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Joan Aiken

Nightfall

Fürchte die Nacht

Aus dem Englischen von Gabriele Redden

LangenMüller

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© für das eBook: 2016 LangenMüller in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

© 2008 LangenMüller in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

© 1978 für die deutsche Ausgabe by F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung München

© »Nightfall« 1969 by Joan Aiken

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Wolfgang Heinzel

Umschlagfoto: getty-images, München

eBook-Produktion: F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

ISBN 978-3-7844-8281-1

1

Der Tag, an dem ich George kennenlernte, war einer der schlimmsten in meinem Leben. Nicht der allerschlimmste, der war drei Wochen vorher gewesen, als Mama und Ralph bei einem Autounfall am Sunset Boulevard ums Leben gekommen waren.

Sicher hat es damals die üblichen Schlagzeilen gemacht, denn sie waren beide bekannte Filmstars, aber ich war viel zu jung – erst neun – und viel zu verstört, um mich darum zu kümmern. Ralph war nur mein Stiefvater, nicht mein wirklicher Vater, an den ich mich zu jener Zeit kaum erinnern konnte, aber er war immer lieb zu mir gewesen, hatte Späße mit mir gemacht, mich mit ulkigen Namen wie Popsypetal gerufen und alles Mögliche mit mir unternommen. Aber Mama war Mama, wunderschön, unberechenbar und unersetzlich.

Wir hatten seit drei Jahren in Los Angeles gelebt. Ich konnte mich kaum noch daran erinnern, wie das Leben in England gewesen war. Obwohl ich mich in der kalifornischen Hitze wohlfühlte und unser großes, weißes, im spanischen Stil erbautes Haus liebte, ebenso wie die unkomplizierten amerikanischen Kinder, spürte ich doch immer noch ein wenig, dass ich hier fremd war. Aber Mama war immer im rechten Augenblick da, um mir mit ihrer warmen, liebevollen Stimme zu versichern, dass das Leben hier wunderschön sei. Mama, mit ihrem honigblonden Haar, ihrer Herzlichkeit, ihrer unwiderstehlichen, zuversichtlichen Lebenseinstellung, war für mich ein Symbol der Sicherheit bis zu dem Tage, an dem ihr Kabriolett von einem Lastwagen mit defekten Bremsen gerammt wurde. Bis zu dem Anruf in der Mittagszeit, der das Fundament meiner gesamten Existenz zerstörte. Ich sehe Sanchie, unser Hausmädchen, noch vor mir, wie sie mich aus weit geöffneten Augen erschrocken anstarrte, während sie telefonierte, und ich erinnere mich auch noch an die entsetzten Gesichter der Nachbarn, die wohlmeinend und mit­leidig herüberkamen und sich zuflüsterten, was nicht für meine Ohren bestimmt war.

»Die arme Kleine, sie hat niemanden hier, der zu ihr gehört, niemanden auf dem ganzen Kontinent, der sich um sie kümmert, wo soll sie bloß hin?«

Ich war viel zu benommen und fassungslos, um darauf achtzugeben, aber später kamen diese Worte zurück und verfolgten mich bis in meine Träume.

Eine Mrs. van Hefflin, die etwas weiter die Straße hinauf wohnte, nahm mich für ein paar Tage auf. Und inmitten ihrer lauten, lebendigen Familie lebte ich in einem Schockzustand und nahm die Barbe­cues, Picknicks und Zoobesuche kaum wahr, die man mir zuliebe veranstaltete in der Hoffnung, mich damit ein wenig zu zerstreuen.

Dann war meine Zukunft plötzlich geregelt, und zwar ganz einfach, mein richtiger Vater schickte ein Telegramm, man setzte mich ins Flugzeug in die Obhut eines älteren Ehepaares, das ebenfalls nach London flog, und mein wirkliches Leben begann.

Später hörte ich sie sagen, dass das ein sehr unruhiger Flug gewesen sei, aber ich hatte es gar nicht bemerkt noch mich geängstigt. Mr. und Mrs. Strangeway hatten keine Erfahrungen mit Kindern, und nachdem sie mich Verschiedenes gefragt hatten und ich nur herumstotterte, ließen sie mich klugerweise in Ruhe.

