions- und Kommunionsunterricht lernte ich später Bibel-Wissen. Bei Babcia Zosia aber lernte ich Stille, Wärme, Liebe und Geduld.

Als Jugendliche hing ich später oft mit Freunden im Gemeindehaus rum, spielte im Keller Billard und sorgte mich mittwochs immer, ob auch der stille Sebastian zur Jugenddisko kommen würde. Mit Beginn der Oberstufe und den überzeugenderen Privatpartys endete meine Verbindung zur Kirche – heute gehe ich selbst zu Weihnachten nicht mehr zum Gottesdienst. Babcia Zosias Glaube aber ist mir geblieben. Während meiner exorzistischen Reise sollte ich merken, wie er mir helfen würde, den bedingungslosen Glauben der Polen besser zu verstehen und nicht dem ersten „Die sind doch verrückt“-Impuls nachzugeben.

Das heißt: bedingt. Denn Exorzismus lebt von Ängsten. Er sucht ununterbrochen das Böse, das überall hinterlistig lauert. Das ist mir neu, Katholiken sind doch Schönwetter-Christen: Sündigst du, geh beichten! Alles andere hat Jesus für dich bereits am Kreuz erledigt. Doch wenn der Teufel auf den Plan tritt, dann gilt es, bloß keinen Fehler zu machen! Und wenn doch, kann nur noch ein Exorzist helfen. Ein mir bislang unbekanntes Abhängigkeitsverhältnis. Auch der Grundton hat einen unangenehmen Beigeschmack: Anstatt um inneren Frieden geht es nun um inneren Krieg.

„Ja, was liest sie denn da?“, fragt der Schaffner, als er das Cover meines Buches sieht. Es zeigt das Bild der Schwarzen Madonna von Częstochowa, ein polnisches Nationalheiligtum 180 Kilometer südlich von Warschau und Pilgerstätte für Millionen von Gläubigen. Dass es sich bei meiner Lektüre um eine politikwissenschaftlich-kritische Analyse über die katholische Kirche handelt, weiß er nicht. „Herrschaften“, wendet sich der Schaffer an den kugelrunden Mann und den Geschäftsmann, „in Ihrem Abteil sitzt ein Engel.“ Er klopft mir auf die Schulter und schiebt die Abteiltür zu. Versucht unschuldig lächele ich meine Mitfahrer an, klappe das Buch zu und lasse es in meinem Rucksack verschwinden. Ich komme mir wie eine Verräterin vor.

Schikanierte, Gequälte und Besessene

Am Anfang war das Wort. So weit, so einfach. Nicht jedoch, wenn dieses Wort ein polnisches ist: „egzorcyzm“. Welcher Fall, welches Genus? Polnisch ist meine Muttersprache, allerdings beschränkte sich mein Wortschatz bislang auf Spielzeug, Essen, Weihnachten, Gutenachtlieder, Kneipen-Smalltalk, Gespräche mit Freunden. Die kirchliche Sprache ist mir fremd, bei Predigten muss ich mich ziemlich anstrengen, um mitzukommen. Ausdrücke wie „Vergebung der Sünden“, „Vom Himmel herabgestiegen“, „barmherzig“ oder „Gnade“ hatten es nicht in mein Kinderzimmer geschafft, auch Babcia nutzte vor unserem selbstgebauten Privat-Altar Umgangssprache. Schnell war also klar: Ich brauche Hilfe.

„Wir unterhalten uns also über egzorcyzm?“, lachte meine Sprachlehrerin derb und klopfte mit der Hand auf den Tisch. Die Räume dieses Warschauer Sprachinstituts sind nach Hauptstädten benannt, der Zufall würfelte uns beide nach „Rzym“, nach Rom. Katarzyna ist Mitte 30, trägt eine wilde, blondierte Kurzhaarfrisur und ein schwarzes ärmelloses T-Shirt mit poppigem Aufdruck. Wir sind uns von Anfang an sympathisch. Zunächst üben wir mit „Grüß Gott!“ die richtige Begrüßung und enden fiktive Anfragen mit „Gott sei mit Ihnen“. Schwieriger wird es mit dem tatsächlichen Interview. Ich lerne: Einen Pfarrer spricht man nicht mit „Herr Grefkowicz“ oder mit „Sie“ an, sondern mit der Berufsbezeichnung, also „Pfarrer“. Das geht dann so: „Ich würde Pfarrer gerne für ein Interview anfragen.“ „Welche Erfahrungen hat Pfarrer mit Besessenen?“ Derartige Ansprachen je nach Berufsstand kenne ich bereits von früheren Interviews beispielsweise mit Universitätsprofessoren oder Ärzten – und natürlich auch von meiner Oma. „Möchte Babcia noch ein Stück Kuchen?“ „Hat Babcia gut geschlafen?“

Getoppt wird das Ganze mit einer fiesen Deklination. Katarzyna und ich gehen „ksiadz“, den Pfarrer, durch:

Ich rufe ksiedza an. Ich habe ein Treffen mit ksiedzem. Ich schreibe über ksiedzu.

Die richtige Ansprache eines Pfarrers ist für meine Recherche wichtig, denn Exorzisten sind in erster Linie katholische Pfarrer, quasi Pfarrer mit Sonderaufgabe. An diesen Job kommen sie durch den Bischof, der sie zum Exorzisten ernennt. Das war’s. Keine Schulung, keine Fortbildung. Was sie wissen müssen, steht im vatikanischen Rituale Romanumegzorcyzmy.katolik.pl