Die Stewardessen stellten Mahlzeiten vor mich hin und nahmen sie wieder fort, ohne dass ich sie angerührt hatte.

Man zeigte mir, wie ich den Schwimmgürtel anlegen musste, und ich befestigte den Haltegurt, als man es von mir verlangte, ohne recht zu wissen, was ich tat. Ich konnte immer nur an eines denken, meine Mutter war tot, ich würde sie niemals wiedersehen, niemals wieder ihre warme Hand halten oder ihr einen Gutenachtkuss geben können, ihr niemals wieder dabei zuschauen können, wenn sie sich für eine Party zurechtmachte, oder ihr herzliches Lachen hören, das so plötzlich und fröhlich hervorsprudeln konnte und für ihren Spitznamen Fizz verantwortlich war.

»Fizz, bist du fertig, Liebling?«, rief Ralph jedes Mal von unten. »Wir müssen langsam los, sonst kommen wir zu spät zur Premiere!«

»Ich sage gerade Meggie Gute Nacht, dann komme ich«, und dann nahm sie mich in den Arm, und wie jedes Mal sagte sie: »Träume süß, kleine Meggie!«

»Du auch!«

»Du auch, und hab ganz viele schöne Träume.«

Aber nun würde es keine schönen Träume mehr geben. In meiner Benommenheit dachte ich auch kurz an meinen Vater. Seit Jahren hatte ich ihn nicht mehr gesehen, vier oder fünf Jahre, und ich war doch erst neun. Ich konnte mich nur schwach an einen grauhaarigen, graugesichtigen, müde aussehenden Mann erinnern, der viel älter als meine Mutter zu sein schien. Er war sowieso kaum zu Hause gewesen. Die meiste Zeit, soweit ich mich erinnern konnte, war er in Korea, wo zu der Zeit Krieg war. Und als er dann schließlich nach Hause kam, war es das Wichtigste gewesen, ihn nicht zu stören.

»Pscht! Mach keinen Lärm, sonst verärgerst du deinen Vater. Es geht ihm nicht gut, weißt du.«

»Warum geht es ihm nicht gut? Was hat er denn? Ist er krank?«

»Er war in einem Kriegsgefangenenlager, wo man ihn fast verhungern ließ, daher müssen wir rücksichtsvoll und leise sein, denn er braucht viel Ruhe, damit er wieder gesund werden kann.«

Wahrscheinlich konnte sich meine Mutter ebenso wenig an diese Situation gewöhnen wie ich. An mehr über meinen Vater konnte ich mich jedenfalls nicht erinnern. Es muss kurz darauf gewesen sein, dass meine Mutter mit mir nach Amerika zog, wo ich Ralph kennenlernte, der nun mein Stiefvater werden sollte. Würde ich meinen Vater erkennen, wenn ich ihn sah? Mich fröstelte. Würde er mich überhaupt bei sich haben wollen? Würde er sich freuen, wenn er mich wiedersah? Was für einen Beruf hatte er? Und dann kam mir noch ein anderer Gedanke, der mich sehr erschreckte – hatte er wieder geheiratet? Ich hatte genügend Geschichten über böse Stiefmütter ge­lesen, um zu wissen, was das bedeutete.

Ich fiel in einen unruhigen Schlaf.

Es war neun Uhr abends, als wir auf dem Londoner Flughafen landeten. Mir war kalt, und ich fühlte mich elend und ängstlich, während ich die vorbeieilenden Leute anschaute, aber niemand sah so aus, wie ich meinen Vater in Erinnerung hatte.

Niemand achtete auf mich, alle liefen an mir vorbei.

Vielleicht hatte er sich nicht die Mühe gemacht, mich am Flughafen zu treffen? Vielleicht wollte er mich gar nicht haben? Sicher war er sehr böse, weil meine Mutter ihn verlassen hatte. Hatte er sie damals so vermisst, wie ich sie jetzt vermisste? Es war das erste Mal, dass mir so ein Gedanke kam!

Dann löste sich eine Gestalt aus der Menge und kam mit forschen Schritten direkt auf mich zu. Ich starrte sie an und hoffte, dass sie nicht mich meinte, dass sie ihre Richtung ändern und an uns vorbeigehen würde. Aber sie blieb bei mir stehen.

Sie war eine kleine, magere, grauhaarige Frau mit scharfen Gesichtszügen und kalten, unfreundlichen Augen. Unter ihrem glänzenden Strohhut hatte sie ihr Haar zu einem Knoten zusammengesteckt. Sie trug ein graues Kostüm, mit einer seltsamen langen doppelt geknöpften Jacke, das schon seit vielen Jahren aus der Mode war. Ihr Rock reichte ihr fast bis an die Knöchel. Sie trug feste schwarze Schnürschuhe. Eine vergoldete Brosche verschloss den Kragen ihrer weißen Bluse. Ihre Lippen waren fest zusammengepresst, während sie mich stirnrunzelnd von oben bis unten betrachtete. Ich sah, dass sie eine kleine Warze am Kinn hatte, aus der drei oder vier Haare sprießten.

»Mr. und Mrs. Strangeway?«, sagte sie. »Ist das die kleine Frazer?«

Mein Herz sank mir in die Knie. War das etwa die zweite Frau meines Vaters? Ich spürte ihre Feindseligkeit und Missbilligung mir gegenüber wie einen Kältehauch und sperrte mich instinktiv gegen sie, während sie mit Mrs. Strangeway sprach.

»Hm. Genug Gepäck hast du ja«, sagte sie zu mir, nachdem die Strangeways gegangen waren und die einzige Verbindung zu der Welt, die ich verloren hatte, mit sich genommen hatten.

»Das bedeutet, wir müssen ein Taxi nehmen. Na, zum Glück ist es nicht weit.«

Die Londoner Straßen waren dunkel und nass, Laub lag in kleinen Haufen auf dem glitzernden Pflaster. Ich fror und zitterte in meinem dünnen Sommermantel.

»Ist ja geradezu lächerlich, dich in diesem Aufzug hierher zu schicken«, beanstandete die Frau und verzog das Gesicht.

»Hast du keine anständigen Sachen? Ich werde dir wohl ein paar vernünftige Kleider kaufen müssen.«

Und das schien ihr gar nicht recht zu sein.

Ich hatte nicht gehört, welche Adresse sie dem Fahrer genannt hatte, aber kurz darauf hielten wir in einer ruhigen, dunklen Straße mit großen Häusern. Auf der anderen Straßenseite waren Bäume, die kleine Gitter hatten. Das kam mir irgendwie bekannt vor. Während ich mich bemühte zu glauben, dass ich mich wirklich erinnerte, wurde ich aus dem Wagen gezerrt.

»Komm heraus, du kannst doch hier nicht ein­schlafen. Hilf mir lieber, die Sachen ins Haus zu tragen.«

Noch immer ganz benommen, half ich ihr, meine Sachen eine steile Treppe hinaufzutragen, die zur Haustür führte. Der Taxifahrer wurde bezahlt und brummte wegen des kleinen Trinkgeldes, und wir betraten eine große, spärlich beleuchtete Halle.

Ein kleiner Mann in einer grauen Strickjacke kam die Treppe herauf und humpelte uns entgegen.

»Da bist du ja schnell wieder zurückgekommen«, sagte er. »Wie ich sehe, hast du sie mitgebracht.«

Er nickte mir seitlich zu, ohne mich anzusehen oder mich zu begrüßen.

»Schnell zurück?«, rümpfte sie die Nase. »Ich habe eine Ewigkeit gewartet! Das Flugzeug hatte eine Dreiviertelstunde Verspätung! Nebel.«

Sie sagte es so, als wäre es meine Schuld.

»Ich werde mal das Gepäck raufbringen«, sagte er und humpelte eine Treppe nach oben.

»Für dich ist es das Beste, wenn du gleich ins Bett gehst«, sagte die Frau, die er Milly genannt hatte, zu mir. »Musst du noch etwas essen?«

»Nein danke«, sagte ich leise. Meine Kehle war wie zugeschnürt, und Tränen stiegen mir in die Augen.

»Du solltest noch ein Glas Milch trinken«, sagte sie, »ich werde es dir gleich nachbringen. Geh schon mal nach oben. Es ist das Zimmer im zweiten Stock, auf der rechten Seite, wenn du oben bist. Du siehst ja, wo Arthur deine Sachen hingestellt hat. Vergiss nicht, dich zu waschen. Das Badezimmer ist direkt gegenüber.«

Langsam ging ich die steilen Treppen hinauf. Als ich das Zimmer, in das meine Sachen gebracht worden waren, gefunden hatte, war der Mann in der grauen Jacke schon verschwunden. War er mein Vater? Nein, das konnte ich nicht glauben. Wenn er es gewesen wäre, dann hätte ich ihn sicher wiedererkannt, sicherlich würde ich mich an ihn erinnern, wenn ich ihn wiedersehen würde. Ich zog ein Nachthemd aus meinem Koffer, schlüpfte hinein und kroch in mein Bett. Nach kurzer Zeit erschien die Frau und brachte das Glas Milch. Mit einem säuerlichen Ausdruck inspizierte sie meine Koffer und sagte:

»Die werde ich morgen wohl alle auspacken müssen, vermute ich.«

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, knipste sie das Licht aus, ging hinaus und schloss die Tür.

Das Bett war kalt, und ich lag zusammengerollt, ohne mich zu bewegen, ich hatte Angst, meine Beine in die eisige Kälte auszustrecken. Da ich im Flugzeug so viel geschlafen hatte, war ich nun hellwach. Ich wünschte so sehr, noch ein paar Decken zu haben und eine Wärmflasche, aber ich wagte nicht hinunterzugehen und die Frau darum zu bitten.

Nach und nach fiel ich in einen unruhigen Schlaf. Und es war in dieser langen, kalten, schlimmen Nacht, dass ich den Traum zum ersten Mal hatte, diesen schrecklichen Traum, der sich wiederholen und mich für die nächsten zehn Jahre heimsuchen sollte.

Bei diesem ersten Mal hatte ich noch nicht die geringste Erinnerung an das, was ich geträumt hatte, als ich erwachte. Ich wusste nur, dass er unvorstellbar schrecklich war. Es ist sogar so, dass es einige Jahre dauerte, bis ich mich dunkel an einige Bilder erinnerte. Jedes Mal, wenn er wiederkam, und das geschah in Abständen von drei bis sechs Monaten und manchmal weniger, ergriff mich nacktes Entsetzen, und dann in meinem Schlaf erinnerte ich mich und wartete hilflos auf seinen gewöhnlichen Ablauf bis zu dem schrecklichen Ende. Dann verschwand er wieder aus meinem Gedächtnis, aber am Morgen erwachte ich in verzweifelter Angst, mein Herz schlug wild, und mein Mund war wie ausgetrocknet von meinen stummen Schreien. Dann wusste ich, ich hatte wieder diesen Traum geträumt, aber fast alle Spuren der Erinnerung waren verschwunden.

Das war wohl der wesentliche Grund dafür, warum ich so erfüllt war mit Grauen, dass ich mich nicht erinnern konnte, dass alles sozusagen hinter einem Vorhang verborgen war. Ich glaube, wenn ich mich hätte erinnern und dann am hellen Tag alles in Ruhe, mit Vernunft hätte analysieren können, dann wäre der Traum nur noch halb so schlimm gewesen. Aber alles, woran ich mich damals erinnern konnte, war ein Gesicht, das immer wieder in der Dunkelheit auftauchte, ein schreckliches Gesicht, das auf unerklärliche Weise hin und her schwang, mir entgegen … Bald kannte ich das Gesicht so gut wie mein eigenes im Spiegel. Unter Tausenden von Gesichtern hätte ich es wiedererkannt.

Kinder lieben Geheimnisse. Heute weiß ich, dass es sehr dumm von mir war, niemandem etwas davon zu erzählen, aber ich schämte mich zutiefst, dass ich diesen Traum hatte, sicherlich hatte niemand anderer ein solches Problem. Es kam mir vor wie eine Krankheit, ungefähr als ob ich verrückt wäre oder ein Krüppel. Nicht um alles in der Welt hätte ich darüber gesprochen, ich dachte nach Möglichkeit überhaupt nicht daran. Damals versuchte ich zu hoffen, dass, wenn ich älter werde, wenn ich eines Tages dieses geheimnisvolle Stadium des Erwachsenseins erreicht haben würde, ich mich daran gewöhnt haben und es mir egal sein würde.

Aber stattdessen wurde es immer schlimmer.

Die Abstände wurden zwar größer, aber der Traum selbst wurde immer länger, heftiger und noch viel schrecklicher, bis …

Aber das war viel später.

An dem Tag nach dieser ersten düsteren Nacht in dem großen Haus, das mir Angst einflößte, traf ich George.

Ich wachte gegen fünf Uhr auf, zitternd vor Kälte und dieser furchtbaren Angst, die mir von dem Traum geblieben war. Dann spürte ich eine dunkle, tiefe Traurigkeit, die jetzt wie auch später jedes Mal auf meinen Traum folgte und den ganzen Tag andauerte.

Ich konnte nicht wieder einschlafen. So kroch ich langsam aus dem Bett und zog mich an. Bald darauf hörte ich den Straßenlärm. Ein Milchwagen ratterte die Straße herunter und hielt schließlich vor dem Haus. Als ich aus dem Fenster schaute, kam die Frau, die mich abgeholt hatte, aus der Haustür und rief dem Fahrer etwas zu, offensichtlich verlangte sie mehr Milch.

»Morgen, Missis! Dann ist sie also gekommen, nicht wahr?« Das Gesicht des Milchmanns zeigte große Neugier. »Wie sieht sie denn aus? So wie ihre Mutter?«

Ich konnte nicht hören, was Milly antwortete, aber wie sie die Schultern zuckte, als sie die Milchflaschen in Empfang nahm, ließ ihre Meinung deutlich werden.

Zwanzig Minuten später wurde ich nach unten gerufen, um zu frühstücken. Die anderen beiden Mitglieder des Haushalts hatten schon gefrühstückt. Ich musste mich überwinden, die Cornflakes mit Milch in dem ungeheizten Esszimmer, in dem ich ganz alleine war, zu essen. Aus dem Fenster sah man in einen kleinen Garten.

Als ich fertig war, half ich Milly, meine Koffer auszupacken und die Sachen in einen Schrank zu legen. »Hast du denn überhaupt keine Wintersachen?«, fragte sie missbilligend.

»Die waren mir alle zu klein … Ich bin seit letzten Winter so gewachsen.«

»Also, zur Schule heute trägst du am besten das. Das scheint mir das Wärmste zu sein, was du hast. Beeil dich beim Umziehen, wir haben keine Zeit zu verlieren. Arthur wird dir dann den Weg zeigen.«

»Schule? Gehe ich hier zur Schule?« Ich erschrak. Ich glaube, dass ich schon daran gedacht hatte, auch in England zur Schule gehen zu müssen, aber ich hatte nicht erwartet, dass es so bald sein würde.

»Ja, was dachtest du denn? Dein Vater will, dass du gleich mit der Schule anfängst. Es ist jedenfalls besser, als wenn du den ganzen Tag nur hier im Haus herumstrolchst. Also mach schnell und zieh dich jetzt um.«

Da sie von meinem Vater und von Arthur sprach, konnte ich annehmen, dass es sich um zwei verschiedene Personen handeln musste, und gerade als sie das Zimmer verlassen wollte, nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und stellte die Frage, die mich während der letzten zwölf Stunden am meisten beschäftigt hatte:

»Wo, wo ist mein Vater?«

Ungeduldig, so als fände sie es absolut unnötig, mir eine Antwort zu geben, sagte sie: »Er ist weg. In Edinburgh.«

Sie drehte sich um und ging. »Wann kommt er denn wieder?«

»Erst in einer Woche.«

»Macht er Ferien?«

»Du meine Güte, dieses Kind. Nein – er ist auf einem Ärztekongress in Edinburgh. Mehr weiß ich auch nicht, und nun hör auf, Fragen zu stellen. Ich muss dir noch dein Schulbrot machen.«

»Dann ist mein Vater also ein Arzt?«

Sie sah mich an, als sei ich geisteskrank, öffnete den Mund, schloss ihn wieder und sagte schließlich:

»Ja. Du hast fünf Minuten Zeit, dann musst du unten sein.«

Ich hörte sie mit kurzen Schritten die Treppe hinuntergehen.